Astrid Lindgren - Sybil Gräfin Schönfeldt - E-Book

Astrid Lindgren E-Book

Sybil Gräfin Schönfeldt

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Astrid Lindgren wäre am 14. November 2007 hundert Jahre alt geworden – und doch haben ihre Heldinnen und Helden an Frische und Faszination nichts eingebüßt. Die Abenteuer von Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist, Karlsson und Ronja Räubertochter sind unsterbliche Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. In dieser kurzen Biographie erfährt der Leser alles Wichtige über Leben und Werk einer in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Autorin. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 244

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Sybil Gräfin Schönfeldt

Astrid Lindgren

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Die HerkunftDie SchulzeitDas Ende der KindheitDer BerufFamilienmutter und SchriftstellerinVerlagslektorinReisen, Ruhm und PolitikZeittafelZeugnisseBibliographie1. Bibliographie, Hilfsmittel2. Sammelausgaben in Schweden und Deutschland3. Deutsche Ausgaben der Werke in Buchform4. Illustrierte Teilausgaben und Bilderbücher5. Fotobilderbücher6. Sonstige Bücher, Reden und Beiträge in Zeitschriften oder Zeitungen7. Literatur über Astrid LindgrenNamenregisterHinweise zu den Fuß- und Endnoten
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Die Herkunft

Astrid Anna Emilia Lindgren wurde am 14. November 1907 als Astrid Ericsson auf Näs in Småland geboren, eine Bauerntochter, die so aufwuchs, wie es damals für Bauerntöchter üblich war. Astrid Lindgren gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendschriftstellern. Kinder lesen und lieben ihre Bücher fast auf der ganzen Welt, und sie hat bewirkt, dass Erwachsene wissen, was Kinderliteratur ist. Ihre Bücher lösten so intensive Zustimmung wie heftige Kritik und Empörung aus, manchmal Jahrzehnte nach dem Erscheinen noch einmal und wieder aus anderen Gründen. Astrid Lindgren wurde früh schon mit hohen Ehren und internationalen Preisen ausgezeichnet, 1958 mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille, die man auch als den kleinen Nobelpreis für Kinderliteratur bezeichnet.

Sie hat zum Sturz einer schwedischen Regierung beigetragen, sich noch mit fast achtzig Jahren auf die Seite der Atomkraftgegner gestellt und ihre Kritiker vor allem dadurch verwirrt, dass sie sich unberechenbar, sanft und entschieden stets von Fall zu Fall und niemals ideologisch entschieden hat, mit einer Ausnahme: Wenn es um Kinder und ihr Lebensglück ging, stand sie mit ungeschützter Offenheit auf ihrer Seite. Ein erstaunliches Leben, das Leser, Verehrer und Kritiker oft fragen ließ: Was steckt dahinter? Woher kommt die Kraft und Gelassenheit? Was ist das Geheimnis dieser Frau? Astrid Lindgren hat bereitwillig und immer wieder geduldig auf das entschwundene Land ihrer Kindheit hingewiesen, mit dem sich scheinbar alles geradewegs und sinnfällig erklären lässt. Da steht das rote Haus, da öffnet sich die Tür, der Besucher sieht Bank und Bett und Kletterbaum, und es gibt noch den Holzschuppen, in dem Michel – im schwedischen Original heißt er Emil – seine Männchen schnitzte. Das alles verlockt dazu, dem Glauben zu schenken, was man sieht, und Astrid Lindgren hat dadurch stets von ihrer Person abgelenkt und sich die Ruhe verschafft, die sie zum Schreiben brauchte. Was ist das nun, dies entschwundene Land, und woher stammte Astrid Lindgren?

Meine Kindheit erlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt[1], schrieb Astrid Lindgren in dem Bericht über ihre Herkunft und die lebenslange Liebesgeschichte ihrer Eltern. Sie begann 1888, als Samuel August Ericsson von Sevedstorp, dreizehn Jahre alt, während der Schulprüfung im Gemeindehaus von Pelarne ein Mädchen mit Stirnfransen neben dem eisernen Ofen sitzen sah. Das war Hanna Jonsson aus Hult, neun Jahre alt. Sie konnte alle Fragen des Lehrers beantworten, und Samuel August verliebte sich auf der Stelle in sie. Doch da für ihn nach dieser Prüfung die Schule ein Ende hatte, führte dieser Blick zu nichts. Samuel August musste sich zuerst mit seinen Brüdern auf den väterlichen steinigen Äckern abrackern, und da das kleine Anwesen nicht groß genug war, sie alle vier zu ernähren, wurde er, als er achtzehn geworden war, zu seinem Onkel Per Otto auf den Hof geschickt. Der junge Knecht verdiente 60 Kronen im Jahr, hatte die Wintermonate frei und besuchte in dieser Zeit die Volkshochschule in Södra Vi. 1894 unternahm er eine Wanderung, die über sein Leben entscheiden sollte, und auch über das seiner späteren Kinder. Er machte sich an einem Samstag im August nach seiner Arbeit und zu Fuß auf den 20 Kilometer langen Weg nach Hause und kam gegen Mitternacht an. Da lag seine Mutter auf den Knien und scheuerte die Küchendielen, aber Ida von Sevedstorp war lange Arbeitstage gewohnt. Der Grund dieses Gewaltmarschs: Samuel August hatte beim Onkel gehört, dass ab Frühjahr der Pfarrhof Näs bei Vimmerby zu pachten sei, und der Onkel hielt Samuels Vater mit all seinen Jungens für denjenigen, der am besten dafür geeignet war. Und obgleich die Familie den Vorschlag zuerst verrückt fand und fragte, woher sie denn das Geld für Vieh und Geräte für diese Landwirtschaft nehmen sollten, geschah es genau so, wie es der junge Knecht in seiner Sehnsucht nach Unabhängigkeit und sinnvoller Arbeit gewollt hatte. 1895 zog das Ehepaar Ida und Samuel Johan Ericsson mit zwei Ochsenkarren von Sevedstorp nach Näs, was Nase bedeutet, Landzunge. Es liegt ganz flach, wir hatten als Kinder keinen Hang zum Schlittenfahren …[2]

1895 hatte das Königreich Schweden eine Bevölkerung von 4,9 Millionen Menschen. Auf dem Lande lebten 3,9 Millionen und in den 92 Städten die restlichen knapp eine Million Personen. Auch in Schweden begann man einen Rückgang der Landbevölkerung zugunsten der Städte zu registrieren, aber nur zwei Städte hatten über 100000 Einwohner: Stockholm fast 300000, Göteborg knapp über 100000. Sechs weitere Städte wiesen zwischen 20000 und 50000 Einwohner auf, 21 zwischen 5000 und 10000. Ein Land also der Einödhöfe, der Dörfer und Kleinstädte.

Die durchschnittliche Lebensdauer der Bevölkerung war länger als in allen anderen europäischen Ländern, und die Dichte der Besiedlung dünner. Im Norden lebte auf einem Quadratkilometer Grund und Boden ein einziger Schwede, im Süden, in Schonen, waren es achtzig. Die Landwirtschaft beschäftigte noch die Hälfte der Bevölkerung, aber nur auf 12 Prozent der Landfläche. Fels und Wald nahmen den größten Platz ein. Die 330000 Anbaustellen wurden in überwiegendem Maße von Besitzern betrieben: 85 Prozent gegen 15 Prozent Pächter. Und nicht nur Samuel August, das Knechtlein, wanderte im Winter durch Schnee und Eis zur Volkshochschule, die Volksbildung hatte allgemein einen hohen Stand, und auch in den entlegensten Gegenden wurde das Lesen und Schreiben gelehrt.

1895 war Schweden noch eine mit Norwegen unter demselben Oberhaupt stehende, durch den Reichstag beschränkte Erbmonarchie. Ein König stand an der Spitze, der sich zur evangelisch-lutherischen Kirche bekennen musste. Er ernannte den Staatsrat aus zehn Personen, während sich der Reichstag aus 230 vom Volk gewählten Abgeordneten zusammensetzte.

Erst 1905 löste sich die schwedisch-norwegische Union durch eine Volksabstimmung in Norwegen und den Verzicht Oscars II. auf die norwegische Krone auf. Oscar starb 1907, in dem Jahr, in dem Astrid Ericsson geboren wurde, und sein Nachfolger war Gustav V., König von Schweden, der mit Victoria von Baden verheiratet war, einer Enkelin des ersten deutschen Kaisers Wilhelm I.

Das Wahlrecht besaß in Schweden nur, wer Grundbesitzer war oder so viel verdiente, dass er im Jahr mindestens 800 Kronen Steuern zahlte. Das traf auf 300000 Personen zu, auf 25 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung.

Doch 1897 zogen die Sozialdemokraten in den Reichstag ein, und Samuel August wuchs in eine Zeit hinein, in der gerade das «ungehobelte Landvolk», wie er später immer wieder befriedigt sagen würde, seine politische Verantwortung voll und ganz wahrzunehmen begann.

Näs liegt in Småland, und Småland ist eine von Schwedens südlichsten und kärgsten Landschaften. Es ist dort waldig, wild und schön, das Land ist voller kleiner Seen, Hagen und steiniger magerer Äcker, und man pflegt zu sagen, dass ein Småländer, der mit seiner einzigen Ziege auf einer Klippe im Meer landet, es trotzdem schafft.[3]

Wie das Pfarrhaus in Näs damals ausgesehen hat, kann man auf einem kleinen Gemälde sehen, das heute noch dort hängt: ein rot getünchtes Holzhaus zwischen Kastanien, Ulmen und Linden, auf drei Seiten von Obst- und Küchengärten umgeben. Näs war schon seit dem Jahre 1411 Pfarrhof, aber das Haus, im 18. Jahrhundert erbaut, enthält nur drei Kammern und eine Wohnstube, sodass es den Pastoren im 19. Jahrhundert zu eng wurde und sie ein größeres Haus gebaut bekamen. Seitdem diente das rote Haus als Pächterwohnung. Die Veränderungen zwischen 1895 und heute betreffen weniger diese beiden Gebäude als vielmehr die Umgebung, der kleine Pfad ist verschwunden, der Bach mit den Sumpfdotterblumen fort … das Waschhaus steht nicht mehr …[4] Das Städtchen Vimmerby ist über den einsamen, abgelegenen Hof von einst hinweggewachsen, und wo der unbefestigte Weg endete, führt eine Ausfallstraße aus Vimmerby vorbei. Aber noch ist etwas erhalten und gibt Zeugnis von der Vergangenheit: Meine Vorfahren sind alle ohne Ausnahme Småländer Bauern gewesen. Welche Steinmassen haben sie aus ihrer unfruchtbaren Erde gerissen, und wie konnten sie arbeiten! Noch immer gehe ich manchmal hin und sehe mir die lange Einfriedungsmauer an, die meine Großmutter mit ihren Händen aufgerichtet hat. Im schwedischen Original dieses Artikels steht noch dieser Satz, nicht ohne Stolz: Ich habe nur Bauernblut in meinen Adern.[5]

Samuel August arbeitete nun für seinen Vater und lebte in einem anderen Kirchspiel als Hanna aus Hult. Doch da es zu den Aufgaben des Pächters gehörte, den Pfarrer zu seinen Amtshandlungen und Predigten im ganzen Sprengel herumzukutschieren, und Samuel August der Kutscher war, sah er sein Mädchen hin und wieder, schrieb ihr Postkarten, widerstand dem Angebot einer alten Heiratsvermittlerin, eine reiche Erbin zu nehmen, und traf schließlich, 1902, Hanna auf einer Hochzeit in Gebo. Damals, meint Astrid Lindgren, muss ihre Mutter begriffen haben, wie es um den Vater stand. Er war so verliebt, dass er bei den nächsten Treffen im Jahre 1903 sogar Tee trank, den keiner von beiden eigentlich mochte, aber sie hielten Tee wohl für ein wenig feiner als Kaffee und wollten ja um jeden Preis einen guten Eindruck aufeinander machen[6]. Der Entschluss zum Heiraten reifte jedoch besonders bei Hanna nur langsam. Erst 1905tat sie das Klügste, was sie tun konnte, und heiratete Samuel August. Er hatte unterdessen vom Vater die Pfarrhofspacht übernommen und Hanna aus Hult eine Stellung bei der Majorin auf Mossebo angenommen, der Standesperson des Kirchspiels, vermutlich, um sich feine Manieren zuzulegen. Nach der Hochzeit am 30. Juni 1905 musste Hanna noch vierzehn Tage bei ihren Eltern Jonas Petter und Lovisa Jonsson in Hult bleiben, um die große Wäsche und das Reinemachen nach der Hochzeit zu besorgen. Tüchtig und fleißig war die junge neue Bäuerin auf Näs auf jeden Fall. Sie kann Kühe melken und ein Pferdegespann lenken, weben und alles, was zum Schlachten gehört, sie kann Käse bereiten und spinnen und backen, und sie kann ohne Unterlass schaffen und das Gesinde anleiten, als hätte sie nie etwas anderes getan. Von der Mutter, Lovisa mit den sanften Händen, die den Frauen im Kirchspiel bei der Entbindung half, hatte sie gelernt, sich auch der Armen und Elenden anzunehmen, und Astrid Lindgren fügt trocken hinzu: Deren es viele gibt.

Samuel August gründete unterdessen eine Genossenschaftsmolkerei, ferner einen Zuchtverein für Stiere und einen für Hengste … In vielem ein Wegbereiter und überdies ein kundiger Viehzüchter, Ackerbauer und Flursäuberer. Zu seiner Zeit wurden von den Äckern und Feldern von Näs 820 Steinhaufen beseitigt und 10000 Steine ausgegraben und fortgeschafft. Wahrscheinlich schleppte er nur wenige eigenhändig davon, wofür auch die Antwort spricht, die ihm sein Sprössling einmal gab, als er ihn in erzieherischer Absicht dazu anhielt, ein paar Steine vom Acker zu tragen. Das wollte der Vierjährige nicht, und da sagte sein Vater: «Na ja, dann bleiben sie eben liegen, und dann musst du sie wegschaffen, wenn du selber mal Bauer hier bist.» – «Nee», antwortete ihm das Knäblein, «dazu habe ich dann Knechte.»

Dieses Knäblein, Gunnar, wurde 1906 geboren, doch dadurch ließ sich Hanna in ihrer Arbeit nicht sonderlich hindern. Als sie erfuhr, dass ihre Schwester krank zu Bett lag, musste sie sich mit eigenen Augen überzeugen, wie es um sie stand. Sie spannte das Pferd an, fuhr zu ihr, trank dort Vormittagskaffee und fuhr dann mit dem Knaben wieder heim. Der Knabe war «gesund und brav», wie sie ihrer Mutter schrieb, und «für gewöhnlich schläft er noch eine gute Weile, nachdem ich in der Frühe vom Melken zurück bin».

1907 wurde Astrid geboren, die erste Tochter, der noch zwei weitere folgten, 1911 Stina und 1916 Ingegerd, die kleine Nickon, wie sie von der Mutter genannt wurde. Vier Kinder also, und nun muss ihre Mutter aus Hult zuweilen einspringen, damit sie einmal ein bisschen verschnaufen und dieses und jenes erledigen kann, wie das bevorstehende Schweineschlachten.

Anfangs war Astrid sehr mit dem Bruder verbunden, auch noch in den Schuljahren. Später mehr mit der vier Jahre jüngeren Schwester.[7] Für die kleine Nickon jedoch war Astrid eine Art Mutter, umso mehr, als Stina ziemlich streng mit der jüngsten Schwester umging.

Das waren also die ersten Spielkameraden, die Geschwister. Gunnar, einziger Bruder und sehr begabt, wurde später der dritte Ericsson-Pächter auf Näs, Maler und Politiker. Er war schon da, als Astrid ihre Umwelt wahrzunehmen begann, und er blieb, bis Stina so weit war, der erste und einzige Spielkamerad. Wir haben alles zusammen gespielt. Und wenn sie abends ins Bett gesteckt wurden, bohrte Gunnar den Schädel ins Kissen und spielte ein Spiel im Kopf: Er dachte sich rote, grüne, weiße und schwarze Wesen aus, die sich gegenseitig bekriegten und von denen einige fliegen konnten. Er hat es nie geschafft, mir die Spielregeln klarzumachen. Das hat Astrid Lindgren Jahre später in einigen ihrer Bücher nachgeholt. Wenn die Geschwister morgens aufwachten, erzählten sie sich gegenseitig ihre Träume, wobei der eine immer ungeduldig darauf wartete, dass der andere eine Pause machte, um selber erzählen zu können. Ein Spiel hieß: Fliegen können wollen.

So verbanden sich für Astrid Lindgren die meisten Kindheitserinnerungen mit Gunnars Person, und er wurde ebenso wie sein Vater das Vorbild für alle unternehmungslustigen und unerschrockenen Bauernjungen in den Geschichten, die in Småland spielen.

Stina heiratete 1939 den Schriftsteller Hans Hergin, Inge, wie Ingegerd meist genannt wurde, war seit 1938 mit Ingwar Lindström verheiratet. Zu diesen beiden jüngeren Schwestern gesellte sich eine dritte Spielkameradin: Gunhild Norman, Gunnars spätere Frau, 1906 geboren, aus einer Gemeinde bei Vimmerby, war ein Lehrerskind und ging mit den Ericsson-Kindern in die Schule. Sie gehörte von Anfang an zu ihnen. Wir trafen uns überall, sie war ein eher stilles Mädchen, das jedoch, ohne es zu beabsichtigen, eine große Wirkung auf andere ausübte. Gunhild hatte vier Geschwister, war also die Spielregeln einer Familie gewohnt, und Astrid liebte sie wie eine Schwester. Gunhild zog nach der Heirat mit Gunnar nach Näs, und ihre drei Töchter spielten eine Generation später wieder so, wie die Ericsson-Geschwister mit Gunhild gespielt hatten.

Nach Gunhilds Tod im Jahre 1984 entdeckte eine dieser Töchter in ihrem Portemonnaie einen Zettel mit den Worten: «Telefongeld von Astrid. Damit ich sie anrufen kann, wenn es mir nicht gutgeht.»

Näs vor dem Ersten Weltkrieg: Das war ein Leben im Pferdezeitalter, ohne Autos, Telefone und Elektrizität. Es gab Leitungswasser, das aber gepumpt werden musste. In der Küche stand der große, eiserne Herd, der mit Holz geheizt wurde. Wenn wir spielten, flackerte nur das offene Kaminfeuer. Wir hatten keinen Kachelofen. Im Winter saßen wir vorm Abendfeuer und schnitten unsere Papierpuppen aus. Wenn das Feuer erlosch, war es eben aus. Dann ging es ins Bett, aber nicht in ein Schlafzimmer, denn das Alltagszimmer war auch Schlafstube, und in diesem Alltagszimmer schliefen die Kinder, solange sie klein waren. Im Bett rechts vom Fenster der Vater mit einem Kind, auf der Sofabank die Mutter mit dem Jüngsten. Ein Kinderbett stand neben dem Vaterbett, und Gunnar und ich, wir schliefen abwechselnd beim Vater oder im Kinderbett. Astrid hasste das Kinderbett. Da lag man mitten im Zimmer, nackt und schutzlos ausgeliefert – dem Teufel, der hinter dem Spiegel der Frisierkommode hauste. Immer gab es abends Streit, wer beim Vater liegen durfte, und Astrid hatte oft das Gefühl, zu Unrecht um das Behagen und das Glück gebracht zu werden, sich in der Kuhle zwischen der Wand und dem Federbett in Sicherheit wiegen zu können.

Später zogen die Mädchen in die ehemalige Kammer des Großvaters, und Gunnar kam in die andere, die Webstube, in der auch ein Bett stand, und der Webstuhl, auf dem Haustuche und Flickenteppiche aus Stoffresten gewebt wurden. Hanna aus Hult war morgens als Erste auf den Beinen. Sie ging zu den Hühnern und fütterte sie, und wenn sie zurückkam, mussten wir aufgestanden sein, aber das waren wir nicht immer! Es war noch so früh! Ja, es ging auch immer früh ins Bett, aber im Winter war es morgens noch so kalt! Waschen: kein Badezimmer, sondern die Schüssel auf der Waschkommode in der Stube. Wir hatten ein altes Waschhaus, das man zwar Brauhaus nannte, das wir aber für die große Wäsche benutzten. Da wurden die Kinder im Winter und Sommer gebadet, einmal in der Woche. Sonst schaffte man die runde Kupferwanne in die Küche. Dort machte die Mutter jeden Morgen Feuer und kochte die Frühstücksgrütze. Dazu gab es Milch, manchmal Kakao. Die Familie aß mit dem Gesinde zusammen, aber die Knechte bekamen grobe Wurst und Speck. Astrid liebte es, wenn sie ein Stück Schwarte abbekam und darauf herumkauen konnte. Das schmeckte!

Das Essen in Näs war so einfach, wie es Anfang des 20. Jahrhunderts für die bäuerliche Küche in fast ganz Europa typisch war: Wenn es auch nicht mehr nur vier oder fünf Fleischtage im Jahr gab, so kam Fleisch doch selten auf den Speisezettel. Man aß, was angebaut wurde, also alle möglichen Grützen, die Früchte von Garten und Wald oder besser: aus den Hagen, wie man in Schweden die eingezäunten Weiden und Koppeln nennt, die reich an Wildbeeren waren. Dazu kam das, was die Hausfrau aus der Milch machte, Quark und Käse. Das war eine karge, aber sehr gesunde Kost. Abends gab’s oft Hering, roh eingelegt, manchmal Spinat mit Mehl und Milch – das fand ich scheußlich! Aber die Mutter bestand nicht darauf, dass gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Wenn es etwas gab, was wir nicht mochten, aßen wir Butterbrot.

Zu den großen christlichen Feiertagen jedoch wurde der Tradition nach üppig aufgetischt, was in wochenlanger Vorbereitung gekocht und gebacken worden war. Die Mutter backte alle vierzehn Tage Brot und zu Weihnachten drei verschiedene Sorten: dunkles Roggenbrot, das man bis Ostern aufheben konnte, Sirupbrot und runde Graubrote, halb Weizen, halb Roggen. Sie wurden in Holzkisten aufgehoben, ebenso wie der selbstgemachte Käse im Bod, im Schuppen. Diese Schuppen spielen in vielen Geschichten von Astrid Lindgren eine wichtige Rolle. Sie gehören zu den alten schwedischen Bauernhöfen, auch vor Astrid Lindgrens Haus auf Furusund steht ein Vorratsschuppen, und neben dem roten Haus in Näs reiht sich Bod an Bod zu einer langen Zeile: ein Schuppen für Brennholz, einer für Getreide, für andere Vorräte, und am Ende die Werkstatt, die bei anderen Höfen auch die Schmiede sein kann. Das kleine Haus zum Räuchern steht separat.

Und unter einem Schuppendach die Spielstube. Eine Leiter führte hinauf, und der selbst im Sommer dämmerige Raum gehörte ganz und gar den Kindern. Puppengeschirr auf den Giebelbalken, gemütliche kleine Winkel aus Kisten und Kasten gestellt, Holzfiguren dazwischen, Pappmachétiere, alte Flickenteppiche wie bunte Inseln auf dem Bretterboden, verblasste Bilder aus Illustrierten an der rohen Holzwand, dort ein Stapel Bilderbücher in den matten Druckfarben der Jahrhundertwende, ein Karton mit ausgeschnittenen Papierpuppen, ein vertrockneter Strauß in einem Marmeladenglas, ein Bollerwägelchen dazwischen, ein alter Ranzen. Ein Paradies für Regentage und im Winter, obgleich der Wind durch die Ritzen gepfiffen haben muss und es weder einen Ofen gab noch ein Fenster, das richtig schloss. Aber durch die verstaubte Bodenluke sah die Welt geheimnisvoll fern aus, und wer den Bodenraum betrat, konnte überall zu spielen beginnen oder weiterspielen. Alles konnte so liegen bleiben, wie es die Kinder beim vorigen Mal verlassen hatten, und wartete nur auf sie, wartete auch geduldig auf die nächste Generation. Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es das reine Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, dass unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluss, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten.[8] Jede Seite der Kinder von Bullerbü ist ein Denkmal dieser Welt, auf jeder Seite werden Spiele, Verhaltensformen, Erlebnisse, Gefühle beschrieben, die so sehr zum Begriff «glückliche Kindheit» verschmelzen wie nichts anderes auf dem Gebiet der Kinderliteratur.

«An dem Tag, da die Phantasie der Kinder nicht mehr die Kraft hat, sich Bilder zu erschaffen, an diesem Tag wird die Menschheit arm.»

Ansprache nach der Verleihung der Hans-Christian-Andersen-Medaille, Florenz 1958

Mutter Hanna regierte diese Kinderwelt gleichzeitig streng und lässig: Unsere Kindheit war ungewöhnlich frei von Rügen und Schelte. Dass unsere Mutter nicht mit uns zankte, mag daran gelegen haben, dass man ihr meistens gleich gehorchte, wenn sie etwas anordnete. Und natürlich auch daran, dass eine vielbeschäftigte Bauersfrau gar nicht so viel Zeit hatte, sich um individuelle Erziehung zu kümmern. Aber sie war es, die uns erzog, und ich kann mich nicht entsinnen, dass Samuel August sich da je eingemischt hätte. Diesem Vater war Astrid besonders zugetan. Ich habe immer wieder Menschen getroffen, die ihn gekannt haben und die mir bestätigten, was für ein guter Mensch er war[9] – zärtlich, unbefangen zärtlich mit seiner Frau, mochten die Kinder auch zuschauen. Er herzte sie, wenn er heimkam, er küsste sie auf die Wange und den Hals, einen zärtlicheren Bauern hat es nie gegeben … Nie wurde er es müde, ihr zu zeigen, wie glücklich er über sie war und wie staunenswert er es fand, dass es sie in seinem Leben und in seinem Haus gab. War er draußen oder sonst wie fortgewesen und entdeckte sie beim Heimkommen nicht augenblicklich, dann gab es für ihn nur die eine wichtige Frage: «Wo steckt mein Weib?»[10] Des Vaters Gestalt wandert durch viele Bücher der Tochter, eine Gestalt absoluter Zuverlässigkeit, die auch in Mio, mein Mio, dem Märchen vom Vater, mit wenigen Charakterzügen, ja mit wenigen Worten auskommt. Aber wie der Märchenkönig, so vermittelt der Wirklichkeitsvater in Kalle Blomquist vor allem Sicherheit und Zuflucht. Nach dem Mord, den die Kinder in diesem Roman miterleben, rennt Eva-Lotte heim, und dort ist Vater. Er ist groß und ruhig wie immer … Immer derselbe, wenn die Welt auch sonst hässlich und verändert ist, wenn es auch unmöglich geworden ist, in ihr noch zu leben. «Vater, lieber guter Vater! Hilf mir …»[11]

Er ist imstande zu helfen: ja. Aber er ist nicht allmächtig. Mios Vater kann dem Sohn die Prüfungen, bei denen es um Tod und Leben geht, nicht abnehmen. Das wird nicht nur niemals erörtert, im Gegenteil: Der Vater lässt Mio eigens in seine wahre Heimat holen, damit dieses Spiel um Gut und Böse beginnen kann. Mio, das Kind, ist der Retter wie in allen Romanen der Romantik. Aber nicht die Idee von der Blauen Blume gibt ihm Kraft, sondern das Bewusstsein, dass der Vater ihn so liebt, wie man – laut moderner Kinderpsychologie – sein Kind lieben muss: Da merkte ich zum ersten Mal, dass ich niemals vor meinem Vater, dem König, Angst zu haben brauchte. Was ich auch tun mochte, immer würde er mich mit diesen freundlichen Augen ansehen, so wie er mich jetzt ansah.[12] Was ich auch tun mochte – nicht die Handlungen, sondern das innerste Wesen, die Person selbst sind Gegenstand der Liebe, und so konnte Astrid Lindgren als alte Frau sagen: Die heile Welt? Ich glaube nicht, dass ich Bücher bewusst so schreibe, um Kinder glücklich zu machen. Ich schreibe so, weil ich in einer heilen Welt aufgewachsen bin. Ich kann aber nicht von Kindern schreiben, deren Umwelt ich nicht kenne. Sicher, setzte sie hinzu, gab es triste Tage. Aber daran kann ich mich nicht erinnern. Wir hatten ja Spielplätze, wir waren immer beschäftigt, hatten die Natur, die uns immer aufgeregt hat, die Jahreszeiten, die immer etwas Neues anzubieten hatten.[13]

Es war also schön, dort Kind zu sein[14], und auf die Frage, warum, gab sie folgende Erklärung: Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir auf dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und obgleich die Mutter nicht ohne Härte war, hat sie diese nicht den Kindern gezeigt und nie ohne Grund geschimpft, zum Beispiel wenn wir mit zerrissenen oder beschmutzten Kleidern nach Hause kamen. Wahrscheinlich hielt sie solche Pannen, die im Eifer des Spiels passieren konnten, für das gute Recht eines Kindes. Zu diesen Spielfreiheiten gehörte mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Pflicht zur Arbeit. Schon mit sechs Jahren wurden die Kinder mit aufs Feld zum Rübenverziehen genommen und mussten Brennnesseln für die Hühner rupfen, und wenn später Stadtkinder, Klassenfreunde kamen, um die Ericsson-Schwestern zu einer mehrtägigen Radtour einzuladen, dann gab es nur ein Nein, wenn das zum Beispiel mitten in der Roggenernte geschah.

Das Leben meiner Eltern war tatsächlich so, wie ich es beschrieben habe[15], sagt Astrid Lindgren. Es fiel nie ein hartes Wort, und selbst wenn die Mutter streng gewesen ist, so rettete die Freiheit, auch die räumliche Freiheit, in der die Geschwister aufwuchsen, alle miteinander vor den Zusammenstößen, denen Eltern und Kinder in Großstadtwohnungen kaum entgehen können. Umso stärker prägte sich der kleinen Astrid Ericsson eine Szene ein, als sie mit den Geschwistern und der Mutter schon im Pferdewagen saß, um zur Großmutter zu fahren. Der Vater hatte noch etwas im Haus zu erledigen, der Aufbruch verzögerte sich, und die Mutter wurde ungeduldig und raunzte. Da bin ich todunglücklich gewesen, weil die Mutter mit dem Vater nicht zufrieden war.

Oben im roten Haus wohnte Großvater Samuel Johan Ericsson, der in eine der Kammern auf den Dachboden gezogen war, als sein Sohn Samuel August die Pacht übernahm. Die Geschwister liefen oft zu ihm hinauf. Er gab uns Brustzucker, den hatte er in einer Schublade. Und wenn er keinen Zucker mehr hatte, gab er uns eine religiöse Zeitschrift. Das fanden wir nicht so gut, aber die Kinder versuchten sich einzureden, dass sie sich über die Zeitung genauso freuten, weil sie spürten, wie gern der alte Mann den Enkeln immer etwas schenken wollte.

Das beste Geschenk ist aber zweifelsohne seine Zuverlässigkeit und seine Stärke gewesen, die Astrid Lindgren später in der Geschichte von den Schafen auf Kapela festgehalten hat. In diesem Märchen ist es die mächtige Stimme des geliebten Großvaters, die den Zwergenzauber bricht und das kleine Mädchen aus der Dunkelwelt wieder ans Tageslicht ruft, und obgleich Stina Maria Monate und Jahre[16] bei den Unterirdischen die Schafe gehütet hat, ist nur ein kleines Weilchen verstrichen, und noch ist die Grütze warm. Das war also der Großvater, der auch mit der kleinen Astrid den Schafen zugeschaut und seine kalten Beine in der Sonne gewärmt haben mochte, während die Enkelin sich ein Spielstübchen zwischen den Steinen baute und Großvater lauschte, wie er von dem erzählte, was nur die Alten wissen …

Die Großmutter Ida war zu ihrem Sohn gezogen, zu Astrid Lindgrens Onkel Albin. Er hatte auch eine Bauernstelle, aber keine Frau und brauchte Hilfe bei Landwirtschaft und Haushalt. So übernahm die Großmutter diese Arbeit, nur für ein paar Jahre, wie sie meinte, während der Großvater dort blieb, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Doch als die Zeit verstrich, wurde allen klar, dass die Großmutter immer weiter bei dem anderen Sohn gebraucht wurde. Der Großvater wollte aber allmählich wieder bei seiner Frau sein, und die jungen Leute auf Näs brauchten unterdessen Platz für ihre eigenen Kinder. So zog er fort, zur Großmutter. Da weinten alle und liefen dem Wagen noch lange nach. Es war freilich gar nicht so weit zum Hof des Onkels, und es war ein herrliches Abenteuer, zur Oma zu gehen. Es war ein langer, aber sehr interessanter Weg … Und sie selber eine gütige und liebevolle Frau.[17] Außerdem: Sehr viel mehr Abwechslung als diese Verwandtenbesuche hatten die Ericsson-Kinder ohnehin nicht, aber die Großmutter sorgte dafür, dass es sich immer lohnte, zu ihr zu fahren. Bei ihr gab’s Kirschen und Kirschengesellschaften, sie wohnte auf einem Hügel mit dem Blick auf einen See. Das taucht in meinen Geschichten immer wieder auf, denn wo wir wohnten, war es flach, und wir hatten keinen Hang. Den vermisste ich sehr, und deshalb schlug ich einmal vor, wir sollten tauschen und umziehen, damit wir einen Hang zum Schlittenfahren hätten.[18] So wie Sammelaugust, von dem es heißt: Nicht viele Kinder in Schweden haben Abhänge, wie diese Jungen sie hatten. Die Hütte lag hoch …[19], sodass die Kinder die waghalsigsten Rennen durch verschneite Hohlwege rodeln konnten.

Die Geschwister bekamen von ihrer Großmutter Ida alles Mögliche geschenkt. 1916 gab sie Gunnar eine Gitarre und mir ein dickes, schweres Buch, einen Jahrgang der Zeitschrift Idun, vielleicht von 1902. Gunnar ging singend und seine Gitarre spielend heim[20], die kleine Astrid keuchte mit dem schweren Jahrgangsband in den Armen hinterher, und als sie abends im Bett lag, weinte sie vor Erschöpfung, aber sie hatte das Buch, war selig und las darin jedes Wort, las auch einen Bericht von Dreyfus über seine Verbannung auf die Teufelsinsel. Astrid begriff überhaupt nicht, worum es ging, aber es hat mich aufgeregt und interessiert. Ich konnte keinen fragen, so blieb das Rätselhafte und vermittelte dem Kind ein Leseerlebnis, dessen Essenz ihm unvergesslich blieb: der Reiz des Geheimnisvollen. Zu nüchtern, um selbst in den Alltäglichkeiten des eigenen Lebens eine tiefere Bedeutung zu sehen, sagte sie: Oma war sicher froh, dass sie das dicke Buch los war.

In ihren Erinnerungen betonte Astrid Lindgren noch einmal nachdrücklich: Unsere Vergnügungen waren spärlich[21]