»Schöner Laden«, sagte Berto Sanchez zu seinen drei Kumpanen.
Die Schläger grinsten zynisch. Berto packte den Baseballschläger
fester. Dann stieß er die Tür des kleinen Geschäfts in Spanish
Harlem auf.
Caribbean Dreams war wirklich ein schöner Laden, die Wände
drinnen in hellem Gelb gestrichen, mit Halogenlampen indirekt
ausgeleuchtet, und der Holzfußboden wurde jeden Tag blitzsauber
geschrubbt. Im Schaufenster und auf den Regalen lockten
Kunsthandwerk, Schmuck und handgewebte Stoffe aus der Karibik. Ein
Stück Urlaubslaune für New Yorker Wohnzimmer.
Julia Estrada trat aus dem Hinterzimmer, als sie die
Ladenglocke hörte. Und schreckte sofort zurück. Sie kannte weder
Berto Sanchez noch seine drei Freunde, aber sie hatte von dem
Quartett gehört.
»Was wollt ihr?« schnauzte Julia Estrada, obwohl ihr die Knie
zitterten. Die junge Frau hatte sich bisher nicht einschüchtern
lassen. Trotz des Backsteins, der vergangene Woche durch ihr
Schaufenster geflogen war. Trotz der toten Ratte, die sie auf der
Türschwelle ihres Apartments gefunden hatte. Und trotz der »letzten
Warnung«, die gestern mit einem Messer an ihre Ladentür geheftet
worden war.
›Caribbean Dreams‹ war ihr Laden. Sie war seit kurzem ihr
eigener Boß. Weil sie sich nicht weiterhin als Angestellte hatte
schikanieren lassen wollen, hatte sie all ihre Ersparnisse geopfert
und auch einen hohen Kredit aufgenommen. Da blieb einfach kein Geld
übrig für Berto Sanchez und seine menschlichen Kanalrätten.
Mißbilligend schüttelte der Anführer der Todesschwadron den
Kopf und sagte in tadelndem Tonfall: »Ist das eine Art, seine
Kunden zu begrüßen, chica?«
Breitbeinig stand Berto Sanchez vor der Ladentheke. In der
rechten Hand hielt er immer noch den Baseballschläger. Langsam und
rhythmisch klopfte er mit dem keulenartigen Schlaginstrument auf
den Tresen. Er hatte den Holzprügel bestimmt nicht bei sich, weil
er Baseball spielen wollte.
Angewidert musterte Julia Estrada sein breitflächiges Gesicht.
Die weit auseinanderstehenden Augen unter den schmierigen Locken.
Er trug hautenge Jeans und eine hautenge Lederjacke im
Boleroschnitt.
»Ihr seid keine Kunden«, sagte die Latina, »sondern Abschaum.
Und Abschaum bediene ich nicht. Und jetzt raus!«
Ihre rechte Hand wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die
Tür hinter ihm, und sie brachte es tatsächlich fertig, daß ihre
Hand nicht zitterte.
Sie war bereits zu weit gegangen. Sie konnte nicht mehr
zurück. Sie hätte schon bei der ersten Drohung zahlen sollen. Aber
das hatte sie nicht getan. Nun mußte sie mit den Folgen
fertigwerden.
»Schon gut!« Abwehrend hob Berto Sanchez seine freie linke
Hand. »Wir gehen ja schon! Stimmt’s, muchachos?«
Seine Kumpel grinsten. Sie liebten es, wenn ihr Boß mit seinen
Opfern spielte, sie in trügerischer Sicherheit wog.
Das Grinsen des Oberschlägers wurde noch breiter. »Du willst
keine zweite Miete zahlen - okay, das hier ist ein freies Land. Wir
können niemanden zu seinem Glück zwingen…«
Er drehte Julia Estrada den Rücken zu. Tat so, als wollte er
gehen.
Doch plötzlich rammte er den Baseballschläger vor.
Das Holz traf auf eine große Terrakotta-Vase, die mit 299
Dollar ausgepreist war. Mit einem lauten Krachen ging sie in
tausend Scherben.
Die Ladeninhaberin schluckte. Für einen Moment hatte sie
wirklich geglaubt, daß die Todesschwadron abziehen würde. Wie hatte
sie nur so naiv sein können?
»Leche!« höhnte Berto Sanchez. »Wie ungeschickt von mir! Das
tut mir aber leid…«
»Ich habe auch zwei linke Hände!« geierte einer der anderen
Latinos. Er trug ein ärmelloses Lakers-Shirt. Mit seinem rechten
muskulösen Arm fegte er ein ganzes Regal leer. Figuren und Teller
knallten dutzendweise auf den Boden und gingen dort zu Bruch.
»Jetzt reicht’s!« Plötzlich hatte Julia Estrada einen Revolver
in der Hand. Einen uralten Colt Government. Sie hatte ihn von ihrem
Vater geerbt. Hier in Spanish Harlem war es wichtig, sich
verteidigen zu können. Deshalb lag er stets in der Schublade neben
der Kassette mit den Tageseinnahmen.
Für einen Moment mußte die Ladeninhaberin an ihre
Schulfreundin Annie Franceso denken. Seit Jahren hatten sich die
beiden Frauen nicht mehr gesehen. Julia hatte nur gehört, daß Annie
Jura studiert hatte und danach zum FBI gegangen sein sollte. Für
ein Girl aus Spanish Harlem ein unglaublicher Aufstieg.
Was wohl aus ihr geworden war?
Annie, dachte Julia Estrada, ob du mir jetzt wohl helfen
könntest?
Aber der Ladenbesitzerin konnte niemand mehr helfen. Schnell
und gründlich fuhr die Todesschwadron mit ihrem gemeinen
Zerstörungswerk fort. Alle vier Schläger verwandelten nun
›Caribbean Dreams‹ in kürzester Zeit in ein Schlachtfeld.
In ohnmächtigem Zorn schwenkte Julia Estrada ihren Colt
Government von einem der Männer zum nächsten.
Zögerte eine Sekunde zu lange, bevor sie den Stecher
durchzog.
Die junge Frau sah nicht, welcher von den Eindringlingen auf
sie feuerte. Aber sie spürte urplötzlich den fiebrig-heißen Schmerz
an ihrer Hüfte. Es war, als würde ihr jemand einen rotglühenden
Schürhaken in das Fleisch bohren. Das Echo der Pistolenschüsse
hallte noch lange in ihrem Kopf.
Julia Estrada hörte noch die spöttische Bemerkung von einem
der Verbrecher.
»Die tonta steht nicht mehr auf…«
Dann wurde es Nacht um sie.
***
»Mr. McKee«, sagte Garson D. Bartlett, »Sie sollten mich nicht
für einen Idioten halten.«
Der Leiter des FBI Field Office New York holte tief Luft,
bevor er eine Antwort gab. Selten kam es vor, daß er sich in seinem
eigenen Büro an der Federal Plaza in Manhattan wie ein ungebetener
Gast vorkam. Hier, wo er seit vielen Jahren als Special Agent in
Charge die Frauen und Männer unter seinem Befehl in den oft
tödlichen Kampf gegen das Verbrechen führte.
Aber Garson D. Bartlett schaffte es für einen Moment, daß sich
Jonathan D. McKee abgekanzelt fühlte wie ein Schuljunge.
Zum Glück dauerte dieser Augenblick nicht lange. Der SAC
faltete seine schmalen Künstlerhände auf der Platte des penibel
aufgeräumten Schreibtisches . Er wurde niemals laut. Trotz des
leicht herablassenden Tons von Bartlett wahrte Mr. McKee auch
diesmal seine natürliche Würde.
»Mr. Bartlett«, sagte Mr. McKee und blickte in das unbewegte
Pokergesicht seines Gegenübers, »ich weiß, daß Sie kein Idiot sind.
Sie wurden von der Abteilung für Internal Affairs des
Hauptquartiers eingesetzt, um die Untersuchungen gegen meine
Agentin Annie Franceso zu leiten. Wegen unangemessener
Gewaltanwendung im Dienst und Mißhandlung einer
Verdächtigen.«
»So ist es.« Garson D. Bartlett war ein Bild von einem G-man.
Sein Anzug saß untadelig. Die Brille mit Goldrand war das einzig
Auffällige in seinem mageren, glattrasierten Gesicht. Bis auf die
tiefen Falten um den Mund herum, die auf ein Magengeschwür
schließen ließen. »Ich leite einen Untersuchungsausschuß, Mr.
McKee. Für heute morgen um acht waren die ersten Anhörungen
vorgesehen, und Ihre angeblich so pflichtbewußte Agentin Annie
Franceso hätte sich selbst zu den schwerwiegenden Vorwürfen gegen
sie äußern können. Hätte. Aber Special Agent Franceso hat es bis
jetzt nicht für nötig befunden, hier zu erscheinen.« Er tippte mit
dem Zeigefinger auf seine große flache Armbanduhr. Es war halb
zehn.
Mr. McKee seufzte innerlich. Nach der brutalen Ermordung ihres
Freundes Louis Fernando hatte Annie Franceso die Nerven verloren
und war in Puerto Rico abgetaucht. Dort, in der Heimat ihrer nach
New York ausgewanderten Eltern, hatte sie ihren Schmerz über
Fernandos Tod vergessen wollen. Aber Jesse Trevellian und Milo
Tucker waren ihr nachgereist, und die beiden besten G-men seines
Field Office hatten es geschafft, ihre Kollegin rechtzeitig zur
ersten Tagung des Untersuchungsausschusses wieder nach New York zu
bringen. Vorher hatte Annie sogar noch tatkräftig mitgeholfen, eine
Menschenhändlerbande zu zerschlagen. Deshalb hatten alle ihre
Kollegen gehofft, sie hätte sich wieder gefangen.[1]
War das ein Irrtum gewesen?
Mr. McKee holte erneut tief Luft. »Mr. Bartlett. Ich
versichere Ihnen…«
Der Mann aus W ashington stand auf. Er war klein, hielt sich
aber sehr gerade. »Sie müssen mir nichts versichern, Sir. Ich kenne
alle Tricks, glauben Sie mir. Auch wenn Sie SAC sind und ich nur
Inspector - ich spiele mein Spiel, auch wenn ich persönlich es
hasse. Denn ich bin in diesem Spiel immer das Arschloch. Mit
Verlaub, Sir. Für die Kollegen bin ich ein Schwein, weil ich einen
von ihnen auseinandernehme. Aber wenn der angeklagte G-man mit
einem blauen Auge davonkommt, dann gerbt mir die Presse wegen
Kameraderie das Fell. Ich kann nur verlieren.«
Er wandte sich zur Tür, doch kurz bevor er sie erreichte,
drehte er sich noch einmal um. »Verzeihen Sie diese persönliche
Bemerkung, Mr. McKee. Zurück zum Fall. Wenn sich Special Agent
Franceso nicht bis um zehn Uhr vor den Untersuchungsausschuß
bequemt, dann wird sie noch den Tag verfluchen, an dem sie sich
beim FBI beworben hat!«
Garson D. Bartlett knallte die Tür nicht hinter sich zu. Das
war nicht seine Art.
Mr. McKee wartete noch zwei Minuten. Dann drückte er auf den
Knopf der Gegensprechanlage. Seine Sekretärin Mandy meldete sich
sofort.
»Versuchen Sie bitte, in Annie Francesos Wohnung anzurufen.
Sie soll auf der Stelle hier erscheinen!«
***
Annie Franceso fror.
Das war auch kein Wunder. Denn sie war nackt. Bis auf den
festen Strick, mit dem man ihr die Hände auf dem Rücken gebunden
hatte. Und bis auf die schwarze Augenbinde.
Ihre durchtrainierten Arme rissen an der Fessel. Aber in
diesem Moment schien sogar das jahrelange Kung-Fu-Training umsonst
gewesen zu sein. Ihre Lage war aussichtslos. Selbst wenn sie sich
losreißen konnte - die zehn Männer des Erschießungskommandos hatten
ihre Pumpguns auf sie gerichtet.
Ein eiskalter Windstoß fuhr durch ihr schulterlanges Haar.
Tabakgeruch stieg ihr in die Nase. Der Offizier rauchte noch eine
Zigarette, bevor er den entscheidenden Befehl gab. Mit jedem
Lungenzug tickte ihr Leben ein wenig länger weg…
Nun trat der Absatz seines Stiefels die Kippe aus. Sie hörte,
wie er seinen Degen aus der Scheide zog.
»Legt an!«
Annie Franceso biß sich auf die Lippen. Sie wollte dem
Exekutionskommando nicht den Triumph gönnen, sie weinen zu sehen.
Außerdem war sie in ihrem Innersten auch etwas froh. Nun bin ich
bald bei dir, mein geliebter Louis, dachte sie. Und dann sind wir
für immer vereint…
»Gebt - Feuer!«
Die zehn großkalibrigen Pumpguns krachten gleichzeitig
los.
In diesem Moment wachte die FBI-Agentin schreiend auf.
Nackt wie in ihrem Alptraum lag sie im Bett. In ihrem kleinen
New Yorker Apartment. Aber ihr war nicht kalt, sondern ihre Haut
war schweißverklebt. Grimmig preßte Annie Franceso die Lippen
aufeinander. Sie brauchte keinen Seelenklempner, um die Bilder aus
ihrem Unterbewußtsein zu deuten.
An diesem Morgen würde sie vor einem FBI-internen
Untersuchungsausschuß erscheinen müssen. Wegen des
Disziplinarverfahrens, das ihr drohte. Aufgrund von angeblicher
Mißhandlung dieses Yakuza-Girls Jane Chapman.
Wie spät ist es eigentlich? dachte die Latina und schielte zum
Wecker. Im nächsten Moment ging sie fast senkrecht in die
Luft.
Es war halb zehn! Und die Kommission aus Washington erwartete
sie um acht!
»Warum muß das Scheißding ausgerechnet heute nicht
funktionieren?« brüllte Annie, während sie bereits in Richtung Bad
rannte. Sie wünschte sich den Hersteller des Weckers vor dasselbe
Erschießungskommando, vor dem sie in ihrem Traum gestanden hatte.
Mehr als zwei Minuten gab sie sich nicht fürs Duschen und zum
Anziehen. Slip, BH, Strumpfhose, ihr bravstes Kostüm mit knielangem
Rock, schwarze Lackpumps.
Was können die mir schon anhaben? dachte Annie Franceso in
einem Anfall von Aufmüpfigkeit. Schlimmstenfalls schmeißt mich das
FBI eben raus. Ich wollte doch sowieso schon freiwillig
gehen…
Gleichzeitig wurde ihr klar, daß das Unsinn war. Sie war ja
nach Puerto Rico gegangen, weil sie einen Schlußstrich ziehen
wollte. Es hatte nicht funktioniert. Sie konnte vor ihren Problemen
nicht davonlaufen. Sie würde sich den Anforderungen des Lebens
stellen müssen.
Annie Franceso warf die Tür ihres Apartments hinter sich ins
Schloß. Als der Anruf von Mandy kam, war sie schon unterwegs zur
Federal Plaza…
***
»Wenn Frauen erst mal anfangen, sich zu stylen«, witzelte
Milo. Aber mein Freund und Kollege sah nicht so aus, als ob er
seinen eigenen Spruch besonders komisch fand. Und er erwartete wohl
auch nicht, daß ich darüber lachte.
Wir saßen einander gegenüber in einem Aufenthaltsraum an der
Federal Plaza.
Das Besprechungszimmer nebenan war zum provisorischen
Tagungsraum des Untersuchungsausschusses erkoren worden. Dort saßen
die drei Kollegen von der Abteilung Internal Affairs aus
Washington. Sie sollten über die weitere Karriere Annie Francesos
beim FBI entscheiden. Um acht Uhr hatte sie in eigener Sache
aussagen sollen. Inzwischen war es halb neun.
»Wir hätten sie heute morgen abholen sollen«, brummte ich.
»Damit sie nicht noch mal einen Rückzieher machen kann…«
»Hätten wir«, pflichtete der blonde G-man mir bei. »Haben wir
aber nicht.«
Im nächsten Augenblick verstummte er, als hätte er sich die
Zunge abgebissen. Die Tür zum Tagungsraum wurde von innen
geöffnet.
Garson D. Bartlett erschien. Milo nannte ihn nur »den
Großinquisitor«. Das fand ich nicht ganz fair. Mir war Bartlett
auch nicht sympathisch, aber es gehörte eben auch nicht zu seinem
Job, beliebt zu sein. Er hatte die undankbare Aufgabe, die faulen
Stellen aus dem großen Apfel FBI herauszuschneiden. Es gab zum
Glück nicht viele solcher faulen Stellen. Aber es gab sie. Ich
beneidete ihn jedenfalls nicht um seine Aufgabe.
»Special Agent Franceso hat offensichtlichwichtigeres vor«,
sagte er mit eiskaltem Spott. »Vielleicht einen Einkaufsbummel auf
der Fifth Avenue. Bis sie hier erscheint, möchte ich die Zeit
nutzen. Special Agent Trevellian, kommen Sie bitte.«
»Sie tun ihr unrecht!« rief Milo empört. »Sie hat Schweres
durchgemacht! Sie…«
»Ihre Aussage wird danach ebenfalls auf genommen, Agent
Tucker!« erwiderte Bartlett, ohne die Stimme zu heben.
Mein Freund murmelte etwas Unverständliches. Eine
Freundlichkeit war es bestimmt nicht.
Ich verkniff mir jede Bemerkung, während ich dem Mann aus
Washington in den Besprechungsraum folgte. Es war nicht klug, ihn
noch mehr gegen Annie aufzubringen. Andererseits konnte ich Milos
Reaktion verstehen. Wir saßen hier herum, während ein Fall gelöst
werden mußte.
Drei Bluttaten in Spanish Harlem. Alle drei trugen die
Handschrift von Schutzgelderpressern. Daher hatte das Police
Department den Fall an das FBI übergeben.
Eines der Opfer hatte überlebt. Aber es schwieg. Und Zeugen
gab es sowieso keine. Milo und ich drehten uns im Kreis, während
die gewissenlosen Verbrecher weiter ihrem schmutzigen Handwerk
nachgehen konnten.
Die Stimme von Garson D. Bartlett riß mich aus meinen
Gedanken.
»Special Agent Trevellian, Sie waren Zeuge der Handlungen von
Special Agent Franceso, wegen derer diese Kommission
zusammengerufen wurde. Ich muß Sie nicht an Ihren Diensteid
erinnern. Schildern Sie uns mit Ihren eigenen Worten, was geschehen
ist.«
Ich sah dem Inspector in die Augen. Vor ihm auf dem Tisch lag
eine dicke Akte. Ich hatte keine Ahnung, was sie enthielt.
Informationen über Annie Franceso? Oder über mich?
Links und rechts von ihm saßen zwei weitere Kollegen aus
Washington. Ebenfalls von Internal Affairs. Aber sie waren
rangniedriger als Bartlett.
Special Agent Anjelica Deila Sera. Eine etwa vierzigjährige
Frau, die so unnahbar wirkte wie eine alte Jungfer.
Und Special Agent Bruce Palmer. Kräftig gebaut, mit kantig
hervorspringendem Kinn. Ich kannte ihn von einem Lehrgang auf der
FBI-Akademie in Quantico. Er war ständig unzufrieden darüber, daß
er nur im Innendienst eingesetzt wurde.
Die kritischen Blicke der drei schienen mich zu durchbohren,
als ich meinen Bericht begann. Ich gab eine Zusammenfassung des
Falls, der uns auf die Spur der japanischen Mafia, der Yakuza,
gebracht hatte. Dabei beschrieb ich auch die Rolle von Jane
Chapman, dem teuflisch-schönen Lockvogel der Gangster aus Fernost.
[2]
Bartlett nickte ungeduldig. »Entschuldigen Sie, Agent
Trevellian. Aber ich kann selber lesen. Die Vorgeschichte ist uns
aus den Akten bekannt. Wir halten hier ja keine Märchenstunde ab.
Kommen wir zu dem bewußten Freitag. Zu den Ereignissen im
Hotelzimmer von Senator Andrew Warren.«
Ich biß die Zähne zusammen. Der Inspector aus Washington
machte es einem wirklich schwer, ihn zu mögen. »Der Karatekiller
Nagai und Jane Chapman hatten die Dokumente des Senators an sich
gebracht, Sir. Da griffen Agent Tucker, Agent Franceso, Detective
Sergeant Fernando von der City Police und ich ein. Wir stellten die
Verbrecher…«
»Sie waren eindeutig in der Übermacht !« bemerkte Bruce
Palmer. Man hörte seiner Stimme an, daß er selbst gerne mal an
einem solchen Einsatz teilgenommen hätte.
»Ja. Aber dann fiel uns Bob Duffy in den Rücken.«
»Wer ist das?« fragte Palmer.
Bartlett warf ihm einen wütenden Blick zu. Diese Frage paßte
nicht zum Alleswisser-Image, das sich die Jungs von Internal
Affairs gerne gaben.
»Ein Cop, der mit dieser Jane Chapman zusammen war!« stauchte
er seinen Untergebenen zusammen. »Er wollte die Verhaftung seiner
Freundin verhindern!«
»Er hat Louis Fernando erschossen!« sagte ich. »Agent Franceso
hat Louis Fernando geliebt!«
»Das spielt in diesem Disziplinarverfahren keine Rolle!«
grollte der Inspector aus Washington. »Wir wollen nur von Ihnen
hören, was Agent Franceso getan hat.«
Ich biß die Lippen aufeinander. Es widerstrebte mir, zu Annies
Gunsten zu lügen. Ich war schließlich an meinen Diensteid
gebunden.
»Wir warten, Special Agent Trevellian.«
Ich holte tief Luft. »Der Yakuza-Killer hatte Agent Tucker,
Agent Franceso und mich gezwungen, unsere Dienstwaffen abzulegen.
Er und Jane Chapman traten gemeinsam den Rückzug an. Sie hatten den
Senator als Geisel genommen. Dabei stieß die Chapman gegen den
toten Körper von Louis Fernando, und daraufhin streckte Agent
Franceso sie mit einem Kung-Fu-Tritt nieder.«
»Interessant.« Garson D. Bartlett beugte sich vor. »Und
dann?«
»Agent Tucker und ich setzten den Karate-Killer außer Gefecht.
Er war sobrutal,daß wir ihn zu zweit kaum…«
»Ich versichere Ihnen mein Mitgefühl«, höhnte der Inspector.
»Aber was tat Special Agent Franceso?«
»Sie… sie setzte Jane Chapman nach, Sir.«
»Sie setzte ihr nach? Wie tat sie das?«
»Nun, sie hielt die am Boden Liegende fest. Und sie schlug
sie.«
»Oft?« Bartlett war in seinem Element. Langsam verstand ich,
warum Milo ihn als Groß-Inquisitor bezeichnet hatte.
»Mehrmals«, antwortete ich. Mir war gar nicht wohl in meiner
Haut.
Nun erhob sich Bartlett von seinem Stuhl. Die Akte vor ihm
knallte zu. Es klang, als ob ein Fallbeil herabgesaust war. »Sie
hat so lange auf die bereits ohnmächtige Jane Chapman eingeprügelt,
bis Sie, Agent Trevellian, und Ihr Kollege Tucker sie von ihrem
Opfer weggezogen haben. War es nicht so?«
, »Sie müssen die Umstände bedenken, Sir…«
»War es nicht so?« Bartlett hob seine Stimme.
»Ja, so war es!« platzte ich heraus. »Aber jeder von uns hätte
in der Situation…«
»Das wäre alles für den Moment, Special Agent Trevellian.
Vielen Dank.«
»Moment mal! Sie können doch nicht…!«
»Vielen Dank.«
Der Inspector setzte sich wieder und zog einen schweren
Füllfederhalter aus seinem Jackett. Er begann zu schreiben. Wie ein
Schlafwandler verließ ich das Besprechungszimmer. Machte die Tür
von außen zu.
Milo sprang auf, als er mich erblickte. »Du siehst furchtbar
aus, Junge! Was ist passiert?«
»Ich fürchte, daß ich gerade den Strick um Annies Hals gelegt
habe, Alter. Ohne es zu wollen.«
***
»Du spinnst doch, Paco!« quäkte Miguel. »Nie und nimmer ist
das ein Rattennest!«
»Du traust dich ja bloß nicht!« Der Achtjährige grinste seinen
gleichaltrigen Freund an. Dabei wurde die Lücke sichtbar, wo sein
Schneidezahn fehlte.
Die beiden Kumpel liefen durch eine schmale Gasse zwischen
zwei älteren Brownstone-Häusern. Beide Häuser waren noch bewohnt.
Das war hier in Spanish Harlem nicht selbstverständlich. Trotz der
bekannten Wohnungsnot in Manhattan gab es hier in Spanish Harlem
jede Menge leerer Häuser. Und auch viele ausgebrannte Ruinen. Mehr
als irgendwo sonst in New York. Außer in der South Bronx
vielleicht.
Die beiden Jungs waren in diesem Ghetto aufgewachsen. Sie
lebten hier unter zweihunderttausend anderen Latinos, von denen
sehr viele arbeitslos waren.
Aber Paco und Miguel waren noch zu jung, um sich darüber
Gedanken zu machen. Sie hatten ein gemeinsames Hobby.
Möglichst gruselige Tiere beobachten.
Und davon gab es in dieser Gegend genug. Ausgewachsene Ratten
entdeckten sie fast jeden Tag. Miguel hatte schon mal behauptet,
einen richtigen Alligator gesehen zu haben. Angeblich hielten sich
die Reichen solche Reptilien als Schoßtiere. Und wenn sie zu groß
geworden waren, spülten sie die Tierchen in der Toilette runter.
Auch Paco kannte solche Stories. Aus dem Fernsehen. Aber genau
deshalb glaubte er eben nicht, daß sein Kumpel den Alligator
wirklich gesehen hatte.
Aber das Rattennest gab es. Er, Paco, würde es Miguel gleich
beweisen.
Flink sprang der Achtjährige auf einen Stapel Plastikbehälter,
die vor sich hinrotteten. Die Jungs befanden sich nun an der
Einmündung zwischen einem Hof und einem aufgegebenen Warenlager.
Der Maschendrahtzaun war so löcherig wie die Strumpfhose einer Hure
vom ›La Marqueta‹, dem großen Freiluftmarkt von Spanish
Harlem.
»Das sind mindestens dreißig oder vierzig gerade geborene
Ratten!« rief Paco seinem Freund begeistert zu, der hinter ihm
herkeuchte. Miguel war nicht ganz so sportlich wie er.
Miguel wischte sich die Hände an seinem Freddy-Krueger-T-Shirt
ab. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Da zerriß ein entsetzlicher Schrei die Stille um sie
herum.
Paco hätte sich nach rechts wenden müssen, um -zu den nackten
und blinden Jungratten zu kommen. Aber nun sprang er auf der linken
Seite von den Plastiktonnen hinab und huschte dann geduckt zwischen
ein paar verrosteten Maschinenteilen hindurch, getrieben von der
Abenteuerlust und der Neugierde.
Dem ersten Schrei folgte ein zweiter, der in einem Wimmern
endete.
Paco hörte den stoßweisen Atem von Miguel dicht hinter ihm.
Die beiden kleinen Latinos krochen durch das Gewirr von
Metallteilen und Unrat. Und dann sahen sie, wer geschrien
hatte.
Ein ungefähr vierzigjähriger Mann lag auf der Motorhaube eines
ausgeschlachteten Autowracks. Zwei grinsende Typen hielten seine
Arme fest, ein dritter seine Beine. Die Füße waren nackt. Ein
vierter Mann stand breitbeinig und grinsend vor dem Autowrack und
zog genußvoll an seiner Zigarette.
»Kennst du den?« wisperte Miguel.
»Na klar«, flüsterte Paco zurück. »Das ist doch Berto
Sanchez.«
Der Anführer der Todesschwadron genoß in Spanish Harlem
traurige Berühmtheit. Jedes Kind wußte, daß man sich mit ihm besser
nicht anlegte. Sonst passierte einem womöglich dasselbe wie diesem
Mann dort auf der Kühlerhaube.
Als Sanchez’ Zigarette wieder aufglimmte, hielt er die Glut an
eine der nackten Fußsohlen seines Opfers.
Der Vierzigjährige brüllte wie am Spieß. Nach den vielen
Brandwunden zu urteilen, hatte seine Haut schon mehrfach
Bekanntschaft mit der Zigarette des brutalen Schlägers
gemacht.
»Deine Füße stinken!« Mit gespieltem Ekel wandte sich Berto
Sanchez ab, nahm ein paar tiefe Lungenzüge. »Das ist übel, Eduardo.
Noch übler ist aber, daß dein Onkel immer noch nicht gezahlt hat.
Nimm es nicht persönlich, muchacho. Aber wir dürfen hier keine
Ausnahmen machen. Ich bin ja selbst nur ein kleiner
Befehlsempfänger.«
Zynisch zuckte er mit den Schultern. Und machte weiter mit
seiner feigen Marterung.
Endlich trat er die Zigarette aus, dann stemmte er sich mit
beiden Händen auf seine Oberschenkel und beugte sich über sein
Opfer. »Also noch mal zum Mitschreiben, Eduardo. Morgen kommen wir
bei deinem Onkel abkassieren. Du solltest ihn überreden, diesmal zu
bezahlen. Die Geduld von Don Alfonso ist am Ende. Wenn ihr diesmal
nicht…«
Ein Klappern unterbrach ihn.
»Scheiße!« brüllte einer seiner Kumpane. »Da liegt einer auf
der Lauer!«
Das scheppernde Geräusch vervielfachte sich. Wer immer
gelauscht hatte, er schien sich nun aus dem Staub machen zu
wollen.
»Greift ihn euch, ihr faulen Säcke!« blaffte Berto Sanchez.
»Worauf wartet ihr noch?«
Zwei der Schläger aus seiner Gang kamen dem Befehl nach.
Das Opfer namens Eduardo rutschte stöhnend vor Schmerzen von
der Kühlerhaube und blieb auf dem dreckigen Boden liegen.
Der Boß der Todesschwadron stieß ihm seine Stiefelspitze
zwischen die Rippen. »Du kannst abhauen. Und du überredest deinen
Onkel besser! Du weißt, was sonst mit euch und eurem Laden
passiert!«
Berto Sanchez hörte laute Rufe auf Spanisch. Flüche. Dann zwei
Schüsse.
Zehn Minuten später kehrten seine Kumpane zurück.
»Sie sind uns durch die Lappen gegangen«, knirschte einer von
ihnen. Es war der mit dem Lakers-T-Shirt. »Zwei Kids, nicht älter
als neun.«
»Ihr seid wirklich zu nichts zu gebrauchen!« brüllte Sanchez.
»Noch nicht mal zwei Kleinkinder könnt ihr einfangen!«
»Die verdammten kleinen Ärsche waren einfach zu flink«,
behauptete der andere Schlägertyp. »Sie haben uns glatt abgehängt.
Ich habe versucht, ihnen eine Kugel zu verpassen, auch nix!«
Berto Sanchez schob drohend die Ärmel seiner knallroten
Lederjacke hoch. Er trat vor, und es sah ganz so aus, als ob er
seinen Männern eine Abreibung verpassen wollte.
»Aber wenigstens habe ich einen von ihnen erkannt«, sagte der
mit dem Lakers-T-Shirt schnell. »Es war einer von den
Franceso-Jungs!«
***
Als Annie Franceso keuchend vor dem Tagungszimmer des
Untersuchungsausschusses eintraf, wartete dort ihre Dienstpartnerin
Jennifer Clark auf sie.
»Annie!« rief Jennifer. Auch sie hatte sich für die Befragung
in ihr bestes Kostüm geworfen. »Wo warst du nur? Es ist eine Minute
vor zehn und…«
»Weiß ich«, keuchte die Latina. Sie klopfte kurz und trat dann
ein. Bringen wir es hinter uns, sagte sie sich selbst.
»Special Agent Franceso!« Garson D. Bartlett erhob sich hinter
seinem Tisch. »Welch eine Ehre, daß Sie ein paar Minuten Ihrer
kostbaren Zeit für uns erübrigen können!«
»Es tut mir leid, Sir«, brachte Annie heiser hervor. »Ich habe
keine Entschuldigung, die ich Vorbringen könnte.«
Daß ihr Wecker nicht funktioniert hatte, das klang zu sehr
nach fauler Ausrede, auch wenn es tausendmal die Wahrheit war.
Annie Franceso wollte auch keine Geschichte erfinden. Sie spürte
instinktiv, daß sie diesem Mann aus Washington nichts vormachen
konnte. Der Blick durch seine goldgefaßten Brillengläser schien
geradewegs in die Tiefen ihrer Seele zu dringen. Und offenbar
gefiel ihm überhaupt nicht, was er dort sah.
»Ihre Verspätung ist ein Kapitel für sich, Special Agent
Franceso. Obwohl auch die ein gewisses Licht auf Ihre
Dienstauffassung wirft. Aber dazu kommen wir später. Wir möchten
nun noch einmal Ihre Version der Ereignisseim Hotelzimmer von
Senator Andrew Warren hören…«
Die Folterqual begann. Immer wieder und wieder sah Annie
Franceso vor ihrem geistigen Auge, wie die Kugel des verräterischen
Cops Bob Duffy in den Körper ihres geliebten Louis Fernando schlug.
Sah ihn fallen. Sah, wie Jane Chapman auf seinem Leichnam
herumtrampelte.
Und Garson D. Bartlett schonte sie nicht. Ihn interessierte
jedes kleinste Detail. Wer hatte wo gestanden? Wie groß war der
Raum? Wie weit war Jane Chapman durch Annie Francesos Tritt
geschleudert worden?
»Was war das überhaupt für ein Tritt?« Special Agent Bruce
Palmer beugte sich interessiert vor.
»Der schattenlose Kick, Sir«, antwortete Annie. Es kostete sie
übermenschliche Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen. Diesen
Triumph wollte sie Battlett nicht gönnen. »Es ist eine
Kung-Fu-Technik. Der Fuß wird so schnell nach vorne gestoßen, daß
der Gegner ihn nicht kommen sieht.«
»Wie schön!« höhnte der Inspector aus Washington. »Wir
schätzen es sehr, wenn sich unsere Special Agents für Kampfsport
begeistern. Aber haben Sie schon mal erwogen, daß Sie als Stuntgirl
in Hollywood vielleicht besser aufgehoben wären, Agent Franceso?«
Er betonte das Wort »Agent«, als hielte er es für eine
Unverschämtheit, daß sich die Latina so nennen durfte. Und
vielleicht tat er das auch.
»Beim Film würde ich jedenfalls besser verdienen als beim
FBI«, gab Annie trocken zurück. Ihr platzte bald der Kragen. Sie
wollte nicht mehr die Unterwürfige vor Garson D. Bartlett spielen
und sich abkanzeln lassen wie ein dummes Schulmädchen.
Die Agentin trat einen großen Schritt vor und maß den
Ermittler aus Washington mit einem spöttischen, abschätzigen Blick.
»Bei allem Respekt, Sir. Erstklassige körperliche Fitneß ist eine
Selbstverständlichkeit für FBI-Leute. Oder sollte es zumindest
sein. Das gilt für alle Abteilungen…« Sie dehnte die beiden letzten
Wörter so, wie Bartlett es zuvor mit dem Begriff »Agent« getan
hatte.