Darry March gähnte. Der Angestellte der Illinois Trading Bank
hatte noch zwei Stunden bis Feierabend. Erarbeitete in einer
winzigen Filiale der Bank in der Southern Shopping Mall, einem
riesigen Einkaufszentrum am Stadtrand von Chicago. Hierher kamen
hauptsächlich Kunden, die einen schnellen Kleinkredit für ihre
Spontankäufe brauchten. Deshalb war die Bankfiliale auch nur mit
zwei Leuten besetzt. March und seiner Kollegin Rita Bickford.
Gerade betrat ein Mann die kleine Filiale der Illinois Trading
Bank. Er trug schwarze Jeans und eine wattierte Jacke.
»Kann ich helfen, Sir?« frage Darry March diensteifrig.
Die Antwort bestand aus einer stahlglänzenden Ruger KP
90-Pistole, die ihm der »Kunde« unter die Nase hielt.
»Geld her! Alles!« Die Stimme klang wie gemahlener
Granit.
Mit zitternden Händen packte der Kassierer grüne Dollarnoten
in die Plastiktüte, die der Mann ihm hinhielt. Gleichzeitig
betätigte er mit dem Fuß einen Alarmknopf.
Der Bankräuber sah die Bewegung und drückte ohne Vorwarnung
ab. Rita Bickford kreischte entsetzt auf.
Toby Hancock war als Verbrecher kein unbeschriebene Blatt.
Doch dies war sein erster Mord.
Während er seinen rostigen Mitsubishi Colt auf dem Highway
Richtung Osten prügelte, lief die Szene, die sich in der Illinois
Trading Bank ereignet hatte, noch einmal vor seinem geistigen Auge
ab.
Der Banker war tot. Daran gab es keinen Zweifel. Und die Cops
würden ihn hetzen. Diesmal war alles anders. Anders als bei den
bewaffneten Raubüberfällen, schweren Diebstählen und
Körperverletzungen, wegen denen er früher Trouble mit dem Gesetz
gehabt hatte.
Hancock hätte selbst nicht sagen können, warum er einfach
abgedrückt hatte. Es war wohl ein Reflex gewesen. Aber er bereute
nichts. Im Gegenteil. Es kam ihm so vor, als wäre dieser Mord eine
Feuertaufe gewesen. Damit endlich einmal klar wurde, daß man mit
Toby Hancock zu rechnen hatte. Daß er ein Mann war, der verdammt
gefährlich werden konnte.
Jahrelang hatte der drahtige Mittdreißiger auf die kleinen
Ganoven hinabgeblickt. Ohne sich einzugestehen, daß er selber einer
war. Doch dieser kaltblütige Mord an dem Bankkassierer hatte in
seinem Inneren eine Sperre zerbrechen lassen. Hancock war nun
bereit, weiterzumorden. Er hatte seine Hemmungen verloren.
Nachdem er fast 50 Meilen zwischen Chicago und sich gebracht
hatte, riskierte er eine kurze Pause. Beim nächsten Exit setzte er
den Blinker und suchte sich auf einem Parkplatz eine abgeschiedene
Ecke. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß auch wirklich niemand
in der Nähe war, checkte er seine Beute.
Er hatte genau 5.600 Dollar in seiner Plastiktüte. Ziemlich
wenig für ein Menschenleben.
Toby Hancock fluchte innerlich. Er war davon ausgegangen, daß
es mehr gewesen wäre. Vielleicht hätte er doch besser eine größere
Filiale überfallen sollen. Aber er hatte den kleinen Verschlag in
dem großen Shopping Center mit Bedacht ausgewählt. Dort hatte es
noch nicht mal einen Wachmann gegeben.
Er stopfte die Greenbucks in die Innentaschen seiner
wattierten Jacke. Es nutzte nichts, sich über schon gemachte Fehler
zu beklagen. Der Verbrecher startete wieder seinen Mitsubishi Colt
und orientierte sich an den großen grünen Schildern, die New York
City anzeigten.
Dorthin zog es ihn. Dort wollte er sich den größten Traum
seines Lebens erfüllen.
***
Der Verdächtige riß sich los.
Seine Jacke blieb in meinen Fingern. Obwohl ich schnell
reagierte, hatte er bereits mindestens 30 Yards Vorsprung. Als ich
startete, hatte er schon seinen Laufrhythmus gefunden. Außerdem war
ich im Nachteil. Der Verdächtige trug erstklassige Joggingschuhe
und Sportkleidung. Ich mußte ihm in normalen Lederschuhen
nachsetzen,'fedie ich passend zu meinem grauen Anzug trug.
Aber ein Special Agent des FBI sollte auch mit solchen
Problemen fertigwerden.
Mein Gegner war mit einem sehr hohen Anfangstempo gestartet.
Er sprintete mir davon. Ich blieb bewußt etwas langsamer. Dafür
lief ich mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit. Und ließ ihn
nicht aus den Augen.
So verging eine Viertelstunde. Zwanzig Minuten. Er war immer
noch vor mir, doch allmählich ging ihm die Puste aus. Ich holte
auf, obwohl ich nicht schneller lief. Er drehte sich immer wieder
nach mir um. Das kostete ihn Zeit.
Schließlich war ich auf Armeslänge an ihn herangekommen. Da
setzte ich alles auf eine Karte. Ich machte einen Hechtsprung und
riß ihn von den Beinen.
Keuchend krachten wir beide auf das harte Straßenpflaster.
Bevor er sich versah, hatte ich seine Arme auf den Rücken gerissen
und ihm die Handschellen angelegt.
Ich hörte das Quietschen von Fahrradbremsen hinter meinem
Rücken. Auf einem Mountainbike saß Special Agent Sidney Parker. Der
Lauftrainer unserer FBI-Akademie in Quantico, Virginia. Dort machte
ich gerade eine Fortbildung. ›Lauftechniken im Polizeialltag‹
nannte sie sich.
Parker sah kritisch auf seine Stoppuhr. »Das war nicht übel,
Jesse«, meinte er. »Aber ich weiß, daß noch mehr in dir steckt. Es
gibt ein grundsätzliches Problem beim Laufen, wenn wir im Einsatz
einen Verdächtigen verfolgen.«
»Welches?« fragte ich, während ich dem ›Verdächtigen‹ die
Handschellen wieder abnahm. Er war ein Kollege, ein anderer
G-man.
»Verfolgungsjagden entstehen meist spontan. Also können wir
uns vorher nicht aufwärmen. Es gibt allerdings einen schwachen
Trost. Die Verbrecher sind meist vorher auch nicht
aufgewärmt.«
Wir lachten.
»Wo ist eigentlich dein Freund Milo?« erkundigte sich Sidney
Parker.
»Der nimmt heute an dem 20-Meilen-Waldlauf teil.«
»Wußte gar nicht, daß er sich so für das Laufen
interessiert.«
»Ich auch nicht, Sidney Aber wie ich hörte, sind eine Menge
Kolleginnen in der Gruppe. Vielleicht hofft er ja auf eine nette
Verabredung.«
Der Lauftrainer grinste. »Wenn Mr. Milo Tucker vom FBI Field
Office New York so gut zu Fuß ist, kann er ja demnächst an dem
größten Ereignis der Läuferwelt teilnehmen.«
»Und was wäre das, Sidney?«
»Der New-York-Marathon.«
***
Rita Bickford hatte eine Beruhigungsspritze bekommen. Zu groß
war der Schock für die Bankerin gewesen, ihren Kollegen Darry March
vor ihren Augen sterben zu sehen. Brutal ermordet von einem
skrupellosen Killer.
Ein Killer, den sie zum Glück genau beschreiben konnte.
»Er ist ungefähr sechs Fuß und zwei Inch groß«, sagte sie zu
Lieutenant Montague vom Chicago Police Department, der mit seinen
Männern am Tatort eingetroffen war. »Vielleicht wirkt er noch
größer, weil er so ungewöhnlich drahtig und sehnig ist. Sein Alter
schätze ich auf Mitte Dreißig. Die Haare sind mittelblond und sehr
kurzgeschnitten. Er hat blaue Augen. Das konnte ich alles genau
erkennen, weil er nicht maskiert war.«
Montague nickte anerkennend. Solche genauen Zeugenaussagen
waren selten. »Seine Kleidung, Miss Bickford?«
»Schwarze Jeans, schwarze Turnschuhe. Eine wattierte
dunkelblaue Jacke. Ich konnte nicht erkennen, was er darunter trug.
Keine Mütze.«
»Wie ist er geflohen? Mit einem Wagen?«
»Das weiß ich nicht, Lieutenant. Als er aus der Filiale
gerannt ist, bin ich sofort zu Darry - meinem Kollegen
-hingestürzt. Um zu sehen, ob ich ihm noch helfen konnte. Aber…«
Sie ließ den Satz unvollendet.
Der stämmige Lieutenant erhob sich von seinem Stuhl. »Sie
haben uns schon sehr geholfen, Miss Bickford. Wenn Ihnen noch
etwas…«
»Mir ist noch eine Besonderheit aufgefallen!« meinte die
Bankerin plötzlich und schnippte mit den Fingern.
Der Cop sah sie gespannt an.
»Dieser Bankräuber - er rannte wie der Blitz. Er machte auf
mich den Eindruck eines trainierten Läufers oder anderen
Sportlers.«
***
Milo Tucker nickte schon zum dritten Mal ein, seit wir in
Quantico losgefahren waren. Unser Lehrgang war beendet, und es ging
wieder Richtung Heimat, naph New York City. Ich steuerte meinen
roten Sportwagen vorsichtig über den Highway. Es war schon
November, und der Winter kam mit Macht.
»Muß ja gestern abend ganz schön anstrengend gewesen sein,
dein letztes date mit Paula«, grinste ich. Mein Freund war nämlich
in den letzten Tagen einer strohblonden Kollegin aus dem Field
Office in Little Rock näher gekommen.
»Anstrengend ist der richtige Ausdruck«, stöhnte Milo. »Am
Anfang fand ich diesen Südstaaten-Dialekt ja noch richtig niedlich.
Aber je besser wir uns kennengelernt haben, desto weniger habe ich
verstanden.«
»Habt ihr denn soviel geredet?« erkundigte ich mich
unschuldig.
»Stimmt eigentlich. Zum Reden kamen wir nicht so viel. Dafür
waren wir zu sehr außer Atem.«
»Wieso das denn?« wollte ich wissen.
»Nicht was du denkst, Jesse!« platzte Milo hervor. »Im
Gegenteil. Paula wollte, daß wir an dem freiwilligen Nachtlauf
teilnehmen, der gestern zum Abschied angesetzt war.«
Ich blickte in das enttäuschte Gesicht meines Freundes und
mußte wieder grinsen. »Nimm's leicht, Partner. Ich war gestern im
Kino, wo es einen alten Film zu sehen gab. Der hat mich auch nicht
gerade aus den Schuhen gehauen.«
»Was haben sie denn gezeigt?«
»›Marathon Man‹!«
***
Toby Hancock verband das Angenehme mit dem Nützlichen.
Auf halbem Weg von Chicago nach New York City fuhr er in
Pennsylvania vom Highway runter und parkte seinen schrammigen
Mitsubishi Colt am Rand einer einsamen Nebenstraße.
Er stieg aus, klappte die Fahrertür zu und machte ein paar
Dehn- und Streckübungen. Es juckte den Killer in den Fußsohlen. Er
wollte wieder laufen. Mittag war schon vorbei, und er hatte noch
nicht trainiert. Und ein Tag ohne Training war ein verlorener Tag
für ihn.
Er zog sich nicht um. Hancock hatte ja die Beute in seiner
Jacke stecken. In der nicht zu engen Jeans war er genauso beweglich
wie in einer Jogginghose. Und Laufschuhe hatte er sowieso immer
an.
Toby Hancock war süchtig.
Aber nicht nach Crack, Heroin, Marihuana oder Alkohol. Wie so
viele andere Kriminelle. Nein, Hancocks Droge war das Laufen. Er
trainierte schon seit Jahren. Hatte sich in seinen Leistungen immer
mehr gesteigert. Und nun hatte er das größte Ziel seines Lebens vor
Augen.
Doch an diesem dämmerigen Novembernachmittag backte er erstmal
kleinere Brötchen. Der Mörder begann einen lockeren
Querfeldeinlauf. Er führte ihn über Waldwege, an den Rändern von
besiedelten Gegenden vorbei.
Hancock kannte diese Gegend überhaupt nicht. Aber das störte
ihn nicht. Durch das viele Laufen hatte er einen hervorragenden
Orientierungssinn gewonnen. Auch nachdem er eine Dreiviertelstunde
vor sich hin getrabt war, würde er den Weg zum Auto problemlos
zurückfinden. Das wußte er.
Und er wußte auch, was er sonst noch suchte.
Zehn Minuten später hatte er es gefunden.
Eine Tankstelle, fernab der großen Durchgangsstraßen.
Sie wirkte wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Man
hätte glauben können, jeden Moment einen Cadillac Eldorado um die
Ecke biegen zu sehen. Und die Musik von Elvis Presley oder Buddy
Holly zu hören, die aus dem Autoradio drang. Doch die fünfziger
Jahre waren schon lange vorbei.
Wir haben jetzt die knallharten Neunziger, dachte der
Kriminelle zynisch. Und das werden auch die Leutchen hier im
hintersten Winkel von Pennsylvania gleich feststellen müssen…
»Hallo, Fremder!«
Kaum hatte Hancock sich schräg vom Waldrand her der Tankstelle
genähert, als ihn ein alter Marin ansprach. Er kam aus dem kleinen
Shop hinter den Zapfsäulen. Das karierte Flanellhemd und die
ölbeschmierte Latzhose wiesen ihn als Hinterwäldler aus. Als
Einheimischen, der vielleicht in seinem Leben nie weiter gekommen
war als bis zur nächsten Kleinstadt.
Ein echter Naturbursche, sagte sich der Mörder. Und als er
sich den Alten näher ansah, wurde er in dieser Annahme bestätigt.
Der Tankwart trug noch nicht mal Schuhe! Und das trotz der
frostigen Novembertemperaturen!
Der Mann im Overall bemerkte den irritierten Blick des Fremden
und verzog seinen breiten Froschmund zu einem zahnlosen Grinsen.
»Die Kälte merke ich schon gar nicht mehr. Hab' meinen Lebtag keine
Schuhe getragen. Außer im Krieg.«
»Im Krieg?« echote der Killer verwirrt.
»Korea-Krieg, Mann! Bei der Army muß man nun mal Schuhe
tragen. Da muß man überhaupt 'ne Menge Sachen tun, die mir nicht
gepaßt haben.«
Während’ des Wortwechsels waren die beiden Männer in den
winzigen Verkaufsrauirfder Tankstelle getreten.
Ob man hier überhaupt nennenswerte Beute machen kann? fragte
sich der Verbrecher verächtlich. Aber das war ihm egal. Er hatte
sich vorgenommen, seinen Trainingslauf mit einem Raubüberfall zu
krönen. Und das würde er tun. Einfach so. Um sein Kapital
aufzustocken.
Toby Hancock griff unter seine Jacke, wo er die Ruger KP 90 im
Hosenbund stecken hatte.
Doch bevor er die Waffe ziehen konnte, hielt ihm der alte
Tankstellenpächter einen verschrammten Colt Peacemaker vor die
Nase!
Ein Museumsstück, das bestimmt noch von seinem eigenen
Großvater stammte.
Aber nicht umsonst war dieser Revolver eine Legende. Hancock
wollte jedenfalls nicht ausprobieren, ob das Schießeisfen wirklich
noch funktionierte.
»Was soll das?« stieß er hervor. »Was habe ich Ihnen
getan?«
»Noch hast du nichts getan!« knurrte der Oldtimer. »Mir gehts
darum, was du vorhast!«
Mit der anderen Hand riß der alte Mann Hancocks Jacke auf.
Seine Pistole kam zum Vorschein. Und die dicken Bündel
Hundert-Dollar-Scheine, die auf beiden Seiten in den Innentaschen
steckten.
»Lassen Sie das!« begehrte Hancock auf.
Doch der Alte schlug ihm kurz und kräftig den Lauf des
Peacemakers über den Kiefer.
Der Killer fühlte, wie sich Blut in seinem Mund
sammelte.
»Es ist verdammt einsam hier draußen«, sagte der Tankwart wie
zu sich selbst. »Da hat man jede Menge Zeit, um über die Menschen
nachzudenken. Und wenn du so wenige siehst wie ich, Söhnchen, dann
kannst du dich ganz auf dein Gespür verlassen. Daß du Böses
vorhast, habe ich dir schon an der Nasenspitze angesehen.«
»Site sind ja verrückt!«
Der Alte lachte auf. Es klang wie das Meckern einer Ziege.
»Kann schon sein, Söhnchen. Du kannst ja den Sheriff rufen und dich
über mich beschweren. Na, wie ist es? Da hängt das Telefon!«
Und er deutete auf einen uralten Münzapparat, der bestimmt
älter war als Hancock selbst. Also mehr als dreißig Jahre.
Der Killer biß die Zähne zusammen und hob die Hände. Er
überlegte, ob er dem Mann die Schußwaffe abnehmen konnte. Aber der
Tankstellenpächter schien für sein Alter verdammt auf Zack zu
sein.
»Na, was ist? Ich hindere dich nicht daran. Die Nummer des
Sheriffs steht übrigens am Telefon selbst.«
Hancock rührte keinen Finger. Das war für den Alten Beweis
genug, daß hier etwas oberfaul war.
»So, dann erleichtere dich mal, mein Söhnchen. Her mit den
Bucks!«
»Was soll ich? Sie sind wohl völlig überge…« Der Rest des
Satzes ging in einem Schmerzenswimmern unter. Der
Tankstellenpächter hatte Hancock wieder ins Gesicht geschlagen.
Diesmal war die Nase das Ziel gewesen. Sie fühlte sich nun an, als
wäre sie in glühende Lava getaucht worden.
»Wird's bald?«
Der Killer mußte sich eingestehen, daß er keine Chance
hatte.
Zuerst zog ihm der Alte die Pistole aus dem Hosenbund und
pfefferte sie höchstpersönlich in eine dunkle Ecke dieses dunklen
Ladens. Dann machte er eine unmißverständliche Bewegung mit dem
Lauf des Peacemakers.
Und Hancock gehorchte. Er hatte keine Lust, noch einmal mit
dieser Höllenknarre Bekanntschaft zu machen.
Während sein schwarzes Herz blutete, stapelte der Räuber die
erbeuteten Dollars auf die Theke der Tankstelle. Eigentlich war er
hierher gekommen, um sie zu vermehren. Und nicht, um sie
loszuwerden.
Der Oldtimer nickte zufrieden vor sich hin. Dann zog er ein
25-Cent-Stück aus seiner ölverschmierten Hose. »So. Und nun setz
dich da auf den Stuhl. Ich werde jetzt höchstpersönlich den Sheriff
anrufen.«
Der Alte wandte sich dem Telefon zu.
Hancock sah seine Chance gekommen und wollte auf ihn
los.
Doch damit schien der Tankwart gerechnet zu haben. Er richtete
seinen Peacemaker wieder auf Hancock.
Blitzartig erkannte der Killer, daß er einen Fehler gemacht
hatte. Er konnte den Alten nicht überrumpeln. Nicht ohne eine
eigene Waffe. Und die hatte er nicht. Also gab es nur eine
Möglichkeit.
Die Flucht.
Der antike Revolver röhrte los.
Doch das Geschoß traf den Killer nicht. Er hatte sich im
letzten Moment zur Seite geworfen. Draußen wurde es immer
dämmeriger. Das war seine Chance.
Hancock warf sich rückwärts aus der Tür und rollte ab. Sofort
war er wieder auf den Beinen. Und dann tat er das, was er auf
dieser Welt am besten konnte.
Er rannte los.
»Bleib stehen, du Hurensohn!« belferte der Alte hinter ihm
her, und dem Verbrecher flogen einige weitere Kugeln aus dem
Peacemaker um die Ohren.
Aber dann war er im schützenden Dickicht des Waldes
verschwunden.
Und rannte im Rekordtempo, bis er wieder bei seinem Mitsubishi
Colt angekommen war.
***
Toby Hancock kochte innerlich, als er den Wagen startete und
ihn wieder Richtung New York in Bewegung setzte.
Er stand schlechter da als je zuvor! Die Cops würden ihm wegen
dem Mord in der Bank auf den Fersen sein, der alte Bastard hatte
sicher auch nichts Eiligeres zu tun, als den Sheriff zu alarmieren
- und zu allem Überfluß war er jetzt auch noch unbewaffnet und fast
pleite!
Dreihundert Dollar hatte er noch zus.ammengerollt in seiner
vorderen linken Jeanstasche stecken. Aber davon würde er auch noch
tanken und essen müssen, bis er in New York angekommen war.
Inzwischen war es völlig dunkel. Hancock versuchte ruhiger zu
atmen. Und sagte sich immer wieder, daß es noch viel schlimmer
hätte kommen können. Wenn der Alte es geschafft hätte, ihn wirklich
festzuhalten. Das wäre sein Ende gewesen. Lebenslänglich hinter
Gitter für den Bankmord. Oder gleich der elektrische Stuhl. Er
wußte nicht genau, ob der Staat Illinois die Todesstrafe verhängte.
Er wollte es auch nicht unbedingt erfahren…
Wie ein Komet schwebte der Mitsubishi über den Highway. Ruhig
seine Bahnen ziehend neben all den anderen hellen Kometen. In jedem
dieser Wagen saß jemand mit Hoffnungen und Träumen.
Aber es gab bestimmt niemanden, der so verrückte Träume hatte
wie Toby Hancock. Und so skrupellos darin war, sie zu
verwirklichen. Der Verbrecher konnte seine Niederlage einfach nicht
verkraften.
Deshalb fuhr er bei der nächsten Gelegenheit vom Highway und
hielt bei einem Truck Stop. Eine Viertelstunde später stieg er
wieder ein und fühlte sich bedeutend besser. In seiner Jacke hatte
er eine fremde Brieftasche mit über 500 Dollar.
Und in der Herrentoilette des Truck Stops lag ein
Versicherungsvertreter aus Wisconsin mit eingeschlagenem
Schädel.
Toby Hancock grinste höhnisch. Bei der nächsten Gelegenheit
würde er wieder rausfahren und diesmal ganz brav und zivil ein
Abendessen verspeisen. Am besten ein riesiges blutiges Steak mit
einem Berg Pommes Frites. Dieses Kraftfutter würde ihm die Energie
verleihen, bis New York durchzufahren.
Und dort dann gleich zu Spencer Bolt.
***
Sharon Fry kreischte auf.
Das war allerdings auch kein Wunder. Denn sie lag nackt in
einer Badewanne, die halb mit Sekt gefüllt war. Und Spencer Bolt
stand über ihr und begoß sie mit noch mehr Schaumwein.
»Die schaumgeborene Venüs!« röhrte er. »Ist das nicht so 'n
klassischer Griechenblödsinn? Da muß ich wohl in der Highschool
gefehlt haben - ha-haha!«
Bolt war ein Witzereißer und Blender. Ein Windmacher und
Bescheidwisser, der seine Hände in tausend mehr oder weniger
krummen Geschäften hatte. Wer ein Auto gestohlen hatte und es nicht
selbst verhökern konnte, ließ sich von Bolt bar auszahlen. Wer eine
illegale automatische Waffe brauchte, rief auf dem Handy des
Geschäftemachers an. Und wer sich einen neuen Namen und eine neue
Identität zulegen mußte, der fand ebenfalls seinen Weg in die
Clarendon Road im New Yorker Borough Brooklyn.
Sharon Fry sah ihn beinahe verliebt an. Der dunkelhaarige und
leicht übergewichtige Bolt konnte ihr schon mal gewaltig auf die
Nerven gehen. Aber er war um Längen besser als ihre früheren
Freunde. Bolt war nur halb so kriminell, dafür aber doppelt so
charmant wie die Männer, mit denen sich die attraktive Blondine
bisher meist eingelassen hatte. Außerdem hatte er sie noch nie
geschlagen. Und das war ein dicker Pluspunkt.
Sharon strich sich den Sekt von ihren üppigen Brüsten, die
auch ohne BH aufrecht standen, und Bolt sehnsüchtig ihre Warzen
entgegenzurecken schienen.
Der Geschäftemacher bekam Stielaugen. Er wollte eine weitere
Sektflasche öffnen, aber Sharon winkte ab.
»Wollen wir die nicht lieber innerlich anwenden, Baby?«
»Gute Idee!« Obwohl er vollständig bekleidet war, beugte sich
Bolt zu ihr hinunter. Mit einer Kraft, die sie dem etwas speckigen
Mann nie zugetraut hätte, hob er sie auf seinen Armen aus der
Badewanne und drückte sie an sich- »Aber dafür nehmen wir echten
französischen Champagner und nicht dieses kalifornische Zeug. Ich
habe wieder drei Kartons davon bekommen. Sind vom Truck gefallen -
hahaha!«
Bolt nahm ein riesiges flauschiges Frotteehandtuch und
rubbelte Sharon damit ausgiebig ab. Ein kalter und heißer Schauer
nach dem anderen lief über ihren wohlgeformten Körper. Denn der
stämmige Mann verstand es, mit seinen Händen ihre Leidenschaft zu
erwecken.
Ihre Augen glänzten feucht. »Komm ins Bett«, bat sie ihn mit
heiserer Stimme. »Der Champagner kann warten!«
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Süße!« grinste Bolt und schob die
roten Hosenträger von seinen runden Schultern.
Die Türklingel fuhr mit ihrem durchdringenden Geräusch
dazwischen.
»Laß doch!« murrte die Blondine, als der Geschäftemacher
seufzend seine Hosenträger wieder hochzog.
»Geht nicht, Sweetheart«, erklärte er, während er sich zur Tür
seines Apartments bewegte. »Service ist alles. Meine Kunden wissen,
daß sie mich Tag und Nacht erreichen können. Das Leben ist hart,
der Markt umkämpft. Und ich bin erfolgreich. Und du magst doch
erfolgreiche Männer, oder?«
Na warte, dachte Sharon schmunzelnd. Wenn du gleich was von
mir willst, dann mußt du mich erstmal suchen.
Und sie stieg nackt in eine antike spanische Truhe. Kein
normaler Mensch hätte in dieses Behältnis hereingepaßt, aber Sharon
konnte es. Sie hatte in ihrem bewegten Leben schon vieles gemacht.
Als sie beim Zirkus gewesen war, hatte sie sich als Gummimensch
versucht. Darin war sie sogar ein wenig erfolgreich gewesen. Doch
das harte Training und der schlechte Lohn hatten ihren Luxusträumen
widersprochen. Später hatte sie sich dann lieber mit Männern
eingelassen, mit wechselndem Glück. Immerhin war ihr aus der
Zirkuszeit die Fähigkeit geblieben, sich in eine kleine Truhe
quetschen zu können.
Spencer Bolt würde Augen machen, wenn er sie nirgends fand!
Sein Schlafzimmer war wie der Rest des Apartments zugestellt mit
Sachen aus seinen dubiosen Geschäften. Von originalverpackten
Videorecordern über antike Wandteppiche bis zu teuren Anzügen fand
man hier alles, was nicht ganz legal und nicht ganz koscher
war.
Inzwischen hatte Bolt die Tür für seinen späten Besucher
geöffnet. Die Schlafzimmertür stand offen. Sharon konnte genau
hören, worüber sie sprachen.
***
Sheriff Hawn lachte so herzlich, daß die Knöpfe seines
Uniformhemdes über dem kugelrunden Bauch beinahe wegplatzten, um
wie Pistolenkugeln durch den Raum zu schießen.
»Da hast du es dem Kerl ja richtig gegeben, Sam!« rief er dem
alten Tankstellenpächter zu, der ihn angerufen hat.
Der stimmte meckernd in das Lachen ein. »Ich lasse mir doch
von so einem verdammten Städter nicht meine mühselig verdienten
Dollars abnehmen. Ich erkenne einen bösen Menschen, wenn ich ihn
sehe, Sheriff. Das ist mein großer Vorteil!«
Und er präsentierte stolz seine Beute. Die Ruger und die
Dollars aus Hancocks Jacke.
Der Sheriff schob seinen Stetson zurück und kratzte sich
nachdenklich an seinem gewaltigen Kopf. »Schade, daß er dir
entkommen ist. Und eigentlich hatte er ja wohl auch noch nichts
Kriminelles gemacht…«
»Soll ich warten, bis ich hier in meinem Blut liege?« fragte
der Alte aufgebracht. »Er wollte zu seiner Knarre greifen. Aber ich
war schneller und habe ihn mit meinem guten alten Peacemaker zur
Vernunft gebracht!«
»Ist ja gut, Sam!«
»Das ist sogar verdammt gut, Sheriff! Und die vielen Dollars
in seiner Tasche! Und dann wollte er Sie nicht anrufen! Wenn er
unschuldig gewesen wäre, hätte er sofort selbst den Sheriff
alarmiert. Damit er seine ehrlich verdienten Bucks zurückbekommt.
Aber wissen Sie was? Diese Geld ist nicht ehrlich verdient. Dafür
habe ich eine Nase.«
Und er rümpfte seinen Zinken, als könnte er wirklich das Blut
riechen, das an dem Geld klebte.
»Okay, okay.« Der Sheriff schlug in seinem dicken Notizbuch
eine neue Seite auf und leckte die Spitze seines Bleistifts an. Die
Amtshandlung konnte beginnen. »Nun erzähl mir mal ganz genau, wie
der Mann ausgesehen hat, Sam. Ich werde dann eine Suchmeldung
schreiben. Und Hank kann sie mit diesem neumodischen Computerkram
in ganz Amerika verbreiten.«
»In ganz Amerika?« staunte der Alte. »Sachen gibt’s
heutzutage… Aber gut, Sheriff. Also. Dieser Hurensohn ist groß,
ungefähr sechs Fuß und zwei Inch. Er trägt eine schwarze Jeans und
so eine dunkelblaue wattierte Jacke. Ach ja, und Schuhe hat er auch
an!«
***
»Ich bin Hancock«, stellte sich der unbekannte Besucher bei
Spencer Bolt vor. »Wir haben telefoniert.«
»Ah ja!« Der Geschäftemacher rieb sich die Hände. »Der Mann
aus Chicago, stimmt's? Kommen Sie doch rein.«
Die drahtige Gestalt des Killers schob sich durch die
offenstehende Tür. Er überragte Bolt um mindestens einen
Kopf.
Die beiden Männer gingen in den größten Raum des Apartments,
der als Wohnzimmer diente. Sharon konnte sie von ihrem Versteck aus
trotzdem gut hören. Sie hob den Deckel der Truhe auch einmal an und
sah Hancock, wie er an der offenstehenden Tür kurz verharrte, um
einen schnellen Blick in den Raum zu werfen.
»Sie hatten einen Führerschein des Staates New York und einen
amerikanischen Reisepaß bestellt, stimmt’s?«
Hancock nickte ungeduldig.
»Da gibt es ein kleines Problem«, sagte Bolt mit bedauerndem
Achselzucken. »Die Dokumente sind noch nicht fertig…«
»Nicht fertig?« schnappte der Killer. »Wie stellen Sie sich
das vor? Ich habe sie bestellt! Wie soll ich denn dann an den Start
gehen am 12. November?«
»An den Start? Wie meinen Sie das?«
»Vergessen Sie's!« fauchte Hancock.
Das tat Bolt auch. Denn jetzt machte ihm etwas ganz anderes
Sorgen.
Die kleine spanische Star-Pistole, die der Mörder plötzlich
auf seinen Bauch gerichtet hielt.
»He! Was soll das, Mister? Ich habe selbst Probleme bekommen,
glauben Sie mir. Mein Lieferant kommt nicht rüber! Wie soll
ich…«
Der Killer kochte vor Wut. Hatte er eine Pechsträhne erwischt?
Erst die schmale Ausbeute aus dem Überfall in der Illinois Trading
Bank, dann das Pech mit diesem barfüßigen Hinterwäldler - und jetzt
keine falschen Papiere!
Wie sollte er mit seiner wahren Identität beim
New-York-Marathon mitlaufen? Hancock sah seine hochtrabenden
Zukunftspläne in der Mülltonne verschwinden. Und jemand würde dafür
bezahlen!
»Tun Sie's nicht!«
Bolt sah, was der drahtige Mann vorhatte und bettelte um
Gnade. Aber der Mörder aus Chicago kannte kein Erbarmen.
Die Pistole bellte viermal trocken auf.
Die Geschosse schlugen in den Brustkorb und in den Kopf des
windigen Geschäftemachers. Er hatte keine Chance.
Sharon Fry schlug sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund.
Sie sah die Szene überdeutlich vor ihrem inneren Auge, die sie da
gerade belauscht hatte. Ihr nackter Körper zitterte. Aber nicht vor
Kälte.
Doch der Killer ihres Freundes konnte sie nicht sehen. Sie saß
ja immer noch in der kleinen Holztruhe.
Nachdem Spencer Bolt tot zusammengebrochen war, entwickelte
Toby Hancock eine hektische Aktivität. Er wühlte den Schreibtisch
seines Opfers durch. Offenbar auf der Suche nach falschen
Dokumenten. Doch er fand nichts, obwohl er alle Schubladen
herausriß und umdrehte. Dann machte er sich noch an sämtlichen
Büroschränken zu schaffen.
Dann kam er ins Schlafzimmer!
Sharon blieb fast das Herz stehen. Wenn er sie entdeckte,
dann…
Hancock kam näher. Er öffnete den Kleiderschrank. Schien auch
dort nach Papieren zu suchen, mit denen er sich eine neue Existenz
zulegen konnte.
Als nächstes wird er sich die Truhe vornehmen, dachte Sharon.
Sie starb fast vor Angst.
Da ertönten plötzlich laute spanische Rufe im Treppenhaus.
Jemand schlug mit der flachen Hand gegen die Apartmenttür.
Die Blondine schöpfte Hoffnung. Normalerweise mischt sich
niemand ein, wenn nachts in Brooklyn in einer Nachbarwohnung
Schüsse fielen. Aber der Sohn der Mieter nebenan war schon seit
einem halben Jahr bei den Guardian Angels, dieser
Freiwilligentruppe, deren Mitglieder im waffenlosen Kampf geschult
sind, um die Subway sicherer zu machen.
Spencer Bolt hatte sich immer über die Begeisterung von Manuel
für die Angels lustig gemacht. Jetzt wäre er vielleicht dafür
dankbar gewesen. Wenn er noch gelebt hätte.
Sharons Augen füllten sich mit Tränen. Doch sie riß sich
zusammen, um nicht aufzuschluchzen.
Hancock sah sich nervös um. Vor der Tür schienen sich noch
mehr Leute zusammenzurotten. Wenn einer erstmal den Anfang gemacht
hat, werden die anderen auch mutig, dachte er. Aber Hancock konnte
keine Zeugen gebrauchen.
Deshalb schob er kurzerhand das Schlafzimmerfenster hoch und
erklomm die eiskalte und rutschige Feuerleiter. Die junge Frau in
der Truhe wünschte ihm von Herzen, daß er ausrutschte und sich den
Hals brach. Sie hatte den Deckel der Truhe wieder einen Spalt
geöffnet und sah Hancock aus dem Fenster klettern.
Der Mörder von Spencer Bolt hangelte sich die Feuerleiter
hinunter, sprang das letzte Stück aufs Straßenpflaster und lief zu
seinem Mitsubishi Colt, den er sicherheitshalber einen Block weiter
geparkt hatte. Fünf Minuten später war er spurlos
verschwunden.
Sharon Fry wartete noch einen Augenblick. Das Wummern gegen
die Apartmenttür hörte nicht auf. Schließlich traute sie sich aus
ihrem Versteck, wankte hinüber zur Wohnungstür und öffnete.
Die Nachbarn keuchten überrascht auf. Die Blondine hatte ganz
vergessen, daß sie ja nackt war. Aber das spielte nun wirklich
keine Rolle mehr.
»Rufen Sie die Cops!« rief sie schluchzend. »Jemand hat meinen
Freund erschossen!«
***
Es war später Nachmittag, als Milo und ich wieder in New York
City eintrafen. Dienstbeginn war erst wieder am nächsten Morgen.
Zeit genug also, um Karen Morley anzurufen. Eine bezaubernde
Brünette, die ich vor zwei Wochen auf einer Party kennengelernt
hatte.
Ich tippte ihre Nummer in mein Telefon und wartete. Es läutete
bestimmt zehnmal bei ihr. Ich wollte schon auflegen, als sie
plötzlich den Hörer von der Gabel riß.
»Morley.« Sie keuchte, rang nach Atem.
»Hier ist Jesse, Darling. Zurück aus Virginia.«
»Jesse!« wiederholte sie hechelnd. »Moment mal! Ich bin noch
völlig außer Atem!«
Ich wartete wirklich einen Augenblick. Dann hatte sie sich
soweit erholt, daß sie sprechen konnte.
»Was ist denn los, Karen?« stichelte ich. »Du hast doch nicht
etwa Herrenbesuch?«
»Blödmann!« gab sie zurück. »Ich trainiere für den
New-York-Marathon. Ich arbeite ja leider nur für eine
Fluggesellschaft und nicht für das FBI, das seinen Leuten sogar
während der Arbeitszeit ein Lauftraining spendiert.«
»Nur kein Neid, bitte. Wo läufst du denn zur Zeit?«
»Im Central Park.«
»Das ist verdammt gefährlich, Karen! Nach Einbruch der
Dunkelheit…«
»Weiß ich selber, Einstein. Darum joggen wir ja in der Gruppe.
Wir sind immer mindestens dreißig Personen. Frauen und Männer.
Davon diverse bewaffnet oder kampfsporterfahren.«
»Und jetzt bist du bestimmt zu müde, um noch etwas zu
unternehmen?«
»Müde? Keine Spur! Ich berste vor Energie, Jesse. Wo ich doch
eine Woche auf dich verzichten mußte…«
»Geht mir genauso«, gestand ich. »Am besten setze ich mich in
meinen Sportwagen und komme rüber, okay?«
»Worauf wartest du noch?«
Es wurde eine gelungene Nacht. Es gibt wohl keine schönere
Art, nach längerer Abwesenheit wieder in New York begrüßt zu
werden.
Entsprechend super war meine Stimmung, als ich am nächsten
Morgen meinen Freund Milo abholte und wir gemeinsam zum FBI-Gebäude
an der Federal Plaza fuhren.
Dort wartete schon unser Vorgesetzter Jonathan D. McKee auf
uns. Er hatte bereits einen neuen Auftrag.
»Nehmen Sie bitte Platz!« bat er uns in seiner höflichen,
zurückhaltenden Art.
Wir ließen uns auf die Besucherstühle vor seinem Schreibtisch
nieder, der wie immer penibel aufgeräumt war.
»Sie haben in Quantico ja gerade ein intensives Lauftraining
absolviert«, fuhr Mr. McKee fort und verschränkte seine feinen
Künstlerhände ineinander. »Vielleicht kann Ihnen das für den
aktuellen Fall nützlich sein.«
Wir sahen ihn erwartungsvoll an.
»Vor zwei Tagen wurde in Chicago eine Filiale der Illinois
Trading Bank überfallen«, erzählte der Chef. »Dabei erschoß der
Täter einen Bankangestellten. Wir nehmen an, daß es sich bei dem
Täter um einen gewissen Toby Hancock handelt. Und dieser Hancock
soll ein fanatischer Läufer sein. Er hat sogar im Gefängnis jeden
Tag stundenlang seine Runden auf dem Hof gedreht.«
»Weshalb nimmt man an, daß Hancock der Täter ist, Sir?« fragte
Milo dazwischen.
»Weil die Beschreibung des Bankräubers mit der
Personenbeschreibung von Hancock übereinstimmt. Er ist vielfach
vorbestraft. Seine Daten befinden sich noch in der Datenbank des
National Crime Information Center. Außerdem hat er am selben Tag
eine Tankstelle in Pennsylvania überfallen. Der Pächter konnte ihm
allerdings die Waffe und die Beute aus dem Banküberfall abnehmen.
Die Personenbeschreibung stimmt außerdem mit der des Bankräubers
überein.«
»Klingt nach einem Versager!« lachte mein Freund.
Doch der Chef blieb ernst. »Gestern nacht ist Hancock dann in
New York City angekommen. Er wollte falsche Papiere kaufen, von
einem dubiosen Geschäftemacher namens Spencer Bolt. Dann gerieten
die beiden in Streit, und Hancock hat Bolt erschossen. Dafür gibt
es eine Zeugin. Nachdem die Kollegen vom NYPD den Zusammenhang mit
den ersten beiden Taten erkannt hatten, haben wir den Fall
bekommen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte ich. Nun war es klar, warum
sich das FBI um Toby Hancock kümmern mußte. Er war über
US-Staatsgrenzen geflohen, um der Verhaftung zu entgehen. Damit
fiel er in unsere Zuständigkeit.
Mr. McKee reichte mir einen Schnellhefter über den Tisch. »Ich
habe Ihnen zusammenstellen lassen, was wir bisher an Informationen
über den Fall haben.«
»Wir werden unser Bestes geben«, sagte ich.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Jonathan D. McKee mit einem
feinen Lächeln.
***
Toby Hancock brauchte Geld.
Er mußte sich dringend einen neuen Namen kaufen.
Sogar an eine Gesichtsoperation hatte er schon gedacht. Doch
ein verschwiegener.,Arzt war mehr als dreimal so teuer wie ein
normaler Schönheitschirurg, und auch der nagte schon nicht gerade
am Hungertuch.
Außerdem arbeitete die Zeit gegen ihn. Wenn er sich jetzt das
Gesicht verändern ließ, würde er tagelang nicht trainieren können.
Und es war fraglich, ob er bis zum 12. November wieder fit sein
würde. Bis zum Startschuß des New-York-Marathons…
Ein neuer Führerschein und ein neuer Reisepaß. Für mehr mußte
die Kohle nicht reichen, beschloß der Kriminelle. Aber auch diese
Dollars wollten erst mal zusammengekratzt sein. Also würde er einen
neuen Coup landen müssen.
Gut, daß ich mir die Pistole besorgt habe, bevor ich zu Bolt
gegangen bin, dachte Hancock. Allerdings hatte ihn die Waffe auch
seine letzten Mäuse gekostet. Doch dafür würde dieser schmierige
Geschäftemacher Bolt nie wieder jemanden übers Ohr hauen…
Toby Hancock fühlte sich stark nach seinem zweiten Mord. Er
kam sich gefährlicher vor, überlegener. In Wahrheit war er ein
Feigling, der sich nur gegenüber Unbewaffneten aufzutrumpfen
traute.
Der Kriminelle kannte sich in New York nicht besonders gut
aus. Aber für seinen nächsten Überfall hatte er ein Geschäft
ausgewählt, das ganz im Süden Manhattans lag. Im Financial
District. Hier waren die Straßen noch kurz und unübersichtlich.
Ganz so, wie er sich Städte im alten Europa vorstellte. Cops in
Patrol Cars würden hier bei Verfolgungsjagden ihre Probleme
haben.
Eine ideale Gegend für einen Verbrecher, der gut zu Fuß war
!
Ein Glöckchen erklang, als Hancock ›Sal's Cigar Paradise‹ in
der Beekman Street betrat. Der Laden war klein, aber fein. Die
Banker und Börsianer versorgten sich hier zwischen ihren
nervenaufreibenden Transaktionen mit den handgerollten Tabakwaren
aus Kuba und anderen legendären Zigarrenländern.
Seit das Rauchen in Amerika immer mehr aus der Öffentlichkeit
gedrängt wurde, hatte sich eine neue Schicht von trotzigen
›Jetzt-erst-Recht-Rauchern‹ gebildet. Sie zündeten sich mit
Vorliebe große, dicke und teure Zigarren an. Jedenfalls da, wo es
noch erlaubt war.
Und das war der Grund, weswegen der Killer aus Chicago ›Sal's
Cigar Paradise‹ überfallen wollte. Er vermutete viele Greenbucks in
der Kasse des mit kostbarer Eiche getäfelten Tabakladens. Hancock
selbst war als Marathonläufer natürlich Nichtraucher.
Deshalb verzog er auch wegen dem Tabäkqualm angewidert das
Gesicht, bevor er sich suchend umsah. Aber er war der einzige Kunde
im Laden. Hinter dem Verkauf stresen stand eine junge Frau in einem
konservativen Kostüm mit Nadelstreifen. Die langen blonden Haare
hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
»Guten Morgen, Sir. Was kann ich für Sie…?«
Der Kriminelle unterbrach sie grob und richtete den Lauf
seiner Pistole auf ihre Brust. »Geld her! Alles!«
Die Verkäuferin erbleichte und begann am ganzen Leib zu
zittern. Doch dann öffnete sie die Registrierkasse und blätterte
die Dollarnoten auf den Tresen.
»Schneller!« Hancock machte eine hektische Bewegung mit seiner
Star-Pistole.
Er schien sich nicht getäuscht zu haben. Ein paar tausend
Dollar, ausgegeben von reichen Männern, um den Gegenwert sinnlos in
die Luft zu blasen. Er würde sich mit dem Geld die falschen Papiere
erkaufen können. Und den Start beim New-York-Marathon. Und dann
vielleicht der Sieg!
Der Mann aus Chicago raffte alle Geldscheine zusammen und
stopfte sie in seine wattierte Winterjacke. Wortlos ging- er um den
Tresen herum. Wollte sich vergewissern, ob die Kassenschublade
wirklich leer war. Die Verkäuferin wich zurück bis in die hinterste
Ecke.
Aber sie hatte ihm wirklich alle Banknoten ausgehändigt, wie
Hancock feststellen konnte. Nur die Münzen lagen noch in ihren
Fächern. Doch damit wollte er sich nicht belasten. Nur unnützer
Ballast beim Laufen.
Das ging ja endlich einmal glatt, dachte der Killer.
Doch in diesem Moment betrat ein uniformierter Cop ›Sal's
Cigar Paradise‹.
»Hallo, Judy!« grüßte der Mann vom NYPD die Verkäuferin. Er
mußte ein Stammkunde sein. Vielleicht waren die Zigarren ja sein
geheimes Laster, dem er nur selten nachgab. Bei seinem Gehalt
konnte er sich die teuren ›Puros‹ bestimmt nicht oft leisten.
Die Blondine erwiderte nichts.
Der Cop sah ihre schreckensgeweiteten Augen.
Und die Pistole in Hancocks Hand.
Es gab nichts weiter zu sagen. Er griff nach seiner
Dienstwaffe.
Zu spät.
Eiskalt und ohne Vorwarnung feuerte der Killer seine Pistole
ab.
Der Cop brach mit einem Schmerzensschrei zusammen.
Hancocks Gedanken rasten. Cops arbeiteten immer zu zweit. Sein
Partner würde vermutlich draußen im Auto warten.
Also konnte Hancock nicht zur Ladentür raus. Der andere Cop
mußte den Schuß gehört haben und würde bestimmt über Funk Alarm
geben. Verstärkung rufen. Folglich mußte sich der Kriminelle durch
den Hintereingang verdünnisieren.
Hancock ließ die Verkäuferin einfach stehen und eilte an ihr
vorbei durch die Tür, die hinter dem Tresen angelehnt war. Er
hoffte, daß es auch wirklich einen Hinterausgang gab. Sonst hatte
er schlechte Karten.
Habe ich wirklich eine Pechsträhne erwischt? dachte er
grimmig.
Kaum hatte Hancock die Tür hinter sich zugeknallt, als durch
den Vordereingang Der zweite Cop in den Laden gestürmt kam. Er
hatte Kombat-Haltung eingenommen, hielt seine Dienstwaffe
schußbereit in beiden Händen. Sein Blick fiel auf seinen Partner,
der in einer Blutlache lag.
»Rick!« fluchte der Cop. »Rick, verdammt…!«
»Es war din Überfall!« rief die Verkäuferin weinend. »Dieses
Schwein ist nach hinten raus!«
Grimmig biß der Mann in der blauen Uniform des NYPD die Zähne
zusammen. Den mußte er erwischen!
»Alarmieren Sie eine Ambulanz!« rief er der Blonden zu.
Und jagte hinter dem Täter her.
***
Toby Hancock hetzte durch einen Gang, stieß eine Klapptür auf
und gelangte in -einen Hinterhof. Hier roch es noch übler als im
Laden. Das mochte an den vielen Mülltonnen liegen, die überquellend
darauf warteten, endlich geleert zu werden.
Der Verbrecher überlegte nicht lange, sprang auf eine der
Mülltonnen und zog sich an der Umgrenzungsmauer hoch.
Keine Sekunde zu früh. Gerade, als er sich über die Mauerkrone
zog, erklangen schnelle Schritte im Hof.
»NYPD! Waffe weg!«
Natürlich hielt sich Hancock nicht daran. Er konnte nicht
schießen, denn er brauchte beide Hände zum Klettern. Deshalb machte
er sich lieber aus dem Staub. Außerdem war er ein Feigling. Mit
einem bewaffneten und vorbereiteten Gegner wollte er es lieber
nicht auf nehmen.
Die Kugel des Cops sirrte knapp über ihn hinweg.
Der Verbrecher ließ sich auf der anderen Seite der Mauer
fallen. Und kam federnd wieder auf die Beine.
Hier gab es ebenfalls einen Innenhof. Aber mit einer breiten
Truck-Ausfahrt!
Hancock legte einen Sprint ein.
Als der Cop auf der Mauerkrone erschien, war der Kriminelle
bereits spurlos verschwunden.
G
Sharon Fry verabredete sich mit Milo und mir in einem Diner in
der Clarendon Road. Nur einen halben Block entfernt von der
Wohnung, in der ihr Freund Spencer Bolt vor ihren Augen brutal
ermordet worden war.
Das Diner war eingerichtet wie in den fünfziger Jahren. Mit
Sitznischen, deren Polster mit rotem Kunstleder bezogen waren. Und
natürlich einer Juke Box.
Aber an der Theke saßen keine kichernden Teenager mit
Ringelsöckchen, sondern zwielichtige Gestalten. Typen, wie Spencer
Bolt einer gewesen'sein mochte. Leute, die nicht lange nach dem
Gesetz fragen, wenn sie ein gutes Geschäft wittern. Und aus den
Boxen tönte nicht Elvis oder Buddy Holly, sondern ohrenbetäubender
Salsa von Bands, die wir nicht kannten.
Ich bestellte Kaffee und Donuts für uns alle. Sharon Fry war
etwas unpassend gekleidet. Am hellen Nachmittag trug sie ein
schwarzes Abendkleid, das einiges von ihrem aufregenden Dekollete
sehen ließ. Die Burschen an der Theke kriegten Stielaugen. Aber als
ich einen Moment darüber nachdachte, wurde es mir klar. Dies war
sicher das einzige schwarze Kleidungsstück, das Sharon besaß. Und
die junge Frau wollte der ganzen Welt zeigen, daß sie um ihren
Freund trauerte.
»Wir möchten uns im Namen des FBI bedanken, daß Sie so schnell
zu einer Aussage bereit sind«, begann ich das Gespräch.
Sharon Fry sah mir in die Augen. Sie war offenbar von einem
starken Beruhigungsmittel wie benommen. »Fragen S.ie ruhig, G-man.
Ich will, daß dieser Bastard dafür bezahlt, was er Spencer angetan
hat. Und mir.«
Es sah aus, als ob sie weinen wollte. Aber sie hatte wohl
keine Tränen mehr.
Ich zog ein Funkfoto aus meiner Innentasche, das uns Vom
Chicago Police Department geschickt worden war. Toby Hancock war
bei seinen zahlreichen früheren Verhaftungen natürlich
erkennungsdienstlich behandelt worden.
»Ist das der Mann, der Ihren Freund erschossen hat?«
erkundigte ich mich.
Die junge Frau nickte grimmig. »Auf jeden Fall. Kein Zweifel
möglich. Ich habe diesen feigen Hund genau gesehen.«
»Berichten Sie bitte genau, was passiert ist und was Sie
gehört haben«, bat Milo. Er saß neben mir in der Nische. Die junge
Frau kauerte auf der Bank uns gegenüber.
»Es klingelte ziemlich spät an der Tür. Ich bat Spencer, nicht
aufzumachen. Aber er sagte, er müsse Tag und Nacht für seine Kunden
dasein.«
Milo und ich sagten nichts. Wir hatten schon vom NYPD gehört,
daß dieser Spencer Bolt ein ziemlich schräger Vogel gewesen war.
Aber das spielte für uns keine Rolle. Höchstens, wenn es darum
ging, Hancock zu fassen.
»Dann kam dieser Mann die Treppe hoch«, fuhr Sharon Fry fort
und klopfte mit dem Finger auf das Foto, als wolle sie den
Verbrecher damit erdolchen.
»Wo waren Sie?« fragte ich dazwischen.
»In einer Truhe. Ich hatte mich dort versteckt, weil ich mir
einen Scherz mit Spencer machen wollte.«
Für einen Moment schien sie die Fassung zu verlieren. Doch
dann riß sie sich zusammen.
»Wie haben Sie den Täter denn sehen können?« fragte
Milo.
»Ich habe zweimal kurz den Deckel leicht angehoben, und
zweimal sah ich ihn ganz deutlich.«
»Und was geschah weiter?«
»Die beiden gerieten in Streit«, flüsterte sie mit kaum
hörbarer Stimme.
»Es ging um… na ja… um falsche Personalpapiere, die Spencer
für diesen… diesen Mörder besorgen sollte. Und er hatte sie noch
nicht. Darauf wurde der Kerl sauer und fragte, wie er dainn am 12.
November an den Start gehen sollte.«
Ich stutzte. »Wie war das, bitte?«
»›Wie soll ich dann am 12. November an den Start gehen?‹ Das
waren exakt seine Worte.«
Milo und ich sahen uns vielsagend an. Das konnte ein wichtiger
Hinweis sein!
»Und dann?« drängte ich.
»Dann«, krächzte Sharon Fry mit brechender Stimme, »dann hat
er Spencer einfach erschossen. So, wie man ein lästiges Insekt
totschlägt. Später kam er ins Schlafzimmer, wo ich mich versteckt
hatte. Aber er hat mich nicht gesehen. Er weiß nicht, daß ich den
Mord bezeugen kann. Und das werde ich, das schwöre ich
Ihnen!«
»Du wirst gar nichts tun!«
Plötzlich packte ein Muskelprotz mit Lederweste ihren Oberarm
und zog sie brutal hoch.
»Habe ich doch richtig gehört, daß du hier rumhängst! Du
kommst jetzt zu mir zurück! Ich habe dir immer schon gesagt, daß
ich dich weghole von diesem Schwächling Bolt!«
»Laß mich in Ruhe, du nichtsnutziger Säufer!« schleuderte
Sharon Fry ihm entgegen.
Der Kerl riß die Augen weit auf -dann holte er aus, um seinen
Handrücken in Sharons Gesicht klatschen zu lassen.
Doch noch rechtzeitig schnellte ich hoch, umklammerte sein
Handgelenk. »Sie machen besser die Biege, Mister! Sie stören hier
eine Amtshandlung des FBI!«
»FBI, wie?«
Der Kerl bekam prompt einen Wutanfall'. Ich kannte die Sorte.
Dicke Muskeln, kleines Hirn. Bei der Arbeit sah man sfe selten,
dafür umso öfter an der Theke und bei Schlägereien.
Und die Schuld an ihrem Elend hatte in ihren Augen natürlich
die Gesellschaft. Und die Polizei.
Er wollte seinen Arm wegziehen, doch ich ließ nicht los.
Allerdings war ich etwas bewegungseingeschränkt, weil ich zwischen
Tisch und Sitzbank stand. Das machte er sich zunutze.
Mit einem Kopfstoß knallte er mich weg, daß ich klatschend auf
das rote Kunstleder fiel.
Doch da flankte schon mein Freund Milo über den Tisch. Er
servierte dem Raufbold einen Kinnhaken, wie ich ihn nicht feiner
hätte zubereiten können.
Der Muskelmann taumelte einen Schritt zurück.
Milo ging hinterher und klopfte ihm noch ein paar rechte
Gerade auf seinen kleinen Gehirnkasten.
Dann kam der Schläger mit einer seiner Fäuste durch die
Deckung meines Freundes, und Milo fiel der Länge nach auf den
Boden.
Die Nichtstuer an der Theke johlten. Sie hatten keine Ahnung,
um was es ging. Hauptsache Action!
Inzwischen hatte ich mich halbwegs von dem Schlag erholt und
sprang meinem Freund zu Hilfe. Bevor der Muskelmann reagieren
konnte, hatte ich mich auf seinen Rücken geschwungen und nahm ihn
unerbittlich in den Schwitzkasten.
Er keuchte auf, doch mein Arm bog sich wie eine Stahlgarotte
um seinen Stiernacken.
Der Kerl machte ein paar Schritte rückwärts. Wollte mich in
die Wand rammen.
In diesem Moment federte Milo wieder auf die Füße und
traktierte unseren Gegner von vorne mit Boxhieben.
Der Schläger griff sich eine Colaflasche von einem nicht
abgeräumten Tisch und schlug sie an der Tischkante entzwei. Mit den
spitzen Zacken des Flaschenhalses stach er nach meinem
Freund.
Aber Milo wich immer wieder geschickt aus, und ich merkte, wie
das Riesenbaby langsam müde wurde. Der Schwitzkasten schien seine
Wirkung zu zeigen. Zumal ich mit meiner freien Hand auch noch einen
Fausthieb nach dem anderen auf seinen Schädel krachen ließ.
Wieder hob der Schläger seine abgebrochene Flasche, um meinen
Freund damit aufzuschlitzen.
Da versuchte Milo einen schnellen, aber riskanten McKee-Kick.
Aus der Hüfte drehend, ließ er seinen linken Fuß rückwärts
vorschnellen.
Sein Schubabsatz traf das Handgelenk des Angreifers. Mit einem
Klirren ging die Flasche zu Boden.
Bevor sich der Typ von seiner Überraschung erholten konnte,
hatte Milo bereits nachgesetzt und ihm seine Doppelfaust in die
Magengrube versenkt.
Riesenbaby taumelte. Ließ die Arme hängen. Milo verpaßte ihm
noch einen letzten Gruß. Genau auf den Punkt.
Und ich ließ es mir nicht nehmen, dem Schläger
höchstpersönlich Handschellen anzulegen.
Die Typen an der Theke murrten. Entweder, weil der Kampf so
schnell vorbei war. Oder weil es ihnen nicht paßte, daß ihr Kumpel
von zwei G-men festgenommen wurde.
Ich stellte mich breitbeinig vor sie hin und präsentierte
meine Dienstmarke. »FBI New York. Hat mir jemand was zu
sagen?«
Ich starrte jedem von ihnen in die Augen. Der Reihe nach. Und
einer nach dem anderen wich meinen Blicken aus. Sie waren
Feiglinge.
»Irgend jemand?«
Schweigen. Sie sahen in ihre Kaffeetassen und Colagläser, als
könnten sie dort die Zukunft erkennen. Nun, dafür mußte man kein
Wahrsager sein. Milo würde mit seinem Handy die Kollegen vom NYPD
alarmieren. In wenigen Minuten würden sie eintreffen und den
Angreifer mitnehmen. Und da er so aussah, als ob der tätliche
Angriff auf zwei G-men im Dienst nicht sein erstes Verbrechen
gewesen war, würde er für eine sehr lange Zeit im Knast von Rikers
Island verschwinden.
Ich klopfte mir die Hände am Jakkett ab, als ob ich mich
schmutzig gemacht hätte. In gewissem Sinn hatte ich das ja auch.
Dann kehrte ich zu unserer Sitznische zurück, wo Sharon Fry den
Kampf beobachtet hatte, als wenn sie einen bösen Traum erleben
würde.
»Sie kennen den Mann?« fragte ich und setzte mich wieder. Mein
Kaffee war schon fast kalt.
»O ja!« Sie schnaubte verächtlich durch die Nase. »Ein
Ex-Freund von mir. Tony Rayner. Wovon er lebt, weiß niemand so
genau. Seine Hobbies sind jedenfalls Trinken und Frauen
verprügeln.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Zu beiden Beschäftigungen
wird er in Rikers Island keine Gelegenheit haben.«
Für einen Moment löste sich ein wenig die starre Maske, die
Sharon Frys Gesicht bisher gewesen war. »Ich bin Ihnen dankbar, Mr.
Trevellian. Ihnen und ihrem Kollegen. Endlich hat es Tony mal mit
Männern zu tun bekommen, die keine Angst vor ihm haben.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist unser Job.«
Gedankenverloren machte ich eine Pause. Dann fügte ich hinzu:
»Und es ist auch unser Job, den Mörder Ihres Freundes Spencer Bolt
zu verhaften. Wir bringen ihn vor Gericht. Darauf können Sie sich
verlassen, Miss Fry.«
***
Das Hauptquartier des New York Police Department reagierte
blitzartig auf den Notruf des Cops, dessen Kollege von Toby Hancock
schwer verletzt worden war.
Innerhalb von sieben Minuten machten Patrol Cars den ganzen
Bereich um die Beekman Street weiträumig dicht. Auf dem Franklin D.
Roosevelt Drive wurde der Verkehr gestoppt. Im Peck Slip wachten
die Cops ebenso wie in der Water Street, der Jonathan Street und
der Front Street.
Der Täter saß also in der Falle. Dachte man.
Nachdem der verfolgende Cop die Spur von Toby Hancock verloren
hatte, hatte er das einzig Richtige getan. Alarm gegeben und eine
möglichst genaue Personenbeschreibung des Verbrechers durchgegeben.
Hierbei hatte ihm die blonde Zigarrenverkäuferin geholfen, die sich
trotz ihrer großen Panik genau an das Aussehen des Mannes mit der
Pistole erinnern konnte.
Es war keine halbe Stunde seit der Tat vergangen, als
uniformierte Cops das abgesperrte Gebiet systematisch zu
durchkämmen begannen. Unterstützt wurden sie dabei von Kollegen in
Zivil. Die Street Crime Unit, die normalerweise gegen Überfälle und
Bedrohung auf offener Straße eingesetzt wird.
Toby Hancock blieb in Bewegung. Er hatte die Jacke voller
Geld. Und diesmal wollte er es sich von niemandem wieder abnehmen
lassen. Okay, es hatte eine Panne bei dem Überfall gegeben. Ob er
den Cop erschossen hatte? Der Kriminelle wußte es nicht. Es
berührte ihn auch nicht. Höchstens deshalb, weil er aus Erfahrung
wußte, daß die Bullen immer besonders scharf hinter einem her
waren, der einen der ihren abgeknallt hatte. In Chicago hatte er
genug Kumpels im ›Milieu‹, denen ein Schuß auf einen Cop überhaupt
nicht gut bekommen war.
Der verbrecherische Marathonläufer hatte sich in einen
leichten Trab gesetzt. Stundenlang hätte er so weiterlaufen können,
ohne zu ermüden. Er lief, um seine Muskeln anzuwärmen. Wenn er
einen schnellen Sprint hinlegen mußte, würde er nach einer
Aufwärmphase bessere Karten haben als bei einem ›Kaltstart‹.
Er befand sich in der Fulton Street, als ein Patrol Car
langsam aus Richtung des East River kam. Die Cops mußten ihn sofort
als den Verdächtigen erkannt haben. Jedenfalls ließen sie ihre
Sirene aufheulen und traten das Gaspedal durch.
Hancock schoß los wie eine Rakete. Er hatte keine Probleme,
den Chevrolet des NYPD hinter sich zu lassen.
Er lachte höhnisch. Normalerweise waren bei Verfolgungsjagden
die Bullen immer überlegen, wenn sie mit ihrer Karre einen
Fußgänger verfolgten.
Aber ich bin kein normaler Fußgänger, dachte Hancock zynisch.
Ich bin der Mann, der dieses Jahr den New-York-Marathon gewinnen
wird…
Er bog in die Front Street ein. Von vorne kamen ein halbes
Dutzend weitere Cops. Sie begriffen sofort, wen sie hier vor sich
hatten. Und zogen ihre Waffen.
Hancock hatte seine ›Star‹-Pistole im Hosenbund unter der
Jacke stecken. Er wollte jetzt nicht schießen. Er hatte keine
Chance gegen diese Übermacht. Wenn er entkommen wollte, mußt er das
tun, was er auf dieser Welt am besten konnte.
Laufen.
Er raste noch ein Stück auf die Polizei-Übermacht zu. Dann bog
er überraschend in den Cannon’s Walk Block ein. Das ist ein
historisches Gebäude, das zum South Street Seaport Museum gehört.
Hier kann man eine alte Druckerei besichtigen, sich eine
Multi-Media-Show mit den alten Seglern aus dem Museum ansehen oder
in den verschiedenen Cafés und Restaurants essen.
Davon wußte Toby Hancock nichts. Er hatte nur erkannt, daß es
im Cannon's Walk Block von harmlosen Passanten nur so
wimmelte.
Da werden sich die Bullen nicht trauen, zu schießen, dachte er
sich und grinste.
Die Beamten keuchten hinter ihm her. Sie mußten sich
eingestehen, daß er ihnen lauftechnisch weit überlegen war. Nicht
nur, weil er die anderen Menschen rücksichtslos zur Seite stieß.
Nein, er war ein Verbrecher mit Olympiabeinen.
Hancock bog zwischen dem Trans-Lux Seaport Theater und der
Museum Gallery ein. Für einen Moment überlegte er, eine Geisel zu
nehmen.
Aber das würde nicht nötig sein. Er war sicher, daß er dem
NYPD auch so entkommen würde.
Plötzlich rollte ihm ein Arbeiter ein riesiges Holzfaß in den
Weg. Wahrscheinlich eine Requisite für ein Stück in dem Theater, an
dem Hancock gerade vorbeigehetzt war.
Hancock dachte nicht lange nach. Sondern machte einen
gewaltigen Sprung.
Obwohl er kein Leichtathletik-Spezialist war, kam er in seinen
Joggingschuhen gut vom Boden ab und schaffte das Faß im ersten
Anlauf. Dem Arbeiter blieb vor Erstaunen der Mund offen
stehen.
Für die Cops hingegen war die Holzbarriere ein
unüberwindliches Hindernis. Fluchend wälzten sie es mit vereinten
Kräften aus dem Weg.
»Keine Panik!« keuchte ein schwarzer Sergeant. »Das Gebäude
ist umstellt. Der Bastard kommt hier nicht raus!«
Doch da täuschte er sich.
Am Ausgang zur Water Street hin war die Situation
unübersichtlich. Eine Gruppe von japanischen Touristen strömte
gerade ins Freie. Hancock hatte Glück. Der Cop, der dort stand, sah
gerade nicht in seine Richtung. Deshalb ging der Kriminelle frontal
vor.
Er lief den Mann in Blau einfach über den Haufen!
Der junge, unerfahrene Cop war so überrascht, daß er noch
nicht mal zu seiner Waffe greifen konnte. Als er auf den Boden
aufschlug, war der flüchtige Läufer schon ein ganzes Stück
entfernt. Die Touristen kreischten erschrocken auf, halfen dem Cop
aber immerhin wieder auf die Beine.
Ein Stück weiter die Water Street hinunter, vor dem Titanic
Memorial, wartete eine weitere Gruppe von zivilen und uniformierten
Cops auf ihren Einsatz. Jetzt sahen sie den Gesuchten mitten auf
der Fahrbahn in Richtung Peck Slip laufen!
»Hinterher!« rief ein Sergeant und gab einen Warnschuß ab.
»Stehenbleiben!« brüllte er einen Moment später.
Doch Toby Hancock hatte schon so an Tempo zugelegt, daß er ihn
wohl kaum hören konnte. Außerdem machte er nicht den Eindruck, als
ob er aufgeben wollte. Ganz und gar nicht.
Die Cops gaben ihr Bestes. Aber sie hatten keine Chance gegen
den durchtrainierten Marathonläufer.
Einige Momente später war die Straße wie ausgestorben. Keine
Zivilisten in der Nähe, die gefährdet werden konnten. Nachdem ein
weiterer Warnschuß erfolgt war, schossen die Cops nun gezielt auf
die Beine des Flüchtenden.
Doch er war einfach zu schnell, und nun begann er Haken zu
schlagen, um ihnen kein festes Ziel zu bieten.
»Da vorne ist eine unserer Straßensperren!« japste der
Sergeant. »Da kriegen wir ihn!«
Und wirklich. Zwischen Water Street und Peck Slip hatten zwei
Patrol Cars die Fahrbahn gesperrt. Die Besatzungen standen neben
den Fahrzeugen. Sie sahen, daß der Gesuchte auf sie zurannte, und
zogen ihre Waffen.
Damit hatte Toby Hancock gerechnet. Er zog ebenfalls seine
Star-Pistole und schoß wild um sich. Er konnte nicht sehen, ob er
einen der Cops vor ihm traf. Es war ihm auch egal.
Er aktivierte seine letzten Kraftreserven.
Und dann geschah das, was alle Augenzeugen für unmöglich
gehalten hatten.
Er wurde noch schneller!
Die Geschosse der Cops sirrten ihm um die Ohren. Aber er hatte
sich in einen Geschwindigkeitsrausch hineingesteigert, daß er sich
jetzt für unverwundbar hielt. Es kam Hancock so vor, als könnte er
bis in alle Ewigkeit weiterlaufen.
Nun war er direkt vor einem der Patrol Cars angelangt. Die
Cops gingen in Deckung, denn er schoß immer noch rücksichtslos um
sich, bot ihnen aber gleichzeitig kein gutes Ziel.
Hancock sprang auf die Motorhaube und lief einfach über den
Wagen hinweg!
Die Männer in Blau konnten es nicht fassen. Zornig schickten
sie ihm ihre Kugeln hinterher.
Doch es war, als ob er gegen das heiße Blei tatsächlich immun
wäre. In Wirklichkeit war es nur seine außergewöhnliche
Geschwindigkeit, die die NYPD-Geschosse immer wieder ihr Ziel
verfehlen ließ.
Die Besatzungen warfen sich in ihre Patrol Cars, setzten
zurück und nahmen die Verfolgung auf.
Doch schon bald mußten sie sich eingestehen, daß sie den
Verbrecher in den brodelnden Menschenmassen von Manhattan verloren
hatten.
Nachdem Toby Hancock die Straßensperre überwunden hatte, nahm
er sein Tempo ein wenig zurück und verfiel wieder in einen lockeren
Trab.
Sein Ziel war nun der Central Park, wo er zur Abwechslung in
frischer Luft trainieren wollte.
Es war eine bittere Ironie des Schicksals, daß er auf dem Weg
dorthin am Police Headquarter vorbeikam.
***
»Hancock will beim New-York-Marathon starten, Sir!«
Jonathan D. McKee neigte den Kopf, verschränkte die Hände
ineinander und sah mich über seinen Schreibtisch hinweg ruhig an.
»Wie kommen Sie zu dieser Theorie, Jesse?«
»Es sprechen verschiedene Fakten dafür, Sir. Erstens haben wir
die Zeugenaussage von Miss Sharon Fry. Hancock soll gesagt haben,
daß er falsche Papiere braucht, um am 12. November an den Start
gehen zu können.«
»Damit kann auch etwas anderes gemeint gewesen sein«, gab
unser Chef zu bedenken.
»Gewiß/ Aber es sprechen noch weitere Beobachtungen dafür. Die
Angestellte der Illinois Trading Bank hat ausgesagt, daß Hancock
einen durchtrainierten Eindruck auf sie gemacht hat. Bei diesem
Tankstellenüberfall ist Hancock aufgetaucht wie aus dem Nichts.
Weit und breit wurde kein Fluchtwagen gefunden. Er muß also eine
lange Strecke zwischen seinem Wagen und der Tankstelle zurückgelegt
haben. Zu Fuß. Und dann der Bericht über diesen
Zigarrenladenüberfall gestern, den wir vom NYPD bekommen haben. Die
Kollegen berichten von seinen unglaublichen Laufkünsten, mit denen
er ihnen entkommen ist. Und Sie selbst, Mr: McKee, haben uns davon
informiert, daß Hancock sogar im Gefängnis sein tägliches
Lauftraining durchgezogen hat.«
Mr. McKee wiegte bedächtig den Kopf. »Also gut, mal
angenommen, daß er beim New-York-Marathon teilnehmen will. Warum
sollte er das tun?«
Ich nahm einen Schluck von dem köstlichen Kaffee, den Jonathan
D. McKees Sekretärin Mandy gekocht hatte. »Aus zwei Gründen. Wenn
er wirklich so ein gnadenloser Läufer ist, hat er bestimmt auch den
Ehrgeiz, einmal im Leben den New-York-Marathon zu gewinnen.«
»Jesse muß es ja wissen«, witzelte Milo, der auf dem
Besucherstuhl neben mir saß. »Er ist nämlich gerade mit einer
gewissen Karen Morley liiert, die auch in jeder freien Minute ihre
Joggingschuhe qualmen läßt.«
Ich knuffte ihm grinsend in die Rippen und fuhr fort:
»Zweitens winkt dem Sieger des New-York-Marathons ein Preisgeld in
Höhe von 100.000 Dollar. Das ist eine Menge Geld für einen
Verbrecher, der bisher immer nur mehr oder weniger erfolglose
Raubüberfälle und schwere Diebstähle begangen hat.«
»Es wäre dann sogar das erste ehrlich verdiente Geld seit
ewigen Zeiten«, fügte Mr. McKee mit einem feinen Lächeln hinzu.
»Aber dabei gibt es noch ein Problem, Jesse. Angenommen, Toby
Hancock würde wirklich den Marathon gewinnen. Dann könnten wir ihm
doch noch auf dem Siegerpodest die Handschellen anlegen.«
Ich nickte. »Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht. Warum
sollte Hancock glauben, daß das FBI auf seinen Fersen ist? Er hat
verschiedene Verbrechen in verschiedenen Bundesstaaten begangen.
Wir wissen inzwischen, daß hinter diesen Taten derselbe Mann
steckt. Aber warum sollte er annehmen, daß wir ihn durchschaut
haben? Daß wir außerdem noch seine Leidenschaft für das Laufen
kennen?«
Mr. McKee schien angestrengt über meine Worte
nachzudenken.
»Auf jeden Fall ist Toby Hancock ein skrupelloser Verbrecher,
der rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch macht.« Sorgfältig
setzte unser Chef seine Worte. »Wir können es einfach nicht
riskieren, daß er beim New-York-Marathon mitläuft und womöglich
unschuldige Menschen in Gefahr bringt. 30.000 Läufer sind letztes
Jahr an den Start gegangen. Diesmal werden es kaum weniger
sein.«
Mr. McKee lehnte sich zurück. »Sie beide, Jesse und Milo,
werden die undankbare Aufgabe haben, unter diesen 30.000 Menschen
den mehrfachen Mörder Toby Hancock ausfindig zu machen!«
***
Toby Hancock hatte einen neuen Namen.
Er hieß jetzt Per Knudsen. Und verfügte über einen Reisepaß
des Königreichs Dänemark.
Erst hatte er abgewunken, als der Hehler aus Little Italy ihm
dieses Personaldokument angeboten hatte. Doch dann wurden ihm die
Vorteile klar. Der Paß war an sich echt. Nur daß er, Hancock, eben
nicht dieser Knudsen war. Der Däne gehörte zu den Tausenden von
europäischen Touristen, denen alljährlich bei ihrer USA-Reise die
Papiere gestohlen werden.
»Kein Problem, dein Foto da reinzuklatschen, Mann!« sagte
Luigi und rollte geschäftstüchtig mit den Augen.
Der Killer überlegte nicht lange, sondern blätterte den
Kaufpreis auf den Tisch. Eigentlich war das eine gute Tarnung. Er
wußte, daß am New-York-Marathon Läufer aus aller Welt teilnahmen.
Vor allem aus Afrika, aber auch aus Asien und den europäischen
Ländern. Im vorigen Jahr hatte ein Äthiopier das Rennen
gewonnen.
Nun, dieses Jahr wird es ein Amerikaner sein, dachte Hancock
höhnisch grinsend, verbesserte sich aber sofort. Nein, sorry: ein
Däne natürlich!
***
Sharon Fry lag auf einer weiß bezogenen Liege.
Wieder hatte der Doc im Bellevue Hospital eine
Beruhigungsspritze in ihre Adern gejagt. Sie spürte, wie die Angst
und der Haß in Wellen überschwemmt wurde von der glättenden Wirkung
der Droge. Ihr Inneres wurde wieder zu einem stillen See. Ein toter
See, ohne Wasserpflanzen und Fische.
Sie atmete tief durch, starrte an die Decke. Nichts denken,
nur atmen. Ein und aus.
Plötzlich durchzuckte es sie. Es war, als ob jemand einen
Stein in das Wasser des Sees geworfen hätte. Und der Stein hatte
einen Namen.
Toby Hancock!
Das war der Mann, dessen Foto die G-men ihr gezeigt hatten.
Sein Name hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt. Der
Killer, der ihren geliebten Spencer auf dem Gewissen hatte.
Noch kämpfte die Droge in Sharons Geist gegen den
abgrundtiefen Haß, den sie empfand. Aber das Medikament hatte schon
verloren.
Der Arzt kam herein. »Na, wie fühlen Sie sich?«
Sie hob den Kopf und versuchte ein sanftes Lächeln, daß gar
nicht zu dem Brodeln in ihrem Inneren passen wollte. »Viel besser,
thanks!«
»Ich gebe Ihnen diese Antidepressiva mit«, sagte der Doc und
zog eine Packung aus seiner Kitteltasche. »Wenn Sie davon dreimal
täglich zwei Kapseln nehmen, wird sich Ihr Zustand stabilisieren.
Und wenn Sie wieder diese Alpträume kriegen, können Sie Tag und
Nacht hierher kommen. Dann geben wir Ihnen sofort wieder eine
Spritze.«
Sharon Fry nickte, spielte ganz die brave Patientin.
Doch kaum hatte sie das Hospital verlassen, als die Packung
mit den Antidepressiva auch schon in einen Abfalleimer wanderte.
Ein paar Straßen weiter fand die blonde junge Frau das, was sie
gesucht hatte.
Ein Waffengeschäft.
Ohne Zögern trat sie ein. Jede Verzagtheit war von ihr
abgefallen. Sharon wußte genau, was sie wollte.
»Was kann ich für Sie tun, Ma'am?« Händereibend kam der
Verkäufer auf sie zu. Hinter Glas und in Schubladen warteten die
Instrumente des Todes auf Interessenten.
»Ich brauche eine Pistole«, sagte Sharon mit fester Stimme.
»Möglichst klein, möglichst leicht. Für die Handtasche sozusagen.
Aber gleichzeitig auch treffsicher. Also kein halbes
Spielzeug.«
Der Verkäufer strich sich lächelnd durch seinen Schnurrbart.
»Da habe ich genau das Richtige für Sie, Ma'am.«
Er bückte sich und legte eine kleine kompakte Waffe vor ihr
auf den Tresen.
»Das ist die Glock 17, Ma'am«, erklärte er. »Ein
österreichisches Fabrikat, das von den Polizeitruppen vieler Länder
benutzt wird. Was Sie hier sehen, ist die Mini-Ausführung 27. Faßt
neun Patronen im Kaliber 40 S & W. Das Griffstück ist aus
Polymer, einem widerstandsfähigen Kunststoff. Daher wiegt die ganze
Waffe nur 626 Gramm.«
Sharon Fry durfte die Waffe auch in die Hand nehmen. Sie
zielte auf Passanten, die draußen vor dem Schaufenster
vorbeigingen. Sie war sich sicher, mit der kleinen Pistole gut
umgehen zu können.
Die Blondine nahm noch 100 Schuß Munition dazu und bezahlte
mit ihrer Kreditkarte. Der Verkäufer zeigte ihr, wie sie die Waffe
laden und entsichern mußte. Die Glock 17 war leicht zu be-
dienen.
Als Sharon Fry mit der Pistole in der Tasche das Geschäft
verließ, fühlte sie sich sofort besser.
Mit diesem kleinen Instrument werde ich meine Depressionen
verscheuchen, dachte sie sich. Und Toby Hancock den Tod
bringen!
***
Das Büro von Milo und mir im 26. Stockwerk des FBI-Gebäudes
glich einem Hexenkessel. Wir hatten die Aufgabe, Toby Hancock
zwischen all den harmlosen Läufern beim New-York-Marathon
›herauszufischen‹. Das konnten wir unmöglich allein schaffen.
Zahlreiche Frauen und Männer des FBI Field Office New York mußten
wir für Aufgaben -am Rande der Strecke einspannen. Einerseits
sollten wir überall präsent sein, andererseits durfte der Killer
nicht merken, daß wir auf seiner Spur waren.
Wenn er zwischen den 30.000 Teilnehmern durchdrehte und ein
Blutbad anrichtete… Ich wollte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende
denken. Wir würden jedenfalls alles dafür tun, daß es nicht soweit
kam.
»Was ist mit den Daten der Teilnehmerliste?« fragte Milo einen
unserer Computerexperten. »Können wir vielleicht da schon Hancock
rausfiltern? Wenn er sich mit falschen Papieren anmeldet?«