Die Augen des Mannes leuchteten auf, als er die antike
Fechtwaffe erblickte. Sofort erkannte er, womit er es zu tun
hatte.
»Ein spanischer Duelldegen aus Toledo-Stahl, wahrscheinlich im
frühen 19. Jahrhundert angefertigt«, stellte er fest.
»Im späten 18. Jahrhundert«, berichtigte ihn sein Gegenüber.
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das ist für mich kein nennenswerter Unterschied. Kommen wir
ins Geschäft? Genau so eine Blankwaffe wollte ich immer schon
haben.«
»Sie werden diesen Degen bekommen«, versicherte die andere
Stimme. »Wirklich?«
Die Gier hatte den Verstand des Mannes vernebelt. Er streckte
die Hände begehrlich nach der Klinge aus. Jede Vorsicht war
vergessen, obwohl er eigentlich gute Reflexe und
Überlebensinstinkte hatte.
Daher wurde er völlig überrascht, als der Degen plötzlich und
blitzschnell sein Herz durchbohrte.
Milo und ich saßen in unserem Büro im 23. Stockwerk des FBI
Field Office von New York. Ein zermürbender und öder Arbeitstag
neigte sich dem Ende zu. Wir waren mit der Beweissicherung bei
einem weit verzweigten Fall von Internetbetrug beschäftigt, der
verschiedene FBI-Dienststellen der Ostküste in Atem hielt. Das
bedeutete für uns tagelange Bildschirmarbeit, das Sichten endloser
Datenwüsten. Entsprechend miserabel war unsere Laune.
»Das waren noch Zeiten, als wir Kriminelle in der richtigen
Welt verfolgen durften, mit dem Auto oder meinetwegen auch zu Fuß«,
machte Milo seinem Herzen Luft. Er rieb sich die Augen, die
vermutlich ebenso stark brannten wie meine.
»Es gibt immer noch genug Gesetzesbrecher, die außerhalb des
Internets ihr Unwesen treiben«, beruhigte ich meinen Freund. »Diese
Betrugsgeschichte gefällt mir ebenso wenig wie dir. Aber G-men
können sich nun einmal ihre Aufgaben nicht aussuchen.«
»Ja, schade«, seufzte Milo. »Ich bin nun einmal nicht zum
Stubenhocker geboren, und…«
Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment klingelte das
Telefon. Ich nahm den Hörer ab und meldete mich. Der Chef war am
Apparat.
»Ihre Mitarbeit an dem Internetbetrugsfall ist ab sofort
beendet«, sagte Jonathan D. McKee. »Ich benötige Sie und Milo
dringend für die Aufklärung eines rätselhaften Tötungsdelikts in
der West 47th Street. Dort wurde heute Morgen ein Mann erstochen
aufgefunden.«
Für Morde ohne besondere Umstände ist normalerweise das NYPD
zuständig. Deshalb hakte ich sofort nach.
»Warum ist das ein FBI-Fall, Sir?«
»Weil der Ermordete einen falschen US-Reisepass bei sich
hatte. Dadurch liegt ein Verstoß gegen Bundesgesetze vor, und das
NYPD hat den Fall vorschriftsmäßig an uns weitergeleitet.
Lieutenant Fields vom zuständigen Precinct wird Ihnen mitteilen,
was die City Police bisher herausgefunden hat.«
»In Ordnung, Sir. Wir werden uns sofort mit dem Kollegen in
Verbindung setzen.«
Mr McKee und ich beendeten das Telefonat. Milo schaute mich
neugierig an, da ich den Telefonlautsprecher nicht eingeschaltet
hatte. Ich lächelte und schaltete meinen PC aus.
»Du kannst deine Kiste ebenfalls herunterfahren, Milo. Deine
Stoßgebete wurden erhört, wir haben jetzt wieder einen Fall in der
echten Welt.«
Ich erzählte Milo, was ich soeben vom Assistant Director
erfahren hatte. Die Miene des blonden G-man hellte sich auf.
»Mein Instinkt sagt mir, dass wir eine große Herausforderung
vor uns haben, Jesse.«
»Dein Instinkt hat dir auch gesagt, dass diese aufregende
Blonde vorige Woche nicht in festen Händen wäre«, gab ich grinsend
zurück.
»Irren ist menschlich.« Milo zuckte mit den Schultern. »Nimmst
du nun Kontakt mit den Cops auf oder soll ich das tun?«
Ich schüttelte den Kopf und griff erneut zum Telefon. Die
ersten 48 Stunden nach der Verübung einer Straftat sind meist
entscheidend, um den oder die Täter zu fassen. Wir wussten noch
nicht, seit wann das Opfer tot war. Es galt, keine weitere Zeit zu
verlieren.
Zum Glück erreichte ich Lieutenant Stan Fields von der
Homicide Squad des zuständigen Reviers in seinem Office. Wir hatten
schon oft mit ihm zusammengearbeitet. Ich konnte meinen Namen noch
nicht einmal ganz aussprechen, da fiel er mir schon ins Wort.
»Jesse!«, dröhnte sein tiefer Bass, als er meine Stimme
erkannte. »Willst du dir den Killer unseres Unbekannten zur Brust
nehmen? Dann kann der Mistkerl schon mal einpacken.«
»Milo und ich sollen den Fall von dir übernehmen, Stan.
Natürlich wollen wir uns den Täter schnell greifen. Daher benötigen
wir so bald wie möglich alle Informationen von dir.«
»Viel ist es nicht, was wir bisher herausgefunden haben. Meine
Leute haben keine Zeugen auf treiben können. Wir müssen uns also
auf die Indizien verlassen. Das wird wieder ein Fall, bei dem
Laborleute glänzen können, schätze ich. Am besten treffen wir uns
in einer Stunde am Leichenfundort. Dann könnt ihr euch selbst ein
Bild machen.«
»Gute Idee.«
Ich verabschiedete mich und legte auf. Milo hatte diesmal das
Telefonat über Lautsprecher verfolgt. Wir nutzten die Zeit, um
unsere angefangenen Prüfberichte über den Internetbetrug an die
bedauernswerten Kollegen weiterzuleiten, die weiterhin an dem Fall
arbeiten mussten. Zweifellos mussten auch solche Verbrechen
aufgeklärt werden. Aber es gibt zum Glück FBI-Agents, die
Internet-Experten und halbe Hacker sind. Doch zu dieser Art von
G-men gehören Milo und ich nicht.
***
Lieutenant Stan Fields arbeitete auf dem 14th Precinct an der
West 35th Street. Dieses Revier ist das größte in Manhattan und
deckt den Bereich Midtown South ab.
»Stan hat von dem Leichenfundort gesprochen«, meinte ich,
während wir uns in der Tiefgarage in meinen Sportwagen-E-Hybriden
schwangen. »Demnach stimmt dieser nicht mit dem Tatort
überein.«
»Stimmt, Jesse. Außerdem habe ich mir gerade überlegt, dass
der falsche US-Reisepass keine besonders gute Imitation sein kann.
Sonst hätten die Kollegen von der Scientific Research Division
länger gebraucht, um die Fälschung zu durchschauen.«
Ich nickte, während ich meinen roten Boliden aus der
Tiefgarage lenkte und die Richtung West 47th Street
einschlug.
»Das ist eine gute Überlegung, Milo. Warum gibt sich jemand
mit einer schlechten falschen Identität zufrieden? Entweder kann er
sich keine bessere leisten oder er verkehrt nicht in den richtigen
Ganovenkreisen. Du weißt, es ist in den vergangenen Jahren immer
schwieriger geworden, Personaldokumente zu fälschen. Früher konnte
jeder bessere Falschgelddrucker einen Ausweis oder Führerschein
anfertigen. Die Zeiten sind vorbei, der technische Aufwand ist viel
höher geworden. Und das hat die Preise in die Höhe
getrieben.«
»Ja, und die Luft für Dokumentenfälscher wird immer dünner. Es
gibt momentan nicht allzu viele Könner in dieser kriminellen
Branche. So könnten wir auch die wahre Identität des Toten
ermitteln - indem wir seinen Passfälscher auftreiben.«
Ich stoppte meinen roten Wagen unmittelbar vor dem gelben
Trassierband der City Police. Wir stiegen aus. Ein uniformierter
Cop erkannte uns sofort und tippte lässig grüßend mit zwei Fingern
gegen den Mützenschirm. Er hob das Absperrband für uns.
Es dämmerte bereits. Im Theaterviertel von Manhattan waren
zahllose Amüsierwillige unterwegs. Zwar hatte die Finanzkrise
Manhattan stärker getroffen als so manche andere Gegend in den
Staaten. Aber die New Yorker sind erfinderisch, wenn es um ihr
Vergnügen geht. Wer kein Geld für eine Musical-Aufführung oder ein
Premieren-Kino hatte, schaute sich auf der Straße um. Die bietet in
unserer Stadt nämlich genug kostenloses Theater, und das zu jeder
Tages- und Nachtzeit. Gratisunterhaltung, die manchmal sogar einen
Gänsehauteffekt liefert.
Entsprechend viele Schaulustige drängten sich vor der
Polizeiabsperrung, obwohl die Leiche schon fortgeschafft worden
war. Ein Übertragungswagen einer lokalen TV-Station war ebenfalls
vor Ort. Das motivierte die Schaulustigen noch zusätzlich. Sie
versuchten, hinter der live berichtenden Reporterin in die Kamera
zu winken. Der traurige Anlass für den Fernsehbericht schien ihnen
gleichgültig zu sein.
Ich nahm mir sofort vor, später in der Gerichtsmedizin einen
Blick auf 6 den Toten zu werfen. Das bringt oft mehr als das
Betrachten von Polizeifotos. Außerdem war es möglich, dass uns die
Ärzte schon erste Erkenntnisse liefern konnten. Eine Mörderjagd ist
immer auch ein wenig ein Wettlauf mit der Zeit.
Nun hatte uns auch Stan Fields entdeckt. Der Lieutenant mit
der Figur eines Schwergewichtsboxers begrüßte uns mit einem
kräftigen Händedruck. Er war ein erfahrener Cop, der auch nach
vielen Jahren an vorderster Front ein leidenschaftlicher
Verbrechensbekämpfer war. Genau wie wir.
Stand Fields hatte einen schmalen Schnellhefter dabei. Ich
nahm an, dass sich darin die bisherigen Ermittlungsergebnisse
befanden. Doch ich schaute dem NYPD-Kollegen zunächst in sein
großflächiges offenes Gesicht.
»Stan, mit einer Kurzfassung der Fakten wäre uns zunächst am
meisten gedient.«
»Okay, Jesse. - Also, um 8.11 Uhr heute Morgen ging bei der
Notruf zentrale ein Anruf ein. Ein Jogger hatte die Leiche in einer
schmalen Seitengasse gesehen und sofort die 911 angerufen. Die
Notruf zentrale hat den Anruf natürlich aufgezeichnet.«
Ich nickte.
»Die Leiche ist männlich, weiße Hautfarbe, zwischen 40 und 50
Jahre alt«, fuhr Stan Fields fort. »Als wir ein Patrolcar
losschickten, tippten die Kollegen zunächst auf einen toten
Obdachlosen. Aber der ermordete Mann war gut gekleidet und wirkte
keineswegs heruntergekommen. Auf den ersten Blick sah es ja sogar
so aus, als ob wir ihn sofort identifizieren konnten.«
»Wegen des falschen Passes?«
»Genau, Jesse. Der Name in dem Pseudo-Dokument lautet Henry
Warrick. Aber ein Mensch mit diesem Namen existiert nicht, das
ergab schon der allererste Datenabgleich. Nachdem ich zum
Leichenfundort gerufen wurde, habe ich sofort sämtliche
Vermisstenanzeigen gecheckt. Aber dort gab es bisher keine
Ergebnisse.«
»Ist schon klar, wo der Mann ermordet wurde?«, fragte
Milo.
Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Die Kollegen von der
Spurensicherung haben mir nur jeden Eid geschworen, dass er nicht
hier ums Leben gekommen sein kann.«
Fields zeigte auf das Areal, wo mit weißen Kreidestrichen und
verschiedenfarbigen Fähnchen die Lage der Leiche skizziert war.
Starkes Scheinwerferlicht tauchte die Szenerie in eine enthüllende
schmerzliche Helligkeit. Einige Männer von der SRD waren in ihren
weißen Schutzanzügen immer noch mit dem Absuchen der Umgebung
beschäftigt.
In der Gasse lag Müll und Unrat herum, weiter im Hintergrund
waren die Umrisse von Abfallcontainern zu erkennen.
»Und warum nicht?«
»Es fehlen die Blutspritzer, Jesse. Die Mordwaffe muss mit
einer ziemlichen Wucht in seinen Oberkörper eingedrungen sein. Es
gab nämlich auch eine Austrittswunde am Rücken. Man kann einen
Menschen nicht mit einer Stichwaffe so dermaßen durchbohren, ohne
dass Blutspritzer in der Umgebung Zurückbleiben. Sie mögen
mikroskopisch klein sein, aber sie sind auf jeden Fall vorhanden.
Doch hier in dieser Gasse gibt es sie nicht. Hingegen konnten die
Kollegen geringe Schleifspuren feststellen.«
»Und was ist mit DNA-Material des Täters?«
»So weit sind die Auswertungen noch nicht, Jesse. Aber möglich
wäre es.«
»Also wurde die Leiche hier einfach abgeladen«, stellte ich
fest. Der Lieutenant nickte.
»Wir wissen auch schon, wie es in etwa abgelaufen ist. Seht
ihr die Reifenspuren dort? Sie stammen von einem Mini-Van,
wahrscheinlich ein japanisches Modell. Der Lieferwagen ist kurz auf
den Gehweg gefahren, mit dem Heck in Richtung Gasse. Dann wurden
die Hecktüren geöffnet, der Tote nach draußen gestoßen und ein paar
Yards tiefer in die Gasse geschleift. Das kann sogar vor Zeugen
geschehen sein. In dieser Gegend wird die Nacht zum Tag gemacht,
ständig bekommen Restaurants oder Theater Lieferungen. Auf einen
Van, der Ware ablädt, achtet hier niemand.«
»Ist eigentlich der Todeszeitpunkt schon klar?«, fragte
Milo.
»Die erste grobe Schätzung des Gerichtsmediziners geht von dem
Zeitraum von Mitternacht bis drei Uhr morgens aus, und zwar in der
Nacht von Montag auf Dienstag.«
Momentan war Dienstagabend. Man konnte also davon ausgehen,
dass der Tote bald nach seiner Ermordung beiseite geschafft worden
war. Der Jogger hatte ihn ja am Dienstagmorgen um 8.11 Uhr
entdeckt, nur wenige Stunden nach dem mutmaßlichen Todeszeitpunkt.
Die Cops hatten bisher nur einen knappen Tag für die
Ermittlungsarbeit gehabt. Hätte der Tote keinen falschen US-Pass
besessen, so wäre dieser Fall beim NYPD verblieben.
»Ich möchte noch einmal auf die Mordwaffe zu sprechen kommen.
Gibt es da schon nähere Erkenntnisse?«
»Entweder ein langer schmaler Dolch oder ein Degen, Jesse. Das
war jedenfalls die erste Vermutung unseres Docs. Aber für ein
endgültiges Ergebnis werdet ihr auf den Obduktionsbefund warten
müssen.«
»Ein Degen?«, wunderte sich Milo. »So eine Waffe wie aus einem
Musketier-Film?«
»Film ist ein gutes Stichwort«, sagte ich. »Und natürlich auch
Theater. Soweit ich weiß, wird bei vielen historischen Stücken auf
der Bühne auch gefochten. Es muss kein Zufall sein, dass die Leiche
ausgerechnet hier im Theater District abgelegt wurde. Vielleicht
ist der Tote sogar so eine Art Botschaft für jemanden.«
»Wir müssen also nur die Theater checken«, stöhnte Milo. »Hast
du eine Ahnung, wie viele Bühnen es in New York gibt?«
»Allerdings, Milo. Aber was ist die Alternative? Wieder an dem
Internet-Fall arbeiten?«
Mein Freund seufzte laut und wedelte mit der Hand, als ob er
sich verbrannt hätte.
»Was für ein Internet-Fall?«, wunderte sich der
Lieutenant.
»Nichts, das war nur ein interner Scherz zwischen Milo und
mir. - Wir sollten herausfinden, an welchen Theatern historische
Kostümstücke gespielt werden. Vielleicht war der Ermordete ein
Schauspieler.«
»Auf jeden Fall keiner, den ich kennen würde«, meinte Stan
Fields. »Richard Gere und Mel Gibson leben noch, so viel steht
fest.«
Ich nickte grinsend und schaute mir die Umgebung näher an. Die
schmale Gasse befand sich zwischen einem Bürogebäude und einem
ukrainischen Reisebüro. Ob dort jemand das Opfer gekannt hatte? Wir
würden am nächsten Morgen nachfragen müssen, denn sowohl die Firmen
in dem sechsstöckigen Brownstone-Haus als auch das Reisebüro waren
jetzt geschlossen.
Ansonsten gab es in dem Block noch zwei Kinos, das Konsulat
eines afrikanischen Landes und ein Verwaltungsgebäude. Es schien
mir so gut wie ausgeschlossen, dass es für das Ablegen der Leiche
Augenzeugen gegeben hatte. Es war, als hätte Milo meine Gedanken
gelesen.
»Nach Mitternacht wird es hier wohl keine neugierigen Nachbarn
geben, die etwas gesehen haben.«
»Wohl kaum. Herumfragen werden wir natürlich trotzdem. Du hast
dich doch nach der Beinarbeit auf den Straßen zurückgesehnt, jetzt
haben wir mehr als genug davon.«
Milo grinste.
»Sicher, Jesse. Aber du bist auch lieber draußen im wahren
Leben, da machst du mir nichts vor.«
Der Lieutenant schaute uns verständnislos an.
»Das klingt ja fast, als wärt ihr hinter schwedischen Gardinen
gewesen.«
»Ganz so schlimm ist der Innendienst dann doch nicht«, lachte
Milo. Nachdem einstweilen keine weiteren Fragen mehr auftauchten,
verabschiedeten wir uns von Stan Fields. Zuvor bekamen wir von dem
Cop seine Ermittlungsergebnisse. Damit hatte offiziell das FBI die
weitere Bearbeitung des Falles übernommen.
***
Milo und ich fuhren zum gerichtsmedizinischen Institut. Dort
wurde trotz der späten Stunde noch gearbeitet. Wie sich
herausstellte, war Dr Lewinski mit der Leichenschau des unbekannten
Toten beauftragt. Der Pathologe begrüßte uns. Wir folgten ihm in
seinen kalten Seziersaal, wo die nackte Leiche auf einem Stahltisch
lag.
»Wie Sie sehen können, war unser unbekannter Toter zu
Lebzeiten gut in Form«, sagte Dr Lewinski. »Er verfügte über einen
athletischen Körperbau, meiner Meinung nach hat er regelmäßig Sport
getrieben. Sein Gebiss war in Ordnung, allerdings hatte er einige
Brücken und Überkronungen. Ich vermute, dass dieser Zahnersatz in
Osteuropa gefertigt wurde.«
»Ein Osteuropäer also«, murmelte Milo.
»Nicht unbedingt«, schränkte der Gerichtsmediziner ein.
»Inzwischen reisen auch viele Westeuropäer in die ehemaligen
Ostblockstaaten, um sich die Zähne behandeln zu lassen. So wie die
Amerikaner mit schmalem Geldbeutel, die zur Zahnbehandlung in eine
mexikanische Grenzstadt fahren.«
»Können Sie uns schon Genaueres zur Mordwaffe sagen?«, fragte
ich.
»Meiner Meinung nach handelt es sich um einen Degen. Der
Wundkanal weist eine Beschaffenheit auf, die auf eine Blutrinne an
der Stichwaffe schließen lässt. Es könnte natürlich auch ein Dolch
gewesen sein, aber Dolche sind meist nicht so lang. Die Waffe ist
ja am Rücken wieder ausgetreten. Ich gehe von einer Klingenlänge
von fast anderthalb Yards aus.«
»Können Sie Rückschlüsse auf den Täter ziehen, Doktor?«
»Nur bedingt, Agent Trevellian. Die Schräglage des Wundkanals
spricht dafür, dass der Mörder kleiner ist als das Opfer. Der Stich
wurde nämlich von unten nach oben geführt. Aber es wäre auch
möglich, dass der Killer einen fechterischen Ausfall gemacht hat -
und zwar so.«
Dr Lewinski zeigte uns, was er meinte.
Er schob den rechten Arm vorwärts, streckte blitzschnell das
linke Bein und machte mit dem rechten Fuß einen weiten Schritt nach
vorn. Sein Zeigefinger deutete direkt auf meine Brust.
»Sehen Sie, Agent Trevellian? Ich bin genauso groß wie Sie.
Aber wenn ich jetzt eine Fechtwaffe in der Hand hätte, würde ich
Ihnen den Degen von unten nach oben ins Herz stechen - weil ich
nämlich in den Ausfall gegangen bin.«
Da der Pathologe sein Knie gebeugt hatte, befand sich sein
Kopf jetzt ungefähr auf meiner Brusthöhe. Im nächsten Moment
stellte er sich wieder normal hin und lächelte.
»Sie haben offenbar Ahnung vom Fechten, Doktor.«
»Als Student habe ich eine Zeit lang gefochten, Agent
Trevellian. Gelernt ist gelernt. Aber ich würde jetzt nicht
behaupten wollen, dass der Mörder ein Fechter ist. Letztlich kann
jeder einen Degen in die Hand nehmen und damit den Oberkörper des
Opfers durchbohren.«
»Aber ein Killer ohne Fechterfahrung wäre kleiner als der
Tote?«, vergewisserte ich mich.
»Das würde ich zumindest vermuten. Ich glaube nicht an einen
Unfall. Es hat nur einen einzigen Stich gegeben, und der traf
mitten ins Herz. Der Täter hat genau gewusst, wohin er zielen
musste. Und er hatte eine ganz eindeutige Tötungsabsicht.«
Wir verließen das gerichtsmedizinische Institut.
»Wann nehmen wir uns die Passfälscher-Szene zur Brust?«,
fragte Milo.
»Lass uns morgen früh mal kurz mit Jennifer Clark und Blair
Jordanovich reden. Du weißt, sie hatten neulich auch einen Fall, in
dem gefälschte Dokumente eine Rolle spielten. Gewiss haben sie noch
einschlägige Kontakte.«
»Gute Idee, Jesse. Hätte glatt von mir stammen können.«
Ich war sicher, dass der echte Name des Opfers uns zu seinem
Mörder führen würde. Und so war es aüch. Allerdings verlief der
Fall etwas anders, als ich es mir zunächst vorgestellt hatte.
***
Am nächsten Morgen erfuhren wir den wahren Namen des
unbekannten Toten.
Ich hatte Milo an unserer gewohnten Ecke abgeholt. Wir waren
zum FBI-Building gefahren, um zunächst die Ermittlungsergebnisse
des NYPD durchzugehen. Da kam ein Anruf von der
Spurensicherung.
»Die Leiche aus der West 47th Street trägt den Namen Michail
Banukov«, sagte der Kollege am Telefon. »Banukov war ukrainischer
Staatsbürger. Er ist vor zwei Wochen legal in die Staaten
eingereist. Daher hat die Homeland Security auch seine
Fingerabdrücke. Bei dem Abgleich stellte sich dann schnell seine
Identität heraus.«
»Hättet ihr das nicht schon gestern herausfinden
können?«
»Normalerweise schon, Jesse. Es gab aber
Computerprobleme.«
Ich bedankte mich und beendete das Gespräch. Milo hatte alles
mitgehört.
»Eine legale Einreise«, wiederholte Milo murmelnd. »Und
dennoch trägt er einen falschen Pass bei sich. Warum nur?«
»Dafür kann es zahlreiche Gründe geben. Vielleicht wollte er
nicht in die Ukraine zurück und stattdessen hier ein neues Leben
anfangen. Oder er hatte vor, sich in ein anderes Land zu
begeben.«
»Der Tote war auf jeden Fall ein Ukrainer. Ich glaube nicht an
Zufälle, Jesse. Das weißt du. Und es erscheint mir mehr als
verdächtig, dass seine Leiche ausgerechnet neben einem ukrainischen
Reisebüro abgelegt wird.«
»Das stimmt, Milo. Ich bin gespannt, was man uns dort zu
erzählen hat.«
Ich steckte ein Foto von Banukov ein, das der Polizeifotograf
aufgenommen hatte. Wir fuhren zur West 47th Street zurück. Das
Reisebüro hatte inzwischen geöffnet. Aber offenbar interessierte
sich an diesem Vormittag kein New Yorker für die Attraktionen des
osteuropäischen Landes. Jedenfalls war außer uns niemand zu sehen,
nachdem wir eingetreten waren.
Doch ein Hauch von Parfüm lag in der Luft. Ich schnüffelte.
Eine Lady musste vor nicht allzu langer Zeit in diesem Reisebüro
gewesen sein. Parfüm verfliegt schnell, daher konnte es sich nicht
um Tage oder Stunden handeln. Höchstens um Minuten.
Hochglanzprospekte lagen herum, große Fotos zeigten die
landschaftliche Schönheit von Yalta, Badeidylle am Schwarzen Meer,
und Klöster mit Zwiebeltürmen. Aber das Reisebüro schien völlig
verlassen zu sein. Hatte die Frau Reißaus genommen? Wollte sie
etwas vor uns verbergen?
Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen.
»Ist hier jemand? Wir sind vom FBI.«
Ich hatte laut gerufen. Es war unmöglich, dass man mich
überhört hatte. Es herrschte ansonsten eine Totenstille, abgesehen
von dem leisen Verkehrslärm, der durch die Panoramäscheiben
drang.
Hier stimmte etwas nicht. Ich zog meine Pistole, Milo folgte
meinem Beispiel. Wir gaben uns gegenseitig Deckung, während wir uns
genauer umschauten. Im vorderen Bereich mit der Wartezone und den
computerbestückten Schreibtischen konnte sich niemand vor unseren
Blicken verbergen. Doch ein schmaler Gang führte nach hinten. Dort
gab es eine winzige Teeküche, außerdem einen fensterlosen
Lagerraum, in dem in Folien geschweißte Prospekte und Büromaterial
gestapelt waren. Am Ende des Ganges befand sich eine halb geöffnete
Stahltür. Sie führte auf die Gasse hinaus.
Und dort lag ein Körper.
Milo und ich stürzten auf die leblose Person zu. Dabei liefen
wir natürlich nicht blindwütig in eine mögliche Falle. Wir
sicherten nach allen Seiten, hielten nach einem möglichen
Heckenschützen Ausschau.
Doch die Frau, die dort im Dreck der Gasse lag, war nicht von
einer Kugel getroffen worden. Die langen blonden Locken waren am
Hinterkopf blutverklebt. Offenbar hatte sie einen Schlag auf den
Schädel bekommen. Ich tastete nach ihrer Halsschlagader. Sie lebte
noch.
Milo griff bereits nach seinem Handy und forderte einen
Notarzt an. Ich drehte das Opfer in eine stabile Seitenlage. Die
Frau war bewusstlos. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig Jahre.
Sie trug ein eng anliegendes dunkles Geschäftskostüm mit knielangem
Rock. Ob sie eine Angestellte des Reisebüros war?
Unmittelbar neben ihr lag eine schwarze Abfalltüte. Bis zu den
Müllcontainern in der Gasse waren es noch zehn Schritte. Die
Kollegen von der Spurensicherung hatten am Vorabend gewiss auch die
Abfallbehälter gecheckt. Da war ich mir sicher.
Hing der Angriff auf die Frau mit dem Mord an Banukov
zusammen? Hatten sich die beiden vielleicht sogar gekannt? Je
länger ich über den Fall nachdachte, desto mehr Fragen tauchten
auf.
Nun erschienen erst einmal der Notfallmediziner und zwei
Sanitäter auf der Bildfläche. Sie hoben die Frau vorsichtig auf
eine Trage.
»Eine Platzwunde am Hinterkopf, aber kein Verdacht auf
Schädelbasisbruch«, sagte der Doktor nach einer ersten
Untersuchung. »Ich gehe von einer Gehirnerschütterung aus.
Patientin ist nicht ansprechbar, Vitalfunktionen leicht
herabgesetzt, aber ansonsten stabil. - Wir bringen sie ins
Bellevue.«
Mit dem letzten Satz wandte sich der Notarzt an mich, während
die Sanitäter die Verletzte auf der Trage hochhoben und zu dem
geparkten Rettungswagen schafften. Die Kopfwunde war mit einem
provisorischen Verband versorgt worden.
»Wann ist die Frau niedergeschlagen worden, Doc?«, wollte Milo
wissen.
»Das kann noch nicht lange her sein, vielleicht eine halbe
Stunde. Das Blut an der Wunde ist noch nicht richtig getrocknet. -
Jetzt müssen wir aber fahren.«
Die Männer stiegen in die Ambulanz und rasten mit gellender
Sirene davon. Milo und ich schauten uns an.
»So ein Mist. Wenn wir früher gekommen wären, hätten wir den
Kerl erwischen oder die Tat sogar verhindern können.«
»Okay, Milo. Aber da wir keine Hellseher sind, bringen
Selbstvorwürfe nichts. Glaubst du denn, dass die Tat mit dem Mord
an Banukov zusammenhängt?«
»Du etwa nicht, Jesse? Die Leiche wird nachts in der Gasse
abgelegt, am nächsten Morgen will die Reisebüroangestellte, den
Müll rausbringen und bekommt einen Schlag auf den Schädel. Ich
schätze, der Täter ist zurückgekehrt und wurde dabei
gestört.«
»Ja, das ist einleuchtend. Schauen wir uns mal im Reisebüro
um.«
Ich hatte die Idee im Hinterkopf, ob es vielleicht eine
Verbindung zwischen dem Reisebüro und Banukovs falschem Pass gäbe.
Noch wussten wir ja nicht, ob hier wirklich nur legale Geschäfte
gemacht wurden. Die Fälschung von Personaldokumenten wäre
jedenfalls eine sehr lukrative Nebeneinnahme für ein
Touristikunternehmen.
Doch auf den ersten Blick wirkte das Reisebüro unverdächtig.
Ich habe schon genug Scheinfirmen gesehen, die nur der Geldwäsche
oder anderen zwielichtigen Machenschaften dienten. Falls natürlich
an den Bilanzen manipuliert wurde, war das ein Fall für unsere
Experten.
Ich entdeckte die Telefonnummer des Inhabers.
»Diesen Pjotr Lukin wird gewiss interessieren, dass sich seine
Angestellte im Krankenhaus befindet. Offenbar arbeitet hier sonst
niemand, jedenfalls ist noch kein weiterer Mitarbeiter
aufgetaucht.«
Während ich mit Milo sprach, tippte ich die Nummer dieses
Lukin in mein Handy. Wenig später ertönte das Freizeichen, dann
meldete sich eine weibliche Stimme mit osteuropäischem
Akzent.
»Das Büro von Mister Lukin, Sie sprechen mit Vera
Smoldavar.«
»Mein Name ist Jesse Trevellian, ich bin Agent beim FBI New
York. Es geht um Mister Lukins Reisebüro in der West 47th
Street…«
Bevor ich den Satz beenden konnte, fiel mir die Lady ins Wort.
Ihr Tonfall war nun hart.
»Alle Anschuldigungen gegen Mister Lukin leiten Sie bitte
direkt an seinen Rechtsanwalt Dr Philips weiter. Ich gebe Ihnen
seine Rufnummer.«
Nun fiel ich ihr ins Wort.
»Das ist ein Missverständnis. Wir ermitteln nicht gegen Mister
Lukin, Miss. In seinem Reisebüro hat ein Verbrechen stattgefunden,
seine Angestellte wurde niedergeschlagen. Wir sind vor Ort.
Offenbar ist kein anderes Personal hier. Vielleicht sollten Sie
jemanden vorbeischicken, damit zumindest abgeschlossen wird.«
Mit diesen Informationen schien ich die Telefonlady verblüfft
zu haben. Jedenfalls antwortete sie zunächst nicht.
»Vielleicht kann ja Mister Lukin auch selbst kommen«, fuhr ich
fort.
»Nein, das geht nicht. Um diese Uhrzeit hat Mister Lukin immer
sein Fechttraining. Dabei darf er nicht gestört werden.«
***
Eine Viertelstunde später erschien ein junger Mann, der unsere
Sprache nur gebrochen beherrschte. Er sperrte zu, nachdem er mit
uns zusammen das Reisebüro verlassen hatte. Aus diesem Burschen war
keine brauchbare Information herauszubekommen. Aber immerhin
drückte er mir eine Visitenkarte in die Hand, bevor er sich wieder
aus dem Staub machte.
»Pjotr Lukin scheint ein vielseitig interessierter Mann zu
sein«, sagte ich zu Milo. »Sieh mal, er hat außer seinem Reisebüro
auch noch ein Im- und Exportgeschäft sowie einen
Übersetzungsservice, eine Automatenwäscherei sowie eine
Kunstgalerie.«
»Wahrscheinlich würde er auch gegen Bezahlung deinen Hund
ausführen, wenn du einen hättest«, spottete Milo. »Für mich klingt
das nach einem Geschäftemacher, der auf Teufel komm raus Geld
scheffeln will.«
»Das ist ja nicht verboten.«
»Gewiss nicht, Jesse. Aber wenn sofort ein Anwalt Gewehr bei
Fuß steht, sobald das FBI auch nur erwähnt wird, dann macht das
diese Person nicht gerade unverdächtig.«
»Ich finde auch, dass wir uns Lukin nach seinem geheiligten
Fechttraining einmal vorknöpfen sollten. Aber lass uns zunächst ins
Bellevue fahren. Vielleicht ist die Angestellte schon wieder bei
Bewusstsein.«
»Apropos Fechttraining«, meinte Milo, während wir in den
Sportwagen stiegen, »ob es wohl ein Zufall ist, dass Lukin sich
auch für das Fechten interessiert? Ich wette, er kann gut genug mit
einem Degen umgehen, um Banukov die Waffe in die Brust zu
stoßen.«
»Gut möglich. Jetzt brauchen wir nur noch ein Motiv für die
Tat. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was Banukov überhaupt in
New York gewollt hat. Und warum er sich als Henry Warrick
ausgegeben hat.«
Wir fuhren zum Bellevue Hospital. Bei der Verletzten war eine
leichte Gehirnerschütterung festgestellt worden. Sie war inzwischen
aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Ich bat darum, mit ihr sprechen
zu dürfen.
»Die Patientin braucht absolute Ruhe«, sagte die
Stationsärztin abweisend. Laut ihrem Namensschild auf dem Kittel
hieß sie Dr Ruth Oakland. Sie war eine schöne Frau mit weißblondem
Haar und rauchblauen Augen.
»Wir ermitteln in einem Mordfall. Je länger wir warten, desto
länger bleibt der Täter in Freiheit. Er kann weiterhin andere
Menschen verletzen oder töten. Wir wollen ihn so schnell wie
möglich aus dem Verkehr ziehen.«
Die Medizinerin seufzte. Sie warf mir einen Blick zu, den man
nicht unbedingt als dienstlich einstufen konnte.
»Warum kann ich bei einem dunkelhaarigen G-man wie Ihnen nicht
Nein sagen? Doch ich stelle Ihnen eine Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Sie geben mir Ihre Telefonnummer, G-man. Damit ich Sie zur
Verantwortung ziehen kann, falls es bei der Patientin
Komplikationen gibt.«
Der Blick von Frau Dr Oakland sagte mir allerdings, dass sie
meine Nummer aus anderen Gründen haben wollte. Ich lächelte ihr zu
und gab ihr meine Visitenkarte. Dr Oakland ließ diese schnell in
ihrer Kitteltasche verschwinden. Sie deutete mit einer Kinnbewegung
auf die Tür des Krankenzimmers.
»Ab mit Ihnen. Aber nur fünf Minuten, okay?«
Ich versprach es hoch und heilig. Milo grinste mir zu, als die
Ärztin fort war.
»Frau Dr Oakland würde gewiss gern mit dir ausgehen, Jesse.
Bei der hast du Chancen, glaub mir.«
»Darüber kann man reden, wenn der Killer in Rikers
sitzt.«
Die Reisebüroangestellte hieß Ludmilla Krailova. Sie hatte ein
Krankenzimmer für sich allein. Ihr Gesicht war bleich. Sie wirkte
furchtsam und eingeschüchtert. Ich fragte mich, ob sie sich vor dem
Täter oder vor dem FBI fürchtete. Vielleicht auch vor Lukin - oder
vor einer anderen Bedrohung, von der wir noch nichts wussten. Das
mussten wir herausbekommen. Milo und ich schnappten uns
Besucherstühle und nahmen links und rechts von ihrem Bett Platz.
Wir stellten uns offiziell vor und zeigten unsere
Dienstausweise.
»Miss Krailova, wir haben Sie hinter dem Reisebüro gefunden.
Sie sind offenbar niedergeschlagen worden. Haben Sie den Täter
erkannt?«
»N-nein, Agent Trevellian.« Ludmilla Krailova sprach mit
kehligem Akzent, aber gut verständlich. »Es ging alles so
schnell.«
Sagte sie die Wahrheit? Ich war mir nicht sicher.
»Erzählen Sie uns doch bitte, was passiert ist.«
»Da gibt es gar nicht so viel zu sagen. Ich habe das Reisebüro
aufgeschlossen…«
»Wann war das?«
»Um neun Uhr. Danach habe ich den Müll nach draußen bringen
wollen, das hatte die Putzfrau am Vorabend vergessen. Ich öffnete
also die Hintertür. Die Abfallcontainer stehen in der Gasse hinter
dem Haus. Doch kaum hatte ich die Tür geöffnet, da bemerkte ich
einen Schatten neben mir. Im nächsten Moment glaubte ich, mein
Schädel würde platzen. Es wurde finsterste Nacht. Und als ich
wieder aufwachte, lag ich hier in diesem Krankenhausbett.«
»Dann haben Sie also auch keinen Verdacht, wer Sie
niedergeschlagen haben könnte? Haben Sie vorher etwas
gehört?«
»Nein, Agent Trevellian.«
»Oder ist Ihnen vielleicht ein fremder Geruch aufgefallen? Im
Reisebüro duftete es intensiv nach einem Damen-Parfüm…«
»Das stammt von mir. Ich habe die Angewohnheit, direkt vor
Arbeitsbeginn noch etwas Parfüm aufzulegen. Wie gesagt, es war ein
ganz normaler Tag. Ich hätte mir niemals träumen, lassen, einfach
niedergeschlagen zu werden.«
Ich nickte und zog das Foto von Michail Banukov aus meinem
Jackett. Ich hielt Ludmilla Krailova die Aufnahme unter die
Nase.
»Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen, Miss
Krailova?«
»Nein.« Diesmal war ich sicher, dass sie log. »Wer ist
das?«
»Sein Name war Michail Banukov, aber er hatte auch einen
falschen Pass auf den Namen Henry Warrick. Haben Sie einen dieser
Namen schon einmal gehört?«
»Nein, das sagt mir nichts. Warum sieht er so seltsam aus? Ist
er tot?«
»Ja, er wurde ermordet. Und seine Leiche wurde gestern in der
Gasse neben dem Reisebüro gefunden. Haben Sie davon gar nichts
bemerkt? Die Cops haben weiträumig abgesperrt, es gab eine Menge
Gaffer.«
»Während der Arbeitszeit kümmere ich mich nicht um die Dinge,
die draußen vorgehen«, behauptete die Angestellte. »Ein
uniformierter Cop kam kurz herein und fragte, ob ich etwas
Verdächtiges in der Gasse bemerkt hätte. Mir war aber nichts
aufgefallen. Daraufhin ging er gleich wieder fort.«
»Stammen Sie aus der Ukraine, Miss Krailova?«
»Ja, natürlich. Mister Lukin wollte eine gebürtige Ukrainerin
in seinem Reisebüro arbeiten lassen, um die Kunden besser beraten
zu können. Aber ich bin US-Staatsbürgerin. Ich spreche nicht nur
Amerikanisch, sondern auch Ukrainisch und Russisch.«
»Banukov war auch Ukrainer.«
»Trotzdem kannte ich ihn nicht, Agent Trevellian. Die Ukraine
ist ein großes Land, sie reicht vom Schwarzen Meer bis zu den
Karpaten.«
»Das will ich nicht bestreiten. Aber hier in New York nehmen
Neueinwanderer oftmals Kontakt zu früheren Landsleuten auf. Das
wird Ihnen bekannt sein.«
»Ja, und Ukrainer bilden da gewiss keine Ausnahme. In dem
Block, wo ich lebe, stammen die meisten Bewohner aus Kiew und
Umgebung- So entsteht ein Stück Heimat mitten hier in New York.
Aber diesen Michail Banukov habe ich trotzdem nicht gekannt, das
müssen Sie mir glauben.«
Ich wollte die Frau nicht zu hart verhören, schließlich war
sie verletzt und offenbar auch geschockt.
»Was für ein Verhältnis haben Sie zu Pjotr Lukin?«
»Wie meinen Sie das, Agent Trevellian? Mister Lukin ist mein
Boss, ich bin seine Angestellte. Das Reisebüro führe ich
allein.«
»Sie wollen sagen, dass Ihr Chef Ihnen nicht ständig auf die
Finger schaut?«
»Mister Lukin vertraut mir. Aber wenn es Unregelmäßigkeiten
gäbe, würde er das gewiss sofort merken.«
Ich spürte, dass Ludmilla Krailova innerlich abblockte. So
kamen wir nicht weiter. Außerdem erschien nun auch noch die Ärztin
und deutete vielsagend auf ihre Armbanduhr.
Wir erhoben uns. Ich legte meine Visitenkarte auf das
Nachtschränkchen.
»Das wäre alles für heute, Miss Krailova. Vielen Dank für Ihre
Hilfe. Bitte rufen Sie mich jederzeit an, wenn Ihnen noch etwas
einfällt. Jeder Hinweis kann wichtig sein.«
Die Frau in dem gepunkteten Patientennachthemd warf mir einen
zweifelnden Blick zu. Sie schien sich zu fragen, ob sie mir trauen
konnte. Vielleicht hatte Lukin ihr auch eingeimpft, sich überhaupt
nicht mit der Polizei einzulassen. Für eine durchtriebene
Kriminelle hielt ich Ludmilla Krailova auf jeden Fall nicht.
Bevor wir die Station verlassen konnten, hielt mich Dr Oakland
zurück.
»Ihr Fall scheint interessant zu sein, Agent Trevellian.
Dürfen Sie darüber sprechen?«
Ȇber allgemeine Dinge schon - also das, was auch in den
Pressemitteilungen des FBI steht.«
»Das würde ich aber viel lieber aus Ihrem Mund hören. Leider
habe ich momentan ungünstige Arbeitszeiten. Aber wie wäre es mit
übermorgen Abend?«
»Das ist perfekt«, erwiderte ich und blinzelte ihr zu. Die
rauchblauen Augen strahlten. Milo konnte sich kaum zurückhalten,
bis wir endlich außer Hörweite waren.
»Eine Zeugenaussage und eine Verabredung mit der schönen Frau
Doktor - was will der G-man mehr?«
»Eine Zeugenaussage, die auch etwas taugt. Und da habe ich so
meine Zweifel.«
»Was denkst du über den ukrainischen Lockenengel,
Jesse?«
»Sie verschweigt uns etwas. Ich wette, dass sie Banukov
gekannt hat. Und es gibt auch eine Verbindung zwischen Banukov und
ihrem Boss Lukin. Das müssen wir nur noch beweisen.«
»Wir könnten herausfinden, was Banukov daheim in der Ukraine
so getrieben hat, Jesse.«
»Ja, aber dafür müssen wir die ungeliebten Computer anwerfen.
Zuvor könnten wir Pjotr Lukin unsere Aufwartung machen.«
Während ich fuhr, rief Milo in Lukins Büro an. Er wollte die
Adresse von Lukins Fechtclub erfragen. Nach einigem Hin und Her
hatte mein Freund Erfolg.
»Er trainiert in einem Gym an der Fiatbush Avenue«, sagte
Milo. »Seine Telefonmieze hat uns noch einmal beschworen, ihn nicht
zu stören. Aber angeblich ist er sowieso bald durch mit seinem
Pensum.«
»Dann kommen wir ja genau im richtigen Moment.«
***
Ich fuhr über die Manhattan Bridge nach Brooklyn hinüber. In
diesem großen New Yorker Bezirk leben viele Einwanderer. Während
die Russen verstärkt in der Gegend um Coney Island siedeln, hatten
die Ukrainer offenbar um die Fiatbush Avenue herum eine neue Heimat
gefunden. Lukins Fechttraining fand jedenfalls in einem Studio
namens Kiew Gym statt. Fotos im Eingangsbereich zeigten, dass hier
nicht nur Fechter, sondern auch Boxer und Gewichtheber ihrem Sport
nachgehen konnten. Es gab auch einen großen Bereich mit
Kraftmaschinen.
Nur auf fremde Besucher war man offenbar nicht eingestellt.
Eine vollbusige Blondine mit greller Schminke im Gesicht wartete
hinter der Fitness-Theke. Doch bevor wir auch nur ein Wort
hervorbringen konnten, schob sie vier Finger in den Mund und stieß
einen schrillen Pfiff aus.
Im Handumdrehen erschienen ein paar Finsterlinge in
Trainingsanzügen und mit Möbelpacker-Figuren. Sie knurrten einige
Worte auf Ukrainisch, die gewiss keine Höflichkeitsfloskeln waren.
Aber Reden war offenbar sowieso nicht ihre Stärke.
Jedenfalls gingen sie uns sofort an.
Ein weizenblonder Kerl stürmte auf mich los wie ein Bulldozer.
Er fühlte sich bereits auf der Gewinnerstraße, weil er einen Kopf
größer war als ich. Doch er wusste offenbar nicht, dass er es mit
einem kampferprobten G-man zu tun hatte. Jedenfalls duckte ich mich
unter seinem Fausthieb weg und schlug sofort einen knallharten
Konter. Damit hatte er nicht gerechnet. Der blonde Schläger wollte
es mir heimzahlen. Er setzte zu einem fürchterlichen Kopfstoß
an.
Zum Glück erkannte ich sein Vorhaben rechtzeitig. Als er
angriff, packte ich seine Schultern und lenkte seine Richtung etwas
ab. Sein Schädel traf nicht meine Magengrube, sondern die
Fitnesstheke. Das Holz zersplitterte und der Mann sackte in sich
zusammen. Er hatte sich selbst ausgeknockt.
Doch schon war der nächste Gegner heran.
Das zweite Kraftpaket war bedeutend schneller als sein
Vorgänger. Er packte mich an den Hüften und schleuderte mich gegen
die Wand. Für einen Moment blieb mir die Luft weg, ich ging zu
Boden. Der Kerl setzte nach. Doch bevor er mich noch einmal
erreichen konnte, trat ich ihm gegen das Knie und kam wieder
hoch.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Milo mit zwei Gegnern
zu tun hatte. Der eine lag bereits am Boden, mit dem anderen
lieferte sich mein Freund einen wilden Boxkampf. Um Milo musste ich
mir keine Sorgen machen. Beim Boxen ist er nicht so leicht zu
schlagen - noch nicht einmal von Widersachern, die größer und
stärker sind.
Mein Gegner humpelte nun, griff aber mit ungebrochener Energie
an. Er war cleverer und schneller als sein weizenblonder Kumpan.
Ich musste aufpassen. Schon hatte ich mir einen Treffer am Kinn
eingefangen. Mir brummten die Zähne. Noch einmal wollte ich seine
Faust nicht spüren. Ich täuschte an, durchbrach seine Deckung und
traf ihn mit einer fixen Links-Rechts-Kombination genau auf den
Punkt.
Er sackte in sich zusammen. Das Busenwunder hinter der
Fitness-Theke begann hysterisch zu kreischen. Genau in diesem
Moment kam ein Mann aus dem Umkleidebereich.
Er trat völlig anders auf als die Krawallbrüder, die uns mit
ihren Fäusten empfangen hatten. Der Mann wirkte herrisch und
überlegen, obwohl auch er nur einen Trainingsanzug trug. Doch man
konnte ihn sich sehr gut in einem Maßanzug oder in einer
Generalsuniform vorstellen. Eine Ausstrahlung von Autorität und
Willensstärke umgab ihn. Zwischen diesem Mann und den hirnlosen
Schlägertypen lagen Welten.
Er bellte ein paar Worte in einer unbekannten Sprache,
vermutlich Ukrainisch. Sofort herrschte Ruhe. Die Kerle ließen ihre
Fäuste sinken. Die Blonde jammerte leise in derselben Sprache wie
der Mann und deutete mit zitterndem Zeigefinger auf uns.
Ich zeigte meinen FBI-Ausweis.
»Agent Jesse Trevellian vom FBI New York. Das ist mein Kollege
Milo Tucker. Werden Bundesbeamte hier stets so warmherzig
empfangen?«
Der Mann warf der Blonden einen Unheil verkündenden Blick zu.
Dann schaltete er ein geschäftsmäßiges Lächeln ein.
»Ich muss mich für diese ungestümen jungen Leute
entschuldigen, Agent Trevellian. Sie wussten gewiss nicht, dass sie
es mit Vertretern der Staatsmacht zu tun hatten. Brooklyn ist ein
raues Pflaster, wie Sie wissen. Hier werden die Terrains abgesteckt
und es gibt immer wieder Revierkämpfe.«
»Und das hier ist Ihr Revier, nehme ich an.«
»Ich habe die Regeln nicht gemacht, Agent Trevellian. Und ich
lehne Gewalt ab. Ich bin ein ehrlicher Geschäftsmann und
Steuerzahler.«
»Haben Sie eigentlich auch einen Namen?«
»Verzeihung, wo habe ich nur meine Gedanken? Ich bin Pjotr
Lukin.«
Ich hatte mir schon gedacht, dass dieser Mann unser
Verdächtiger war. Erst jetzt fiel mir der Fechtsack auf, den er in
der Hand hielt. Ich deutete auf das Behältnis.
»Bewahren Sie darin Ihre Degen auf?«
»Säbel, Agent Trevellian, Säbel. Ich bin ein Säbelfechter.
Obwohl ich zugeben muss, dass ich auch mit einem Degen umgehen
kann.«
»So wie der Mörder von Michail Banukov«, bemerkte Milo
trocken. Er wischte sich Blut von der Unterlippe, wo ihn eine Faust
getroffen hatte.
Lukin wandte sich Milo zu. Er spielte immer noch die Unschuld
vom Lande. Aber sein Lächeln war so falsch wie eine
Drei-Dollar-Note. Der Blick seiner eisgrauen Augen war stahlhart.
Dieser Mann wusste, was er wollte. Und er nahm es sich ohne
Rücksicht auf Verluste. Das sagte mir meine Menschenkenntnis.
»Ich hörp diesen Namen zum ersten Mal, Agent Tucker.«
»Wirklich? So hieß der Mann, der ermordet in der Gasse neben
Ihrem Reisebüro auf gefunden wurde.«
»Eine schreckliche Geschichte, ich hörte davon. Aber was will
man machen? New York ist eine sehr gewalttätige Stadt. Ich kann
nichts dafür, dass dieser arme Mensch direkt neben meinem Geschäft
umgebracht wurde.«
»Er wurde nicht dort ermordet, nur abgelegt. Könnte das
eventuell eine Botschaft an Sie gewesen sein, Mister Lukin?«,
fragte ich. Während sich das Gespräch mit Lukin entwickelte, hatten
sich die Schläger und auch die blonde Frau aus dem Staub gemacht.
Wir waren nun allein mit dem Geschäftemacher und Hobbyfechter. Das
konnte mir nur recht sein. Lukin war hier die Hauptfigur. Die
Krawallmacher waren höchstens seine Helfershelfer.
Lukin hob die Augenbrauen.
»Wer sollte eine Botschaft an mich richten wollen, Agent
Trevellian? Glauben Sie etwa, dass alle Osteuropäer mit dem
organisierten Verbrechen zu tun haben? Das ist ein Vorurteil, gegen
das ich mich verwahren muss.«
»Wir haben keine Vorurteile, sondern sammeln Fakten. Sie
sagten gerade selbst, hier würden Revierkämpfe ausgetragen.«
»Ja, aber nur zwischen diesen dummen jungen Leuten. In dem
Alter hat man doch jede Menge Unsinn im Kopf. Damit habe ich nichts
zu tun. Ich komme nur zum Trainieren her.«
»Dafür genießen Sie aber ziemlich viel Autorität hier. Sind
Sie sicher, dass Ihnen das Kiew Gym nicht auch gehört?«
»Mein Kollege meint, dass Sie bei Ihren zahlreichen Geschäften
schon mal den Überblick verlieren können«, fügte Milo hinzu. Aber
Lukin blieb aalglatt.
»Ich betreibe verschiedene Unternehmen. Das ist doch nicht
verboten. Was genau unterstellen Sie mir eigentlich, Agents?«
»Wir unterstellen Ihnen gar nichts. Sie behaupten also, diesen
Mann noch niemals gesehen zu haben?«
Während ich fragte, zeigte ich ihm das Foto von Banukovs
Leiche. Lukin zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Ich glaubte,
dass er sein Mienenspiel besser im Griff hatte, als das bei
Ludmilla Krailova der Fall war. Oder wusste er wirklich mit Banukov
nichts anzufangen? Auch diese Möglichkeit mussten wir
berücksichtigen. Vielleicht gab es noch einen ganz anderen
Zusammenhang, den wir bisher nicht erkannt hatten.
Wenn nun jemand die Leiche bewusst neben dem Reisebüro
abgelegt hatte, um uns aufs Glatteis zu führen? Auch diese
Möglichkeit mussten wir berücksichtigen. Ich konzentrierte mich
jetzt zunächst auf Lukins Worte.
»Das ist also dieser Banukov? Ich bedaure, Agent Trevellian.
Aber ich kenne ihn wirklich nicht. Ich würde Ihnen gern helfen,
wenn ich könnte. Aber ich weiß nichts über Banukov.«
»Wo waren Sie in der Nacht von Montag auf Dienstag zwischen
Mitternacht und drei Uhr morgens?«
»Ist das die Zeit, in der Banukovermordet wurde? Ich verstehe,
Sie müssen diese Frage vermutlich allen Verdächtigen stellen. Ich
weiß bloß nicht, warum ich verdächtig bin.«
»Das ist eine reine Routinefrage, Mister Lukin.«
»Also gut, Agent Trevellian. Ich war während dieser Zeit mit
einer Lady zusammen.«
»Dann kann diese Frau Ihr Alibi gewiss bestätigen.«
»Selbstverständlich. Allerdings habe ich nur ihren Vornamen zu
bieten. Sie heißt Eileen.«
»Woher kennen Sie diese Miss Eileen, Mister Lukin?«
»Kennen ist vielleicht zu viel gesagt. Wir haben uns in einer
Bar an der 42nd Street getroffen, fanden einander sympathisch und
sind sozusagen übereinander hergefallen.«
»Haben Sie die Telefonnummer dieser Lady?«
»Ich hatte sie, Agent Trevellian. Dummerweise habe ich sie
verloren. Dabei würde ich diese Liebesnacht gerne
wiederholen.«
»Körperflüssigkeiten hinterlassen DNA-Spuren«, gab ich trocken
zurück. »Wir könnten auf diese Weise die Identität der Frau
ermitteln.«
»Gewiss, die Wissenschaft vollbringt heutzutage Erstaunliches.
Nur leider fand meine - Begegnung mit Eileen in ihrem Auto
statt.«
Milo seufzte und rollte mit den Augen. Seine Geduld war
beinahe am Ende.
»Und was für einen Schlitten fuhr diese Eileen?«
»Einen Chevrolet mit New Yorker Kennzeichen, der Wagen war
dunkel lackiert. Wie gesagt, es war fantastisch mit ihr. Daher habe
ich nicht auf Einzelheiten des Autos geachtet.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich und klappte mein
Notizbuch zu. »Mister Lukin, das wäre alles für den Moment. Es kann
sein, dass wir Sie später noch einmal befragen müssen.«
»Tun Sie das ruhig, Agents. Ich bin froh, wenn ich als
gesetzestreuer Bürger bei der Aufklärung von Verbrechen mitwirken
kann.«
Es blieb uns nichts anderes übrig, als Lukins Hohn zu
ertragen. Milo hielt ihn ebenso wie ich für einen äußerst
zwielichtigen Zeitgenossen. Nur beweisen konnten wir ihm nichts -
jedenfalls noch nicht.
Wir verließen das Gym und zogen in einem nahe gelegenen Diner
bei einem starken Kaffee eine Zwischenbilanz.
»Lukin verbirgt etwas«, stellte ich fest. »Ich wette, dass es
eine Verbindung zwischen ihm und Banukov gibt. Wir müssen unbedingt
mehr über das Opfer erfahren. Warum kam er in die Staaten? Und
warum hat er sich einen falschen US-Pass beschafft? Wollte er nicht
in die Ukraine zurückkehren? Und wenn das so war, aus welchem
Grund?«
Milo nickte.
»Ja, Jesse. Wir sollten Kontakt zu den ukrainischen Kollegen
auf nehmen. Vielleicht war Banukov in seinem Land kein
unbeschriebenes Blatt. - Lukin gefällt mir nicht, aber wir sollten
andere Täter nicht ausschließen. Lass uns doch gleich mal die Leute
in dem Bürogebäude auf der anderen Seite der Gasse befragen.
Vielleicht hat ja doch einer von denen etwas gesehen.«
Ich stimmte sofort zu. Wir fuhren zu dem Gebäude, das von
Lukins Reisebüro nur durch die schmale Gasse getrennt war. Jetzt,
am späten Vormittag, wurde in den verschiedenen Kleinfirmen an der
West 47th Street gearbeitet. Doch keiner der Angestellten wollte
etwas gesehen haben - bis auf den Hausmeister.
Er war ein hagerer Graubart namens Alfredo Sordi. Wie sich
herausstellte, bewohnte er ein winziges Apartment im obersten
Stockwerk des Bürohau-s
ses.
»Ich bin hier so eine Art Mädchen für alles, G-men. Ich muss
den Betrieb am Laufen halten, deshalb darf ich auch in meinem
Penthouse da oben logieren. Allerdings muss ich zu jeder Tages- und
Nachtzeit zur Verfügung stehen, wenn es Probleme gibt.«
»Was genau haben Sie bemerkt, Mister Sordi?«, fragte
ich.
»Ich bin nachts auf gestanden, weil ich nicht schlafen
konnte.- Plötzlich hörte ich, wie ein Wagen am Eingang der Gasse
rangierte.«
»So etwas hören Sie vom obersten Stockwerk aus?«
»Ja, G-man. Meine Augen sind nicht mehr die besten, aber dafür
funktionieren meine anderen Sinnö noch alle sehr gut. Es kommt
nicht oft vor, dass eine Karre hier quer über den Gehweg fährt. Wie
denn auch, tagsüber ist der ganze Bordstein bis zur Ecke völlig
zugeparkt.«
»Aber in der Nacht war das nicht der Fall?«
»Exakt. Ich habe also mein Küchenfenster hochgeschoben und
einen Blick riskiert. Da sehe ich einen Van, der mit dem Heck zur
Gasse auf dem Bürgersteig hält. Dann steigt der Fahrer aus und
öffnet die Heckklappen. Da war mir sofort klar, was der Mistkerl
vorhat.«
»Nämlich?«
»Illegal Müll entsorgen, was sonst? Jedenfalls dachte ich das
in dem Moment. Die Strafen dafür sind doch drastisch angehoben
worden. Mit Recht, finde ich. Ich hasse diese Kanaillen, die
überall ihren Krempel entsorgen. Ich wollte ihm erst etwas zurufen.
Aber dann konnte ich mir noch rechtzeitig auf die Zunge beißen. Ich
will keinen Ärger, und der Kräftigste bin ich ja auch nicht.«
»Und die Cops haben Sie auch nicht gerufen?«
Sordi grinste schief.
»Die Cops haben nachts in Manhattan gewiss Wichtigeres zu tun,
als sich um illegalen Müll zu kümmern.«
»Warum haben Sie sich denn nicht gemeldet, als hier die Leiche
gefunden wurde?«
»Ich dränge mich ungern auf. Außerdem - jetzt reden Sie doch
sowieso mit mir, oder nicht?«
Dieser Sordi schien mir ein etwas schwieriger Barsche zu sein.
Ich wollte ihn nicht verärgern. Also fragte ich: »Können Sie mir
den Van-Fahrer näher beschreiben?«
»Ob er groß oder klein war, kann ich unmöglich sagen. Ich habe
ihn ja nur von oben gesehen. Auf jeden Fall trug er dunkle
Klamotten.«
»Und der Lieferwagen, Mister Sordi?«
»Das war einer von diesen kleinen japanischen Vans, ein Suzuki
oder Mitsubishi. Helle Lackierung, mehr weiß ich auch nicht.«
Die Informationen waren nicht gerade üppig, bestätigten aber
immerhin unsere Annahmen. Ich gab dem Hausmeister meine
Visitenkarte und bat darum, mich anzurufen, falls ihm noch etwas
einfallen sollte.
***
Wir kehrten an die Federal Plaza zurück. Nachdem wir uns mit
einem schnellen Schinken-Sandwich gestärkt hatten, rief ich bei der
Kriminalmiliz in Kiew an. Durch die Zeitverschiebung war es in der
Ukraine natürlich Nacht. Doch genau wie bei uns arbeitet die
Polizei dort rund um die Uhr. Ich hatte Glück und erwischte einen
leidlich englisch sprechenden Kollegen. Er stellte sich mir als
Major Wolusov vor. Natürlich hätte ich die Informationen über
Banukov auch auf dem Dienstweg anfordern können. Aber so etwas
dauerte Tage oder Wochen. Da war ein kurzes Telefonat zwischen zwei
Polizisten schon sinnvoller.
Ich hörte das Klackern der Computertastatur in der fernen
Ukraine, »Ich hole mir gerade Michail Banukovs Akte auf den
Bildschirm«, erklärte Major Wolusov. »Dann jagen Sie also seinen
Mörder, Agent Trevellian?«
»So ist es, Major. Und wir müssen so viel wie möglich über das
Opfer erfahren.«
»Nun, Banukov hatte - wie sagt man auf Englisch? - kein weißes
Hemd.«
»Keine weiße Weste, meinen Sie wahrscheinlich.«
»Genau, Agent Trevellian. Also, offiziell war Banukov Kunst-
und Antiquitätenhändler. Er hatte sogar ein Ladengeschäft hier in
Kiew. Ein braver Bürger, der Steuern bezahlte. Doch er steckte tief
im Sumpf.«
»Was bedeutet das?«
»Er fragte nicht, woher die Kunstwerke stammten, mit denen er
handelte. Er war ein Hehler. Aber er gab sich nicht mit
Kleinigkeiten zufrieden. Bei ihm ging es um Hunderttausende. Und
zwar um Hunderttausende von Dollars, nicht von Griwnas. Das ist
unsere Währung. Mickymausgeld, wie Sie es nennen würden. Es ist
nicht viel wert.«
»Konnten Sie ihm nichts nachweisen, Major?«
»Nein. Banukov wurde öfter angeklagt, aber es kam niemals zum
Prozess. Entweder zog jemand die Anzeige zurück oder es
verschwanden wichtige Zeugen. Manchmal reicht der Anruf eines
einflussreichen Politikers, um bei uns einen Verbrecher ungeschoren
davonkommen zu lassen.«
Der ukrainische Kollege tat mir leid. Es war gewiss kein
Vergnügen, unter solchen Umständen Polizeiarbeit leisten zu
müssen.
»Was hat Banukov nach New York geführt? War er früher schon
öfter in den USA?«
»Nein, Agent Trevellian. Es war sein erster Amerika-Trip.
Banukov hatte ein offizielles Visum Ihres Landes und ist mit seinem
ukrainischen Reisepass ausgereist. Das geht aus meinen Datensätzen
eindeutig hervor.«
»Können Sie den Zweck seiner Reise herausfinden, Major
Wolusov?«
»Ich kann es zumindest versuchen. Vielleicht lassen sich seine
Angestellten von mir einschüchtern - jetzt, da ihr Chef tot ist.
Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, schicke ich Ihnen eine
E-Mail.«
»Das wäre gut. - Was für ein Mensch war Banukov eigentlich?
Können Sie mir darüber etwas sagen?«
»Persönlich habe ich ihn nicht gekannt. Aber nach Aktenlage
ist er für seinen Vorteil über Leichen gegangen. Seine Spezialität
war wohl der Handel mit gestohlenen Kunstwerken, wobei es zum Teil
auch Auftragsverbrechen waren. Wenn im Museum ein Wachmann im Weg
stand, wurde nicht lange gefackelt. Ich weiß nicht, ob Banukov
jemals selbst einen Mord begangen hat. Aber er war zumindest an
mehreren Gewaltverbrechen indirekt beteiligt.«
»Sie haben mir schon sehr geholfen, Major.«
»Das ist doch selbstverständlich unter Kollegen. - Findet
eigentlich momentan in New York ein Fechtturnier statt?« , »Nicht,
dass ich wüsste. Warum?«
»Ich lese in seiner Akte, dass Michail Banukov ein
begeisterter Amateur-Fechter war. Er hat für die Ukraine mehrfach
an internationalen Wettkämpfen teilgenommen. Vielleicht ist er
einfach in Ihre Stadt gekommen, um zu fechten.«
***
Milo hatte über Lautsprecher das Telefonat mitgehört. Nachdem
ich den Hörer aufgelegt hatte, sagte er: »Ob Banukov in New York
gefochten hat, wissen wir noch nicht. Auf jeden Fall hat er sich
einen tödlichen Degentreffer eingefangen. Aber mir ist gerade noch
etwas anderes eingefallen. So eine Fechtwaffe kann doch auch ein
Kunstgegenstand sein, oder? Ich meine, wenn sie so richtig antik
ist. Ein Degen aus früheren Jahrhunderten beispielsweise.«
»Ja, dieser Spur sollten wir auch nachgehen. Aber zunächst
würde mich interessieren, wo Banukov in New York gewohnt hat. Wenn
er offiziell unter seinem richtigen Namen eingereist ist, hat er
den vielleicht auch beim Einchecken im Hotel benutzt.«
Wir begannen sofort mit der Suche und hatten Glück. Ich
telefonierte ein Dutzend Hotels ab, von denen ich wusste, dass sie
von Osteuropäern bevorzugt wurden.
»Ja, ein Gast namens Michail Banukov ist bei uns gemeldet. Wir
haben ihn heute allerdings noch nicht gesehen.«
»Kein Wunder, er ist nämlich tot. Wir kommen sofort zu
Ihnen.«
Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch und stand auf.
Milo folgte meinem Beispiel. Ich hatte mit einem kleinen
Mittelklassehotel im East Village telefoniert. Das war gar nicht
weit vom FBI Field Office, jedenfalls für New Yorker Verhältnisse.
Allerdings hatten strömender Regen und der zusammenbrechende
Autoverkehr für Chaos auf Manhattans Straßen gesorgt. Entsprechend
lange benötigten wir für die Strecke zur Second Avenue, wo sich das
Hotel befand.
Es war in einem unauffälligen Brownstone-Haus untergebracht
und verfügte nur über 12 Zimmer. Das Hotel wirkte nicht übertrieben
luxuriös, aber auch nicht schäbig. Es gehörte definitiv nicht zu
den bekannten Kult-Häusern unserer Stadt, in denen Paparazzi
ständig auf der Suche nach Prominenten sind, um sie heimlich
ablichten zu können. Nein, dieses kleine Hotel war besser geeignet
für Menschen, die kein Aufsehen erregen wollten. Und zu diesen
Leuten hatte garantiert auch der undurchsichtige Banukov
gehört.
An der Rezeption erwartete uns ein schläfriger dicklicher
Latino. Wir zeigten ihm unsere Ausweise mit den drei großen blauen
Buchstaben FBI.
»Michail Banukov?«, fragte ich.
»Zimmer sieben, erste Etage«, murmelte der Clerk. Ich erkannte
seine Stimme wieder. Mit ihm hatte ich auch zuvor am Telefon
gesprochen.
Wir stiegen die steile Treppe hinauf. Auf dem nur von wenigen
matten Glühbirnen beleuchteten Hotelflur kam uns niemand entgegen.
Doch schon von weitem sahen wir, dass etwas nicht stimmte.
Die Tür zu Zimmer sieben war aufgebrochen.
Milo und ich zogen unsere Dienstwaffen. Wir näherten uns dem
Zimmer. Natürlich mussten wir damit rechnen, dass sich der Täter
noch in dem Raum befand. Ich trat die angelehnte Tür mit dem Fuß
auf, während Milo mir Deckung gab.
»FBI! Hände hoch!«
Wir hatten uns nicht geirrt. Der Einbrecher war noch in dem
Hotelzimmer. Und er dachte gar nicht daran, sich zu ergeben. Eine
Schusswaffe brüllte auf. Die Kugel verfehlte mich. Ich hatte meine
SIG im Beidhandanschlag und erwiderte das Feuer. Ein gutes
Schussfeld hatte ich nicht. Mir kam es hauptsächlich darauf an, den
Täter in Deckung zu zwingen. Ob er allein war? Das würde sich in
den nächsten Augenblicken zeigen.
Er feuerte seine Waffe noch einmal ab. Der beißende Geruch von
Schießpulver lag in der Luft. Das Projektil des Täters blieb in dem
Türstock wenige Inches neben meiner linken Schulter stecken. Ich
bemerkte in dem Zimmer eine Bewegung. Glas klirrte.
»Er will durchs Fenster raus!«, rief Milo. »Ich schneide ihm
den Weg ab!«
Mit diesen Worten rannte Milo zurück. Ich selbst drang weiter
in das Zimmer vor, die Waffe schussbereit. Aber ein kurzer
Rundblick zeigte mir, dass hier keine Gefahr mehr drohte. Die
Fensterscheibe war zerbrochen, der Raum menschenleer. Eine
Feuertreppe gab es nicht, wie ich nach einem vorsichtigen Blick aus
dem Fenster feststellte. Aber außen an der Fassade gab es einen
schmalen Sims, auf dem man sich fortbewegen konnte. Ich kletterte
nach draußen. Der Wind riss an meinem Jackett. Da hörte ich
schnelle Schritte.
Milo war im Hof unter mir aufgetaucht. Er schaute sich um,
konnte aber offenbar den Flüchtenden ebenso wenig entdecken wie
ich. Doch ich sah ihn zum Handy greifen. Vermutlich würde er
Unterstützung anfordern, um den Verbrecher einzukreisen. Leider
hatten wir so gut wie nichts von ihm gesehen. Schlanke Figur und
dunkle Kleidung, mehr konnte zumindest ich nicht zur
Personenbeschreibung beisteuern. Noch nicht einmal die Hautfarbe
war zu erkennen gewesen.
Ich hatte meine Pistole wieder ins Holster geschoben. Um mich
auf dem schmalen Sims schnell bewegen zu können, musste ich mich
mit beiden Händen an der Mauer festhalten. Aber in welche Richtung
war der Schütze geflüchtet?
Wahrscheinlich nach links, denn von der nächsten Ecke aus
konnte man auf ein flaches Nachbardach springen. Allzu groß konnte
der Vorsprung unseres Widersachers noch nicht sein. Ich spannte
meine Muskeln an, um ebenfalls auf das andere Dach zu
flanken.
»Vorsicht, Jesse!«
Milos Ruf stoppte mich im letzten Moment. Mein Freund stand
breitbeinig auf dem Hof und zielte mit seiner Dienstwaffe auf das
Nachbardach. Offenbar konnte er von seiner Position aus den
Schützen sehen. Milo feuerte auf einen Kaminschlot. Dahinter hatte
sich der Täter offenbar verborgen.
Wäre ich gesprungen, so hätte mich der Schuss des Verbrechers
womöglich mitten in der Luft erwischt.
Der Dunkelgekleidete schoss nun seinerseits auf Milo. Ich
selbst stand immer noch auf dem schmalen Sims wie auf dem
Präsentierteller. Mein Freund ging in Deckung. Auf dem Nebendach
hörte ich eine Metalltür klappen. Ob sich der Unbekannte auf den
Dachboden abgesetzt hatte? Ich wollte jetzt den Sprung
riskieren.
Im nächsten Moment landete ich auf dem Nachbardach, rollte ab
und zog meine Pistole. Ich hatte mich nicht getäuscht. Hinter dem
Schornstein befand sich ein gemauerter Zugang zum Dachboden, dessen
stählerne Pforte offen stand.
Ich spähte vorsichtig hinein. Dort herrschte ein schummriges
Halbdunkel. Ich stieg über die schmale Hühnerleiter im Inneren auf
den Dachboden hinab. Dabei erwartete ich, jeden Moment wieder unter
Feuer zu geraten.
Doch der Täter hatte sich nun offenbar für die Flucht
entschieden. Wenn er nicht völlig dumm war, musste ihm klar sein,
dass wir Verstärkung anfordern und den gesamten Block in kurzer
Zeit abriegeln konnten. Er musste fix sein, wenn er zuvor entkommen
wollte.
Ich verließ den Dachboden und eilte durch das Treppenhaus
hinunter. Nirgendwo erwartete mich ein Heckenschütze. Es deutete
auch nichts darauf hin, dass der Verbrecher in eines der Apartments
eingedrungen war.
Schließlich gelangte ich auf die Straße. Dort schaute ich in
alle Richtungen. Aber von dem Flüchtenden fehlte jede Spur. Dafür
kam im nächsten Moment Milo angehetzt.
»Das NYPD hatte gerade einen Großeinsatz am Times Square,
falscher Bombenalarm. Es dauert ein paar Minuten, bis sie uns
Patrolcars schicken können.«
»In ein paar Minuten brauchen wir keine Verstärkung mehr,
Milo. Der Täter ist jetzt schon über alle Berge.«
»Das schätze ich auch, Jesse. Ich bin gespannt, was der
Portier uns zu sagen hat.«
Wir kehrten zum Hotel zurück. Der Latino war nun helltvach,
denn die Schüsse hatten offenbar seinen Schönheitsschlaf
empfindlich gestört. Er gab zu, kurz vor unserer Ankunft eingenickt
gewesen zu sein.
»Es könnte sein, dass sich jemand unbemerkt ins erste
Stockwerk geschlichen hat«, räumte der Hotelangestellte kleinlaut
ein.
»Dann haben Sie also niemanden bemerkt?«
Er schüttelte nur den Kopf. Vermutlich musste er für den
Mindestlohn arbeiten, denn die kleineren Hotels zahlten nicht
gerade üppig. Sollte ich auf ihn sauer werden, weil er während der
Arbeitszeit geschlafen hatte? Das brachte uns nicht weiter.
Wir forderten auf jeden Fall die Spurensicherung an, um das
Zimmer zu checken. Selbst wenn ein Täter besonders vorsichtig
vorgeht, hinterlässt er meist DNA-Spuren. Wenn er sich bereits in
unserer Datenbank befindet, ist ein Abgleich dann meist ein
Kinderspiel für unsere Experten. Doch zunächst schauten wir uns
selbst dort flüchtig um.
Das Hotelzimmer unterschied sich durch nichts von Tausenden
ähnlicher Räume in ganz Manhattan. Es war mäßig sauber. Banukov
hatte seinen Koffer offenbar ausgepackt und seine Kleidung und
persönlichen Gegenstände in den Schrank geräumt.
»Ein Fechtanzug und eine Fechtmaske«, sagte ich und trat zur
Seite, damit auch Milo einen Blick in den Schrank werfen
konnte.
»Dann wollte Banukov vielleicht mit jemandem hier in New York
die Klingen kreuzen«, mutmaßte mein Freund. »Ob dieser Jemand etwas
anderes im Sinn hatte als einen sportlichen Wettstreit?«
Außer der fechttypischen Schutzkleidung hatte Banükov ganz
normale Kleidung besessen. Er war gut, aber nicht allzu auffällig
gekleidet gewesen. Offenbar gehörte Banukov zu Lebzeiten zu den
Kriminellen, die Unauffälligkeit für die beste Tarnung halten.
Damit hatte er längerfristig mehr Erfolg als die Selbstdarsteller
unter den Verbrechern, die mit vergoldeten Maschinenpistolen oder
protzigem Schmuck letztlich nur die Strafverfolgung erleichterten.
Sie spielten uns mit ihrer Renommiersucht in die Hände, ohne sich
darüber im Klaren zu sein.
Ich tastete ein Jackett ab, das im Schrank auf einem Bügel
hing. In den Taschen befanden sich Kugelschreiber,
Einweg-Taschentücher und anderer Kleinkram. Doch dann fiel mir
plötzlich etwas auf.
»Milo, auf der Innenseite ist eine Naht geplatzt. Und etwas
ist ins Jackenfutter gerutscht - hier, eine Visitenkarte.«
Ich fischte das kleine Pappstück mit Daumen und Zeigefinger
meiner Rechten vorsichtig heraus. Schließlich musste es ja später
noch kriminaltechnisch untersucht werden.
»Okarina Fine Arts«, las Milo. »Das ist offenbar eine Galerie
oder Kunsthandlung im East Village. Ein Geschäftskontakt von
Banukov?«
»Das wird sich zeigen. Lass uns erst noch weitersuchen.«
Ich übertrug die Adresse und Telefonnummer in mein Notizbuch,
damit wir die Visitenkarte den Kollegen von der Scientific Research
Division überlassen konnten. Wenig später wurde Milo ebenfalls
fündig. Er entdeckte in einem Seitenfach von Banukovs Koffer eine
Ledermappe und schlug sie auf.
»Schau mal, Jesse. Fechter unter sich.«
Milo zeigte mir ein Foto. Darauf waren Banukov und ein
unbekannter Mann zu sehen. Beide trugen Fechtanzüge, hatten ihre
Fechtmasken unter dem Arm und bereiteten sich offenbar auf einen
Kampf vor. Sie lächelten sich an und hielten ihre Degen in den
Händen.
»Banukov hat als Ärmelaufnäher die ukrainische
Nationalflagge«, stellte ich fest. »Der andere Mann trägt unsere
›Stars and Stripes‹. Demnach wird er ein amerikanischer Fechter
sein.«
»Vielleicht sogar ein New Yorker, wenn wir Glück haben«,
pflichtete Milo mir bei. »Auf jeden Fall können wir nach ihm
fahnden.«
Milo fotografierte die Aufnahme mit seiner Handy-Kamera ab,
denn selbstverständlich musste auch das gefundene Foto
kriminaltechnisch untersucht werden. Im Hintergrund des Bildes
waren weitere Fechter sowie die Wände einer Sporthalle zu sehen.
Wahrscheinlich war es während eines Fechtturniers aufgenommen
worden.
***
Wenig später trafen die Kollegen von der Spurensicherung ein.
Sie versprachen, uns so bald wie möglich die Ergebnisse ihrer
Arbeit zukommen zu lassen. Wie ich es schon erwartet hatte, war die
Sofortfahndung nach dem flüchtenden Täter ergebnislos verlaufen.
Das hatte ich schon befürchtet.
Wir fuhren zunächst zu der Galerie.
»Was hat der Mistkerl wohl in dem Hotelzimmer gesucht?«,
dachte Milo laut nach, als wir in meinem Sportwagen-E-Hybriden
saßen.
»Wahrscheinlich etwas, das Banukov ihm verkaufen wollte. Oder
es ging ihm darum, Hinweise auf seine Person zu beseitigen.
Vielleicht wollte er auch nur eine falsche Fährte legen. Ich habe
mich übrigens noch gar nicht für deine Warnung bedankt. Ohne dich
hätte mich der Täter mitten im Sprung vom Dach geknallt,
Milo.«
»Ach, wir haben uns schon so oft gegenseitig das Leben
gerettet, wir sind mehr als quitt. - Für mich steht nun fest, dass
es eine Beziehung zwischen Banukov und seinem Mörder gegeben hat.
Wenn wir diesen Zusammenhang aufdecken, dann haben wir auch den
Täter.«
Da konnte ich meinem Freund nur zustimmen. Wir trafen wenig
später im East Village bei der Okarina Fine Arts Galerie ein. Die
Panorama-Schaufenster wurden vermutlich alle paar Tage von einem
erstklassigen Fensterputzer gereinigt. Von der Straße aus waren
einige raffiniert ausgeleuchtete Gemälde und Skulpturen zu
sehen.
Wir traten ein. Das kunstsinnige Publikum schien an diesem Tag
in anderen Teilen von Manhattan unterwegs zu sein. Jedenfalls war
niemand zu sehen. Ob uns eine ähnliche Überraschung wie in dem
Reisebüro erwartete?
Doch ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, denn nun kam
eine Frau auf uns zu. Sie war jung, blond und attraktiv. Zu Jeans
und Rollkragenpulli trug sie eine Brille mit Designergestell. Sie
verzichtete auf unnötiges Styling, ohne dadurch wie eine graue Maus
zu wirken.
»Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?«
Wir zeigten unsere FBI-Dienstmarken und stellten uns
vor.
»Kennen Sie einen gewissen Michail Banukov, Miss…«
»Mein Name ist Lynn Woodward, Agent Trevellian.« Ihr hübsches
Gesicht verhärtete sich. »Ja, ich kenne Mister Banukov -
leider.«
»Wie meinen Sie das?«
Lynn Woodward seufzte und rollte mit den Augäpfeln. Es war,
als würde sie nach den richtigen Worten suchen. Dann machte sie
eine umfassende Geste mit den Armen.
»Schauen Sie sich um, Agents. Das hier ist meine Welt. Viele
Menschen können mit Kunst nichts anfangen, aber für mich ist Kunst
mein Leben. Leider habe ich selbst kein Talent, um Künstlerin zu
sein. Aber ich habe Kunstgeschichte studiert und freue mich, wenn
ich die Kunden dieser Galerie gut beraten kann.«
»Okay, das verstehe ich. Aber was hat das mit Banukov zu
tun?«
»Für Banukov ist Kunst bloß ein Mittel, um Geld zu scheffeln -
und zwar in großen Mengen! Er ist ein Geschäftemacher. Er handelt
mit Kunstwerken, aber er hat die gleiche Einstellung wie ein
Drogendealer. Ihm geht es nur um seinen Profit, um nichts
anderes.«
Lynn Woodward stieß diese Worte voller Abscheu hervor, aber
ich schüttelte den Kopf.
»Jetzt nicht mehr, Miss Woodward.«
»Warum nicht?«
»Michail Banukov ist tot. Er wurde ermordet.«
Ich hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, als die junge
Frau auch schon in Tränen ausbrach. Diese Gefühlsaufwallung kam für
uns völlig überraschend. Ich reichte ihr ein Papiertaschentuch. Wir
mussten mit der weiteren Befragung warten, bis sie sich halbwegs
beruhigt hatte.
»Haben Sie Banukov nahe gestanden?«, fragte ich, nachdem Lynn
Woodward ihre Tränen getrocknet hatte. Sie schniefte.
»Nein, überhaupt nicht. Er ist - war ein schrecklicher Mensch,
raffgierig und selbstsüchtig. Aber deshalb wünsche ich ihm doch
nicht den Tod.«
Ich schaute in ihr hübsches Gesicht. Lynn Woodward lebte
offenbar so sehr in ihrer idyllischen Welt der schönen Künste, dass
die harte New Yorker Wirklichkeit von Mord und Totschlag ein Schock
für sie sein musste. Aber sie versuchte, sich zusammenzunehmen. Das
spürte ich ganz deutlich.
»Fragen Sie nur, Agents. Schonen Sie mich nicht. Ich will
Ihnen alles sagen, was dazu beitragen kann, Banukovs Mörder zu
finden. Das ist doch selbstverständlich. Sie müssen mich nicht für
weltfremd halten, nur weil ich Kunst verkaufe.«
»Woher wissen Sie, dass wir ihn noch nicht haben, Miss
Woodward?«
»Sagen Sie doch Lynn, bitte. - Das habe ich mir
zusammengereimt. Wären Sie sonst hier?«
Ich musste lächeln. Lynn Woodward hatte eine Mischung aus
Naivität und Empfindsamkeit an sich, die mir gefiel. Sie war selbst
so eine Art kleines Gesamtkunstwerk. An so eine Frau erinnerte man
sich auch noch, wenn der Fall längst abgeschlossen war.