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ALFONS KAISER SIMON SCHWARTZ
LAGERFELD
Graphic Novel
C.H.Beck
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PARIS: 20. Juni 2019
Es war wie immer, wenn Chanel
zur großen Schau lädt. Aber
es war nichts wie sonst.
Denn all die fiebrigen Vorbereitungen,
die gespannte Erwartung der Gäste, die
zur Schau gestellten Eitelkeiten – sie
drehten sich um eine Leerstelle in ihrer
Mitte: Karl Lagerfeld, das Zentralgestirn
des seltsamen Paralleluniversums Mode,
war vor vier Monaten gestorben.
Im Palast der Weltausstellung
von 1900 hatte Karl Lagerfeld
bis zu der Couture-Schau im
Januar 2019 vier Mal im Jahr
seine Welt ausgestellt, zwei
Mal beim Prêt-à-porter, zwei
Mal bei der Haute Couture.
Aber diesmal stand nicht
die Mode im Mittelpunkt,
sondern er selbst.
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Lagerfeld hasste
den verklärenden
Rückblick – er hatte
nicht einmal an den
Beerdigungen seiner
Eltern teilgenommen.
Trotzdem stand nun im Grand Palais
eine große Gedenkfeier für ihn an.
An diesem Abend im Grand Palais,
obwohl er so hell war und so schön,
war das meiste nicht zu sehen. Woher
dieser Modeschöpfer eigentlich kam.
Wie ihn seine frühen Jahre prägten.
Wie er in seiner Kindheit traumati-
siert wurde. Wie er später die Kon-
trolle nicht nur über sein eigenes
Leben anstrebte. Was ihn zu dieser
endlosen Produktivität antrieb.
Der Mythos, das übersah das begeisterungs-
willige Publikum an diesem Abend im Grand
Palais nur allzu leicht, war ein Mensch – mit
Ideen, mit Fähigkeiten, mit Schwächen,
mit Fehlern.
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Die Modeszene kreiste wieder
einmal nur um sich selbst.
Lagerfeld wollte, dass seine
Asche mit der seiner Mutter und
seines schon vor drei Jahrzehnten
verstorbenen Lebensgefährten
Jacques de Bascher vermischt wird.
Lagerfelds Leibwächter, Fahrer und
Vertrauter Sébastien Jondeau hatte
den letzten Willen längst erfüllt.
Er hatte die Asche an einen
unbekannten Ort gebracht,
so dass der Verstorbene ver-
schwand, wie er es sich zu
Lebzeiten gewünscht hatte ...
... ohne
eine Spur zu
hinterlassen.
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VATER
Mit der Erfindung der Marke Glücksklee machte
der Hamburger Kondensmilch-Fabrikant Otto
Lagerfeld das Geschäft seines Lebens. Einen seiner
besten Abnehmer hatte er zu Hause. Sein Sohn Karl
wurde nämlich aus der Büchse ernährt.
einen Milchfabrikanten
geheiratet, um meinen
Busen für so etwas
herzugeben. Es gibt ja
Dosenmilch.“
„Ich habe nicht
Schon Karl Lagerfelds Groß-
vater hatte es mit einer
Weinhandlung in Hamburg
zu einigem Wohlstand ge-
bracht, samt Haus an der
begehrten Elbchaussee.
Sagte Karl Lagerfelds
Mutter Elisabeth laut
ihrem Sohn über das
Stillen.
Otto Lagerfeld wurde Kaufmann wie sein
Vater und ging 1902 für einen Hamburger
Kaffeehändler nach Venezuela.
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In Venezuela geriet er in
Kriegsgefangenschaft und
starb fast am Gelbfieber.
Hello, my name
is Lagerfeld.
Bonjour,
je m'appelle
Lagerfeld.
Im April 1906 kam er in San Francisco
an, zwei Tage vor dem großen Erdbeben
mit mehr als 3000 Todesopfern.
Hola, mi nombre
es Lagerfeld.
Здравствуйте,
меня зовут
Лагерфельд.
Ciao,
mi chiamo
Lagerfeld.
Er zog in die Nähe von Seattle und stieg
in das noch junge Dosenmilchgeschäft
ein. Der Bedarf an Kondensmilch, die
lange haltbar ist, war groß, denn Kühl-
schränke waren noch nicht verbreitet.
Hello,
ang pangalan ko
ay Lagerferld.
你好,我叫拉格斐
Olá,
Als Handelsreisender gelangte er über
Japan, Manila und Hongkong 1907 nach
Wladiwostok und baute dort eine Vertre-
tung für einen US-Dosenmilchhersteller auf.
meu nome é
Lagerfeld.
こんにちは、私の名前はラガ
ーフェルドです
Vater hat sogar in
Wladiwostok Kondens-
milch verkauft.“
„Mein
Es ist unklar, ob Otto
Lagerfeld in seinen
Lehr- und Wander-
jahren wirklich neun
Sprachen gelernt
hatte, wie sein Sohn
später behauptete.
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Wladiwostok war ein ideales Terrain für
einen Kaufmann. Außer Kondensmilch
verkaufte Otto Lagerfeld auch weitere
amerikanische Produkte wie Fliegen-
fänger, Seile und Werkzeuge.
Werchojansk
Für den Russlandliebhaber muss es
besonders schmerzhaft gewesen sein,
dass sich mit dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs alles änderte. Wenige Tage,
nachdem Deutschland am 1. August 1914
Russland den Krieg erklärt hatte, wurde
er wegen Spionage festgenommen.
Im Gefängnis von Wladiwostok beantragte er noch die
russische Staatsangehörigkeit. Aber vergebens. Man brachte ihn
nach Werchojansk in Jakutien – ein verlorenes Nest jenseits des
Polarkreises. Das Leben in der Gegend muss brutal gewesen sein.
Am 5. Februar 1892 herrschten dort minus 67,8 Grad, die bis dahin
niedrigste gemessene Temperatur.
Jakutien war schon zu Zarenzeiten eine Region
für Verbannte. Die Gegend war so entlegen, die
Bedingungen waren so rau, dass an Flucht kaum
zu denken war. In Stalin-Zeiten wurde Jakutien
dann zum „Gefängnis ohne Gitter“.
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Erst in den Wirren der
Revolution von 1918
gelangte Otto Lagerfeld
über Sankt Petersburg
zurück nach Hamburg.
Schon 1919 begann er dort mit seiner
Firma Lagerfeld & Co., US-Dosenmilch
einzuführen. Dosenmilch wurde
langsam populär. 1923 gründete
Otto Lagerfeld eine eigene Marke
unter dem Namen Glücksklee.
1926 lief die Produktion im neuen Fabrik-
gebäude am Hafen von Neustadt an. Die
Stadt liegt logistisch ideal: in der Nähe der
vielen Milchviehbetriebe in Ostholstein und
mit direktem Zugang zur Ostsee für den
Vertrieb. Weitere Werke folgten.
„Die Glücksklee“, wie man in Neustadt sagte,
war eine Erfolgsidee. Bereits 1935 hatte der
Direktor ein Bruttoeinkommen von mehr als
50.000 Reichsmark im Jahr, von 1940 bis 1944
waren es sogar etwa 70.000 Reichsmark.
Am 11. April 1930 heiratete
Otto Lagerfeld in Münster
mit 48 Jahren die 32 Jahre
alte Elisabeth Bahlmann
– Karl Lagerfelds Mutter.
Wo und wie sie sich kennen-
lernten, ist unbekannt.
Grunde nichts. Aber
brauche ich ja auch
nicht. Ist ja ihr Leben,
geht mich ja
nichts an.“
„Ich weiß im
„Bei ihrer Hochzeit
trug meine Mutter ein
Kleid von Madeleine
Vionnet.“
Das Hochzeitsfoto zeigt jedoch vermutlich
kein Kleid der damals in Paris sehr erfolgreichen
Modeschöpferin. Der Sohn hatte es seiner Mutter
wohl nur angedichtet, weil er mit Yves Saint
Laurent und dessen Mutter mithalten wollte.
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