Last Line of Defense, Band 3 - Der Crash - Andreas Gruber - E-Book

Last Line of Defense, Band 3 - Der Crash E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

Wir sind die gefährlichste Waffe der Welt. Wir sind die letzte Hoffnung, wenn alle anderen versagen. Wir sind die Last Line of Defense. Jayden, Lenny und Erik werden undercover an Bord des britischen Schlachtschiffs HMS Apocalypse eingeschleust. Dort kommen sie einer internationalen Verschwörung auf die Schliche: Die Terror-Organisation MOEBIUS plant nicht nur einen Anschlag auf den britischen Premierminister und seine Tochter – auch die gesamte Last Line of Defense soll diesmal endgültig ausradiert werden! Als kurz darauf das Flugzeug des Premierministers zum Absturz gebracht wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit … Fortsetzung der rasanten Action-Thriller-Reihe von Bestseller-Autor Andreas Gruber Nur eine Handvoll Eingeweihter weiß über das geheime Ausbildungsprogramm Last Line of Defense Bescheid. Dort werden Jugendliche zu Geheimagenten ausgebildet – sie werden eingesetzt, wenn MI5, MI6 oder andere Spezialeinheiten nicht mehr weiterkommen. Die neusten Rekruten: Jayden D. Knoxville, Leonarda "Lenny" Zarakis und Erik Tuomi. Sie sind Team Omega, das letzte und jüngste Team der Organisation – und landen früher als gedacht mitten in ihrem ersten Einsatz! Erlebe alle Missionen der "Last Line of Defense"! Band 1: Der Angriff Band 2: Die Bedrohung Band 3: Der Crash

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MOBI

Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2025

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2025 Ravensburger Verlag

 

Text: Andreas Gruber

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

 

Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH

Verwendete Bilder von FinePic®, München

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

 

ISBN 978-3-473-51233-1

 

ravensburger.com/service

 

Für

Iris Praël,

Valentino Dunkenberger

und die beiden Ehrenmitgliederder Last Line of DefenseMichael und Dagmar Hildenbrand

 

»DER FEIND MEINES FEINDES IST MEIN FREUND.«

Napoléon Bonaparte,

französischer Feldherr (1769–1821)

PROLOG

KARIBIK, SAMSTAG, 25. MAI

Die See war ruhig. Über dem Meer zeichnete sich bereits der erste silbergraue Streifen am Horizont ab. In exakt vierzehn Minuten würde die Sonne aufgehen.

Claymore stand am Bug des Speedboats, wischte sich die salzige Gischt vom Visier und aktivierte das Nachtsichtgerät. Eine Seemeile vor ihnen war der britische Lenkwaffenzerstörer HMS Apocalypse. Mit Tausenden Tonnen von Stahl, bis in den Rumpf bewaffnet und mit der geballten Wucht der Vernichtung an Bord, pflügte der Stolz der englischen Marine mit halber Kraft in Richtung Straße von Yucatán durchs Meer.

»Zwei Minuten bis zur Ankunft«, hörte Claymore eine weibliche Stimme im Kopfhörer.

Er drehte sich zu der Frau um, die hinten am Heck stand. Sie und die siebzehn weiteren Teammitglieder bereiteten ihre Waffen vor, überprüften die Magazine, aktivierten die Nachtsicht.

Sie steuerten das Schnellboot in die Fahrrinne des Zerstörers und näherten sich rasch. Niemand an Bord des Schiffsgiganten würde ihre Ankunft bemerken. Ihr Stealthboot zeichnete sich nicht nur durch ultraleise Motoren aus, sondern verfügte außerdem über modernste Tarnkappentechnik, sodass es weder vom Radar noch von den Infrarotsensoren des Zerstörers geortet werden konnte.

Als sie am Heck des Zerstörers waren, übersprangen sie mit ihrem Boot noch einmal die Fahrwasserrinne und fuhren nun parallel an der Backbordseite des Schiffs entlang. Mit ihren Gewehren schossen sie Leinen mit Enterhaken hinauf, die sich an der Reling verkrallten. Zur gleichen Zeit wurden Strickleitern an der Bordwand zu ihnen heruntergelassen. Das Timing war perfekt.

Mit der elektromagnetischen Saugvorrichtung krallten sie das Speedboat an der Backbordseite des Zerstörers fest. Dann schalteten sie die Motoren aus und ihr Boot wurde vom Schiff mitgezogen.

»Entern!«, erklang der Befehl in Claymores Kopfhörer.

Gewehre wurden geschultert, Pistolen sicher im Holster verstaut, Reservemagazine im Rucksack verpackt. Gleichzeitig sprangen alle neunzehn Teammitglieder in ihrer schwarzen Kampfuniform und mit den militärischen Einsatzstiefeln auf die Seile und Strickleitern und hangelten sich zur Reling empor. Oben warteten bereits helfende Hände, die sie an Bord zogen.

Claymore kam als einer der Letzten an. Insgesamt warteten auf dem Flugdeck des Zerstörers dreißig Männer und Frauen auf sie. Die Crew trug je nach Dienstgrad entweder die höher gestellte blaue oder die normale weiße Uniform der britischen Royal Navy, doch als Erkennungszeichen hatte jeder von ihnen eine schwarze enge Stoffbinde mit drei roten Buchstaben am Oberarm befestigt.

»Die Heckkameras auf dem Flugdeck sind noch eine Minute lang ausgeschaltet«, informierte sie einer der Offiziere. »Steuerbord- und Backbordwachen, insgesamt sechs Mann, wurden bereits eliminiert.«

Die Frau, die zuvor den Befehl zum Entern gegeben hatte, nickte zufrieden und zog ihre Kapuze vom Kopf, unter der kurze blonde Haare zum Vorschein kamen. Stirn und Wangen waren mit schwarzer Tarnfarbe bedeckt.

Claymore blickte über die Aufbauten des Zerstörers hinauf zur Radarschüssel, die sich langsam drehte. Daneben ragten mehrere Antennen in den Nachthimmel und eine britische Flagge wehte im Wind. Außer ihren dreißig Helfern hatte niemand von der Besatzung die geringste Ahnung, was in den nächsten Minuten an Bord geschehen würde. Der Einsatz würde zügig und ebenso leise wie geschmeidig über die Bühne gehen. Wenn alles nach Plan verlief, musste mit Ausnahme von drei Zielen niemand getötet werden – und falls es dennoch schlimmer kommen sollte, waren sie vorbereitet. Jeder von ihnen kannte das Risiko und keiner von ihnen war zimperlich. Das war der Grund, warum die Mitglieder des Kommandos Helios für diesen Job ausgebildet worden waren.

Nun zogen sich auch Claymore und seine Kollegen die Kapuzen vom Kopf und setzten sich stattdessen schwarze Schirmkappen auf. Auch sie hatten schwarze Tarnfarbe im Gesicht. Sie griffen zu den Pistolen. Die Munition war scharf, die Schalldämpfer waren bereits montiert. Die Crew des Zerstörers, die ihnen half, war ebenfalls bewaffnet.

»Jeder kennt seinen Auftrag«, sagte die blonde Frau.

»Ja, Miss Woolf«, kam die Antwort dutzendfach aus allen Mündern.

Genauso schnell, wie sie an Bord gekommen waren, teilten sie sich nun auf – wie ein Schwarm schwarzer Hornissen. Jeder nahm einen anderen Weg.

Claymore lief an der Reling entlang über das Flugdeck bis zur Heli-Bucht, einer Art riesigen Garage mit Rolltor, in der die beiden Helikopter standen. Ein Eingang neben der Bucht führte unter Deck.

Kaum hatte er die schwere Eisentür aufgezogen und die erste Stufe der Metalltreppe betreten, blinkte seine Armbanduhr. Auf die Sekunde pünktlich erschien sein Auftrag auf dem Display.

Eliminiere Groß O – Sonarstation!

Grundriss und Bauplan des Zerstörers hatte er Wochen zuvor studiert und beherrschte beides im Schlaf. Er schlich zum zweiten Unterdeck und marschierte einen langen Korridor entlang. Um diese Uhrzeit waren zwar alle Stationen besetzt, aber in den Gängen sollte sich niemand aufhalten.

Das war auch so, bloß ein junger Matrose kam ihm entgegen. Zum Glück hatte der Bursche den Kopf zu Boden gerichtet. Claymore zog sich die Schirmkappe tiefer ins Gesicht, verbarg die Waffe hinter dem Rücken, jederzeit bereit zu schießen.

»Sir«, murmelte der Bursche und salutierte.

Claymore sagte nichts, salutierte ebenfalls. Zum Glück waren bei einem Zerstörer im Einsatz Bodentruppen mit Tarnfarbe und in Kampfuniform an Bord keine Seltenheit. Während der Matrose an ihm vorbeimarschierte, brachte Claymore seine Waffe wieder nach vorne.

Der restliche Weg verlief reibungslos. Neben der Tür zur Sonarstation hing bereits der Plan mit der Diensteinteilung vom Samstag. Jetzt war es 6:11 Uhr und ein Navy-Rekrut namens Jayden D. Knoxville hatte seit elf Minuten Dienst.

Claymore klopfte an die Tür, legte die Hand auf die Klinke und drückte die schwere Tür nach innen auf. »Mit der Bitte, die Station betreten zu dürfen«, sagte er freundlich und versteckte gleichzeitig die Pistole hinter seinem Rücken.

Ein sympathischer Junge schwang auf seinem Stuhl herum und lächelte ebenso freundlich. »Genehmigung erteilt, Sir.« Plötzlich wurde sein Blick skeptisch, als er Claymores schwarze Uniform sah.

»Bist du Jayden D. Knoxville?«, fragte Claymore rasch.

Der Junge nickte. »Ja, Sir, aber warum …?«

Claymore brachte die Hand nach vorne, legte die Waffe an und schoss dem Jungen dreimal in die Brust. Bis auf ein leises Ploppen war nichts zu hören. Der Bursche wurde von der Wucht der Projektile von seinem Drehstuhl gegen die Armaturen geschleudert und glitt langsam zu Boden.

Claymore kniete sich hin und kontrollierte, ob der Junge eine kugelsichere Weste getragen hatte, was jedoch nicht der Fall war. Dann überprüfte er den Puls an der Halsschlagader.

Jayden D. Knoxville hatte keinen Puls mehr.

Claymore nahm das Funkgerät vom Gürtel. »Helios fünf an Helios eins … Auftrag erledigt. Over and out.«

1. TEIL

HMS APOCALYPSE

24 STUNDEN ZUVOR

1. KAPITEL

Die ersten Sonnenstrahlen, die exakt um 5:50 Uhr über die Wasseroberfläche fielen, kitzelten Jayden in der Nase. Der gesamte Horizont war blutrot gefärbt und die ersten Möwen zogen bereits kreischend ihre Bahnen über dem Hafen.

Jayden verharrte reglos neben seinen Kollegen Lenny und Erik. Auch sie trugen die steife weiße Uniform der Royal Navy. Gemeinsam standen sie in Reih und Glied auf der betonierten Mole neben dem Rest der Crew.

Seit heute Morgen waren sie auf dem britischen Militärstützpunkt der Cayman Islands in der Karibik stationiert. Direkt vor ihnen, am größten Pier des Hafens von George Town, lag die HMS Apocalypse tief im Wasser. Neben den vertäuten Segelschiffen, Fischerbooten und Jachten wirkte das Schlachtschiff der britischen Marine wie ein gigantisches Stahlmonster. Und genau das war es auch.

In wenigen Minuten würden sie mit der Crew an Bord dieses neuesten, modernsten und äußerst wendigen Lenkwaffenzerstörers der Royal Navy gehen.

Die HMS Apocalypse verdiente ihren Namen zurecht, denn mit ihrer Länge von hundertfünfzig Metern, einer Breite von zwanzig Metern, hundertfünfzig Besatzungsmitgliedern – davon zwanzig Offiziere, siebzig Unteroffiziere und der Rest Soldaten –, zwei der modernsten Bordhubschrauber auf dem Flugdeck, sieben Schnellbooten hintereinander seitlich an Deck, Torpedoabwehr und neuartigsten Flugabwehrraketen konnte sie ein unvergleichliches Höllenfeuer entfachen.

»Wow«, entfuhr es Jayden, während er den Blick über die grauen Aufbauten mit den Schüsseln, Antennen, Geschütztürmen und Kanonenrohren gleiten ließ.

»Hat einen Wert von fünf Milliarden Pfund«, erklärte Lenny, die wie immer über alles bestens informiert war.

»Hoffentlich zerstört Erik nichts davon«, murmelte Jayden besorgt.

Erik hob wenig beeindruckt die Schultern. Sein strubbeliges silbergraues Haar war diesmal kürzer als sonst. »Erinnert mich an meinen damaligen Einsatz mit den Special Forces, als ich an der Küste Afrikas von Bord eines amerikanischen Flugzeugträgers ging, um die unterirdischen Tunnel einer Terrororganisation zu infiltrieren.«

»Mit damals meinst du jene Zeit vor zwei Jahren, als du noch in Helsinki bei deiner Mama gelebt hast und mit Helmkamera und Mountainbike Stunts für deinen Videoblog gedreht hast?«, zog Lenny ihn auf, da Erik wie immer völligen Quatsch erzählte.

»Er meint natürlich die Zeit, als er heimlich die Einsatztruppen trainiert hat«, fügte Jayden grinsend hinzu, »damit die von seinem reichen Erfahrungsschatz hinter feindlichen Linien profitieren konnten. Stimmt’s?« Er stieß Erik den Ellenbogen in die Seite.

»Ja, Mann, genau so war es.« Erik verzog keine Miene. »Andernfalls hätte keiner überlebt. Heute hängt immer noch ein gerahmtes Foto von mir im Oval Office des amerikanischen Prä…«

»Kennst du überhaupt den Namen von irgendeinem US-Präsidenten?«, zog Jayden ihn weiter auf.

»Ich glaube, es war Washington«, antwortete Erik.

Lenny hatte einen Undercut, bei dem beide Seiten ihres Schädels bis über die Ohren kahl rasiert waren. Sie strich sich die beiden langen brünetten Zöpfe über die Schulter. »Der Washington, der 1799 gestorben ist?«, fragte sie.

Erik sah zur Seite, seine eisgrauen Husky-Augen blitzten kurz auf. »Dann war es eben Lincoln«, knurrte er leicht angepisst.

»Ach ja«, sagte Lenny grinsend. »Dem wolltest du doch damals im Theater das Leben retten, richtig? Als er 1865 erschossen wurde.«

»Könnt ihr nicht mal die Schnauze halten!«, zischte es von einer der hinteren Reihen nach vorne. »Immer wieder dasselbe mit den Frischlingen, die als Trainee an Bord kommen. Glauben, sie wären die Größten, hängen dann aber beim ersten leichten Seegang kotzend über der Reling.«

Erik wollte etwas darauf erwidern, bekam aber von hinten einen harten Stoß gegen den Rücken, der ihn einen Schritt nach vorn taumeln ließ.

»Stillgestanden!«, brüllte Master Chief Hernandez, der die Reihe mit hinter dem Rücken verschränkten Armen abschritt.

Erik ging wieder an seinen Platz zurück und nahm Haltung an. Nach einer kurzen Ansprache des Master Chief gingen sie im Gleichschritt von der betonierten Mole über die Gangway an Bord und nahmen ihren Platz auf den Stationen ein.

Jayden machte vorerst offiziell Dienst als Trainee im Sonarraum und Lenny in der Krankenstation. Erik wäre zwar am liebsten zur Flugabwehr oder in die Gefechtszentrale gekommen, hatte aber wegen seiner großen Klappe zunächst ein paar Tage Dienst als Küchenhilfe in der Kombüse ausgefasst.

Auf diesen Trainee-Job waren sie eineinhalb Monate lang vorbereitet worden und nun sollten sie die Praxis auf ihren Posten lernen. Jayden als Erstes den Umgang mit dem Sonar und wie man die Geräusche von Delfinen, U-Booten und verschiedenen Schiffstypen auseinanderhielt, Lenny den Betrieb einer Marine-Krankenstation und Erik … wie man Kartoffeln schälte und Gemüse putzte.

Während auf der HMS Apocalypse die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, damit sie pünktlich um acht Uhr auslaufen konnten, machte Burke – ein junger sympathischer Bursche, der seit einem Jahr bei der Navy war und genauso wie Jayden Punkrock hörte – Jayden bereits mit den wichtigsten Geräten der Sonarstation vertraut. Die hatte Jayden bisher nur im Trockentraining zu Gesicht bekommen, aber alles sah exakt so aus wie im Simulator.

»Und falls du mal allein auf der Station bist und plötzlich das Geräusch eines unbekannten Objekts hörst«, erklärte Burke, »hältst du dich strikt an das Notfall-Prozedere.« Er knallte eine Ringmappe mit Plastikkarten auf den Tisch. »Studier das und …«

Ein metallenes Schlagen dröhnte durchs Schiff und Jayden sah irritiert auf.

»Das war der Anker«, erklärte Burke grinsend.

Ein blechern klingendes Kommando aus einem Lautsprecher drang über das Deck. »Bereit zum Auslaufen, Leinen los!«

Dann ruckelte das Schiff ein wenig.

Überrascht sah Jayden auf und lauschte. In dem fensterlosen Raum waren die Schiffsbewegungen kaum zu spüren. »Man merkt fast gar nicht, dass das Schiff fährt.«

»Und doch tun wir es. Bald wirst du die Feinheiten unterscheiden können. Im Moment fahren wir im Rückwärtsgang vom Pier weg, machen eine Wende und ein paar Minuten später sind wir auf hoher See«, erläuterte Burke.

Burke war neunzehn, nur zwei Jahre älter als Jayden, und voll in Ordnung.

Eine Viertelstunde später knackste es im Bordlautsprecher, der sich über der Tür befand. Ein Pfeifton erklang.

»Hier spricht der Kapitän …«, erklang eine knorrige Stimme.

»Captain Anderson«, ergänzte Burke und zog eine Augenbraue hoch. »Ein alter Seebär, kurz vor dem Ruhestand.«

»Ziel unserer dreitägigen Mission ist es, dass wir die Karibik verlassen und zwischen Kuba und der mexikanischen Halbinsel durch die Straße von Yucatán in den Golf von Mexiko fahren. Dort kreuzen wir bis Montag im Zickzackkurs das Meer.«

Enttäuscht ließ Burke die Schultern hängen. »Nicht gerade eine Weltreise.«

»Auf dieser Mission fahren wir nur mit halber Kraft, fünfzehn Knoten. Wir haben es nicht eilig, haben aber alle Augen und Ohren offen. Als Unterstützung der US-Marine werden wir mit unserer modernen elektronischen Flugkontrolle Luftraum und Flugverkehr südlich von Miami im Golf von Mexiko überwachen. Wir haben diesmal nur eine Rumpfmannschaft an Bord. Mehr ist für diesen Auftrag, der direkt vom britischen Premierminister kommt, nicht nötig. Aber ich erwarte von jedem und jeder an Bord vollen Einsatz. Wir müssen glänzen, Ladies and Gentlemen. Over and out.«

Es knackste erneut, die Übertragung war zu Ende.

»Na ja«, seufzte Burke, »hätte mir etwas Spektakuläreres erhofft, als nur auf Beobachtungsposten durch den Golf zu schippern.«

Burke hatte recht. Das klang ziemlich öde und belanglos, aber im Gegensatz zu Burke kannte Jayden – genauso wie Lenny und Erik – den wahren Hintergrund dieser Reise. Und der war auch der Grund, weshalb die Last Line of Defense, die direkt Premierminister Metcalf unterstand, sie offiziell als junge Trainees in Ausbildung, inoffiziell aber als Undercover-Agenten an Bord eingeschleust hatte.

Denn morgen, am Samstag, sollte in Miami, an der Südspitze Floridas, nicht allzu weit von ihrer Schiffroute entfernt, eine wichtige zweitägige internationale Sicherheitskonferenz starten, an der viele Staatsoberhäupter teilnahmen. Nicht nur James Metcalf würde morgen mit seinem Flugzeug auf dem Weg nach Miami unterwegs sein, sondern auch der kanadische Premierminister Robert Ambush und die Vize-Präsidentin der USA, Samantha Dunkin. Gemeinsam sollte in Miami eine Allianz gegen die Terrororganisation MOEBIUS geschmiedet werden. Von alldem hatte Burke natürlich keine Ahnung – aber Jayden wusste noch viel mehr.

Mrs Taylor, die Direktorin der Last Line of Defense, vermutete, dass MOEBIUS die Tagung sabotieren wollte und einen Anschlag auf Premierminister Metcalf, seine Kollegen Ambush und Dunkin sowie auf die Minister- und Beraterstäbe der gesamten Konferenz plante. Aber die Agenten der Last Line of Defense wussten nicht, wann und wie MOEBIUS zuschlagen würde. Daher hatte Premierminister Metcalfs Geheimorganisation, von der nicht einmal der britische Geheimdienst MI6 wusste, dass sie existierte, nur die Teams Alpha und Beta zur Sicherheit in England zurückgelassen und die Teams Gamma, Delta, Epsilon und Sigma an verschiedenen Standorten in Florida und der Karibik positioniert.

Mit Lenny, Erik und Jayden war Omega, das letzte und jüngste Team der Last Line of Defense, auf der HMS Apocalypse stationiert worden. Und hier mussten sie so lange ihre Rollen als Trainees spielen und nebenbei Augen und Ohren offen halten, bis die Konferenz vorbei war.

Kaum war Jayden von Burke einigermaßen auf die restlichen Geräte eingeschult worden, heulte die Alarmsirene durch die Schiffskorridore.

2. KAPITEL

»Werden wir angegriffen?«, entfuhr es Jayden.

Burke sagte einen Moment lang nichts, sah Jayden nur an und begann dann schallend zu lachen.

»Was?«, rief Jayden gegen den Lärm an.

»Erstens würde es niemand wagen, die HMS Apocalypse anzugreifen, weil wir die Speerspitze der Royal Navy sind«, erklärte Burke gelassen, »und zweitens ist das das Signal für die Seenotübung.«

Erleichtert ließ Jayden die Schultern sinken. »Wie für die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs?«

Burke nickte. »Bloß, dass wir hier weniger Zeit haben und es nicht so lustig und gemütlich zugeht. Komm, hilf mir mal.«

Sie holten die gelben Schwimmwesten mit der roten Trillerpfeife aus dem Schrank und halfen einander, die unhandlichen Dinger anzulegen. Anschließend eilten sie mit allen anderen Matrosen im Laufschritt durch den Gang zur nächsten Leiter, die sie an Deck brachte.

Die Sirene verstummte und ein schrilles Pfeifsignal erklang über die Bordlautsprecher, gefolgt von einer Durchsage.

»Unsere Seenotübung ist in wenigen Minuten abgeschlossen. Begeben Sie sich an Ihren vorgesehenen Platz.«

»Diese Übung ist für die ganze Besatzung verpflichtend, damit niemand vergisst, wie er sich im Ernstfall zu verhalten hat«, erklärte Burke, während er vor Jayden eine Metallleiter hinaufkletterte. »Unser Captain macht das jedes Mal, wenn wir aus einem Hafen auslaufen.«

Durch eine massive Eisentür gelangten sie ins Freie. Auf dem Flugdeck herrschte bereits ein fürchterliches Gedränge, das nach wenigen Sekunden einer sinnvollen Ordnung folgte.

Da sich die Sonarstation im hinteren Drittel des Schiffs befand, mussten sie zum Festrumpfschlauchboot – kurz RHIB, Rigid-Hulled Inflatable Boat – Nr. 6. Sie erreichten die Bodenmarkierung und stellten sich in einer Dreierreihe vor dem Boot an ihre vorgesehene Position. Das grau-grün gesprenkelte RHIB war mit zwei 400 PS-Motoren ausgestattet und wurde bei einem Einsatz mit einem Kran zu Wasser gelassen. Wenn es nicht vollbeladen war, preschte es mit 70 km/h über die Wellen.

Jayden sah zum Heck des Schiffs. Dort befand sich Lennys Krankenstation direkt unter der Heli-Bucht, daher stand sie vor dem letzten RHIB Nr. 7. Lenny war nicht zu übersehen – groß, trainiert und breitschultrig. Sie zwinkerte ihm kurz zu und er lächelte zurück.

Dann reckte er den Hals in die andere Richtung. Die Kombüse, in der Erik Nudeln kochte und Zwiebeln schnitt, lag genau in der Mitte des Schiffs. Erik stand beim RHIB Nr. 4.

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis alle Matrosen vollständig angetreten waren. Dann wurden sie von den vorgesetzten Crewmitgliedern durchgezählt.

»Wer steuert im Moment das Schiff?«, flüsterte Jayden, ohne die Lippen zu bewegen.

»Die Automatik«, wisperte Burke. »Außerdem sind Captain Anderson und seine XO auf der Brücke.«

»Seine XO?«, fragte Jayden.

»Executive Officer Nielsen, seine Stellvertreterin – eine harte Kampfbraut, der du besser nicht über den Weg läufst, wenn sie übel gelaunt ist.«

Jayden nickte.

Nachdem alle durchgezählt worden waren und niemand fehlte, hielt Master Chief Hernandez mit lauter und gnadenlos harter Stimme einen Vortrag über die Sicherheitsbestimmungen an Bord, der von den Lautsprechern übertragen wurde. Danach machte er eine kurze Pause und schritt an den Reihen entlang.

»Besonders von Landratten, die noch grün hinter den Ohren und das erste Mal an Bord eines Schiffes sind«, fuhr er fort, »werde ich immer wieder gefragt, ob das Schiff den harten Wellengang eines Orkans überhaupt aushält. Dieses Knarren in den Paneelen, Wänden und Verbänden? Mein Antwort lautet: Nein! Natürlich nicht! Darum machen wir ja diese Seenotübung.«

Burke beugte sich zu Jayden. »Ist nur ein Scherz.«

»Dachte ich mir schon …«, murmelte Jayden.

Der Master Chief grinste, danach wurde sein Tonfall etwas weicher, als er zu einer allgemeinen Ansprache überging. »Das Leben an Bord eines Zerstörers ist kein Zuckerschlecken … nein, das trifft es nicht ganz. In Wahrheit ist es noch saurer als der Biss in eine Zitrone. Ich habe viele Rekruten aufgeben sehen. Sie sind zerbrochen, weil sie Angst vor ihrer Aufgabe und den Herausforderungen hatten. Wenn du im Job Angst hast, hast du schon verloren – aber wenn du keine Angst hast, kann dich nichts zerbrechen. So einfach ist das.« Er machte eine weitere Pause, verschränkte die Arme hinter dem breiten Rücken und schritt an der ersten Reihe vorbei. Die Morgensonne brachte seine braune Haut zum Glänzen.

»Die Ausbildung bei der Navy ist nie fertig, denn jeder Tag ist eine permanente Weiterqualifizierung«, fuhr er fort. »Sowohl Training als auch Kampfeinsätze verlangen euch Soldatinnen und Soldaten Dinge ab, die eigentlich unmöglich sind. Aber kurz bevor ihr glaubt zu scheitern, denkt an zwei Sachen. Erstens: Große Aufgaben bestehen aus kleinen Schritten und ihr beginnt mit dem ersten Schritt. Zweitens: Jeder hilft dem anderen, denn hier an Bord herrscht Teamgeist. Wer dagegen verstößt und dadurch andere in Gefahr bringt, bekommt die unbarmherzige Faust der Royal Navy zu spüren. Abtreten!«

Der Master Chief pfiff mit seiner Pfeife und die Menschen strömten wie die Ameisen in alle Richtungen davon. Für einen Augenblick sah Jayden nichts weiter als Köpfe und Körper in gelben Schwimmwesten, die sich an ihm vorbeischoben. Im nächsten Moment standen Erik und Lenny bei ihm.

»Ist nicht anders als in Brighton Rock«, murmelte Erik, und diesmal war es keine seiner typischen Aufschneidereien.

Brighton Rock wurden sowohl das Headquarter als auch die Academy, also das Ausbildungscenter der Last Line of Defense an der Südküste Englands, genannt. Die Ausbildung bei Mr Remington, Mr Wakefield, Mrs Harding, Mr Elliot, Miss Ishida und Elly D. Shepard war knallhart und verlangte das Äußerste von ihnen ab – körperlich, geistig und seelisch. Dagegen würde der Dienst an Bord die reinste Erholung werden, so sehr konnte der Master Chief sie gar nicht mit seinem Gebrüll verunsichern.

»Hey, aus dem Weg, ihr Krümel.«

Jayden, Lenny und Erik drehten sich um. Zwischen ihnen drängten sich die Marinesoldaten von der Gefechtszentrale durch. Es waren dieselben Kerle, die Erik am Pier von hinten angerempelt hatten, und jetzt machten sie sich so breit, dass sie jedem von ihnen einen Stoß mit der Schulter versetzten.

Jayden war sofort klar, dass diese Typen sich für etwas Besonderes hielten, weil sie im Ernstfall, wenn der Zerstörer angegriffen wurde oder sie sogar selbst ein Ziel angreifen mussten, in der Feuerleitzentrale die Herrschaft über Leben und Tod besaßen. Und genau so spielten sie sich auf. Jayden warf Erik einen vielsagenden Blick zu, woraufhin der nur den Mund verzog und gleichgültig mit den Achseln zuckte. Immerhin hatten sie ganz andere Aufgaben an Bord, als sich mit solchen Idioten herumzuschlagen.

Bloß Lenny wollte diese Aktion nicht so auf sich sitzen lassen. »Sieht so der berühmte Teamgeist an Bord der HMS Apocalypse aus?«, rief sie ihnen nach.

Die fünf Typen – drei Jungs und zwei Mädchen – blieben abrupt stehen und drehten sich langsam um, als hätten sie nur auf so einen Kommentar gewartet. Sie waren vermutlich knapp über zwanzig, und obwohl Erik, Jayden und Lenny ziemlich groß waren, überragten die sie noch um einen halben Kopf.

»Was hast du gesagt?«, fragte eine junge Frau mit langen roten hochgesteckten Haaren und Sommersprossen, auf deren Brust Name und Dienstgrad gestickt waren: Sub-Lieutenant Harper. Die Frau hatte also schon ein Studium abgeschlossen, wurde Jayden klar.

»Bist du taub?«, fragte Lenny.

»Oh-oh«, murmelte Erik und Jayden merkte ganz deutlich, dass Erik sich insgeheim ein Grinsen verkneifen musste. Anscheinend freute er sich schon auf eine kleine Keilerei.

»Lass es«, versuchte Jayden, sie zu beruhigen.

»Was soll ich lassen?«, fuhr Lenny ihn mit vor Wut funkelnden Augen an. »Die Typen fucken uns ständig an. Soll das eine Woche lang so weitergehen? Ohne mich!«

»Oh, Prinzessin fühlt sich schlecht behandelt«, rief Harper schnippisch ihren Kollegen zu. Dann trat sie einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Normalerweise scheißen wir auf das, was der Master Chief sagt. Aber du willst den berühmten Teamgeist der Royal Navy spüren? Also bitte, dann hör gut zu.« Sie deutete zu Erik. »Ich war vorhin in der Kombüse und wollte mir Frühstück holen, und was sehe ich? Seit dein Kumpel dort arbeitet, kann man in der Küche vom Boden essen. Man findet immer etwas.« Die anderen wieherten vor Lachen.

Lenny blieb unbeeindruckt und tat so, als hielte sie sich ein Handy ans Ohr. »Oh, sorry, die Neunzigerjahre haben gerade angerufen, sie wollen den Witz zurück.«

Harper wurde schlagartig ernst. »Das war kein Witz! Ihr wollt Teamgeist? Dann strengt euch mal an. Wir wollen morgen Punkt 5:30 Uhr unser Frühstück ans Bett serviert bekommen. Und zwar Spiegeleier mit Speck und frisch gepressten Orangensaft. Ist das klar?«

Erik trat nach vorn. »Du willst Frühstück im Bett? Dann musst du in der Küche übernachten.«

Harper richtete sich vor Erik auf. »Du glaubst, du kannst dich hier groß aufspielen, nur weil deine Mami die Helikopter herstellt, die wir hier an Bord haben.«

Überrascht zog Jayden die Augenbrauen hoch. »Woher wisst ihr das?« Er schielte zu Erik, der genauso überrascht war.

Nur wenige wussten, dass Eriks Mutter Top-Managerin in einem finnischen Konzern war, der Hubschrauber baute. Aber Erik war nie besonders stolz darauf gewesen – im Gegenteil. Andere Väter und Mütter sind Helikoptereltern, meine Mom stellt Helikopter her, hatte er einmal zynisch festgestellt, da seine Mutter kaum Zeit für ihn hatte. Irgendwie musste Harper das herausgefunden haben – und anscheinend war genau das der Grund, warum sie sich so angepisst fühlte.

»Wir haben uns über jeden von euch Grünschnäbeln erkundigt«, sagte Harper nun. »Schließlich wollen wir wissen, mit welchen Flaschen wir es zu tun haben, wenn wir unsere Suppe essen, auf die Krankenstation müssen oder ein unbekanntes U-Boot uns verfolgt.«

»Meine Mami …«, wiederholte Erik, indem er Harpers herablassenden Ton imitierte, »stellt die Helikopter nicht her, sondern hat nur das Navigationssystem der neuen Generation der 10-Tonnen-Klasse NATO-Helikopter NH90 mitentwickelt, die wir an Bord haben. Mehr nicht.«

»Dein kleines Understatement kommt zu spät«, fauchte Harper. »Wir kennen nämlich den wahren Grund, warum ihr drei Pfeifen diese Trainee-Jobs erhalten habt.«

Jayden hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Und der wäre?«

»Weil seine Mami gute Kontakte zur Royal Navy hat. Glaubst du, wir können nicht eins und eins zusammenzählen? Andernfalls wärt ihr bei euren Qualifikationen nicht einmal in die Nähe des Hafens gekommen.«

Erleichtert merkte Jayden, wie auch Lenny und Erik die angespannten Schultern sinken ließen. In Wahrheit hatte Harper keine Ahnung von ihrem Undercover-Einsatz und dachte bloß, sie wären Protektionskinder von Eriks reichen Eltern.

»Das ist es also, was ihr cleveren Kerle bei euren Recherchen herausgefunden habt?« Beinahe erlöst warf Lenny ihnen einen lächelnden Blick zu. Doch Jayden wusste, dass sie es nicht dabei belassen würde. »Jeden Morgen nehme ich mir vor, mich nicht aufzuregen«, sagte Lenny weiter, »aber jeden Tag treffe ich Idioten wie dich, die das unmöglich machen.«

»Stimmt«, pflichtete Erik ihr bei. »Das Interessante an Schwachköpfen ist, dass man sie nie lange suchen muss. Sie melden sich von selbst, wie man deutlich sieht.«

Lenny reckte den Hals, als wollte sie sich umsehen. »Vielleicht kann das Schiff mal kurz anhalten, damit alle Vollpfosten aussteigen können?«

Jayden verhielt sich ruhig. Er spannte nur den Körper an, da er wusste, dass es gleich losgehen würde, denn die fünf Typen funkelten bereits wild mit den Augen und rückten näher zusammen.

»Willst du mich beleidigen?«, knurrte Harper.

»Würde ich ja wirklich gern«, seufzte Lenny, »aber ich fürchte, du würdest das gar nicht merken.«

Ansatzlos holte Harper aus und wollte Lenny einen Handkantenschlag gegen den Kehlkopf verpassen, doch Jayden stand bereits schützend vor Lenny, blockte Harpers Hand mit dem Unterarm und rammte ihr seinen Ellenbogen gegen die Nase.

Eigentlich wollte Jayden es dabei belassen, doch im Reflex trat er dem Kerl, der ihm gefährlich nahe stand, auch noch den Fuß gegen das Knie. Dieser Typ und Harper fielen gleichzeitig um. Während Harper sich die gebrochene Nase hielt, aus der ein Schwall Blut auf ihre weiße Uniform schoss, massierte der Kerl stöhnend sein Knie und fluchte leise vor sich hin. Offenbar wurde ihm gerade bewusst, dass er die nächsten Tage humpeln würde.

Jayden merkte, dass die anderen drei auf ihn losstürmen wollten, dann jedoch zurückzuckten und Haltung annahmen.

Gleichzeitig hörte Jayden eine brummige Stimme hinter sich. »Was zur Hölle ist hier los?«

Er drehte sich um. Hinter ihm stand Master Chief Hernandez.

3. KAPITEL

Jayden wusste, dass die Sache nicht gut für ihn aussah, wie er so mit geballten Fäusten über den beiden jungen Lieutenants stand.

Harper rieb sich die blutige Nase. »Die drei haben angefangen, Sir«, röchelte sie, noch bevor Jayden etwas sagen konnte. »Wir wollten einfach nur auf unsere Posten gehen, da hat der dort zu prahlen begonnen, wer seine Mutter sei und was sie alles kann.«

»Genau«, riefen die anderen vier Lieutenants und nickten.

»Dachte mir schon, dass ihr drei Ärger machen würdet.« Master Chief Hernandez packte Jayden am Ohr. »Und was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen? Dass du gar nicht angefangen hast?«, sagte er mit zuckersüßer Stimme. »Dass du provoziert wurdest? Deiner Freundin helfen wolltest? Dich verteidigen musstest?«

»Nein, Sir.« Jayden schluckte seinen Ärger hinunter.

»Wie bitte?«, brüllte der Master Chief.

»Sir, nein, Sir«, rief Jayden. »Ich habe nichts zu meiner Verteidigung zu sagen, außer dass mir leidtut, was passiert ist.«

Der Master Chief blickte Erik und Lenny an, die ebenfalls beide schwiegen, da sie es offenbar genauso wie Jayden für das Beste hielten, jetzt die Klappe zu halten, weil sonst alles noch viel schlimmer werden würde.

»Euch drei Landratten werde ich die Flausen austreiben. Mitkommen!« Der Master Chief ließ Jaydens Ohr los, das mittlerweile brennend heiß pochte. »Ich denke, es wird Zeit, dass ihr Bekanntschaft mit der XO macht.« Dann wandte er sich an Harper und ihren Kollegen. »Stehen Sie gefälligst auf! Oder wollen Sie den ganzen Tag auf Ihrem faulen Hintern sitzen? Wechseln Sie Ihre angesaute Uniform – und Sie, Lieutenant, lassen Ihr Knie von der Bordärztin begutachten. Sieht nach rausgesprungener Kniescheibe aus.« Er wandte sich ab und ging voraus.

Erik, Lenny und Jayden folgten dem Master Chief mit zwei Meter Abstand übers Deck. Hinter sich hörten sie, wie die Lieutenants lachten und sich über sie lustig machten.

»Die zwei hätte ich locker allein fertiggemacht«, zischte Lenny.

»Weiß ich«, murmelte Jayden, »aber ihren ersten Schlag hättest du trotzdem abgekriegt.«

»Stimmt, ich hätte nicht gedacht, dass sie …«

»Ruhe da hinten!«, brüllte der Master Chief, ohne sich umzudrehen.

»Hab ja gar nichts gesagt«, murmelte Erik, der plötzlich grinste und Jayden den hochgestreckten Daumen zeigte. Coole Aktion, formte er lautlos mit den Lippen.

Fünf Minuten später verging ihnen jedoch das Lachen, als sie auf dem obersten Deck am Treppenabsatz standen. Durch den Türspalt konnten sie einen Blick auf die Brücke erhaschen. Der Kommandostand wurde von mehreren bewaffneten Marinesoldaten bewacht und in der Mitte vor der großen blau getönten Scheibe mit Blick aufs offene Meer saß Captain Anderson in seinem Drehstuhl.

Der Master Chief steckte seinen Kopf durch den Spalt und bedeutete der XO, dass er sie kurz sprechen wollte. Die Frau kam in ihrer steifen blauen Uniform durch die Tür, und während sie Erik, Jayden und Lenny musterte, erzählte ihr Hernandez, was vorgefallen war.

»Und damit belästigen Sie mich?«, fragte sie in einem harten ungeduldigen Ton, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte.

»Ma’am, immerhin wurden zwei Sub-Lieutenants von der Gefechtszentrale verletzt – und Sie wissen, was das bedeutet, falls wir gerade …«

»Was? Von russischen Kampfjets angegriffen worden wären? Wurden wir aber nicht.« Executive Officer Nielsen sah die drei emotionslos an.

Jayden konnte das Alter der Frau unmöglich schätzen, aber bestimmt war sie deutlich älter als seine Tante Maggie, bei der er und seine Zwillingsschwester Grace aufgewachsen waren.

Die XO hatte kurze schwarze Haare und dezent roten Lippenstift aufgetragen, mehr nicht. Kein Lidschatten, keine Wimperntusche oder Ohrringe, ja nicht einmal Löcher in den Ohrläppchen. Vermutlich musste sie in ihrer Position doppelt so hart arbeiten wie ihre männlichen Kollegen, um sich den Respekt und die Anerkennung der Crew zu verdienen. Doch bei dem Gesichtsausdruck und der Körperspannung dieser Frau war der Respekt der Mannschaft sicher kein Problem. Sie sah zum Fürchten aus.

Unauffällig schielte er zu Lenny, die erschrocken den Blick zu Boden richtete. Er ahnte, dass sie diese Begegnung an ihre unschöne Zeit im griechischen Kinderheim bei Madame Polina erinnerte, von der sie ab und zu Schauergeschichten erzählte.

»Unsere jungen wilden Kollegen von der Feuerleitstelle also wieder einmal«, seufzte die XO, als wäre so ein Streit nicht zum ersten Mal passiert. »Die leisten zwar exzellente Arbeit im Gefechtsstand, aber was ihre soziale Kompetenz betrifft, sind sie … nun ja … mitunter noch unreif und dämlich.«

»Ma’am, bitte um Erlaubnis, sprechen zu dürfen«, sagte Lenny. »Ich finde nicht, dass sie dämlich sind, die haben einfach nur Pech beim Denken.«

Die XO verkniff sich ein Lächeln – und Jayden war sicher, dass sie im letzten Jahrzehnt kein einziges Mal gelächelt hatte. »Auch wenn du möglicherweise recht hast, ist das noch lange kein Grund, eine Prügelei mit Kolleginnen vom Zaun zu brechen. Solche Reibereien haben auf einem Zerstörer der Royal Navy, wo unser aller Leben vom Einsatz und der Disziplin der gesamten Crew abhängt, keinen Platz.«

»Ma’am, das war meine Schuld«, sagte Jayden leise. »Ich habe offenbar ein Talent dafür, ins Fettnäpfchen zu treten.«

Die XO verzog den Mund zu einem weiteren zynischen Lächeln. »Deine Ehrlichkeit ehrt dich. Und das ist auch okay, aber du musst nicht jedes Mal Anlauf nehmen, wenn du ein Fettnäpfchen siehst.«

»Ja, Ma’am.«

»Bestrafen muss ich euch trotzdem, auch wenn es – unter uns gesagt – nicht schadet, dass die Kollegen von der Gefechtszentrale mal eine Abreibung bekommen haben, weil sie bei euch anscheinend an die Falschen geraten sind«, sagte die XO. »Aber da ihr als Trainees neu an Bord seid, fällt die Strafe milde aus. Ihr schrubbt bis heute Nachmittag sechzehn Uhr das gesamte Backborddeck.«

»Äh, Backbord?«, fragte Erik. »Nur, damit ich das richtig verstehe und nichts falsch mache … ist das das Regal, auf das der Bäcker seine Brote stellt?«

»O Gott!« Lenny rollte genervt mit den Augen.

Die Gesichtszüge der XO entgleisten. »Versuchst du gerade, witzig zu sein?«

»Nein, Sir … äh, Ma’am, wollte ich sagen«, murmelte Erik und verkniff sich ein Grinsen.

Jayden schluckte, da er sicher war, dass die XO keinen von Eriks Scherzen verstand.

Nun zog die XO eine Augenbraue hoch. »Ich finde es gut, dass du trotzdem noch deinen Humor behältst. Bleib so!«, sagte sie. »Für diese Entgleisung schrubbt ihr drei nicht nur das Backborddeck, sondern bis mindestens einundzwanzig Uhr auch das Steuerborddeck. Sollte bis dahin alles blitzblank sauber sein, könnt ihr gern noch was vom Abendessen haben, falls etwas übrig geblieben ist, was ich aber bezweifle. Wegtreten!« Sie wandte sich um und verschwand wieder auf die Brücke.

»O Mann!« Erik drehte sich zum Master Chief. »Wissen Sie, wie groß das Deck ist?«

»Nicht so groß wie deine Klappe«, zischte Lenny.

»Ich weiß es und ihr werdet es auch bald herausfinden, wenn ihr heute Abend blutige Blasen auf den Händen habt.« Der Master Chief sah sie amüsiert an. »Dann zeige ich euch mal, wo ihr Eimer und Wischmopp findet.«

Er scheuchte sie die Treppe hinunter aufs offene Deck hinaus und führte sie im Freien zu einer Kammer am Bug des Schiffs. Auf einem Display an der Wand tippte er den Zahlencode 280868, woraufhin die Blechtür aufsprang.

»Diese Kammer ist abgesperrt?«, fragte Erik überrascht. »Was befindet sich darin? Die Abschusscodes für die Raket…?«

»Das ist das Warenlager der Reinigungskräfte«, knurrte der Master Chief. Die Kammer war etwa vier Quadratmeter groß und voller Putzutensilien. »Ihr solltet schleunigst beginnen, sonst seid ihr um Mitternacht noch nicht fertig. Und räumt anschließend alles wieder sauber hier rein.« Er spuckte demonstrativ auf den Boden, wandte sich ab und ging pfeifend davon.

»Danke, du Arschloch«, zischte Jayden zu Erik, als er mit dem Fuß die Scheuermittel in der Kammer zur Seite schob, um hineinzukommen.

»Gern geschehen, du fauler Hund«, konterte Erik. »Ein bisschen Arbeit schadet dir gar nicht.«

»Hört auf«, mischte sich Lenny ein und griff sich Eimer und Mopp. »Wir drei sind selbst schuld daran – ich habe den Streit begonnen, Jayden hat Harper eine aufs Maul gegeben und Erik hat die XO provoziert. Machen wir uns an die Arbeit.«

Erik grinste. »Wenigstens sind wir zusammen – besser als allein in der Kombüse Kartoffeln schälen.«

Jayden stieß Erik mit dem Ellenbogen freundschaftlich in die Rippen und griff ebenfalls nach Eimer und Mopp.

Während er mit der Arbeit begann, dachte er wehmütig an das Training bei der Last Line of Defense und mit wie viel mehr Fairness und Respekt sie dort von allen Ausbildern und Kollegen behandelt wurden. Genau das schien hier zu fehlen. Aber ein Gutes hatte die Sache wenigstens. Er hätte nicht gedacht, dass er sich jemals nach dem harten Training in Brighton Rock zurücksehnen würde.

4. KAPITEL

SECHS TAGE ZUVOR

Brighton Rock war ein massives wuchtiges Gebäude, schiefergrau und backsteinrot gesprenkelt, das auf einer vorgelagerten schmalen Halbinsel im Süden Englands wie eine Festung im Meer thronte.

An den zerklüfteten Felswänden brachen die Wellen meterhoch und spritzten an stürmischen Tagen, so wie heute, bis zu den obersten Stockwerken hinauf. Zur Tarnung hing ein verwittertes Schild mit der Firmenbezeichnung Brighton Beach Shipyard über dem Eingang. Schließlich waren früher in dieser ehemaligen alten Werft tatsächlich einmal Schiffe repariert worden. Vor achteinhalb Jahren war dieses Gebäude aber heimlich entstaubt, renoviert und unter anderem mit hochmodernen Simulator- und Trainingsgeräten ausgerüstet worden.

Jayden, Lenny und Erik verließen den Simulationsraum, der sie mit der Radarstation der HMS Apocalypse vertraut machen sollte. Drei Stunden Fallbeispiele in komplex konstruierten Notlagen unter Zeitdruck und Stress waren genug. Zumal sie am frühen Vormittag bereits im 3-D-Simulator mehrmals einen virtuellen Rundgang durchs gesamte Schiff unternommen hatten, damit sie im Schlaf den kürzesten Weg vom Maschinenraum zur Krankenstation, vom Funkraum zum Materiallager, von der Bordwäscherei zur Offiziersmesse und vom Munitionslager zur Brücke finden würden.

Am Nachmittag würde noch die Wiederholung der Trainings für Schiffstechnik und -elektrotechnik und die Armaturen der Surface- und Subsurface-Waffen auf dem Programm stehen. Nicht dass geplant war, dass sie jemals in die Nähe der echten Geräte kamen, aber Major Conklin und Direktorin Taylor waren sich einig, dass sie über alles Bescheid wissen sollten. Im Ernstfall durften sie keine Sekunde durch Unwissenheit oder Ablenkung verlieren, sodass sie sich voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren konnten: eventuelle Spionage- oder Sabotageaktionen von MOEBIUS aufzudecken.

Während Erik in Richtung Kantine marschierte, um dort seine Mittagspause zu verbringen, wollte Lenny der Psychologin Elly D. Shepard einen Besuch abstatten, um deren weißen Kater Houdini zu bürsten und mit Leckerlis zu füttern. Houdini, der so hieß wie der legendäre Magier, weil er ständig genauso spurlos verschwand, war wie Lenny ein Streuner – und die beiden hatten sich inzwischen bestens angefreundet.

Jayden schlug eine andere Richtung ein. Auf dem Weg zu Miss Ishidas Werkstatt kam ihm ein kleiner rundlicher Mann mit Halbglatze, grauem Haarkranz und pausbackigem Gesicht entgegen. Butler Mason, der sich in Brighton Rock um alle Auszubildenden kümmerte, trug wie immer eine längs gestreifte grau-weiße Hose mit grauer Weste.

»Mahlzeit, Mr Knoxville … oder sollte ich besser sagen, Schiff ahoi?«

»Mast- und Schotbruch, Mason.« Grinsend salutierte Jayden wie ein Matrose, dann erreichte er auch schon Miss Ishidas Arbeitsbereich, der einer mit Motoren und Computern vollgestopften Garage glich.

Die junge Japanerin mit dem selbst gebastelten Drahtgestell als Brille und den mittlerweile langen hochgesteckten schwarzen Haaren war ihre technische Ausbilderin mit Schwerpunkt Autos, Motorräder, Boote, Hubschrauber, Informatik und Computerspionage. Wie immer saß sie mit Kopfhörern, aus denen dröhnender Heavy Metal drang, barfuß mit zerschlissener Hose und Pullover im Schneidersitz auf dem Sattel eines zerlegten Motorrads und tippte flink auf dem Notebook auf ihrem Schoß. Nebenbei fischte sie sich mit Stäbchen einen Happen Essen aus einer vor Fett triefenden Papiertüte Fish & Chips, die auf dem Lenker klemmte, und sah kurz zu Jayden.

»Was hören Sie?«, brüllte er.

»Du musst nicht schreien«, sagte sie völlig ruhig. »Ich kann Lippenlesen.«

Daraufhin bewegte Jayden die Lippen sinnlos hin und her, als knatschte er an einem Kaugummi.

»Du willst mich wohl verarschen?«, knurrte sie und schnappte sich das letzte Fischstückchen. »Das neueste Album von Metallica.«

»Ich finde Metallica überbewertet«, sagte Jayden, der mehr auf Punkrock stand.

»Du hast ja keine Ahnung.« Miss Ishida zog sich die Kopfhörer herunter und klappte das Notebook zu, woraufhin die Musik verstummte. »Womit wirst du mich diesmal nerven, Matrose?«

Mittlerweile wusste anscheinend jeder bei der Last Line of Defense, für welchen Einsatz sie ausgebildet wurden. »Haben Sie schon etwas über meine Mutter herausgefunden?«

Schlagartig bekam Miss Ishida einen ernsten Gesichtsausdruck. Jayden hatte ihr vor einigen Wochen erzählt, dass seine Mutter unmittelbar nach Grace’ und seiner Geburt im Londoner Children’s University Hospital gestorben war, weil sie die rettende Bluttransfusion zu spät bekommen hatte. Danach waren Grace und er von »Tante Maggie«, der Hebamme, die sie zur Welt gebracht hatte, adoptiert worden.

Drei Jahre später hatte ein verheerender Brand den Serverraum mitsamt den Unterlagen im Archiv des Krankenhauses vernichtet. Die Stadt hatte das Krankenhaus zwar zum neuen Central University Hospital ausgebaut, aber Tante Maggie war damals mit Grace und ihm nach Liverpool übersiedelt, wo sie aufwuchsen und Maggie einen neuen Job als Hebamme angenommen hatte.

Von seiner Mutter wusste er nur, dass sie Shyla geheißen hatte, als achtzehnjähriges Mädchen hochschwanger von Sri Lanka nach England gekommen und mit geplatzter Fruchtblase und schweren Unterleibsblutungen ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sie hatte nur gebrochen Englisch gesprochen und war kurz davor angeblich auf dem Weg zu einem Nobelrestaurant in der Londoner Innenstadt gewesen. Außer einem Koffer mit Kleidung, ein paar Pfund Bargeld, einem Foto von sich selbst und einer nagelneuen Ausgabe von Elly D. Shepards Sachbuch 999 Dinge, die Sie wissen müssen, bevor das Leben zu Ende ist hatte sie nichts bei sich gehabt. Weder Ausweis noch Visum, Flug- oder Schiffsticket. Mehr wusste Jayden nicht – nicht einmal ihren Nachnamen.

Aber wenn es jemanden gab, der mehr über die damaligen Ereignisse herausfinden konnte, dann war es das geniale Computer- und Hackergehirn von Miss Ishida, die schon ganz andere Probleme gelöst hatte.

»Warum schauen Sie so ernst?«, bohrte Jayden nach, da Miss Ishida sich offenbar um eine Antwort drückte. »Haben Sie nichts gefunden?«

»Habe ich schon jemals etwas nicht gefunden?«

»Nein.«

»Eben – warum sollte es also jetzt anders sein?« Sie legte das Notebook beiseite und rutschte vom Motorradsitz.

Jaydens Herz schlug schneller. »Und was … und vor allem wie haben Sie das gefunden?«

»Eines nach dem anderen.« Sie griff in ihre Gesäßtasche und gab ihm Shylas Foto zurück. Mittlerweile war es nach all den Jahren, in denen er es bei sich getragen hatte, geknickt, fleckig und vergilbt, aber dennoch war noch deutlich zu erkennen, wie hübsch diese junge Frau mit den langen schwarzen Haaren, den großen Augen und diesem strahlenden Lächeln einst gewesen war.

»Ich habe die Rückseite des Fotos im UV- und Infrarot-Licht analysiert. Dieses Passbild ist definitiv in Großbritannien gemacht worden, und zwar dem Wasserzeichen zufolge, das ich sichtbar machen konnte, in einem Fotoautomaten am Heathrow Airport in London.«

Jayden strahlte. »Ich wusste, dass Sie …«

»Sei still und hör zu!« Miss Ishida puhlte mit dem Fingernagel ein Stück Fisch zwischen den Zähnen hervor. »Ich konnte auch das Datum sichtbar machen – ein Tag vor deiner Geburt.«

»Sie ist also mit dem Flugzeug von Sri Lanka hergekommen.«

»Höchstwahrscheinlich. Altes Videomaterial von den damaligen Überwachungskameras am Airport gibt es mittlerweile nicht mehr, aber im elektronischen Archiv des Towers sind immer noch die alten Traffic-Daten abgespeichert. So etwas wird nie gelöscht. An jenem Sonntag gab es nur einen Flug vom Airport Colombo in Sri Lanka nach Heathrow.«

»Demnach wissen wir also, wann sie mit welcher Maschine geflogen ist.« Nie hätte er damit gerechnet, das jemals herauszufinden. Am liebsten hätte er Miss Ishida umarmt, doch offenbar spürte sie seine Euphorie, da sie ihn sich mit einer deutlichen Geste vom Leib hielt.

»Keine voreilige Hektik. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass Colombo zwei Monate bevor deine Mutter das Land verlassen hat, erstmals ein Videoüberwachungssystem am Flughafen eingeführt hat. Das Videomaterial des ersten halben Jahres wurde nie gelöscht, da es immer noch für Schulungszwecke verwendet wird. Ich habe mich in den Server gehackt und die Aufzeichnungen vom Tag ihres Abflugs kopiert.«

»Und?«, rief er.

»Die Bildqualität ist hundsmiserabel.«

»Und?«, wiederholte er.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mir die Augen mit insgesamt zwanzig Stunden Schwarz-Weiß-Aufnahmen von dreißig Kameras wund sehe?«

Enttäuscht ließ er die Schultern sinken. »Nein … natürlich nicht.«

»Aber ich habe das Foto deiner Mutter eingescannt, mit einer KI ein dreidimensionales Abbild erzeugt und meine Gesichtserkennungs-Software über das gesamte Videomaterial laufen lassen. Hat zwei Stunden gedauert.«

»Und?«, rief er wieder euphorisch.

Miss Ishida seufzte. »Ich habe deine Mutter entdeckt.«

Er wollte die Arme hochreißen und hätte dabei beinahe das Bild in seiner Hand zerknüllt. »Das ist ja großartig.«

»Ja, aber jetzt kommt die schlechte Nachricht«, dämpfte sie seine Freude. »Sie ist vier Stunden vor Abflug am Flughafen angekommen. Und zwar am Parkplatz C mit einem Bus, wie wir von einer der Außenkameras wissen.«

»Okay …«, murmelte er. »Und was ist daran so schlecht?«

»Der Bus kam aus Ratnarungala.«

»Okay …«, wiederholte er mit unsicherem Ton. »Und?«

»Allem Anschein nach stammte sie aus Ratnarungala«, erklärte Miss Ishida.

»Was ist daran so schlimm?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie erklär ich es dir?«, murmelte sie. »Dieser Ort war früher für seine Adoptionskliniken bekannt, wo Leihmütter ihre Babys für ausländische Familien ausgetragen haben.«

Noch begriff Jayden nicht, worauf Miss Ishida hinauswollte. »Eine Leihmutter?«

Sie nickte. »Ja, eine Frau, die gegen Bezahlung illegal Kinder für jemand anderen zur Welt bringt.«

Jayden ließ die Information sacken. »Könnte ein Zufall sein.«

»Wäre ein wahnsinnig großer Zufall, dass ausgerechnet eine hochschwangere junge Frau von dort kommt, in ein Flugzeug steigt, nach London fliegt, in ein Nobelrestaurant geht, um sich offenbar mit jemandem zu treffen, wozu es jedoch nicht mehr kommt, weil ihre Fruchtblase platzt und sie ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, wo sie unmittelbar nach der Geburt stirbt.« Sie sah ihn prüfend an.

»Okay, und was heißt das nun?«, fragte er. »Dass Shyla in Wirklichkeit nur eine Leihmutter war … und …« Er verstummte.

»Und deine echte Mutter, also deine biologisch echte Mutter, jemand völlig anderes ist.«

»Ich kapier es immer noch nicht«, gestand er.

Sie verdrehte die Augen. »Du absolvierst eines der teuersten geheimen Ausbildungsprogramme Großbritanniens, rettest eine investigative Journalistin aus der zerbombten britischen Botschaft in Buenos Aires, findest ein geheimes Datenkabel, deckst die Machenschaften von MOEBIUS auf, der gefährlichsten Terrororganisation der Welt, infiltrierst deren geheimes Ausbildungscamp auf einer einsamen Insel, rettest Großbritannien vor dem Blackout … aber das kapierst du nicht?«

»Äh … nein …«

»Okay«, seufzte sie. »Die Frau, die dich zur Welt gebracht hat, hat möglicherweise nur das befruchtete Ei einer anderen Frau ausgetragen.«

»Das heißt, meine echte Mutter ist vielleicht jemand völlig anderes?«

»Jetzt hat er’s.« Miss Ishida nickte. »Deren Identität wir unmöglich herausfinden können.«

Kaum hatten sie etwas herausgefunden, waren sie auch schon wieder in der nächsten Sackgasse gelandet. Jayden ließ die Schultern hängen. »Trotzdem, danke für alles …«, murmelte er.

»Vielleicht hätte ich dir das gar nicht erzählen sollen.«

»Doch – die Wahrheit ist mir allemal lieber.«

»Auch wenn sie dein bisheriges Weltbild völlig auf den Kopf stellt?«

Jayden starrte auf Shylas Bild, ehe er es einsteckte. Stimmt, diese neue Erkenntnis war extrem verstörend und änderte alles. Aber was war die Alternative? Zu versuchen, das soeben Gehörte zu vergessen, um weiter in einer Illusion zu leben? Da fiel ihm Tipp Nr. 984 aus Elly D. Shepards Ratgeber ein. Jenes Buch, das ihm, außer dem Foto, als Einziges von seiner Mutter geblieben war und das er Dutzende Male gelesen hatte und mittlerweile auswendig kannte.

Die Wahrheit zu ertragen ist oft schwieriger, als die Wahrheit herauszufinden.

»Ich muss weiterarbeiten«, sagte Miss Ishida emotionslos.

»Ja, natürlich, danke noch mal.« Er drehte sich um und verließ ihre Werkstatt.

Wie in Trance ging er zurück zum Schulungsraum. Möglicherweise gelang es ihm ja doch noch, mehr darüber zu erfahren, bevor er mit Erik und Lenny zum Militärstützpunkt auf den Cayman Islands abreisen würde.

Aber das Training der nächsten Tage wurde extrem anstrengend, auslaugend und enervierend – und ihm blieb absolut keine freie Minute, um auch nur irgendetwas über diese Leihmutterschaft herauszufinden.

5. KAPITEL

Um 21:25 Uhr waren sie endlich mit dem Schrubben des Decks auf beiden Schiffsseiten fertig – und nun kannten sie jeden Winkel und wussten haargenau, wie groß die HMS Apocalypse war. Ihnen taten zwar die Schultern und Füße weh und sie hatten auch Blasen an den Händen, aber zumindest keine blutigen, wie der Master Chief angekündigt hatte. Immerhin waren sie es gewohnt, in Mrs Hardings Dojo mit dem Bo – einem 1,80 Meter langen Stab aus hartem Wengéholz – Kampfsport zu trainieren.

Nachdem sie alles wieder in der Putzkammer verstaut hatten, hockten sie erschöpft vorne an der Reling und blickten über den Bug aufs Meer hinaus. Sie waren zu müde, um in die Schiffsmesse zu schauen, wo die Crew ihr Abendessen schon vor Stunden beendet hatte. Jeder an Bord hatte gesehen, wie sie die Decks schrubbten, und Harper hatte garantiert dafür gesorgt, dass nicht einmal eine Kante trockenes Brot für sie übrig blieb.

Die Sterne funkelten am Nachthimmel, der Mond hing hinter einer einsamen Wolke und die Gischt spritzte regelmäßig einen Schwall Salzwasser-Sprühregen zu ihnen hinauf. Weit und breit waren keine Lichter auf dem Ozean zu sehen.

Da läutete Jaydens Handy. Die HMS Apocalypse war zwar auf hoher See und zu weit von der nächsten Küste entfernt, um ein Handynetz zu finden, aber die Crewmitglieder konnten trotzdem mit ihren Smartphones telefonieren, weil sie eine eigene Telekommunikations-Satellitenschüssel an Bord hatten.

Jayden zog sein Telefon aus der Hosentasche und Erik beugte sich zu ihm herüber, um neugierig auf das Display zu schielen. »Ah, es ist Sofia«, stellte Erik grinsend fest.

Sofia González war eben jene Argentinierin, die Jayden vor einem halben Jahr bei seiner ersten Warm-up-Mission in der britischen Botschaft in Buenos Aires kennengelernt hatte und der er vor zwei Tagen am Telefon erzählt hatte, dass er beruflich nach Mittelamerika kommen würde.

»Hallo, Sofia«, nahm er das Gespräch entgegen.

»Hallo, Jayden, bist du schon gut angekommen?«, fragte sie auf Englisch mit ihrem leicht abgehackten südamerikanischen Akzent.

»Gut ist übertrieben, aber ja, ich bin hier«, murmelte er erschöpft. »Schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir und deinem Vater?«

»Gut, alles bestens. Du, ich habe nicht viel Zeit, wollte nur kurz sagen, dass ich eventuell nächste Woche nach England fliegen könnte.«

Plötzlich strahlte er, lehnte sich an die Reling und blickte aufs Meer. »Das wäre prima – ich hoffe, dass ich da schon wieder zurück bin und …« Er zuckte kurz zusammen, als Erik ihm den Ellenbogen in die Seite rammte.

Soeben kam Master Chief Hernandez mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf sie zu. Den ganzen Tag lang hatte er im Stundentakt ihre Fortschritte begutachtet und alles kontrolliert.

»Du, ich muss Schluss machen«, flüsterte Jayden.

»Verstehe, die Pflicht ruft«, sagte sie lachend.

»Ich ruf dich morgen an.«

»Kuss und schlaf gut«, rief Sofia, dann legte sie auf.

Kuss? Jayden lächelte kurz, steckte das Handy weg und nahm Haltung an.

Der Master Chief erreichte sie. »Feine Arbeit. So hat die HMS Apocalypse zuletzt vor fünf Monaten, am Tag ihrer Jungfernfahrt, geglänzt. Die XO ist hart, aber fair. So läuft es nun mal an Bord eines Zerstörers der Royal Navy.« Er zwinkerte ihnen zu.

»Soll uns das etwa aufmuntern?«, fragte Lenny müde.

»Wenn es meine Worte nicht tun, dann vielleicht das.« Er holte die Arme hinter dem Rücken hervor und warf jedem von ihnen eine Packung zu.

Erik riss das Papier sogleich auf. »Truthahn-Sandwiches mit Salat, Eiern und Tomaten«, rief er begeistert und biss gierig hinein.

»Hab ich vom Abendessen gerettet.«

»Master Chief, Sie sind gar nicht so übel, wie alle behaupten«, murmelte Erik mit vollem Mund, schluckte und biss erneut herzhaft in das Sandwich.

»Treib es nicht zu weit, Junge«, mahnte ihn der Master Chief. »Immerhin gibt es noch weitere Decks an Bord.«

»… auf die Sie noch nicht gespuckt haben … verstehe … bin schon ruhig.« Erik kaute weiter.

Wortlos biss Jayden in sein Sandwich und genoss jeden Krümel davon.

Da knackte das Funkgerät am Gürtel des Master Chief.

»Sind die drei so weit? Over«, knarzte eine Stimme aus dem Lautsprecher.

Der Master Chief hob das Walkie Talkie zum Mund. »Ja, Sir, sind soeben fertig geworden. Sie können kommen. Over and out.«

»Wünscht uns der Captain zu sprechen?«, witzelte Lenny.

»Das hättet ihr wohl gern. Nein, ihr bekommt gleich Besuch von jemand anderem.« Der Master Chief blickte kurz zur Brücke hinauf. Dann tippte er zum Gruß an die Stirn und stellte sich einige Meter von ihnen entfernt zu einer Gruppe Marinesoldatinnen an die Reling, mit denen er plauderte. Außer diesen waren noch ein paar andere Crewmitglieder an Deck, die vereinzelt herumstanden, telefonierten, Zigaretten rauchten oder einfach nur die milde Nachtluft genossen.

Eine Minute später flog die Tür zum Deck auf und ein Mann in ziviler schwarzer Kleidung mit grauem Bürstenhaarschnitt kam heraus. Im Licht der Deckbeleuchtung waren deutlich drei lange parallele Narben zu sehen, die seitlich über sein wettergegerbtes Gesicht verliefen.

»Major Conklin!«, rief Lenny erfreut.

Auch Jayden freute sich, ihren Einsatzleiter bei der Last Line of Defense hier zu sehen. »Major, was machen Sie hier?«

»Offiziell bin ich nur als Gast hier.«

»Und inoffiziell?«, flüsterte Erik mit vollem Mund.



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