Lavendelblüten - Jennifer Stone - E-Book

Lavendelblüten E-Book

Jennifer Stone

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Beschreibung

Das Allgäu. Ein kleines Kind wächst nach der Scheidung seiner Eltern bei seinen Großeltern auf, die ihm ein liebevolles Zuhause bieten. Sein bisher harmonisches Leben ändert sich schlagartig, als seine Mutter, erneut verheiratet, es zu sich holt und der Alltag von Gewalt und Alkohol geprägt wird. Als junger Mensch entflieht er der Enge, mitten ins Berlin der 80er-Jahre, in ein Leben voller Ausschweifungen und Exzesse. Dabei beginnt er zu erkennen, dass er sein Glück nicht nur an einem anderen Ort, sondern in nur einem anderen Körper finden kann - langsam, aber unaufhaltsam vollzieht sich seine Metamorphose hin zum anderen Geschlecht, die ihn immer tiefer in eine nie geahnte Welt führt.

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Impressum

© 2014 Jennifer Stone

 

1. Auflage

BUCHER Verlag

Hohenems – Wien – Vaduz

www.bucherverlag.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software

 

ISBN 978-3-99018-322-9

1966

Ein milder Sommerabend. Auf der Terrasse sitzend, genüsslich eine Zigarette rauchend, blicke ich auf einen Blumentopf mit Lavendel. Fasziniert vom Duft dieser Pflanzen, sinniere ich über den Sinn des Lebens und begebe mich gedanklich in die tiefe Vergangenheit.

 

Sommer 1966. Der Vollmond schien und eine große Frauenhand hielt meine kleine Kinderhand. Wir gingen einen steinigen Fahrweg bergauf, teilweise durch einen Wald. „Oma, du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir“, stotterte ich. „Ist schon gut, ich weiß, dass du bei mir bist“, antwortete Oma in ihrem bayrischen Dialekt, worauf ich sie fragte, ob sie mich mag. „Aber selbstverständlich hab ich dich lieb“.

Nach etwa einer halben Stunde kamen wir zu einer Vereinshütte, in der meine Großeltern von nun an als Wirtschafter arbeiteten. Zuvor hatten die beiden ein Hotel im Allgäu, welches sie aus gesundheitlichen Gründen (mein Opa war Kriegsinvalide), nicht mehr weiterführen konnten. In diesem Hotel arbeitete auch Ines, eine Frau Anfang vierzig, als Küchenhilfe, die meine Großeltern als Arbeitskraft und meine „Nanni“ mit auf die Hütte genommen hatten.

Kurze Zeit später kamen Opa und Ines mit dem Auto hinterher, die beiden mussten zuvor noch einiges erledigen. Lassie, eine Boxerhündin, sprang ebenfalls aus dem Auto und begrüßte mich stürmisch. Meine Mutter arbeitete zu diesem Zeitpunkt noch im Allgäu und ich hatte nicht wirklich Kontakt zu ihr. Jedenfalls stellte sich heraus, dass die nächsten vier Jahre für mich unbeschwert und glücklich werden würden. Hatten wir in den Saisonen Gäste, die mit ihren Kindern anreisten, trug Oma dafür Sorge, dass sämtliche Leckereien wie Obst, Speiseeis, Schokolade, Bonbons und sonstige Süßwaren im Haus waren, wollte sie doch keineswegs, dass ich zu den Gästen ging und anfing zu betteln, wenn ich sah, wie ein anderes Kind etwas naschte. Somit war ich mit allem versorgt, was ein Kinderherz sich wünschte. Oma erzählte mir später, dass dieses auch noch einen anderen Grund hatte. Sie meinte, da alles vorrätig war und ich fast alles bekam, würde sie sich keine Sorgen machen, dass ich etwas Verbotenes essen oder trinken würde, wenn sie mich ab und zu ins Schlafzimmer schickte, um Tabletten zu holen. Es funktionierte. Lassie liebte mich und vor allem die Schokolade, die ich wie eine Scheibe Brot hielt. Da bissen wir dann abwechselnd ab.

Ich war fünf, wir hatten Saison und wieder einmal urlaubten Gästekinder mit im Haus. Ein Junge meines Alters wollte mich ärgern. Er gab mir die unmöglichsten Spitznamen und hat mich damit in Rage gebracht. Oma bekam dieses Szenario mit und holte sofort einen Kochlöffel, um jenen Burschen ordentlich den Allerwertesten zu vermöbeln. Er versuchte wegzulaufen und ich rief meiner Oma zu: „Lass ihn, ich möchte mich selber wehren.“ Also rannte ich ihm hinterher, die Treppe hoch zu den Schlafzimmern, meine Hand griff nach seinen Haaren und als ich diese in meinen Händen hielt, fing ich an, daran zu zerren, bis er wehklagend um Entschuldigung bat. Ich begriff gar nicht so recht, dass ich mir nun zum ersten Mal selber Respekt verschafft habe. In jenem Moment war ich äußerst aufgeregt und nervös. Ich erkannte auch, dass ich von nun an diesem Gefühl, wann auch immer, aus dem Weg gehen wollte. Ich wollte keine Streitigkeiten.

 

Außerhalb der Saison, wenn keine Gäste bei uns waren, machten wir es uns immer sehr gemütlich, wir legten uns an den Nachmittagen oft schlafen. Am Abend war ich somit immer recht fit und durfte in einem bequemen Fernsehsessel so manchen Kriminalfilm anschauen. So erinnere ich mich noch an den Film „Eine Witwe mordet leise“. In diesem Film tötet eine junge Frau mehrere ältere Damen auf heimtückische Art. Vielleicht blieb er mir deswegen in Erinnerung. An das Ende des Filmes kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an das Gefühl sehr wohl. Die älteren Damen taten mir unendlich leid und irgendwie war ich sehr betroffen. Es hätte auch Oma sein können, die wie fast alle anderen älteren Menschen sehr herzlich und lieb war. Oma tröstete mich und sagte: „Schätzchen, du musst dir keine Sorgen machen, dass ist doch nur ein Film, und niemand tut jemandem so etwas an.“ Sicherlich übertrieb sie damit, aber somit war für mich wieder alles in Ordnung. Wir vier unternahmen auch sehr viele Ausflüge. Meistens fuhren wir dann ins Allgäu oder an den Bodensee. Die Erinnerungen daran sind, einfach gesagt, märchenhaft. Mir hat es an nichts gefehlt und ich war trotz meines „Verwöhntseins“ sehr pflegeleicht, genügsam und zufrieden mit mir und der Welt, die ich bislang kannte.

Haare kämmen war eine meiner großen Leidenschaften, dafür musste Ines immer den Kopf hinhalten. Ich hantierte mit Kamm und Bürste nicht sehr sanft, weshalb sich Oma auch strikt weigerte, mein Model zu sein. Ines hingegen war viel unempfindlicher, und ich denke, sie unterdrückte ihren Schmerz aus Liebe zu mir.

Eines Spätnachmittags, ich spielte gerade im Sandkasten, spazierte Lassie an mir vorbei und bewegte sich Richtung Wald. Ich schenkte dieser Szene nicht sehr viel Aufmerksamkeit, da sie öfters alleine ihre Runde drehte. Als sie allerdings im Wald verschwand und bei Dämmerung noch nicht zurückgekehrt war, informierte ich die Erwachsenen, die bis dahin glaubten, dass Lassie bei mir war. Opa, Oma, Ines, meine Mama, ihr neuer Lebensgefährte und ich liefen in den Wald und suchten die halbe Nacht vergeblich nach unserer geliebten Boxerhündin. Wir sahen oder hörten nie wieder etwas von Lassie und die Spekulationen, was mit ihr passierte, gingen weit auseinander. Traurig vermissten wir alle unser vierbeiniges Familienmitglied.

 

Irgendwann fiel das Wort „Schule“. Natürlich wollte ich wissen, was das war. Oma und Ines erklärten mir lang und breit, was es mit dieser „Schule“ auf sich hatte. Weg von Opa, Oma und Ines, bis mittags in einem anderen Haus und viele andere Kinder. Für mich der reinste Horror! Außerdem fuhren Opa und Oma zwei Tage vor meiner Einschulung nach Berchtesgaden und ich war mit Ines alleine. Sie kümmerte sich äußerst liebevoll um mich und ich löcherte sie am Vorabend, während ich mich wusch, mit tausend Fragen über die Schule, und wann Oma und Opa wieder zurückkommen würden. Ines erklärte mir, dass diese „Sache“ doch gar nicht so schlimm wäre, und die beiden brächten mir bestimmt etwas Schönes aus dem Urlaub mit. Somit fühlte ich mich etwas erleichtert und freute mich auf die Rückkehr der beiden.

Der nächste Tag war sehr sonnig und das Laub an den Bäumen schimmerte in allen Farben. Ines sagte mir: „Wir warten jetzt, bis deine Mama kommt und dann fahren wir zur Schule.“ Mama sah ich zu diesem Zeitpunkt nur selten, sie war zwei Jahre zuvor aus dem Allgäu zurückgekommen und besuchte uns ab und zu. Daran erinnere ich mich aber überhaupt nicht, denn ich war zu sehr mit meiner kleinen, heilen Welt beschäftigt. Mama brachte mir eine große, spitze Tüte mit. Sie sagte mir, dass diese mit Süßigkeiten gefüllt für mich sei, damit der erste Schultag nicht so schlimm würde. Wir stiegen in Mamas Auto, und fuhren zu einem Fotografen, der ein Bild von mir mit meiner Schultüte machte. Anschließend ging es weiter zur Schule und es war gar nicht so schlimm. Viele andere Kinder, mit denen ich spielen konnte und eine sehr nette Lehrerin. Aufgeregt und ohne zu ahnen was uns erwartete, stürmten wir in die Klasse, und kaum Platz genommen, hatte ich ein unbändiges Verlangen nach Süßem. Ich öffnete meine Tüte und aß daraus. Die Lehrerin und ein paar Kinder blickten mich ganz entsetzt an und erklärten mir, dass das Essen im Unterricht überhaupt nicht erlaubt sei und ich solle meinen Süßkram gefälligst zu Hause essen. Ich war traurig über den Rüffel und wollte dann auch nicht mehr zur Schule gehen. Bei Opa, Oma und Ines war es viel schöner, ohne diese blöden Verbote. Mittags, nach den Unterrichtsstunden, holte mich Ines ab und wir spazierten gemeinsam nach Hause. Eine Woche später kamen Opa und Oma von ihrem Urlaub zurück und brachten mir zwei wunderschöne Puppen mit. Diese hatten sehr lange Haare, die ich dann an Stelle von Ines’ kämmen konnte.

* * * *

1970

November 1970. In der Schule und im Alltag fand ich mich mittlerweile sehr gut zurecht. Dann erfuhr ich, ich solle zu meiner Mama umziehen, die vorhatte zu heiraten. Das erste Mal brach eine Welt für mich zusammen, denn ich konnte mir ein Dasein ohne meine drei Lieblingserwachsenen nicht vorstellen. Am Hochzeitstag meiner Mama zog ich dann zu ihr und ihrem neuen Ehemann, meinem Ziehvater. Dieser arbeitete als Fernfahrer und war deshalb nicht ständig zu Hause. Mama verdiente ihr Geld nachmittags als Kellnerin. Opa und Oma schenkten mir ein komplettes Kinderzimmer, damit fiel der Abschied nicht so schwer. Mein neues Zuhause lag eine Ortschaft weiter. Am Abend nach der Eheschließung gingen wir über eine mit Porzellanscherben bedeckte Veranda in das Haus. Überbleibsel vom Polterabend. Recht bald schickten mich die beiden ins Bett und ich schlief auch schnell, in meinem schönen, neuen Zimmer ein, welches an die Küche grenzte. Plötzlich wachte ich von Gepolter auf. Ich vernahm laute Stimmen und Streit. Zögerlich stand ich auf, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Meine Mama lag blutend auf dem Boden und über ihr kniete mein Ziehvater und schlug mit der Faust auf sie ein. Schockiert und sehr leise, eher schüchtern, bat ich darum, dass wieder Ruhe einkehren solle, doch mein Ziehvater gab mir zu verstehen, ich solle mich wieder hinlegen, bevor er auch auf mich einprügeln würde, da ich sowieso nur ein verwöhnter Balg sei. Ich tat, wie mir befohlen, aber so richtig schlafen konnte ich nicht mehr. Sehr viele Gedanken und eine panische Angst kamen in mir hoch. In Zukunft blieb ich besser ruhig und unauffällig, um meine Mama und mich zu schützen. Mein Ziehvater legte eine Art an den Tag, dass einem der kalte Schauer über den Rücken lief. Er sprach kaum ein Wort – wenn, dann wurde nur gemaßregelt. Mama und ich wurden nur aus den Augenwinkeln heraus von der Seite angesehen und ich hatte das ständige Gefühl, etwas falsch zu machen. Stellte ich dann wirklich etwas an, wie zum Beispiel vorlaut gegenüber Mama oder unpünktlich zu sein, sperrte mich Mama in den dunklen Kohlenkeller oder den mit Glaswolle ausgestatteten Heizungskeller. Die härteste Strafe war jene, wenn Mama mit mir über mehrere Tage oder Wochen nichts mehr sprach und mich wie Luft behandelte. Dann versuchte ich alle Tricks, um eine Reaktion, zum Beispiel ein Lächeln oder einen Blick, zu gewinnen. Ich erinnere mich nicht, dass sie jemals auch nur einmal schwach wurde. Als Oma uns einmal besuchte und spürte, dass ich sehr ernst geworden war und nicht mehr so unbeschwert spielte, wurde sie sehr traurig. Einmal sprach sie ihren Schwiegersohn darauf an, der ihr dann drohte, uns beide in den Keller zu prügeln.

In der Schule lief es anfangs ganz gut, wir hatten wieder eine liebe Lehrerin und auch die Mitschüler waren recht nett. Eines schönen Wintertags veranstalteten die Kinder aus der Nachbarschaft eine Schneeballschlacht. Sie bewarfen mich ständig mit Schneebällen, bis mich einer mit voller Wucht an der Lippe traf, die dann auch noch aufplatzte. Ich weinte und lief nach Hause, um zu petzen. Mama und ihr Mann lachten und verspotteten mich. Sollte ich mich doch selber wehren. Mama strich unsere Küche und das Wohnzimmer einmal im Jahr mit weißer Farbe. Einmal, sie war mit dem Anstreichen fast fertig, bat sie mich, gerade aus der Schule kommend, das ausgelegte Zeitungspapier wieder einzusammeln. Auf einem Stuhl stand der Eimer mit Farbe. Während ich das Papier unter ihm herausziehen wollte, kippte er um und fiel hinunter. Nun hatte ich die Bescherung, Mama fing an zu weinen und gab mir damit das unmittelbare Gefühl, etwas Unverzeihliches getan zu haben. Abends erzählte sie meinem Ziehvater von diesem Malheur, der daraufhin in mein Zimmer kam, mich am Bein packte und kreuz und quer durch den Raum schleuderte. Dabei prallte ich mit der Nasenwand auf die Bettkante. Irgendwie hatte ich unsagbares Glück, so eine Geschichte kann buchstäblich auch ins Auge gehen.

* * * *

1971

Im Herbst 1971 verstarb mein Opa an einem Herzinfarkt. Er wurde in der Leichenhalle aufgebahrt und wir fuhren alle dorthin, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen. Da ich noch klein war, hob mich mein Ziehvater am Kopfende des Sarges hoch und so sah ich direkt in Opas Gesicht. Opa war schwarzhaarig und hatte dunkle Augen. Obwohl ich ihn sehr liebte, war es doch ein erschreckendes Erlebnis, als ich in dieses aschfahle, blasse Gesicht starrte. Ich weinte aus Angst und hatte längere Zeit auch Alpträume. Nun lebten Oma und Ines alleine auf der Hütte. In der dritten Klasse unterrichtete uns ein Lehrer, er nahm jede Situation sehr gelassen. So durfte jeder Schüler einmal während des Unterrichts für ihn an einem nahegelegenen Kiosk Brotzeit und Getränke für die Pause holen. Im Unterricht hatten wir ebenfalls so manche Freiheiten. Seine große Leidenschaft bestand darin, Hymnen und Lieder des Tales zu komponieren. Mittlerweile war ich neun Jahre alt. Eines Abends überkam mich ein sehr starkes Anlehnungsbedürfnis. Ich nahm meine Bettdecke und schmiegte mich an sie, dabei stellte ich mir vor, wie der Nachbarsjunge vom Haus gegenüber mich in die Arme nahm und mit mir kuschelte. In diese Fantasie steigerte ich mich so stark hinein, bis ich ein unglaublich warmes und nicht enden wollendes Gefühl erfahren durfte. Was passierte nur mit mir, war das alles in Ordnung – konnte das schädlich sein? Letztendlich war mir das egal, denn ich hatte jetzt eine „Sache“, die nur mir gehörte, die sehr schön war, und die ich jederzeit erleben konnte. Neben all diesen Turbulenzen lernte ich auch noch andere Familienmitglieder kennen. Meine Urgroßmutter, die Mutter meiner Oma, und ihren zweiten Mann. Sie beide führten ein kleines Café, in dem es auch kleine Imbisse gab und wo sich abends Einheimische zu ihrem Stammtisch trafen. Dort war eigentlich immer etwas geboten. Meine Uroma war genauso lieb, nett und verständnisvoll wie meine Oma. Ihren Mann, den ich liebevoll Opadi nannte, war ein richtig guter Wirt, und für uns hätte er sein letztes Hemd gegeben. Super fand ich, dass die beiden immer Haustiere hielten. Da waren beispielsweise Cherry, die etwas in die Jahre gekommene Dackel-Mischlingshündin, ihre jüngere Schwester David (ich weiß nicht, warum sie einen männlichen Namen trug) und deren Junges Bello.

* * * *

1974

1974 kam ich in die vierte Klasse und hatte eine Lehrerin, der wir es einfach nicht recht machen konnten. Am Anfang des Schuljahres einigten sich Lehrerin und Schüler darauf, dass, wenn wir etwas zum Unterricht beitragen wollten, wir mit zwei Fingern (Zeige- und Mittelfinger) aufzuzeigen hatten. Und mussten wir auf die Toilette, dann nur mit einem. Wir übten gerade das Krippenspiel, da bemerkte ich meine volle Blase und ich meldete mich mit einem Finger. Die Lehrerin sah mich an, grinste hämisch und sah dann wieder in ihr Buch. Ich hielt es nicht länger aus und der Druck verschaffte sich ein Ende. Ein Mitschüler hinter mir verriet mich schadenfroh an die Lehrerin, worauf diese mir zunächst aufgeregt und anschließend belustigt den Spitznahmen „Riesenbaby“ gab. Die ganze Klasse lachte über mich. Der Name blieb bis zum Ende der Volksschule an mir haften. An Ostern schenkte mir meine Mama einen neuen Füller, dieser flog wenig später, geworfen von einer wutschnaubenden Lehrerin, mit voller Wucht an die Tafel und zerbrach in tausend Stücke. Ebenso, wenn wir vorlasen und ich nicht sofort den richtigen Absatz fand – Frl. W. freute sich wahrscheinlich darüber, konnte sie mir doch so auch physisch ihre Überlegenheit zeigen. Sie packte mich am Ohr drehte es herum und zog. Ein warmes Rinnsal lief mir vom Ohr Richtung Hals. Sie hatte mir mein Ohr eingerissen und es fing immer heftiger an zu bluten. Ich nahm ein Papiertaschentuch hielt es daran und folgte dem Unterricht, bis er zu Ende war. Danach ging ich wortlos nach Hause, überlegte mir, wie ich diese Situation daheim erklären sollte. Es war zu meiner Zeit so, wurde die Lehrkraft handgreiflich, suchten die Eltern meistens die Schuld bei den Kindern und bestraften sie dann zu Hause nochmals. Also sagte ich, dass ich an dieser Situation absolut unschuldig war, mich mein Banknachbar störte und ich deshalb den Absatz der Geschichte nicht sofort fand. Meine Mama wurde deutlich stiller und sagte zu mir: „Komm, setz dich ins Auto, wir fahren zu dieser Lehrerin und dann werde ich ihr richtig Bescheid sagen.“ Aber die Frau war nicht anwesend, nur ihre alte Mutter öffnete die Türe und teilte uns mit, dass ihre Tochter nicht zu Hause sei. So fuhren wir wieder nach Hause und die „Sache“ hatte sich damit erledigt. Wenige Tage später, ich spielte in der Wohnküche das Krippenspiel mit Puppen nach, beobachtete ich auf einer Anhöhe einen sehr stark rauchenden Dachstuhl eines Hauses. Mein Ziehvater las gerade in einer Zeitung und ich sagte zu ihm: „Schau mal, ich glaube, da oben das Haus brennt!“ Er sah ebenfalls hinaus, rief meine Mama und beide setzten sich ins Auto und fuhren los, um zu helfen. Wir wohnten in einem Zwei-Familienhaus Parterre und über uns die Wohnung war unbewohnt. Die Familie, deren Haus an diesem Tag abgebrannt war, kam zu uns ins Haus. Es waren sehr nette Leute mit einer kleinen Tochter, die ungefähr fünf Jahre jünger war als ich. Gespielt hatte ich eigentlich so gut wie nie mit ihr, zum einen war sie zu jung und zum anderen verstanden sich die neuen Mitbewohner zu gut mit meinem Ziehvater und meiner Mama. Da passierte es schon mal, dass zwischen der Tochter und mir verglichen wurde, wer denn das bessere Kind war. Sehr oft wurde mir gesagt, dass ich für alle Sachen zu blöd sei, ich sowieso nichts auf die Reihe bringen würde und überhaupt nur auf der Verliererseite stand. Irgendwie zweifelte ich so ganz allmählich an mir selbst und verschloss mich immer mehr. Meinen Spaß hatte ich mit meinen Barbie-Puppen. Ich ging öfter zu meinen Nachbarn, die ein kleines Lebensmittelgeschäft hatten, kaufte mir mit meinem Taschengeld etwas Süßes und ging dann zu Vivian, eines von fünf Kindern, in die angrenzende Wohnung. Vivian spielte auch mit Barbies, hatte also ebenfalls eine kleine Puppenfamilie und so verstrich mancher Nachmittag.

Man sollte wissen, dass sich mein Leben im deutsch-österreichischen Alpenraum abspielte, in dem viel Wert auf gute, alte Traditionen gelegt wurde und alles, was anders oder ungewohnt war, nicht akzeptiert wurde. Die Winter waren so manches Jahr recht kalt und mitunter auch sehr lang. Der Sommer war mir immer die liebere Jahreszeit, die Welt war größer und nicht so eng durch die Schneewände. Die Wärme empfand ich wie einen Segen, bei dem mein ganzer Körper sich wie in Watte gepackt anfühlte. Im Sommer habe ich zudem auch noch Geburtstag und an einem solchen besuchten meine Mama und ich Opadi. Nachdem mir meine Uroma und Opadi gratuliert hatten, sollte ich Bello als Geschenk mit nach Hause nehmen. Mama gab ihren Segen und überglücklich stieg ich nach der Feier mit Bello, so groß wie zwei Hände, auf meinem Schoß ins Auto und los ging es nach Hause. Ich konnte mein Glück kaum fassen, so ein kleiner Freund sollte von nun an bei mir wohnen und ich hatte jemanden, mit dem ich spielen konnte und dem ich meinen ganzen Kummer erzählen würde. Am Abend kam mein Ziehvater von der Arbeit nach Hause und mein Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. „Ihr werdet diesen Bastard so schnell wie möglich wieder dorthin bringen, wo ihr ihn her geholt habt, oder ich werde ihn erschlagen, und dann ist Schluss“, brüllte er. Es war schon ein bisschen spät am Abend, warum wir um eine Nacht Asyl für Bello baten. Zähneknirschend wurde es gewährt. Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, hatte Mama Bello schon zurückgebracht und es machte sich eine hoffnungslose, unfassbare Leere in mir breit.