Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Imke Rosiejka beschreibt im Gespräch mit der jungen Journalistin Nada ihre Heldenreise aus Panikattacken und Depressionen in Gesundheit und inneren Frieden. Sie erläutert an ihrem Beispiel, wie seelische Verletzungen entstehen, oft jahrzehntelang unerkannt wirken können, sich in vielfältigen Symptomen äußern und wie sie gelöst werden können.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
01 Vorwort
– Karin Schmitt –
02 Ein persönliches Wort zu Beginn
– Dieses Buch ist auch für dich –
03 Signale zum Spurwechsel
– Wenn der Körper Alarm schlägt –
04 Familienschocks
– Das Leben der Ahnen und ihr Einfluss auf uns –
05 Dreimal ist Bremer Recht …
– Die ersten Seiten unseres Lebensbuches –
06 Erste Schritte der Vergebung
– Wie Vergebung mit systemischer Arbeit gelingt –
07 Von Kreuzen und Wegen
– Mainstream und blockierte Bremen –
08 Sprich nur ein Wort
– Gottes Wort und wirken –
09 Vom Sollen zum Sein
– Zwei Frauen gehen ihren Weg –
10 Ein persönliches Wort zum Schluss
– Wo ich heute stehe und was ich mir wünsche –
11 Nachwort
- Andreas Winter –
12 Anhang mit Danksagung
Erlaubst du dir dein Leben zu leben? Oder hindern dich die einstigen Vorgaben deines Elternhauses daran, vollkommen frei deinen ureigenen Weg zu gehen? Wie sehr hast du dich angepasst, um in der Gesellschaft dazuzugehören? Inwieweit lebst du, was du dir von Herzen wünschst?
Wenn du diese Fragen ehrlich beantwortest, könntest du ähnlich wie Imke Rosiejka feststellen, dass Spuren deiner Erziehung in dir nachwirken und dich hemmen, hundertprozentig zu leben, wie es dich wahrhaftig glücklich macht. Vielleicht beeinflussen dich die Lebenseinstellungen deiner Eltern aber auch so subtil, dass du dir ihrer nicht einmal bewusst bist. Falls du also beim Lesen dieser Zeilen spürst, dass möglicherweise eigene Lebensansätze in dir schlummern, die sich entfalten möchten, kann ich dir von Herzen empfehlen, gemeinsam mit der Autorin auf eine Reise ins eigene Innere zu gehen.
Imke Rosiejka möchte dir mit diesem Buch Lust und Mut machen, deine Lebensgeschichte genau zu betrachten und sie möchte dich durch ihren persönlichen Weg inspirieren. Denn schnell war ihr klar, dass sie prägende Sätze wie die folgenden nicht als einziges Kind zu hören bekam: »Stell dich nicht so an! – Sei nicht so undankbar! – Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast! – Geh lieber auf Nummer sicher und mach etwas Vernünftiges! – Dir soll es einmal besser gehen als uns!«
Imkes Reise zum Verständnis beginnt mit Angststörungen. Sich medikamentös zu betäuben begreift sie als bloße Symptomunterdrückung. Das ist nicht ihr Weg. Allein die Ursachenerforschung kann eine ganzheitliche Heilung nach sich ziehen. Voller Empathie begibt sie sich auf die Reise zu ihrem Ursprung und taucht in die Geschichte ihrer Familie ein. Dabei stellt sie fest: »Über Generationen hinweg haben sich Schmerz, Schuld-, Scham- und Ohnmachtsgefühle in eine nicht mehr eindeutig zuzuordnende Angst gewandelt. Inzwischen scheint sie fest in unser aller Zellen zu sitzen.«
Auf ihrer Forschungsreise kommt sie zu der Erkenntnis, dass dies sowohl ein kollektives als auch ein generationenübergreifendes Themenfeld ist. Im Aufdecken, Verstehen und Klären dieser Traumata findet sie einen Schlüssel, der ihr die Tür zu einem freien Leben öffnet. Das, was die charismatische Norddeutsche für sich aufarbeitet, ist auch für andere von Relevanz.
In diesem Buch erwartet dich die Geschichte eines sehr intimen Interviews, welches Imke der jungen Journalistin Nada über mehrere Sitzungen hinweg gab. Als Leser dürfen wir dabei sein, wie die langjährige Berufsschullehrerin neben der Aufarbeitung ihrer Geschichte auch einen nüchternen Blick auf das längst überholte Schulsystem wirft oder wie sie als Patientin mit wachem Verstand das bestehende Gesundheitssystem hinterfragt.
Mich persönlich hat es sehr berührt, wie frei und unzensiert Imke uns an ihren Erfahrungen teilhaben lässt. In einer Welt, in der kritische Geister in die »abzulehnende Gruppe der Querdenker« einsortiert werden, braucht es Mut, unbequeme Einsichten öffentlich zu machen. Nicht nur diesen hat Imke, sondern auch die Klarheit, dass alle guten Köpfe stets kreuz und quer gedacht haben, um ganze Gesellschaftssysteme auf das nächste Level der Evolution zu heben.
Ganz gleich, ob du dich schon länger mit der Aufarbeitung deiner Familiengeschichte oder deiner eigenen Themen, die damit verbunden sind, beschäftigst oder ob du damit beginnst, dieses Buch wird dir ein paar Puzzleteile schenken können, mit denen dein Lebenspuzzle sich weiter vervollständigen wird.
Ich wünsche dir als Leser:in viel Freude beim Entdecken deiner individuell hilfreichen Puzzleteile und Genuss beim Eintauchen in die offengelegte Gedankenwelt von Imke Rosiejka. Mögest du dich befürwortend oder daran reibend bereichert fühlen durch diese Lektüre!
Herzlich
Karin Schmitt im Dezember 2023
Wenn ich einen Film über die vergangenen 20 Jahre meines Lebens drehen würde und suchte nach einem Titel, dann würde mir genau der einfallen, den ich für dieses Buch gewählt habe: »Lebenspuzzle«.
Du, als Leserin oder Leser dieser Zeilen (siehe bitte meine Anmerkungen zur Anrede und zum Gendern weiter unten), kennst vielleicht die handelsüblichen Puzzlebilder mit großen und kleinen Teilchen, die mal schnell ihren Platz finden, oder ein anderes Mal tausendfach nicht passen wollen, weil sie anderen Teilen zu ähnlich sind.
Manchmal ist es einfach, die Verbindungen zu entdecken, die sie zu anderen Puzzleteilen haben, manchmal scheinen sie nirgendwo hineinpassen zu wollen.
Mein Leben ist kein handelsübliches Puzzle und doch wollte es gelegt werden.
Die einzelnen Teile wurden nicht in einer Tüte geliefert. Ich hatte keine Vorlage auf einem Karton, die Vorbild fürs Legen hätte sein können.
Das Bild, das entstehen sollte, und alle dazu gehörigen Teile lagen tief in mir verborgen. Sie lagen übereinandergestapelt, wollten nach und nach betrachtet und in das Bild eingefügt werden.
Diese Jahre des Puzzelns waren, und manchmal trifft das auch heute noch auf meinen Weg zu, eine ganz persönliche Heldenreise. Gleichzeitig waren sie eine Reise, die ich stellvertretend für Viele angetreten bin. Vielleicht auch für dich.
Wie ich darauf komme?
Das, was ich auf meiner Reise zu dem Bild, das ich heute von mir habe, entdecken durfte, neu einordnen konnte, manchmal auch erst noch einmal schmerzhaft fühlen musste, ist, so glaube ich, nicht sehr weit von dir entfernt.
Wir kommen aus demselben Weltengefüge, vielleicht in Nuancen anders, aber doch mehr miteinander verbunden, als wir gemeinhin denken. Wir sind alle als wunderbare Geschöpfe in die mit uns verbundene Natur eingebunden und Puzzle-Teile eines großen Ganzen. Wenn hier ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, so heißt es in der Chaostheorie, die sich auf die Unvorhersagbarkeit von Wetterereignissen bezieht, könne das durchaus zu einem großen Sturm auf der anderen Seite der Erdkugel werden. So ähnlich verhält es sich auch mit dem, was wir in die Welt bringen.
Das zeigt sich in allen Zusammenhängen – im großen System der Erde genauso wie im kleinen System unseres Ichs, das aus Körper, Geist und Seele besteht. Kleine Stellschrauben, die ich z.B. körperlich verändere, wirken automatisch auf die anderen Anteile in mir. Mal in positivem Sinne, manchmal auch eher weniger gut für mich.
So unterschiedlich wir auch sind und sein dürfen, sind wir doch in dem, wie wir ticken, was wir uns erhoffen und in dem, was wir fürchten, ähnlicher, als uns das oft vor Augen ist.
Uns eint – davon bin ich überzeugt – die Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden, nur dass wir oft nicht wissen, wo wir sie finden und wie wir sie halten können. Wir sehnen uns danach, glücklich zu sein und wissen oft weder, was uns glücklich machen könnte, noch, wie wir das in unser Leben holen sollen.
Über die letzten Jahrzehnte ist dieses erstrebte Glück immer mehr davon abhängig gemacht worden, wie groß und sicher unser Besitz ist. Wir haben in der Werbung gelernt, dass unser Haus, unser Auto, unser Boot oder Pferd (du kennst die Werbung noch?) etwas über uns aussagt, unseren Wert als Menschen beeinflusst, ja diesen zu bestimmen scheint.
Das entspricht aber ganz und gar nicht unserer Natur, sondern ist von der Wirtschaft initiiert, die den Konsum zur obersten Prämisse erklärt und ohne Kompromisse hochhält, weil sie damit ihr Geld verdient.
Das hat uns in eine Sackgasse geführt.
Wir sind wie Blinde, die sich von anderen Blinden den Weg zeigen lassen wollen, ohne dass wir ahnen, wer die Führungsleine in der Hand hält und unser Rennen organisiert. Zugegeben: Dieses Rennen hat uns, zumindest in der sogenannten ersten Welt, einigen Wohlstand gebracht und scheint als »Haben-müssen« zu unserem täglichen Gebet geworden zu sein. Dabei haben wir allerdings die Schöpfung und diejenigen, die auf der anderen Seite des Glanzes den Preis für unseren Konsumhunger zahlen, aus dem Blick verloren. Die Kluft zwischen Arm und Reich, auch in unserer sogenannten zivilisierten Welt, war noch nie so groß wie heute.
Die Natur ächzt unter unserem Hunger nach mehr Energie und wir sitzen inzwischen unter anderem in dem Dilemma fest, dass der Artenschutz, eine viel zu lange vergessene Seite der ansonsten so viel gepriesenen Diversität, wohl gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien verlieren wird. So sterben laut WWF und anderen Umweltverbänden täglich 150 Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich aus – meist unbemerkt, still und leise.
Klimaschutz bei sich weiter steigerndem Energie-Hunger versus Artenschutz: Verlieren werden diesen Kampf alle, wenn wir so weitermachen. Das werden auch wir merken, wenn wir als »Krone der Schöpfung« auch unseren eigenen Lebensraum verwüstet haben. Ganz weit davon entfernt scheinen wir nicht mehr zu sein: Die Zunahme der sogenannten ›Zivilisationskrankheiten‹ zeugt von ungesunden Lebensbedingungen und spricht in meiner Wahrnehmung Bände. Gerade die vielfältigen chronischen Erkrankungen, die auf chronisch ungesunde Zustände hinweisen, sollten uns als Zeichen wachrütteln.
Ich habe inzwischen eine ungefähre Vorstellung davon, welche Gründe dafür gesorgt haben, dass wir in diese Sackgasse geraten sind: Der Leitspruch meiner und sicher auch deiner Eltern war immer, dass es uns Kindern einmal besser gehen solle als ihnen. Das ist kein Vorwurf in ihre Richtung, denn sie haben selbst als Kinder Krieg, Hunger, Angst und Mangel erlebt. Dass es uns nicht so ergehen sollte, war ihr verständlicher Wunsch.
Dieses Streben nach dem besseren Leben hat aber einen hohen Preis: Das beständige ›höher, schneller, weiter‹ hat zu einem gnadenlosen Kampf um Macht, Ressourcen und Marktanteile geführt, in dem es den entsprechenden Branchen nicht mehr darum zu gehen scheint, Leben zu erhalten und lebenswerter zu gestalten, sondern darum, eine scheinbare Sicherheit zu verkaufen und eigene Marktvorteile durchzusetzen. Für jede Entscheidung in diese Richtung bezahlen wir den Preis, uns noch weiter von der Natur, auch von unserer eigenen, zu entfernen.
Das Leben rast an uns vorbei und die technische Abhängigkeit – heute geht ja fast nichts mehr ohne Apps und Daten-Chips – wird immer unüberschaubarer. Außer für die, die mit unseren Daten ihren Profit generieren, weil sie uns noch besser auslesen und steuern können.
Die tief in uns angelegten Sehnsüchte nach Sicherheit, Frieden, Glück und Gesundheit, die die Marktschreier dieser Welt zu (er-)lösen versprechen, entspringen zu einem großen Teil der Geschichte unserer Vorfahren. Und dort, an den Wurzeln, in unserer gemeinsamen Vergangenheit, können wir, so meine Erfahrung, auch die wahre Erlösung finden. Die Lösung unserer ganz persönlichen und damit am Ende auch unserer gesellschaftlichen Probleme, die auf dem Fundament unserer unerfüllten Sehnsüchte aufgebaut sind.
Ich sehe diese Zusammenhänge heute deutlicher denn je und lade dich ein, unserer Verbindung nachzuspüren, während ich dich auf meine ganz persönliche Reise mitnehme. Es ist eine Reise, die bereits weit vor meiner Geburt begonnen hat und hoffentlich noch eine gute und lange Zeit dauern wird.
Einige generelle Anmerkungen seien hier erlaubt:
• Ich verzichte in diesem, wie in meinen anderen Büchern und auf meiner Homepage auf das »Sie« als Ansprache. Du erfährst hier so viel Persönliches über mich und mein Leben, dass mir das förmliche »Sie« nicht über die Lippen, bzw. aus der Tastatur kommen mag. Das Duzen ist also keine Form von Respektlosigkeit.
• Was du in diesem Buch zu lesen bekommst, entspringt meiner persönlichen Sichtweise auf die Dinge, die mich umgeben, einschließlich der von mir gewählten Heil- und Behandlungsmethoden. Es wird einige Parallelen zu dir und deinem Leben geben, aber sicher auch Sequenzen und / oder Ansichten, die bei dir Widerstand hervorrufen. Das darf so sein, denn nur so – über Widerstand – bewegt sich etwas. Das war bei mir nicht anders und es hat, das kannst du mit glauben, ordentlich an meiner Komfortzone geruckelt. Dabei ist nicht entscheidend, in welche Richtung die Bewegung geht, sondern nur, dass sie bewusst und eigenverantwortlich sattfindet. Gern darfst du mir über meine Homepage (Kontakt – Imke Rosiejka (imke-rosiejka.de)) deine Ergänzungen und Anregungen mitteilen. Ich freue mich natürlich auch über jede Bestätigung meines Denkens.
• Wie in allen Büchern von mir sei hier der Hinweis erlaubt, dass es ausschließlich in deiner Verantwortung liegt, wie du mit meinen Impulsen umgehst. Grundsätzlich empfehle ich dir aber, dir jemanden an die Seite zu holen, der dich auf diesem Weg begleiten kann, solltest du merken, dass dich deine eigene Geschichte tief bewegt oder erschüttert.
• Ich verzichte in meinen Ausführungen ganz bewusst auf das sogenannte Gendern. Diese, alle sprachliche und menschliche Weichheit torpedierende Schreib- und Sprechweise entspricht nicht meiner Sicht auf ein entspanntes und gleichberechtigtes Miteinander. Diese gekünstelten Sprachpausen, die zeigen sollen, wie tolerant ich doch bin, haben in meiner Wahrnehmung nichts mit wirklicher Akzeptanz zu tun: Das zeigen die nach wie vor vielfältigen und zahlreichen Übergriffe auf die hier gemeinten Mitmenschen überdeutlich. Du wirst also so etwas wie Schüler*innen, SchülerInnen oder Schüler_innen bei mir nicht zu lesen bekommen. Wenn ich von Schülern, Lehrern, Bäckern, Lesern etc. spreche, meine ich alle Menschen gleichermaßen, egal welcher sexuellen oder sonstigen Orientierung sie sich zurechnen.
Nun aber zu meiner Heldenreise: Lass dich mitnehmen auf eine Reise zum inneren Frieden.
Von Herz zu Herz Imke
Ich erwachte mit einem Ruck!
Mitten aus dem Schlaf, so schien es mir, ein bisschen schwindelig und mit einer Stimme im Ohr, die mir zuflüsterte, ich solle mich beeilen. Wo war ich gerade gewesen? Die Bilder des Traumes verblassten so schnell, dass es kaum möglich war, sie festzuhalten.
Ja, ich sollte mich beeilen, dachte ich, ohne wirklich zu wissen, warum eigentlich. Ich konnte mich so schnell nicht einmal daran erinnern, was für ein Tag heute war …
In dem Gefühl, keine Zeit für langes Grübeln zu haben, stand ich auf und schüttelte die Arme und Beine durch, in der Hoffnung, dass ich damit auch die Schwere abschütteln würde, die mich gerade gefangenzuhalten schien. Auf dem Weg ins Bad erinnerte ich mich schließlich, warum ich diese Schwere fühlte. Dieses Gefühl kam immer mal wieder zu Besuch, gerade, wenn entscheidende Punkte in meinem Leben erreicht waren. Heute war ein solcher Tag, denn heute wollte die junge Reporterin, die ich vor einigen Wochen kennengelernt hatte, ihren Artikel schicken. Dieser sollte für mich zum Startschuss werden. So hoffte ich zumindest.
Wie immer, wenn ich mit dieser Schwere aus dem Schlaf kam, wollte ich erst einmal in die Natur: durchatmen und mich mit Fotografieren erden. Ich hatte noch Zeit genug und so fuhr ich an einen meiner Lieblingsorte und wartete, leise vor mich hin summend, auf den geeigneten Augenblick.
Der Morgen dämmerte und der Himmel zeigte sich – wie erwartet – in leuchtenden Farben.
Als ich vom Fotografieren nach Hause kam, kochte ich mir einen Holundertee und lud die neuen Aufnahmen hoch. Die Fotos waren wundervoll. Sooft ich die aufgehende Sonne auch schon fotografiert hatte, ich konnte mich einfach nicht daran sattsehen. Ein Freund hatte mich vor dieser Sucht gewarnt: »Du wirst nicht aufhören können, immer noch ein besseres Foto schießen zu wollen!«, hatte er mir grinsend versprochen. Er musste es ja wissen, denn er war selbst Naturfotograf und immer mit der Kamera unterwegs. Als ich ihm anvertraute, dass ich gerne irgendetwas mit den Fotos machen wolle, sah er mich lächelnd an, als hätte er das schon lange gewusst.
Warum kannten andere mich scheinbar so viel besser als ich mich selbst?
Schon so manches Mal hatte ich mich darüber gewundert und war mir oft, auch nach der langen und intensiven Suche nach der, die ich wirklich war, wie eine Fremde vorgekommen. Wie ein Buch mit sieben Siegeln, wie ein Puzzlebild, bei dem noch ein paar entscheidende Teile fehlten, um das Bild in ganzer Schönheit zu zeigen.
Das Summen meines Laptops zeigte die Ankunft der erwarteten Nachricht.
Ich bekam eine Gänsehaut.
Im Anhang fand sich der Entwurf des Artikels, damit ich ihn korrigieren konnte, bevor er an den Herausgeber geschickt werden sollte. Ich las die Schlagzeile und die Gänsehaut weitete sich aus. »Lebenspuzzle – Wie ein neues Bild vom Leben entsteht« las ich in großen Lettern.
Und daneben ein Foto von mir.
Nachdem ich den Artikel überflogen und meine erste Neugier befriedigt hatte, stand ich auf, kochte mir noch einen Tee und setzte mich auf die Terrasse. Ich war erfüllt und dankbar von der Sorgfalt und Achtsamkeit, mit der meine Geschichte im Artikel umrissen war. Ich beschloss, mich im Laufe des Nachmittags an die Korrektur zu machen und ließ den Blick über den kleinen Gartenabschnitt schweifen, in dem mein Mann die neuen Beete angelegt hatte. Bohnen, Karotten und Zucchini würde es einige zu ernten geben. Der Versuch, etwas autarker zu werden und uns mehr mit eigenem Gemüse zu ernähren, schien Früchte zu tragen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Lächelnd sah ich einem Kohlweißling zu, wie er die Kohlrabiblätter umschwirrte, um dort seine Eier zu legen.
Ich schaute auf das emsige Treiben und hoffte, die Raupen würden nicht wieder alle von den Wespen gefressen werden, wie es in diesem Frühjahr passiert war. Ich wollte, so wie im letzten Jahr, das Aufwachsen der Raupen mit dem Fotoapparat begleiten. Vielleicht hatte ich ja das Glück, eine von ihnen nach der Wandlung beim Schlupf aus dem Kokon fotografieren zu können.
Unser Garten war im Laufe der Jahre zu einem kleinen Natur-Paradies geworden. Nicht nur für Insekten, sondern zum Beispiel auch für die unterschiedlichsten Vogelarten. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihrem bunten Treiben. Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, wie eines der vielen Tiere, die ich so sehr mochte, zu sein. Sie waren einfach, wie sie waren. Lebten das, was in ihnen angelegt war.
Ich dagegen hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Erwartungen, denen ich mich ausgesetzt glaubte, überhaupt nicht zu meinem Federkleid passen wollten.
Andreas Winter, Diplompädagoge, Buchautor und einer meiner Coaches, hatte mir dazu ein passendes Bild geschenkt: Ich sei wie ein Kanarienvogel, der an einem Froschteich aufgewachsen war und nun verzweifelt versuchte zu quaken. Auf den erstaunten Gesichtsausdruck, den ich daraufhin machte, meinte er: »Nein, nein, nicht die ›blöden Frösche‹ da unten und du der arme Kanarienvogel mitten unter ihnen. Du bist einfach am falschen Teich geboren, versuchst zu quaken und dich selbst grün anzumalen, um ihnen zu entsprechen. Imke, beides funktioniert nicht! Du musst dir deinen passenden Schwarm suchen!«
Als ich damals diesen Vergleich hörte, waren mir die Tränen gekommen. Ich fühlte, dass er Recht hatte und war sonderbar getröstet, weil ich plötzlich so viel mehr verstand. Es ging nicht darum, mich nicht zu meiner Familie dazugehörig zu fühlen. Es ging darum, zu verstehen, dass wir in unserer Unterschiedlichkeit vollkommen in Ordnung und gleichberechtigt waren. Und dass ich meinen Frieden nicht finden würde, indem ich mich an etwas anpasste, das meiner wahren Natur einfach nicht entsprach.
Das hatte ich als Kind anders interpretiert und als Hinweis verstanden, mich anpassen zu müssen. Immer bemüht darum, zu quaken, obwohl meine Stimme ein anderes Lied anstimmen wollte.
…
Ich schüttelte die Gedanken ab. Stattdessen sann ich darüber nach, was sich in den letzten Wochen ereignet und jetzt zu dem Artikel über mich und meine Heldenreise geführt hatte.
Vor meinem inneren Auge liefen die Ereignisse ab wie in einem Film. Wie verrückt das doch alles gelaufen war!
Ich hatte nach meiner Anfrage bei der örtlichen Presse – ich wollte gern meine Geschichte erzählen – eine Einladung zu einer Vernissage eines bekannten ortsansässigen Fotografen bekommen. Die für mein Anliegen zuständige junge Journalistin hatte mir die Einladung zukommen lassen, damit wir uns dort treffen und ein erstes Gespräch führen könnten.
Ich machte mir schon ein wenig Sorgen, ob meine Geschichte überhaupt Anreiz genug für die junge Frau bieten würde, um ein weiteres Gespräch reizvoll zu finden. Die Vernissage selbst hatte sich dann bereits als echtes Geschenk erwiesen, denn ich stellte fest, dass die Bilder, die dort zu sehen waren, durchaus auch von mir hätten sein können. Ich selbst hatte meine Fotografien immer als Werk einer Amateurin betrachtet, die mit studierten Künstlern bestimmt nicht mithalten konnte. »Schon ganz schön, aber noch viel Luft nach oben!«, lautete das beständige Meckern meines inneren Kritikers. Mit Blick auf die Bilder der Ausstellung beschloss ich, meine eigenen Fotografien nie mehr selbst klein zu reden. Sie waren gut – richtig gut. Und das erfüllte mich mit einer kribbelnden Freude, die mich innerlich wachsen ließ.
Ein Teil dieser Freude sackte weg, als ich die Journalistin sah. Mein Mut schien von mir zu weichen und fast hätte ich mich umgedreht und die Ausstellung verlassen. Ich blieb selbstverständlich, ging ihr scheinbar selbstsicher entgegen.
Die Reporterin – sie hieß Nadeschda – und ich fanden in einer Ecke der Ausstellung zu einem kurzen Gespräch zusammen. Ich deutete ihr an, dass ich der festen Überzeugung war, dass die nicht verarbeiteten Erlebnisse meiner Großeltern und Eltern, aber auch die Umstände während der Schwangerschaft und meine schwere Geburt einen großen Einfluss auf mein Leben genommen hatten, ohne dass ich das lange hatte zuordnen können. Dass ich diese Zusammenhänge auf meiner Reise entdeckt hätte und der Überzeugung war, anderen damit helfen zu können, ihre eigene Geschichte zu verstehen und krankmachende Muster, die sich aus solchen Traumatisierungen entwickeln könnten, aufzulösen.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich erwartet, nichts mehr von Nadeschda zu hören, weil sie meine Geschichte vielleicht zu weit hergeholt finden würde, wie einige der wenigen, denen ich davon bisher erzählt hatte. Diese Bedenken hatten sich schließlich als vollkommen unbegründet erwiesen, denn 14 Tage nach dem Treffen rief sie mich an und fragte, ob ich noch für ein Gespräch zur Verfügung stände. So hatten wir uns bei mir zu Hause verabredet.
Was würde Nadeschda fragen? Wie würde sie darauf reagieren, dass ich nicht mit statistischen Fakten aufwarten, sondern nur mein Bauchgefühl als Beweis anführen konnte?
Darf eine Journalistin so etwas dann eigentlich veröffentlichen? War das nicht gegen die Berufsehre? Quasi ganz nah an Fake-News? Wieder war da dieses Gefühl, mich erklären und rechtfertigen zu müssen, wieder die Sorge, dass ich für eine Spinnerin gehalten würde, weil ich nicht beweisen konnte, was ich tief in meinem Inneren sicher wusste.
Als es, zehn Minuten vor der verabredeten Zeit, an der Tür klingelte, lächelte ich.
›Wie ich! Superpünktlich‹, dachte ich und ging zur Haustür.
Nadeschda stand dort, mit Taschen behängt, und lächelte unsicher.
›Hey‹, dachte ich, ›wer war denn wohl nervöser? Sie oder ich?‹
»Schön, dass Sie da sind!«, sagte ich und half der jungen Journalistin aus der Jacke. »Haben Sie gut hergefunden?«
»Ist es okay, wenn wir uns duzen?«, fragte diese statt einer Antwort. »Ich finde, wir sollten es nicht schwieriger machen als nötig!«
»Ja, gut, einverstanden«, entgegnete ich, weil mir ein ›du‹ zur rechten Zeit ebenfalls lieb war.
»Ich bin Imke!«
»Nadeschda!«, sagte die Journalistin, »aber alle nennen mich Nada, weil es kürzer und nicht ganz so sperrig ist!«, lachte sie. Nach kurzer Pause fügte sie an: »Dein Name ist für diese Region aber sehr ungewöhnlich. Wo kommt er her?«
»Stimmt«, sagte ich, »es gibt nicht viele Imkes hier. Der Name kommt eher aus dem hohen Norden. Unsere Familie könnte, wenn es nur um die Vornamen ginge, tatsächlich das Dorf Bullerbü von Astrid Lindgren wieder mit Leben füllen.«
Nada lächelte. Offensichtlich kannte sie das Kinderbuch, was mich fast ein bisschen erstaunte. Sie war, wenn ich das richtig einschätzte, Ende zwanzig. Ich dachte nicht, dass diese Generation Kinderbücher kannte, die ich schon gelesen hatte.
»Ich habe die Geschichten von Astrid Lindgren als Kind geliebt«, sagte Nada, als hätte sie meine Gedanken erraten. Und so lächelten wir beide in Erinnerung an die Abenteuer der Kinder von Bullerbü.
»Komm«, sagte ich, »lass uns in die Bibliothek gehen. Ich habe uns einen Tee gemacht. Holunder ist hoffentlich in Ordnung?«
»Wunderbar!«
Nada lächelte noch immer, sammelte ihre Utensilien ein und folgte mir durch den bunt gestrichenen Flur.
»Schön hast du es hier!«, sagte sie, als sie sich gesetzt hatte.
Ihr Blick blieb an den Bücherregalen hängen. »Ein paar der Bücher kenne ich auch!«, sagte sie in Richtung Flur, aus dem ich gerade kam, weil ich den Tee aus der Küche geholt hatte.