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Im Inselkönigreich Askja herrschen ewiges Eis und ein fragiler Frieden zwischen den machthungrigen Menschen und den skrupellosen Magiewesen. Als die Eisdämonin Frin dem Prinzen Leif mit ihrem Kuss den Kältetod bringen will, zögert sie einen Atemzug zu lang und gerät stattdessen in seine Gefangenschaft. Leifs Vater sandte ihn aus, um ihm die magischen Wesen des Reiches zu bringen. Ein dunkles Ritual soll die Magie endgültig von Askja vertreiben und die ungeteilte Herrschaft der Menschen sichern. In den düsteren Kerkergewölben kommen sich Frin und Leif näher und merken, dass die Eisdämonin mehr mit dem Königssohn verbindet, als die beiden für möglich gehalten hätten …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
A land of ice, a kiss of death, and a battle between magic and mankind
Im Inselkönigreich Askja herrschen ewiges Eis und ein fragiler Frieden zwischen den machthungrigen Menschen und den skrupellosen Magiewesen.
Als die Eisdämonin Frin dem Prinzen Leif mit ihrem Kuss den Kältetod bringen will, zögert sie einen Atemzug zu lang und gerät stattdessen in seine Gefangenschaft. Leifs Vater sandte ihn aus, um ihm die magischen Wesen des Reiches zu bringen. Ein dunkles Ritual soll die Magie endgültig von Askja vertreiben und die ungeteilte Herrschaft der Menschen sichern. In den düsteren Kerkergewölben kommen sich Frin und Leif näher und merken, dass die Eisdämonin mehr mit dem Königssohn verbindet, als die beiden für möglich gehalten hätten …
Für alle, die den Winter lieben, und auch für die, die ihn am liebsten lesend am Kamin genießen. Dieses Buch ist für euch.
Frin
Der Winter ist die einzige Jahreszeit, die das Königreich Askja kennt, und im Firnisgebirge ist er tiefer und grausamer als irgendwo sonst.
Auch die tapfer züngelnden Flammen vor uns können nichts daran ändern. Das feuchte Holz knackt und stöhnt, als würde es ihm widerstreben, in dieser Umgebung zu brennen. Der warme Schein der Flammen kämpft gegen die dunkle Winternacht an, trägt jedoch kaum etwas dazu bei, den Unterschlupf zu erwärmen. Eis glitzert an den Höhlenwänden, das im flackernden Licht meine Silhouette als schwarzen Schemen spiegelt.
»Was sie wohl hier zu suchen hat?«, frage ich leise.
Meine beste Freundin Solvig hebt eine ihrer schwarzen geschwungenen Augenbrauen, während wir die schlafende Frau am Feuer betrachten, deren Körper von einem stetigen Zittern geschüttelt wird. Sie hat sich in zahlreiche Decken gehüllt, dennoch sind ihre Lippen beinahe so blau wie die Polarlichter, die vor der Höhle über den Himmel zucken.
»Die Jagd, wie immer«, erwidert Solvig schließlich auf meine Frage und macht eine Handbewegung in Richtung der Armbrust, die an der Höhlenwand lehnt. Daneben liegen zahlreiche helle Tierfelle, hauptsächlich von Kaninchen und Schneefüchsen. Obwohl ich nur wenig Erfahrung mit askischen Jägern habe, vermute ich, dass diese Ausbeute nicht ausreicht und die Frau sich auf der Suche nach Karibus oder Elchen immer weiter ins Firnisgebirge vorgewagt hat. Ohne Erfolg.
Beinahe bedauernd schüttle ich den Kopf.
»Wofür benötigen sie die Felle überhaupt?«, will ich wissen.
Jedes Jahr spüren wir Hunderte Jäger im Gebirge auf, doch es gibt sicher weitere, die es erfolgreich verlassen, ohne von uns behelligt zu werden. Bei der Ausbeute, die jeder von ihnen mitnehmen dürfte, könnte sich bereits die gesamte askische Bevölkerung mehrfach in Karibufelle kleiden. Wieso brauchen sie mehr? Warum gehen die Menschen das Risiko ein, hierherzukommen, wenn es ihnen doch in so vielen Fällen zum Verhängnis wird?
»Spielt es eine Rolle?«, fragt Solvig zurück.
Kurz betrachte ich die Frau. Angesichts ihres zitternden Körpers verspüre ich kein Mitgefühl, sondern schlicht Verwirrung. Mit dem Betreten des Firnisgebirges hat sie ihr Leben geradezu weggeworfen, und doch ist ihr Verlust unser Gewinn.
Schließlich schüttle ich den Kopf.
»Ich übernehme das Feuer, du kümmerst dich um sie«, schlage ich vor.
Ein zustimmendes Lächeln breitet sich auf Solvigs Gesicht aus, während sie sich langsam auf die Frau zubewegt.
Ich dagegen konzentriere mich auf die Flammen, deren schwaches Züngeln leicht zu löschen sein wird. Ein Gedanke genügt, um eine leichte Brise zu rufen, die den umliegenden Schnee in das Brennmaterial hineinweht. Das Feuer zischt, kämpft ein letztes Mal gegen die Kälte an, bevor es erstirbt und die Höhle dunkel zurücklässt.
Solvig beugt sich derweil zu der schlafenden Frau hinunter. Gerade als sie eine Hand sanft an deren Wange legen will, heult irgendwo außerhalb der Höhle ein Wolf.
Kein ungewöhnliches Geräusch im Firnisgebirge, aber es reicht, um die Frau zu wecken.
»Der Zauber!«, ermahne ich Solvig, als die Frau die Augen aufschlägt.
Meine beste Freundin versteift sich augenblicklich, und ich fühle, wie sie ihre Magie webt. Doch sie ist nicht schnell genug. Der Jägerin entfährt ein Schrei, als sie Solvig erblickt.
»Nein!«, ruft sie aus, während Solvig weiter fieberhaft an ihrem Zauber arbeitet.
Die Frau zieht ein Messer und sticht damit nach Solvig, die sich nicht rührt. Dank unserer Magie können wir unsere Substanz verändern und körperlos werden. Wir mögen zwar fast menschlich aussehen, sind es aber nicht. So fährt das Messer direkt durch Solvigs Gestalt hindurch, ohne Schaden anzurichten. Die Jägerin wimmert, als ihr bewusst wird, dass sie uns mit ihrer Waffe nichts entgegenzusetzen hat. Doch die Erkenntnis hält sie nicht davon ab, erneut auszuholen, in der verzweifelten Hoffnung, sich noch retten zu können.
Ich habe genug von diesem Schauspiel. Ich wollte Solvig die Übungsmöglichkeit geben, sie selbst in ihren Bann zu ziehen, doch die Frau länger leiden zu lassen, wäre grausam. Wir Eisdämoninnen spielen nicht mit unserem Essen.
»Ruhig«, befehle ich und lasse meine Magie durch den Raum schwingen.
Binnen eines Sekundenbruchteils habe ich die Jägerin eingelullt. Sofort lässt sie das Messer fallen und schaut wie in Trance zu mir. Das Zittern, das ihren Körper befallen hat, verebbt, und sie entspannt sich merklich, während sich ein Lächeln auf ihre Lippen schleicht. Ihre Augen werden groß, fast glücklich.
Sie kommt mir langsam entgegen und hebt den Kopf, um den Blickkontakt zu mir aufrechtzuerhalten. Der Sog, den ich auf sie ausübe, ist unbestreitbar, und ich bin dankbar für meine starke Magie, die ihre Wirkung noch nie verfehlt hat. Auch umgekehrt spüre ich die Verlockung, die sie für mich darstellt. Das pulsierende Leben, das trotz der Entbehrungen der letzten Tage von ihr ausstrahlt, die Kraft ihrer Seele, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Angesichts ihrer Lebensenergie lecke ich mir hungrig mit der Zunge über meine Lippen, eine Bewegung, die sie sehnsüchtig verfolgt. Vorsichtig lehne ich mich vor, während sich die Jägerin mir entgegenreckt, als mich eine Bewegung aus dem Augenwinkel ablenkt.
Blinzelnd weiche ich zurück, wobei die Frau erneut wimmert. Diesmal allerdings nicht voller Entsetzen, sondern voller Verlangen, das sich in Solvigs Augen spiegelt. Die kaum merkliche Gewichtsverlagerung meiner besten Freundin hat mich aus meinem Rausch gerissen. Schuldgefühle steigen in mir auf, weil ich Solvig beinahe vergessen habe. Ihr graues Haar und die Art, wie sie die Fingerknöchel leidend zu Fäusten ballt, machen mir bewusst, dass sie diese Mahlzeit dringender nötig hat als ich. Der Hunger in meinem Inneren protestiert, aber ich kämpfe ihn entschlossen nieder. Ich kann warten.
»Nimm du sie«, weise ich meine Freundin an, die überrascht blinzelt und dann heftig den Kopf schüttelt.
»Du hast sie verzaubert«, widerspricht sie. »Ich hatte meinen Versuch und habe versagt. Ihr Leben steht dir zu.«
Vor einigen Jahren hätte mich nichts von meiner wohlverdienten Beute fernhalten können, aber ich sehe die Zeichen: die ungewöhnliche Blässe in Solvigs schwarzen Augen, das Weiß in ihrem Haar, ihr zerrissenes Kleid. Ich bin nicht bereit, ihre Existenz zu riskieren, weil mir der Etikette nach die Beute zusteht.
Wortlos schüttle ich den Kopf, trete zurück und ändere im Geiste meinen Zauber. Augenblicklich wendet die Jägerin den Blick von mir zu Solvig.
»Bitte«, murmelt die Frau, als sie auf Solvig zutritt und die Hand nach ihr ausstreckt.
Meine beste Freundin kann nicht länger widerstehen und erfüllt ihr diesen letzten, sehnlichsten Wunsch, indem sie ihre Lippen auf die der Frau drückt. Die Jägerin stöhnt entrückt, während ihre Lebenskraft aus ihr hinausfließt und die Eisdämonin mit neuer Stärke füllt. Solvigs Strähnen färben sich wieder dunkler, ihre Körperhaltung wird kraftvoller, und die Risse in ihrem Kleid verschwinden. Es dauert nur einen Augenblick, bis die Jägerin leblos zu Boden fällt und meine beste Freundin mich anblickt.
»Danke«, meint sie, und ich kann sehen, wie die Schuldgefühle und die Ekstase angesichts der neuen Kraft in ihr ringen.
Ich lächle leicht und versuche, meinen eigenen Hunger zu ignorieren. Ein letztes Mal lasse ich den Blick über das Lager unseres heutigen Opfers schweifen.
»Wir sollten los«, sage ich dann. »Fjora wartet schon auf uns.«
Solvig nickt, während ich mich in eine Schneeflocke für den langen Flug verwandle. Kurz bevor sie es mir gleichtut, entdecke ich etwas, was mein Herz mit neuer Angst füllt: Trotz der Seele, die sie soeben gestohlen hat, ziehen sich noch immer graue Strähnen durch ihr schwarzes Haar.
Frin
Ich frage mich, was die Menschen sehen, wenn wir uns zur Melodie des Winters wiegen. Wenn wir seine Schönheit in unseren Schritten einfangen. Was wir für sie darstellen, während wir über das Eis und den Schnee gleiten. Ob wir tatsächlich so unwiderstehlich sind, wie sie es sich erzählen, oder ob es unsere Magie ist, die sie in einen Bann zieht. Die sie ins Verderben stürzt.
Heute Nacht haben wir Eisdämoninnen keine Zuschauer, die unseren Tanz beobachten. Es gibt nur uns und die Dunkelheit, die Kälte und das Eis. Nur den Winter, dem wir mit jeder eleganten Bewegung und jedem Seufzen huldigen.
Die Wintersonnenwende ist ein Fest wie kein anderes, und selbst meine Magie kann nicht verhindern, dass meine Füße von den Stunden des Herumwirbelns wund werden. Dass meine Stimme rau wird vom Einstimmen in die wortlosen Gesänge, deren sehnsuchtsvolle Rufe meine Heimat erfüllen. In diesem Augenblick fühle ich mich wie eine Schneeflocke im Wind. Ich bin Teil einer unaufhaltsamen Naturgewalt. Meine Schwestern und ich sind eins, ich kann mich in ihrer Mitte völlig fallen lassen, denn der Rhythmus unserer Schritte auf dem Eis fängt mich auf.
Morgen werden die Menschen von unserer Feier nur die Spuren im Schnee und die kleinen Brüche im Eis finden. Sie werden vor Furcht erstarren und die Warnung, uns fernzubleiben, durch ganz Askja tragen. Aber es ist unmöglich, uns zu entkommen.
»Ich kann nicht mehr!«, unterbricht Solvig ihren Tanz und zieht mich mit sich aus dem Kreis, um am Rand der Feier Atem zu schöpfen.
»Und wieso muss ich dann ebenfalls aufhören?«, beschwere ich mich.
Sie grinst so breit, dass ihre schwarzen Lippen beinahe bis zu ihren Ohren reichen.
»Weil du meine beste Freundin bist, natürlich«, entgegnet sie und pustet etwas Schneestaub nach mir, den sie aus der Luft geklaubt hat. »Du bist dazu verpflichtet.«
Ich verdrehe die Augen und lasse mit einer lässigen Handbewegung Eis an ihren Beinen hochwachsen, um sie zu ärgern.
Ich liebe die Wintersonnenwende, die einzige Nacht im Jahr, in der wir uns alle vor dem Fjoraberg versammeln, statt auf die Jagd zu gehen oder allein durch das Firnisgebirge zu wandern. Ich will diese Gemeinschaft genießen, solange sie anhält …
»Gib es zu, du brauchtest auch eine Pause«, verlangt Solvig. Mit einem Zauber löst sie sich aus meinen Eisfesseln und lässt sich dann auf den Boden fallen. Die feine Schicht aus Schnee, die auf dem Eis liegt, wird aufgewirbelt, sodass der entstehende Nebel sie noch mystischer aussehen lässt.
Sehnsüchtig blicke ich zu meinen tanzenden Schwestern. Die mystischen Schattenspiele, die die blau-grünen Polarlichter über uns erzeugen, und der Sog ihrer Bewegungen erschaffen eine Atmosphäre, der ich mich kaum entziehen kann. Aber Solvig hat recht, denn trotz des Eises, das durch meine Adern fließt, sind meine Wangen ungewöhnlich warm, und mein Atem geht heftig. Die Muskeln in meinen Beinen protestieren, also schließe ich mich ihrer Pause an und lege mich neben sie.
Kühl schmiegt sich das Eis an meine Haut, und ein kalter Wind lässt mich lächeln. Die grünen Schlieren, die sich über den Himmel ziehen, sehen aus, als würden sie mit uns feiern. Die Nacht und die Begeisterung, die vom Tanz in mir nachhallt, lassen mich alle Sorgen vergessen. Ich bin eine Eisdämonin in einem Reich, das schon immer dem Winter gehört hat. Hier, wo sich meine Magie mit der Umgebung vereint, sind wir unantastbar.
»Die Königin ist auf dem Weg zu uns«, informiert Solvig mich und reißt mich damit aus der Unbekümmertheit.
Es ist, als würde ich aus einem Traum aufwachen. Die Erwähnung der Königin bringt mich in die Realität zurück, erinnert mich an all unsere Sorgen und Probleme. An die Bedrohung unserer Existenz.
Abrupt erhebe ich mich und vollführe mit einer fließenden Bewegung einen Knicks, als ich Königin Fjora in unserer unmittelbaren Nähe entdecke. Das helle Haar unserer Anführerin, das sich von den schwarzen Schöpfen der anderen Eisdämoninnen abhebt, fliegt im Wind. Ihre weißen Mundwinkel heben sich kaum merklich, und obwohl sie lächelt, spüre ich die Melancholie, die von ihr ausgeht. Wir anderen Eisdämoninnen können uns im Tanz der Wintersonnenwende verlieren, unserer Königin ist dies nicht vergönnt. Wie könnte sie, die für uns alle verantwortlich ist, die Gefahr jemals vergessen, die uns bedroht?
»Solvig, Frin«, begrüßt sie uns beide, »seid ihr schon müde?«
Synchron schütteln wir die Köpfe. Als Königin und Quelle unserer Magie sowie unserer Existenz ist es ihre Aufgabe, nach uns zu sehen. Doch gerade heute wünsche ich mir, sie würde diese nicht so ernst nehmen. Ich will ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten …
»Wir machen eine kleine Pause, Eure Hoheit«, antwortet Solvig noch immer leicht außer Atem.
Das Lächeln unserer Königin wird breiter, scheinbar wollte sie sich tatsächlich nur vergewissern, ob es uns gut geht. Zufrieden neigt sie den Kopf und will sich abwenden, da bleibt ihr Blick an mir hängen, und sie stockt.
Bei den Eisgöttern, ich habe gehofft, sie würde nichts bemerken. Aber dem aufmerksamen Blick unserer Herrscherin entgeht kaum etwas. Die altbekannte Sorge schleicht sich in ihren Blick zurück, und sie tritt näher an mich heran. Sanft nimmt sie mein Haar in die Hand, das sich für gewöhnlich nachtschwarz vom Schnee abhebt. Doch heute ist es durchwirkt von grauen Strähnen, die ich nicht vollständig verstecken konnte. Sie sind weniger ausgeprägt als jene in Solvigs Haar, die trotz unserer erfolgreichen Jagd gestern nicht zu übersehen sind. Neben unserem fehlenden Durchhaltevermögen auf der Tanzfläche sind sie ein weiteres untrügliches Zeichen des Hungers.
»Du wirst schwächer«, stellt sie betroffen fest. »Hast du dich nicht genährt?«
Resigniert lasse ich den Kopf hängen. Wir stehen uns nahe, da sie mich seit Beginn meiner Existenz als Eisdämonin kennt und ich ihr alles erzählen kann. Dennoch fällt es mir schwer, meinen Hunger vor ihr einzugestehen.
»Mein letztes Mahl ist schon zwei Wochen her«, gestehe ich, woraufhin sie entsetzt die Augen aufreißt.
»Frin …«
Ihre Stimme klingt streng, was meine Scham nur verstärkt.
Bei Solvig und den anderen Eisdämoninnen gehört das Grau in den Haaren längst dazu, dennoch gilt Fjoras Sorge im Moment bloß mir. Ich bin unsere beste Jägerin, wie ich gestern erneut bewiesen habe. Mir können selbst die willensstärksten Menschen selten widerstehen …
Doch Solvig war so kurz davor, zu schwinden, dass ich ihr nicht nur gestern die Frau, sondern auch die restliche Beute der letzten Wochen überlassen habe. Eine Entscheidung, die meine Königin nicht gutheißen wird, bedeutet diese doch immerhin, dass sie uns womöglich beide verliert.
Zu meiner Verwunderung tadelt mich Königin Fjora nicht, sondern seufzt lediglich. Das Leid in ihren silbrig-weißen Augen wird größer.
»Gebt auf euch acht«, bittet sie uns beide.
Sie will noch etwas sagen, da blickt sie unvermittelt hinter mich in die Ferne. Es dauert nur einen Moment, dann ist sie wieder bei uns.
»Die Wintersonnenwende ist unser heiligstes Fest«, verkündet sie, was wir längst wissen. »In der heutigen Nacht sollen wir Eisdämoninnen die Kälte zelebrieren und uns nichts anderem zuwenden. Aber das heißt nicht, dass ihr wegen dieser Tradition vor Schwäche schwinden solltet. Geht.«
Sie nickt in die Richtung, die eben ihre Aufmerksamkeit erregt hat.
»Ein Dutzend Reisende zieht soeben über den Nyvollpass. Holt euch, was euch zusteht.«
Überrascht sehe ich zur Gebirgskette, dann tausche ich einen Blick mit Solvig. Dass die Königin uns von unseren Pflichten freispricht, bedeutet, dass es schlimmer um uns steht als gedacht. Dass das Grau in meinen Haaren zu mehr führen könnte als nur zu gelegentlichen Schwächeanfällen. Noch immer zieht es mich zurück zu den Tanzenden, doch ich will meine Existenz nicht aufgeben oder dabei zusehen, wie Solvig für immer zur Schneeflocke wird. Entschlossen nehme ich meine beste Freundin an der Hand und ziehe sie mit mir. Unsere Magie lässt uns in Schneeflockengestalt mit dem Nordwind reisen, direkt zum Nyvollpass. Zu unserer unwissenden Beute, deren Energie bald uns gehören wird.
Leif
Die Nacht ist so still, dass das Klappern der Hufe auf dem Eis unnatürlich laut nachhallt. Dabei weiß ich, dass nichts in Askja natürlich ist, weder die seltsamen Lichter am Himmel noch der endlose Schnee, der unsere Insel bedeckt.
Sogar mein Rappe trägt einen Hauch Magie im Blut, denn er wurde wie all unser Vieh im Heimatberg gezüchtet. Trotz des ewigen Eises wachsen dort grüne Wiesen, und Felder werden bestellt. Inzwischen weiß keiner mehr in Askja, ob dies durch die natürliche Magie des Landes oder den Zauber eines unserer Urahnen ermöglicht wurde.
Obwohl mein Pferd Askjas lange Nächte, den Schnee und das Eis gut kennen sollte, ist es zur Wintersonnenwende scheu und sprunghaft. Jeder Schritt ist zögerlich, und es wiehert nervös, während ich es weiter vorantreibe.
»Die Dunkelheit gefällt ihm nicht«, murrt Berion, der neben mir reitet.
Ich kann nur erahnen, wie er in seinem dichten, grauen Bart missbilligend die Lippen schürzt. Die Kapuze des dunklen Umhangs, der ihn vor der Kälte schützt, verdeckt seine Augen, aber ich weiß auch so, welcher Ausdruck darin steht.
Spöttisch hebe ich eine Braue und tätschle den Griff meines Schwerts, das am Sattel hängt.
»Keine Sorge, ich werde euch beide beschützen«, beteuere ich gespielt ernsthaft, was ihm ein Schnauben entlockt.
»Da verstecke ich mich lieber hinter meinem Pferd, als mich von einem unerfahrenen Jüngling wie dir verteidigen zu lassen«, gibt er grinsend zurück.
Sein Lächeln entspannt mich etwas, denn trotz meiner mutigen Worte bemerke auch ich die Düsternis, die trotz der hellen Polarlichter ihre bedrohlichen Schatten nach uns ausstreckt. Jeder Fels scheint sich zu bewegen, jede Eisdüne scheint auf uns zuzustürzen. Ich darf keine Angst zeigen, um unsere Gefolgschaft nicht zu entmutigen, doch ich kenne die Gefahren, die nachts im Firnisgebirge auf leichtfertige Abenteurer lauern. Ebenso bewusst ist mir das Risiko unseres Plans sowie die Bedrohungen, die uns spätestens am Fjoraberg erwarten.
Aber der Berg ist noch fern, und heute Nacht müssen wir bloß noch zum Nyvollpass gelangen, bevor wir uns eine Rast erlauben. Innerlich verfluche ich meinen Vater für den engen Zeitplan, den er uns gesetzt hat. Der vereiste Weg ist glatt und der Schnee darauf verdeckt mögliche Unebenheiten, über die unsere Pferde jederzeit stolpern könnten. Zu unserem Glück sind es echte Askja-Rappen, die sich von solchen Hindernissen nicht aufhalten lassen. Diese Mission ist zu wichtig, als dass wir sie aufschieben könnten. Nur diese eine Aufgabe steht zwischen mir und dem Thron …
Ich ziehe meinen Pelzmantel enger um mich, als wir uns endlich dem verfluchten Pass nähern. Hier oben peitscht der eiskalte Wind ungestört in unsere Gesichter, sodass ich nur mühsam die Augen aufhalten kann. Auch Berion zittert leicht, als wir den höchsten Punkt des Weges erreichen und direkt auf den Fjoraberg blicken. Die schneebedeckte Ebene unter uns wirkt, als wäre ein weißes Tuch darauf abgelegt worden. Die Bäume und Felsen sind darunter nur als Konturen sichtbar. Obwohl ich weiß, dass ein riesiger See in der Mitte des Tals liegt, erkenne ich ihn nicht, so hoch liegt der Schnee.
Nur am Fuße des Fjorabergs wird die helle Landschaft unterbrochen. Berion erschaudert, aber nicht wegen der Kälte, sondern wegen ihnen. Obwohl sie weit weg sind und die Dunkelheit die Sicht erschwert, erkenne ich die Silhouetten von zahlreichen tanzenden Gestalten. Ihre nachtfarbenen Kleider sind schwarze Flecken im reinen Weiß Askjas.
»Eisdämoninnen«, spreche ich das Wort aus, das Berion und den Rest meiner Truppe vor Furcht erstarren lässt.
Die magischen Wesen sind viel zu fern, um eine Bedrohung für uns darzustellen, dennoch erinnert ihr Anblick daran, dass wir uns an einem lebensfeindlichen Ort befinden. Eine dunkle Schönheit könnte uns hier jederzeit mit einem Kuss das Leben rauben.
Nicht heute, nicht mir. Auch wenn das Versprechen hohl klingt, hilft es doch, ein wenig Angst aus meinem Inneren zu vertreiben und mir das Selbstbewusstsein zu verleihen, das meine Krieger benötigen, um mir bei dieser gefährlichen Reise zu folgen.
»Wir haben den Nyvollpass erreicht«, erkläre ich zufrieden. »Eine große Herausforderung ist damit bereits bewältigt. Wir rasten hier.«
Mit behandschuhten Fingern deute ich auf eine kleine, halb überdachte Fläche direkt unterhalb des Passes, die als idealer Übernachtungsort dienen wird. Zielstrebig lenke ich meinen Rappen dorthin und atme auf, als seine Hufe im Windschutz der Felsnische auf Stein statt auf Schnee klappern. Mit einer geübten Bewegung steige ich vom Pferd und nehme das Holz und den Beutel mit getrockneten Blütenblättern aus der Satteltasche, die mein Rappe tapfer bis hier oben getragen hat. Als ich mich daran mache, ein Feuer zu entzünden, hält Malt mich auf.
»Ser Leif«, richtet er vorsichtig das Wort an mich, »seid Ihr sicher, dass dies ein guter Ort für unser Nachtlager ist?«
Verwirrt sehe ich mich um, doch kann nach wie vor keine Bedrohung entdecken. Als ich mich Malt wieder zuwende, erkenne ich, dass seine Aufmerksamkeit gar nicht der Umgebung gilt, sondern dem Fuß des Fjorabergs, an dem nach wie vor die tanzenden Eisdämoninnen auszumachen sind. Er hat Angst, weil sie in Sichtweite sind. Und wenn wir sie sehen, ist es umgekehrt genauso …
Laut lache ich, und das Geräusch wirkt wie ein Fremdkörper in der tristen Umgebung. Aber ich habe den gewünschten Effekt auf die Truppe. Zusammengezogene Augenbrauen entspannen sich, zweifelnde Mienen werden weicher. Belustigt klopfe ich Malt auf den Rücken, was dieser mit einem Ausdruck von Verwirrung und Unsicherheit aufnimmt.
»Hab keine Angst«, versichere ich ihm, »sie sind keine Gefahr für uns. Und selbst, wenn eine von ihnen wagen sollte, sich uns zu nähern, sind wir bestens vorbereitet.«
Bedeutungsvoll lege ich die Hand an mein Schwert und nicke zum Knauf, der auch unter seinem Umhang hervorragt.
»Die wahre Herausforderung wartet am Fjoraberg auf uns«, füge ich ernster hinzu. »Wenn du dich so fürchtest, war es womöglich die falsche Entscheidung, dich für diese Mission auszuwählen. Wirst du dich vor der Nacht verstecken, oder wirst du dieses Königreich stolz machen?«
Selbst im flackernden Licht der Nordlichter ist erkennbar, wie sich Malts Gesicht bei diesen Worten tiefrot färbt. Die Scham in seinen Augen ist beinahe unerträglich, und er sinkt umgehend auf die Knie.
»Verzeiht, Ser Leif.« Er wendet den Blick zu Boden. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ihr könnt auf mich zählen.«
Es missfällt mir, einen meiner Krieger vor den anderen bloßzustellen. Dennoch halte ich meinen strengen Blick auf ihn gerichtet, bis meine Gefolgsleute ihre Angst überwinden. Sie wollen mir und Berion keinen Grund für Zweifel an ihrer Loyalität bieten, sodass sie betont sorglos von ihren Pferden steigen und das provisorische Lager aufbauen. Ich habe mir ihren Respekt hart erkämpft, und das zahlt sich aus.
Schnell wende ich mich Malt zu, an dem ich dieses unangenehme Exempel statuieren musste, und ziehe ihn auf die Füße.
»Enttäusche mich nicht«, bläue ich ihm ein, bevor ich mich erneut dem Feuer widme, das uns heute Nacht vor dem Erfrieren schützen soll. Vor dem Kältetod, den für gewöhnlich wunderschöne Eisdämoninnen bringen.
Ein guter Grund, sich in der eisigen Winternacht zu fürchten, was ich trotz meiner angeblichen Furchtlosigkeit nicht vergessen darf.
Frin
Manche Menschen verdienen es allein aufgrund ihrer Unvorsichtigkeit, zu sterben. Die Reisenden haben tatsächlich ein Feuer entzündet. Ein Lagerfeuer im Gebiet der Eiskönigin, am Tag des heiligsten Festes der Eisdämoninnen. Es leuchtet immer heller, je näher wir kommen. Die Menschen schreien geradezu danach, hier ihren bittersüßen Tod zu finden.
Vorfreude erfüllt mich bei dem Gedanken, dass von diesem Dutzend Menschen die Hälfte mir allein gehört. Ich werde so stark sein wie lange nicht mehr, und die Sorge um Solvig dürfte damit vorerst in den Hintergrund rücken. Die Kraft jeder Eisdämonin könnte mit sechs starken Männern und Frauen, die in der Blüte ihres Lebens stehen, vollständig aufgefüllt werden.
Wie können diese Menschen so gedankenlos sein, heute Nacht in unsere Heimat einzudringen? Womöglich glauben sie, dass ihre schiere Anzahl oder die scharfen Klingen ihrer Schwerter uns abschrecken würden. Das bedeutet allerdings, dass sie es nie mit einer der Unsrigen zu tun hatten. Stahl kann uns ebenso wenig etwas anhaben wie andere physische Gefahren. Wenn wir es wollen, sind unsere Körper kaum mehr als Nebel im Wind. Wir sind unverwundbar.
Ihre Sorglosigkeit ist ein Beweis dafür, wie wenig die Menschen über uns wissen. Dabei sollten sie sich längst damit abgefunden haben, dass sie uns in allen Punkten unterlegen sind.
Wie Solvig habe ich die Gestalt einer Schneeflocke angenommen, eine Transformation, die nicht permanent ist, solange wir genügend Kraft für die Rückverwandlung haben.
Der Wind, den wir beschworen haben, weht uns immer näher an ihr Lager. Einige Zelte stehen in der Nähe des Feuers, was ich bedaure. Die Schlafenden darin wären sicher die leichteste Beute, doch so nah will ich den heiß flackernden Flammen nicht kommen. Wenn es etwas gibt, das uns Eisdämoninnen gefährlich werden kann, ist es die Hitze des Feuers. Das Risiko ist zu groß: Ein falscher Windstoß, und ein Funke könnte auf uns überspringen. Solvig und ich werden warten, bis das Feuer etwas heruntergebrannt ist, oder eine andere Lösung finden müssen … Lange wird es uns nicht fernhalten.
Ich zähle mindestens zwei Wachposten, ein Mann und eine Frau, die am Rand des Lagers stehen und mit gezogenen Schwertern die Umgebung beobachten. Bei dem Anblick würde ich am liebsten in Gelächter ausbrechen, denn trotz ihrer Kampfbereitschaft sind sie gegen uns völlig wehrlos.
Mit einem kleinen Stoß meiner Magie lasse ich Solvig und mich näher fliegen. Die Wachen halten den Blick starr ins Tal gerichtet, womöglich sind sie bereits gefangen vom Zauber des Tanzes meiner Schwestern. In den Zelten regt sich nichts, doch da Fjora von einem Dutzend Reisender gesprochen hat, müssen sie gerade darin ruhen. Erst als wir in die unmittelbare Nähe treiben und ich im Schatten eines Felsens wieder zu meiner Gestalt als Eisdämonin wechsle, entdecke ich einen weiteren Mann, der etwas abseits sitzt und sein Schwert poliert. Seine dunklen Haare schimmern im flackernden Polarlicht, und sein schwarzer Umhang ist mit einzelnen Schneeflocken bedeckt.
»Was ist der Plan?«, fragt Solvig atemlos, als auch sie sich zurückverwandelt hat.
Nachdenklich blicke ich vom Feuer zur Schneeschicht, die auf dem Berghang über dem Lager nur darauf wartet, die Flammen zu löschen. Dann mustere ich die Wachen, und meine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen.
»Wenn wir eine Lawine auslösen, dürfte das ihr Feuer ersticken«, erläutere ich mein Vorhaben und deute zum Hang. Solvigs Augen weiten sich vor Begeisterung. »Allerdings würde ich vorschlagen, zunächst die Wachen auszuschalten. Wenn sie etwas bemerken und die anderen wecken, könnten die Reisenden fliehen.«
Und wir müssten sie über das karge Gelände des Nyvollberges jagen, um zu bekommen, wonach es uns verlangt. Auch wenn wir sie inmitten von Schnee und Eis rasch einholen würden …
Natürlich könnten wir die Schlafenden in ihren Zelten ebenfalls wecken, wenn wir die Wachposten ausschalten, aber das ist deutlich unwahrscheinlicher. Der Kuss einer Eisdämonin ist für gewöhnlich lautlos wie Schneefall. Unter dem Druck der Lippen einer wunderschönen Frau in die Bewusstlosigkeit zu gleiten, ist mehr, als die meisten Menschen von ihrem Tod erwarten können.
»Ich übernehme die Wachen«, beschließt Solvig, was mich überrascht zu ihr blicken lässt.
Die beiden Wachposten stehen so dicht beieinander, dass sie beide gleichzeitig in ihren Bann ziehen muss, damit keiner sie verrät. Das ist keine leichte Aufgabe, doch ihr entschlossener Gesichtsausdruck zeigt mir, dass sie sich nicht davon abbringen lassen wird. Und das, nachdem ihr Zauber gestern scheiterte … Stolz wallt in mir auf, weil sie sich dennoch beweisen und ihre Fähigkeiten verbessern will. Obwohl es riskant ist, kann sie an dieser Herausforderung wachsen. Und falls sie scheitert, können wir unsere Beute immer noch durch den Schnee jagen.
Solvigs Grinsen wird breiter, als ich zustimme, und sie schleicht am äußeren Rand des Lagers zu den Wachen. Ich nehme die entgegengesetzte Richtung, um zum jungen Mann zu gelangen, der sein Schwert poliert, als hinge sein Leben davon ab. Kurz wundert mich, dass er auf dem schneebedeckten Stein, fernab des Lagerfeuers, nicht friert. Vermutlich haben sich auch die menschlichen Bewohner und Bewohnerinnen Askjas an das Klima gewöhnt.
Ich genieße die Kälte, die ich bei jedem Schritt unter meinen bloßen Füßen spüre, liebe den Eiswind, der mein schwarzes Kleid verweht. Jede meiner Bewegungen ist völlig lautlos. Ich muss mich nicht verstecken, denn für den Mann vor mir ist es längst zu spät.
Er blickt nicht auf, sondern starrt mit zusammengebissenen Zähnen auf sein Schwert, von dem er noch immer unsichtbaren Schmutz entfernt. Ich kenne diesen Ausdruck gut, denn auch ich fühle den Sog, der von meinen tanzenden Schwestern am See ausgeht. Es scheint, als wehrte er sich mit aller Kraft dagegen, dem Verlangen nachzugeben.
Sein Vorhaben ist vergebens. Auch wenn er dem unterschwelligen Ruf meiner Schwestern nicht folgt, werde ich ihm nun ein schnelles Ende bereiten. Der Mann merkt nicht, wie ich ihm näher komme, bis sich meine Gestalt schließlich in seiner Schwertscheide spiegelt. Dunkel rage ich darin auf, und meine Schönheit wirkt selbst für mich unwirklich. Meine dunklen Augen, die vollen schwarzen Lippen, das wallende Haar und das schattenhafte Kleid stehen in starkem Kontrast zu meiner blassen Haut. Ich bin eine Verführerin.
Und ich bin sein Tod. Das scheint der Mann vor mir zu wissen, denn als er abrupt vom Schwert zu mir aufsieht, steht nackte Panik in seinem Blick. Dann verfällt er meinem Bann. Seine Augen werden verklärt, träumerisch. Ich kann ihm ansehen, wie er jeden klaren Gedanken vergisst, als er sein Schwert fallen lässt und sich erhebt. Ich bleibe stehen und gestatte ihm, dass er wie in Trance zu mir kommt und seine Arme um meine Hüften schlingt. Sich an mich drängt, als wäre ich das Einzige, was er in diesem Leben noch begehrt.
Wie gesagt, es ist ein schöner Tod, den wir den Menschen bringen. Dieser Mann wird in den Armen der verführerischsten Frau sterben, der er je begegnet ist. Sein Blick ist voller Glück und Verlangen, als ich seine Umarmung erwidere und mich an ihn presse.
Ich spüre die Kraft seiner Arme um mich, das Leben, das mit jedem Herzschlag durch seine Adern fließt. Der Hunger macht mich gierig. Ohnehin ist es zwecklos, das hier hinauszuzögern, schließlich hält mein Zauber ihn längst gefangen. Deshalb lächle ich, lege die Hand an seinen dunkelhaarigen Kopf und ziehe ihn zu mir herunter, was er mehr als willentlich geschehen lässt.
Er hält die grünen Augen geöffnet, als wolle er meinen Anblick auskosten, und wir kommen uns immer näher. Das Grün sieht so warm aus, voller Freude und Licht. Obwohl es unsinnig ist, nach einem einzigen Blick in seine Augen darauf zu schließen, bin ich plötzlich überzeugt, dass er ein gutes Herz hat.
Aber viele Menschen, denen ich den Tod gebracht habe, waren rechtschaffen. Das ist es nicht, was mich zögern lässt, ihm mit meinem Kuss sein Leben zu stehlen. Nein, was mich ganz knapp vor seinen Lippen innehalten lässt, ist das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Etwas ist anders, fühlt sich falsch an.
Mein kurzes Zögern ist alles, was er braucht. Der Mann blinzelt plötzlich heftig, als würde er nach einem langen Tauchgang durch die Wasseroberfläche brechen, weicht vor mir zurück und schnappt hörbar nach Luft. Überraschung und Entsetzen spiegeln sich in seinem Blick, bevor sie einer unvergleichlichen Entschlossenheit weichen.
Dann geht alles viel zu schnell. Bevor ich meinen Zauber erneuern oder seine Lippen zurück an meine ziehen kann, hat er etwas Metallenes aus einer Tasche seines Umhangs gezogen. Presst es an die bloße Haut, die mein Kleid an meiner Taille frei lässt.
»Du!«, bringt er verärgert hervor, stockt dann, als hätte es ihm die Sprache verschlagen.
Ich will darüber lachen, wie naiv dieser Mensch ist, dass er glaubt, mir mit irgendwelchen irdischen Mitteln beizukommen. Selbst wenn er den schärfsten Dolch dieser Welt besäße, könnte er mich nicht damit verletzen …
Doch die Belustigung vergeht, als ich durch die Schneedecke unter mir einbreche. Mein schwereloser Körper, der für gewöhnlich kaum Spuren in dem Weiß hinterlässt, sinkt plötzlich eine ganze Handbreit tief ein, bevor ich wieder festen Boden unter den Fußsohlen spüre. Diesmal bin ich es, in der Panik aufsteigt, und der Mann gewinnt merklich an Fassung. Er runzelt die Stirn, dann heben sich seine Mundwinkel kaum merklich.
»Was bei den Eisgöttern …?«, murmle ich fassungslos.
Was passiert hier? Nie in meinem Leben habe ich das Gewicht meines Körpers wahrgenommen, doch plötzlich fühle ich mich schwer und träge. Als ich einige Schritte zurückweiche und dem golden blitzenden Metall entkomme, will ich bereits erleichtert aufseufzen. Doch noch immer sinke ich in den Schnee ein.
Was ist das für eine schwarze Magie?
»Solvig, flieh!«, warne ich meine Schwester, wobei meine sonst so melodische Stimme zittrig ist. Ich kann nur hoffen, dass sie dem entgeht, was auch immer hier geschieht.
Der Mann gibt mir keine Zeit, das alles zu verstehen. Er kommt stumm auf mich zu. Ich drehe mich hastig um. Versuche, wegzulaufen, aber meine Schritte sind unsicher. Mehrfach stolpere ich, weil ich mein eigenes Gewicht nicht gewohnt bin, das mich nun nach unten drückt. Es kostet mich Unmengen an Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, meine Beine aus dem Schnee zu ziehen, der mich festzuhalten scheint. Als ich mich plötzlich vor einer Steinwand wiederfinde, begreife ich erschrocken, dass ich in Richtung der Felsnische geflohen bin, in der die Menschen lagern. Der Mann hinter mir ist schon ganz nah, und ich erkenne bestürzt, dass ich ihm nicht entkommen kann.
Bleibt nur, auf andere Möglichkeiten zurückzugreifen. Für gewöhnlich genügt ein bloßer Gedanke, und schon folgt die Magie meinen Wünschen. Doch als ich mich diesmal in eine Schneeflocke verwandeln will, geschieht nichts.
»Nein!«, entfährt es mir.
Fassungslos blicke ich an meinem menschlichen Körper hinab, dessen Substanz fester erscheint denn je. Mit aller Kraft konzentriere ich mich darauf, mich zu verwandeln. Obwohl es hier um mein Leben geht, versagt meine Magie. Verzweifelt versuche ich, meinem Verfolger kraft meiner Gedanken einen Eiszapfen an den Kopf zu schleudern – vergeblich. Alles, was sich regt, sind ein paar Schneeflocken, die mit dem Wind in seine Richtung wirbeln.
»Gib auf«, fordert der Mann ruhig, durch dessen Augen eine seltsame Traurigkeit huscht.
Unaufhaltsam kommt er näher, bis er so dicht vor mir steht, dass ich ihn beinahe erneut küssen könnte.
»Gib auf«, wiederholt er seine Worte.
Dabei ist es mir ohnehin nicht mehr möglich, mich zu wehren, sodass ich nur heftig den Kopf schüttle.
Wieder fühle ich das seltsame Metall, das er vorhin an meine Haut gepresst hat, diesmal an meinem bloßen Arm und nicht an meiner Hüfte. Tränen der Angst füllen meine Augen und gefrieren sofort auf meiner Wange. Mit verschwommenem Blick nehme ich wahr, wie er mir golden glänzende Handfesseln anlegt. Die Kette, die sie verbindet und die zwischen meinen Armen über den Boden schleift, ist mehrere Ellen lang. Das Metall scheint mich unnachgiebig zu Boden ziehen zu wollen, während der Mensch vor mir keine Miene verzieht.
»Bitte …«, flehe ich.
Die Art, wie er seine Schultern versteift, verrät, dass er mich gehört hat. Doch er antwortet nicht.
Was immer er mir angetan hat, ich bin ihm völlig ausgeliefert. Ich kann nicht fliehen, keine Magie nutzen. Mein Körper ist nicht mehr substanzlos und unverletzbar. Plötzlich fühle ich mich wie ein einfacher Mensch, wehrlos und schwach.
Dieser Gedanke lässt mich aufschluchzen, und ohne es zu wollen, sinke ich auf die Knie. Ich bin diesem Mensch, dem ich mich so überlegen fühlte, schutzlos ausgeliefert. Die Gesetze der Eisdämoninnen sind ausgehebelt, wahrscheinlich könnte er mich sogar töten. Würde ich sterben, ohne in die Gestalt einer Schneeflocke zu flüchten, wie ich es normalerweise täte, wenn ich verblasste?
»Steh auf«, befiehlt mein Fänger schroff, und ich spüre einen unsanften Ruck an der Kette zwischen meinen Armen. Der Zug ist so fest, dass ich vornüberfalle und mir ein Schmerzenslaut entflieht, als ich auf meinen Ellbogen aufkomme. Das Brennen meiner Ellbogen ist anders als alles, was ich jemals verspürt habe. In diesem Körper kann ich wahre Schmerzen fühlen, kann gefoltert werden.
Was will dieser Mann von mir?
»Komm jetzt.« Wieder zieht der Mann an der Kette, und diesmal bleibt mir nichts anderes übrig, als aufzustehen und seiner Aufforderung nachzukommen.
Widerwillig folge ich ihm in die Nähe der Zelte, aus denen die vermeintlich Schlafenden längst herausgetreten sind. Zufrieden mustern sie mich.
War das die ganze Zeit eine Falle?
Allerdings wirkte es nicht so. Der Mann, der meine Kette festhält, war eindeutig überrascht, mich zu sehen. Hätte ich nicht gezögert, sein Leben zu rauben … Mein frustrierter Laut lässt ihn verwundert zu mir sehen, doch auch der Anflug von Mitgefühl, der über sein Gesicht huscht, beruhigt mich nicht.
»Ser Leif«, spricht ihn die Frau an, die Wache stand.
O nein. Mein Kopf ruckt herum, und was ich sehe, versetzt mir einen Schock.
Meine Warnung hat nichts gebracht. Sie haben Solvig.
Ihr Blick ist voller Verzweiflung. Der andere Wachposten hat sie grob an den Armen gepackt und mit dem Knie am Boden fixiert. Angestrengt hebt sie den Kopf, windet sich unter seinem Griff. Es nützt nichts. Sie ist ebenso gefangen, wie ich es bin, obwohl ich das goldene Metall nicht an ihr entdecke. Das Metall, das uns unsere Kräfte zu rauben scheint. Aber warum kann sie dann nicht mithilfe ihrer Magie fliehen?
»Wir haben eine weitere«, erklärt die andere Wache unnötigerweise. »Was sollen wir mit ihr tun?«
Mein Fänger, der der Anführer dieser Menschen zu sein scheint, schweigt für einen Moment. In den Augen meiner besten Freundin spiegelt sich meine eigene Todesangst wider, während er überlegt.
»Wir brauchen nur eine«, verkündet er schließlich, und ich will schon erleichtert aufatmen.
Wenn sie Solvig nicht brauchen, lassen sie sie frei, oder?
Doch seine nächsten Worte lassen mir mein ohnehin schon eisiges Blut in den Adern gefrieren: »Tötet sie.«
»Nein!«, schreie ich auf, während Solvigs Blick bricht.
Mein Schrei hallt vom Berg wider, stimmt aber dennoch niemanden um. Der Mann, der sie am Boden hält, streckt seine freie Hand nach seinem Schwert aus. Um die Klinge, die ich noch vor einer halben Stunde für völlig harmlos hielt, auf meine beste Freundin zu richten. Inzwischen weiß ich jedoch, dass diese Menschen uns sehr wohl gefährlich werden können.
»Nein!«, rufe ich erneut voller Entschlossenheit. Obwohl sich mein Körper fremd und unbeholfen anfühlt, wende ich all meine Kraft auf. Mein Fänger scheint mit diesem Ausbruch nicht gerechnet zu haben, denn die Kette entgleitet ihm, und ich renne los.
Kurz bevor die Wache das Schwert durch Solvigs Körper rammen kann, stürze ich mich mit aller Macht auf den Mann und werfe ihn damit von ihr herunter, sodass ich auf ihm auf dem Boden lande.
»Lauf, Solvig!«, brülle ich.
Mit aller Kraft lasse ich meine Faust ins Gesicht des Wachpostens fahren und muss einen Schmerzenslaut unterdrücken, als sie hart aufkommt. Doch auch er stöhnt auf, was mich ermutigt, ich ramme ihm mein Knie zwischen die Beine. Sein Schrei hallt im ganzen Firnisgebirge wider.
»Haltet sie!«, befiehlt Ser Leif alarmiert.
Als ich aufsehe, entdecke ich Solvig, die durch den Schnee den Berg hinabhumpelt. Obwohl sie meines Wissens nach keinen Kontakt mit dem gefährlichen Metall hatte und nicht wie ich in den Schnee einsinkt, ist sie langsamer und ungeschickter als sonst. Die andere Wache nimmt die Verfolgung auf und läuft dabei direkt an mir vorbei. Ich muss nur die Hände ausstrecken, um die Beine der Frau zu packen und sie zu Fall zu bringen. Ich will auch sie überwältigen, als ich plötzlich eine scharfe Klinge an meinem Hals fühle und in der Bewegung erstarre.
Mein Fänger steht plötzlich direkt über mir, die Kette wieder in der einen Hand, in der anderen Hand das Schwert, das er mir direkt unters Kinn presst. Wenn ich mich auch nur einen Zentimeter bewege, schneidet die Klinge in meinen Hals und tötet mich womöglich. Also bin ich still wie eine Eisstatue.
Oder wäre der Tod die bessere Alternative? Wenn er die Wahrheit sagt, benötigt er mich für irgendetwas. Es widerstrebt mir, ihm beim Erreichen seines Ziels zu helfen, was immer es ist. Angenehm wird es für mich sicher nicht werden. Vielleicht sollte ich dem Ganzen jetzt und hier ein Ende bereiten …
Doch ich will nicht sterben. Außerdem würden sie dann vermutlich eine andere Eisdämonin fangen und sie für ihre Zwecke benutzen.
»Lasst die andere laufen«, befiehlt er seinen Kriegern.
Erleichtert sehe ich, wie Solvig zwischen den schneebedeckten Bäumen im Wald verschwindet.
Ich schlucke und lasse zu, dass der Mann mich am Arm packt und hochzieht, bevor er die Klinge von meinem Hals nimmt.
»Man sollte meinen, als Personifikation des Kältetods würdest du dich weniger vor dem Ende fürchten«, spottet er.
Vorhin habe ich kurz Mitgefühl in seinen Augen erkannt, doch ich darf kein weiteres Mal darauf hoffen. Seine Abscheu mir gegenüber ist eindeutig, und das bedeutet nichts Gutes für mich. Zudem habe ich keine Möglichkeit, zu entkommen oder mein Leiden selbst zu beenden. Nicht, solange Solvig in der Nähe ist. Zumindest hat es mir neuen Mut gegeben, dass ich ihr zur Flucht verhelfen konnte. Es steckt immer noch Kraft in mir, was mich daran erinnert hat, dass ich trotz der mich schwächenden Fesseln noch immer eine Eisdämonin bin. Diese Menschen werden es nicht leicht mit mir haben. Ich werde einen Ausweg finden und wieder frei sein.
Vorerst schweige ich, erwidere den Blick meines Fängers mit einem kämpferischen Funkeln in den Augen und füge mich meinem Schicksal.
Leif
Immer wieder wandert mein Blick zur Eisdämonin, und ich muss mich zusammenreißen, nicht von Erinnerungen überwältigt zu werden. Jetzt zählen nur die sachlichen Gedanken.
Obwohl die Eisdämonin ohne ihre Magie so ungeschickt wirkt, wie mein Vater es mir prophezeit hat: Schwach ist sie nicht. Vorhin, als ich sie gefangen nahm, dachte ich für einen Moment, ich hätte sie gebrochen, aber als wir die andere bedrohten …
Ich bin froh, nicht in Arens Haut zu stecken, denn der Krieger trägt nach wie vor einen leidenden Gesichtsausdruck. Es verdeutlicht, wie gefährlich die Eisdämonin sogar in ihrem gefangenen Zustand ist.
»Geht es dir gut?«, frage ich ihn, nicke in Richtung seiner Leistengegend und reiße damit endlich meinen Blick von ihr los.
»Natürlich«, entgegnet er grob und wendet sich ab, um weiteren Nachfragen zu entgehen.
Aren kann ich nicht helfen. Das Beste für ihn und uns alle wird sein, schnell an den Hof zurückzukehren, wo es sicher ist und wir uns von dieser Reise erholen können.
»Wir haben, wofür wir hergekommen sind«, richte ich das Wort an die anderen. »Unser Auftrag ist erfüllt, lasst uns heimkehren.«
Berion nickt mir bekräftigend zu, und sogar Arens Gesicht erhellt sich bei diesem Vorschlag. Obwohl ich die Nachtruhe der Krieger unterbreche und die Schatten unter ihren Augen zeigen, wie müde sie sind, räumen sie bereitwillig das Lager zusammen. Sie haben es mehr als eilig, auf die Pferde zu steigen und das Fjoratal hinter sich zu lassen. Sicher sind der Grund dafür die Eisdämoninnen, die noch immer am Fuß des Berges tanzen. Ob sie aufhören, wenn ihre Schwester zu ihnen zurückkehrt und ihnen von uns berichtet?
Ich will es nicht herausfinden. Selbst ohne ihre Magie hat die Gefangene zwei Mitglieder meiner Truppe kurzzeitig außer Gefecht gesetzt. Wenn sich die ganze Monsterhorde auf uns stürzt, werden uns weder der Sonnentaustaub in der Luft noch das Messing helfen können.
Besagtes Monster trottet mit gesenktem Kopf hinter meinem Pferd her. Nach wie vor halte ich die Kette in der Hand, die sie an mich bindet. Doch nach der Flucht der anderen Dämonin musste ich kein einziges Mal daran ziehen, um meine Gefangene zum Mitkommen zu bewegen. Sie scheint sich ihrem Schicksal gefügt zu haben.
Ich darf nicht vergessen, dass sie ein abscheuliches Ungeheuer ist, das Menschenleben raubt.
Ihr Gesicht … Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, wenn ich an den Moment denke, als ich völlig unter ihrem Einfluss stand. Es war, als wäre sie das begehrenswerteste Geschöpf auf ganz Askja. Ich hätte willig mein Leben gegeben, um ihr nah zu sein.
Trotz aller Warnungen hätte unser Aufeinandertreffen um ein Haar tödlich geendet. Ich kann nur den Eisgöttern dafür danken, dass ich rechtzeitig zur Besinnung gekommen bin und den Zauber gebrochen habe. Vermutlich muss ich dem Sonnentaustaub danken, der vom Feuer in der Umgebung verteilt wurde. Ich will mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er die Magie der Eisdämonin nicht geschwächt hätte.