Leseinsel der unabhängigen Verlage - E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2017 - CulturBooks Verlag - kostenlos E-Book

Leseinsel der unabhängigen Verlage - E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2017 E-Book

CulturBooks Verlag

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Beschreibung

Die Leseinsel der unabhängigen Verlage gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen. Unser kostenloser E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel der Frankfurter Buchmesse 2017. Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung, unterstützt von der taz; der E-Reader wird umgesetzt von CulturBooks.

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EPUB

Seitenzahl: 887

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Über dieses E-Book

Die Leseinsel der unabhängigen Verlage gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen.

Unser kostenloser E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel der Frankfurter Buchmesse.

Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung

Leseinsel der unabhängigen Verlage

Ein E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2017

Inhaltsverzeichnis
Mittwoch, 11. Oktober 2017 10:00 Uhr - 18:00 Uhr
Mi, 10:00 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Enno Stahl
Mi, 10:30 Uhr: taz und Ybersinn Verlag präsentieren Lutz Büge
Mi, 11:00 Uhr: Literaturverlag Droschl präsentiert Gertraud Klemm
Mi, 11:30 Uhr: Passagen Verlag präsentiert Peter Engelmann
Mi, 12:00 Uhr: Die Kurt Wolff Stiftung präsentiert den neuen Katalog "Es geht um das Buch 2017/18"
Mi, 13:00 Uhr: taz und Ventil Verlag präsentieren Sonja Vogel
Mi, 13:30 Uhr: Wallstein Verlag präsentiert Jana Hensel
Mi, 14:00 Uhr: Klöpfer & Meyer Verlag präsentiert Anton Hunger
Mi, 14:30 Uhr: Edition contra-bass präsentiert Renate Langgemach
Mi, 15:00 Uhr: Pendragon Verlag präsentiert Kerstin Ehmer
Mi, 15:30 Uhr: die taz präsentiert Independent Publishing in Latinamerica
Mi, 16:30 Uhr: Verlag Die Brotsuppe präsentiert Marius Daniel Popescu
Mi, 17:00 Uhr: Größenwahn Verlag präsentiert Frank Michael Wagner
Mi, 17:30 Uhr: Männerschwarm Verlag präsentiert J.J. Winckelmann wird 300 – der Männerschwarm Verlag erst 25!
Donnerstag, 12. Oktober 2017 09:30 Uhr - 18:00 Uhr
Do, 09:30 Uhr: Konkursbuch Verlag präsentiert Fernweh Leserunde
Do, 10:00 Uhr: Guggolz Verlag präsentiert Johannes V. Jensen
Do, 10:30 Uhr: Verlag Das Wunderhorn präsentiert Lyrikkalender 2018
Do, 11:00 Uhr: Ulrike Helmer Verlag präsentiert Olivia Rosenthal
Do, 11:30 Uhr: Elfenbein Verlag präsentiert Marcel Schwob: Manapouri. Reise nach Samoa 1901/1902
Do, 12:00 Uhr: Berenberg Verlag präsentiert Helge-Ulrike Hyams
Do, 12:30 Uhr: Peter Hammer Verlag präsentiert Rupert und Christel Neudeck
Do, 13:00 Uhr: taz und Ch. Links Verlag präsentieren Simone Schlindwein, Christian Jakob
Do, 13:30 Uhr: Salis Verlag präsentiert Thomas Meyer
Do, 14:00 Uhr: Verlag Das Wunderhorn präsentiert Dany Laferrière
Do, 14:30 Uhr: Satyr Verlag präsentiert Frank Klötgen (Hg.)
Do, 15:00 Uhr: Mitteldeutscher Verlag präsentiert André Schinkel
Do, 15:30 Uhr: AvivA Verlag präsentiert Florence Hervé
Do, 16:00 Uhr: BücherFrauen e.V.
Freitag, 13. Oktober 2017 09:30 Uhr - 18:00 Uhr
Fr, 09:30 Uhr: taz präsentiert Publishing in Turkey today
Fr, 10:30 Uhr: Edition Nautilus präsentiert Der Torpedokäfer
Fr, 11:00 Uhr: edition bücherlese präsentiert Regula Portillo
Fr, 11:30 Uhr: Schöffling Verlag präsentiert Anna-Elisabeth Mayer
Fr, 12:00 Uhr: Open House Verlag präsentiert Sven Hannes
Fr, 12:30 Uhr: Haymon Verlag präsentiert Selim Özdogan
Fr, 13:00 Uhr: taz und Edition Fototapeta präsentieren Uwe Rada
Fr, 13:30 Uhr: Otto Müller Verlag präsentiert Iris Wolff
Fr, 14:00 Uhr: Edition Rugerup präsentiert Rolf Jacobsen
Fr, 14:30 Uhr: Drachenhaus Verlag präsentiert Isabella Obrist und Cornelia Hermanns
Fr, 15:00 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Michael Stauffer
Fr, 15:30 Uhr: Büchergilde Gutenberg präsentiert Arnoldo Gálvez Suárez
Fr, 16:00 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Jovana Reisinger
Fr, 16:30 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Julia Rothenburg
Fr, 17:00 Uhr: Septime Verlag Verlagspräsentation
Fr, 17:30 Uhr: Jung & Jung Verlag präsentiert Elias Hirschl
Fr, 18:00 Uhr: Der gesunde Menschenversand präsentiert Jürg Halter
Samstag, 14. Oktober 2017 09:30 Uhr - 18:00 Uhr
Sa, 09:30 Uhr: Drava Verlag präsentiert Sebastijan Pregelj
Sa, 10:00 Uhr: avant Verlag präsentiert Fabien Toulmé
Sa, 10:30 Uhr: Edition Moderne präsentiert Gion Capeder
Sa, 11:00 Uhr: kunstanstifter Verlag präsentiert Yi Meng Wu
Sa, 11:30 Uhr: Picus Verlag präsentiert Theodora Bauer
Sa, 12:00 Uhr: zu Klampen Verlag präsentiert Christof Wackernagel
Sa, 12:30 Uhr: Lectorbooks präsentiert Gion Mathias Cavelty
Sa, 13:00 Uhr: taz und Westend Verlag präsentieren Simone Schmollack
Sa, 13:30 Uhr: weissbooks.w präsentiert Jey Jey Glünderling
Sa, 14:00 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Lasha Bugadze
Sa, 14:30 Uhr: AvivA Verlag und Orlanda Verlag präsentieren Salome Benidze
Sa, 15:00 Uhr: Weidle Verlag präsentiert Zurab Karumidze
Sa, 15:30 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Beka Adamashvili
Sa, 16:00 Uhr: be.bra Verlag präsentiert Annemieke Hendriks
Sa, 16:30 Uhr: Ink Press präsentiert Elvira Dones
Sa, 17:00 Uhr: Liebesleben-Leseperformance Buchpräsentation
Sa, 17:30 Uhr: Wieser Verlag präsentiert Lojze Wieser
Sa, 18:00 Uhr: CulturBooks Verlag präsentiert Miron Zownir & Nico Anfuso
Sonntag, 15. Oktober 2017 09:30 Uhr - 15:00 Uhr
So, 09:30 Uhr: Workshop «Buchbinden mit Leder»
So, 10:30 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Nikita Afanasjew
So, 11:00 Uhr: CulturBooks Verlag präsentiert Karan Mahajan
So, 11:30 Uhr: Matthes & Seitz Berlin präsentiert Angela Steidele
So, 12:00 Uhr: Edition AV präsentiert Michael Englishman
So, 12:30 Uhr: Open House Verlag präsentiert James A. Grymes
So, 13:00 Uhr: Die taz präsentiert: taz.FUTURZWEI: Wie weiter, Germans?
So, 13:30 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Manja Präkels
So, 14:00 Uhr: weissbooks.w präsentiert Anuta Sakheim
So, 14:30 Uhr: Otto Müller Verlag präsentiert Birgit Müller-Wieland
So, 15:00 Uhr: 30 Jahre Ulrike Helmer Verlag

Mittwoch, 11. Oktober 201710:00 Uhr - 18:00 Uhr

Mi, 10:00 Uhr: Verbrecher Verlag präsentiert Enno Stahl: SpätkirmesModeration: Jörg Sundermeier

Verbrecher Verlag

Der Verbrecher Verlag steht in der Tradition linker Literaturverlage mit dem Schwerpunkt auf der Belletristik, zudem haben Sach- und Kunstbücher ihren festen Platz. Veröffentlicht werden die Werkschauen von Elsner, Margwelaschwili, Lorenzen, Geissler und die Edition der ›Tagebücher‹ Erich Mühsams. Der Verlag setzt sich zudem für junge Talente ein: wie Nino Haratischwili, Manja Präkels, Hendrik Otremba und Jovana Reisinger. Bereits renommierte Autor*innen publizieren hier ebenso: Dietmar Dath, Oleg Jurjew, Aras Ören, Anke Stelling oder David Wagner. ›Gute Bücher!‹ ist das Motto. Zur

Über das Buch

Im kleinen rheinischen Städtchen Kirchweiler feiert der örtliche Bürgerschützenverein sein 175-jähriges Jubiläum. Daher hat die Gemeinde eine zweitägige „Spätkirmes“ organisiert. Hannes Tannert und seine Frau Meta wohnen seit kurzer Zeit hier.

Er ist Juniorprofessor in einem befristeten Anstellungsverhältnis, Meta ist seit der Geburt der gemeinsamen Tochter Cora auf 400 EUR-Basis tätig. Meta lebt gern im Grünen. Hannes will lieber nach Berlin und verachtet die „einfachen Leute“ – das Dorf wiederum sieht beide als Fremdlinge. Meta immerhin bemüht sich darum, Kontakt herzustellen. Hannes wird bald seinen Job verlieren, was Meta nicht weiß. Dann eskaliert die Situation während der Kirmes…

Enno Stahl hat erneut einen seiner hochgelobten analytisch-realistischen Romane geschrieben. In „Spätkirmes“ dreht sich alles um die (eingebildeten) Leiden des Mittelstandes und um den verschleierten Widerspruch von „Heimat“ und Sicherheit. Gerade die analytische Schärfe macht Stahls Buch so aktuell.

„Stahl gelingt mit seinem neuen Roman nicht weniger als eine seit langer Zeit überfällige literarische Analyse der neoliberalen Gegenwartsgesellschaft.“ – Neues Deutschland

Über den Autor

Enno Stahl, geboren 1962, Studium der Germanistik, Philosophie und Italianistik (Dr. phil), lebt in Neuss. Er veröffentlichte Prosa, Lyrik, Essays, Glossen und Kritiken in Zeitungen und Rundfunk sowie in Zeitschriften und Anthologien. Zahlreiche Stipendien und Preise, zuletzt Hörspielstipendium der Filmstiftung NRW e.V. 2008, Sieger der Sparte Experiment bei der Literaturbörse des Steirischen Herbst 2002. Herausgeber zahlreicher Anthologien.

2004 erschien sein Roman „2PAC AMARU HECTOR“, der nun im Verbrecher Verlag lieferbar ist. Im Verbrecher Verlag erschienen außerdem die Romane „Diese Seelen“ (2008) und „Winkler, Werber“ (2012) sowie die Essaysammlung „Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft“ (2013) und der Essay „Für die Katz und wider die Maus. Pohlands Film nach Grass“ (2013). Mit Ingar Solty gab er den Band „Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik“ (2016) heraus. Zur Homepage.

Auszug aus Enno Stahl: Spätkirmes. Roman

I

„Alle Täler sollen ausgefüllt und alle Berge und Hügel abgetragen werden, was krumm ist, soll gerade, und was uneben ist, soll ebner Weg werden.“

-Gerards, Predigten

Ist das nervig.

Hannes warf sich jäh zur Seite, rieb aufgebracht sein Muttermal, Juckreiz oder nervöse Störung, irritierender Fleck unter dem linken Auge, willst du dir das nicht wegmachen lassen, die schwarze, gutartige Wucherung ängstigte manche Bekannte, fast jeder kam irgendwann darauf zurück, aber Hannes konnte sich auf eine Reihe von Hautärzten berufen, Herr Tannert, keine Bange, das ist nichts, vollkommen harmlos. Natürlich, könnte ich machen, kleine OP, weg isses, mache ich aber nicht, das ist so … eine Gewohnheit, fast ein Markenzeichen. Da müssen sie mit leben, kleine Abweichung, ein Appell an ihre eigenen Ängste, diese Leute, die ständig hierher rennen, sich jeden kleinsten Leberfleck gleich rausschneiden lassen.

Hannes lag gekrümmt, wie unter Schmerzen, presste die Hände auf die Ohren, so laut, er stellte sich eine Schraubzwinge vor, was aber nicht viel brachte, die Glocken waren einfach zu nah, schwingen, schwingen, die Klöppel mit großer Wucht, wo sind die Ohrstöpsel?

„Warum am Samstag? Das ist … Ruhestörung, das darf nur die Kirche, jeden anderen könntest du dafür …“

„Weckst du das Kind oder ich?“

„Dann machst du den Kaffee!“

„Ich bin sowieso dran.“

Und da ist ja alles ganz rosa, was schön ist. Rosa ist meine Lieblingsfarbe, vielleicht ist das auch ein Vorhang, durch den man spinksen kann. Ich weiß nicht genau, vielleicht doch kein Vorhang, ich geh mal da durch, denn dort ist ja das Nest. Da müssen die Eier hinein, da muss ich die Eier reinlegen, das ist gar nicht so schwer. Tut auch nicht weh. Kein bisschen. Hübsch ein Ei nach dem anderen. Das sind ja nicht so große Eier. Eher kleine. Die sind so wie die, die Papa mitgebracht hat aus Düsseldorf. Diese kleinen grünen Eier. Die liegen jetzt im Nest, vier Stück, und da ist Papa.

- Jetzt musst du dich draufsetzen!

- Aber da gehen die doch kaputt.

- Du musst dich an den Rand setzen und das Nest schön warm halten. Dann passiert nichts. Anders geht es doch nicht. Du musst die Eier ausbrüten.

Das stimmt natürlich. Ausbrüten muss ich die, von alleine schlüpfen die Vögel nicht. Setze ich mich eben drauf.

- So richtig, Papa?

- Ganz genau, Cora. Jetzt musst du nur noch Geduld haben.

„Mein Schatz, bist du wach?“

Coras Äuglein klimperten, noch tagfremd, die Lider so schwer, sie wollten sich nicht öffnen, das helle, zu helle Licht. Sie ließ also die Augen zugeklappt, nestelte an ihrer Bettdecke und lächelte, weil sie wusste, dass er ihr zusah. Spielte schlafend. Ein Streif Sonne wie eine verzogene Raute, Mahnzeichen, Tempelzeichen, okkulte Spur. Ihre Finger immer noch unendlich klein, als sie geboren wurde, wie unglaublich winzig, der ganze kleine Mensch, Finger, Hände und Füße, alles war da und doch, schwer sich daran zu erinnern, wie weggewischt, jedes neue Stadium des Kindes löscht das Vorhergehende aus, für immer, Erinnerung, Mnemosyne, halb Göttin, halb Taumel, Musenmutter, den Künsten darf das Gedächtnis auch nicht im Wege stehen, nie zu klar, immer verschwommen, anders entstehen keine Geschichten, ein schlafendes Rehkitz, das träumt von Fluchten und Jagd.

Ihr Anblick rührte Hannes, ihre rosige, glatte Haut, wie unter Zwang drückte er ihr Küsse auf die Schläfe, die Wange, die Lippen, jetzt lachte sie, jetzt schlug sie die Augen auf, die hell waren, wasserhell, als könne man direkt auf den Grund sehen, Metas Augen waren das. „Papa“, sagte sie, wie verzückt, dass ihm gleich wieder warm ward, „Ja“, sagte Hannes, „Papa“, wieder sie, ihr Atem roch säuerlich, ein Mundgeruch wie bei großen Menschen: „Das ist gut“, sagte sie, „dass du mir das mit den Eiern erklärt hast.“

„Mit den Eiern?“

„Ja, wie ich sie ausbrüten muss.“

„Du?“

„Ich habe doch diese Eier gelegt und dann hast du mir gesagt, wie ich sie ausbrüten muss.“

„Cora, du hast geträumt!“

„Meinst du wirklich, Papa? Aber das war gerade eben, in echt …“

„Mhm. Ganz sicher. Ich bin jetzt erst in dein Zimmer gekommen.“

„So.“

„Das ist aber ein ulkiger Traum gewesen. Den musst du mir erzählen.“

„Ja.“

„Sollen wir in unser Zimmer?“

„Ja.“

„Tragen oder selber gehen?“

„Tragen.“

Hannes umfing das bettwarme Kind, Thymian-Duft und Schwefelhölzchen, Cora klammerte sich an ihn, barg ihr Köpfchen in seinem Bart, ohne Rückhalt, die Arme fest um seinen Nacken, schwer wie ein Kasten Wasser, er hievte sie hinüber ins Elternschlafzimmer, legte sie hinein in die weiche Decke und sich dazu.

Diffus drang das Licht durch die gelben Vorhänge, Safrannebel, Rauch aus irgendeiner Nebenwelt, nur zwischen zweien dieser bodenlangen Fensterschleppen klaffte ein schmaler Spalt, der ausreichte, das Zimmer in ein fahles Zwielicht zu tauchen, Konturen und Gegenstände, ein hüfthoher weißer IKEA-Schrank, Regale, zwei kleine Nachttischchen, ein Stuhl und ein Reckchen, über dem einige Kleider hingen. Das warme Kind an seinem Leib, Kinderhitze, Hannes lüftete die Decke, kitzelte Cora an den Fußsohlen, dass sie sich wand und kicherte.

Meta kam mit dem Tablett, Kaffee und Marmeladenbrote, stellte es auf dem Bett ab und streichelte Coras Wange: „Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?“

Cora erwiderte nichts, sondern schlängelte sich wie ein Wurm unter der Decke hin zum Fußende. Meta hockte sich schräg aufs Bett, kauernde Steinzeitvenus im Halbprofil, missbilligend strich sie mit dem Finger über das Nachttischchen: „Ich komme einfach zu nichts hier.“ Daraufhin Hannes abgelenkt: „Hm?“, ohne eine Antwort zu erwarten, Meta gab ihm auch keine. Sondern: ein Gähnen, laut, ein Strecken, die Gelenke knackten, dann schüttelte sie ihren Kopf, die Locken zahllos, sie ringelten sich hinab auf den Rücken, vielleicht lebten sie, Medusenhaupt, Königreich für eine Bürste, ihr rundlicher Leib im roten Satinnachthemd, fast eins mit der Düsternis des Raumes, nur Schultern und Arme, unbedeckt, stachen heller ab.

Nun ließ sich auch der Hund blicken, der unter dem Bett schlief, verborgen im dunklen Nirwana aus Staub und dort verstauten Taschen: „Singa, meine Süße, bist du schon wach? Na, komm mal her.“ Die Hündin schwarz wie die Nacht, aus der sie eben hervorgekrochen war, dunkelbraun ihre Torfaugen, sie sprang an Meta hoch, aufgeregt, kaum wach, wollte sie schon spielen oder musste sie raus, Hannes wusste es nicht, Meta schon, Meta verstand immer, die Sprache der Menschen und der Tiere, sie zog den Kopf der Puli-Dame an sich und meinte: „Ein bisschen musst du dich gedulden, wir gehen gleich los. Und Cora, kein Guten-Morgen-Kuss von dir?“

„Iss geh jetz’ Christian Reyer ärgern, denn Christian is ein Arschloch. Christian, das Aaaarschloch.“ Schon immer. Der zu mir. Ich merk mir das, ich merk mir, was die Leute machen, gut für Bob, schlecht für Bob, ich merk mir das, wo soll ich jetzt hin? Ist es noch nicht zu spät? Wie viel Uhr ist es denn? Die Uhr, die Uhr, ich kann nicht. … Da ist ein Erwachsener, anhalten, den frage ich mal, da halte ich an, der weiß doch bestimmt.

„Entschuldigung … Entschuldigung bitte.“

„Ja?“

„Darf ich diss mal was fragen?“

„Was denn?“

„Kannss du mir sagen, wie viel Uhr jetzt ist?“

„Aber … da ist doch die Kirchturmuhr, warum … ?“

„Ja, iss weiß das nisst.“

„Wie?“

„Iss kann nisst die Uhr. Iss hab sogar eine Uhr. Hat Mutter mir geschenkt. Aber iss kann die doch nisst.“

„Mein Gott, so ein großer Junge? Aber gut. Es ist kurz vor Eins.“

„Danke schön. Um ein Uhr soll ich zu Christian Reyer ins Pfarrzentrum.“

„Na, das schaffst du. Besonders mit dem Fahrrad. Ist ja gleich um die Ecke.“

„Danke.“

Christian ist im Pfarrzentrum, das hat er gesagt, das ist, das Pfarrzentrum ist, die Straße runter, das ist, wo die Bücherei ist, wo es die Spiele gibt, und die Bücher, da muss man nicht bezahlen, aber Bücher mag ich nicht, Spiele schon, wenn ich jemanden zum Spielen finde. Als Acki noch da war, aber seit der weg ist, mit wem soll ich jetzt Spiele machen. Da hinten ist das Pfarrzentrum, da sind Christian Reyer und die anderen, Christian ist immer, er ist immer so, nie durfte ich, bei denen durfte ich nie, Fußball, Verstecken, nie. Er immer nur: Hau ab, Spasti, was ich gar nicht bin, das ist es ja nicht. Und sonst gab’s Schläge. Achtung, Auto, es fährt schnell, anhalten, am Rand warten, immer aufpassen, lieber vorsehen, sieh dich vor, besser einmal zu viel als einmal zu wenig, der weiß das schon, der Herr Wegener, wenn der das sagt, besser einmal zu viel als einmal zu wenig, der weiß das, der sagt das richtig, das Auto ist vorbei, rüber auf die andere Seite, das Pfarrzentrum ist nicht auf dieser Seite, sondern auf der anderen Seite. Heute darf ich mitmachen, sie brauchen jeden Mann. Das hat Christian gesagt, gerade er, ausgerechnet, jeden Mann, vielleicht ist er jetzt doch kein Arschloch mehr, ich kann helfen, bei der Kirmes kannst du auch was tun, du kannst die Straße absperren. Das ist gut, da helfe ich, absperren, die Straße absperren, dieses Auto da, das rote da, was für eine Marke, kenne die nicht, die Marke, rot ist es aber, wenn ich helfe, kann ich nicht auf den Spielplatz, bei dem schönen Wetter, wenn sie da, wenn sie da alle, und die Mädchen. Aber wenn ich eine Aufgabe habe, wenn ich gesagt habe, dass ich das mache, dann muss ich, obwohl es Christian Reyer ist, das Arschloch aus der Nachbarschaft. Hoffentlich schaffe ich das, absperren, hoffentlich ist das nicht zu schwer, was, wenn die Autofahrer wütend werden, wenn sie nicht durchfahren dürfen, was sage ich und wen kann ich fragen … Aber ich habe ja mein Handy, mit dem Handy kann ich Christian anrufen, wenn es ein Problem gibt. Bei Problemen frage ich ihn übers Handy, was ich machen soll. Sonst muss er selber herkommen, da sind Sachen, die kann ich nicht alleine. Hier ist das, Pfarrzentrum, Lagebesprechung haben sie gesagt, hier erfahre ich, was zu tun ist. So, Fahrrad abschließen, ich kann mein Fahrrad nicht einfach so stehen lassen, jemand wird es nehmen, wenn ich es nicht abschließe, den Helm lasse ich auf. Dann brauche ich ihn nachher nicht wieder … Was ist aber, wenn ich mal aufs Klo muss? Ich kann ja nicht stundenlang da stehen bleiben, wenn ich aufs Klo muss.

„Hi, Bob! Los, setz dich, du bist gleich dran.“

Christian Reyer will, dass ich mich hinsetze, will ich aber nicht. Nein, ich bleibe hier stehen, sitzen will ich nicht, soll er halt sitzen, wenn er will, oder er steht auf, wenn ihn das stört. Wenn ihn das stört, soll er selber aufstehen.

Behutsames wie zögerndes Anschlagen des Windspiels, Kalebassenlaut hell, kehlig, Bambusstäbe an Nylonfäden, vom Holland-Urlaub, schön, dabei meinte Hannes sofort, das ist nichts, aber ich … Wo stammt das eigentlich her, in Holland wächst doch kein Bambus, balinesisch vielleicht?

Das Spinnennetz unterm Holzverschlag zitterte in der Brise, und die Kreuzspinne, lauernd inmitten ihres filigranen Gewebes, schaukelte mit, Meta kräuselte die Nase: „Hallo, Esmeralda, gut geschlafen? Fang mir mal schön das Ungeziefer weg, die Mücken und die Fliegen, die mir immer die Minze wegmampfen.“

Sie atmete tief ein, schnupperte, Geruchsmischung diverser Spätblüher: Stachelmohn, die rosa Bissmäuler der Belladonnalilien, daneben die Leuchtblüten der Ochsenzunge, violettblau, selbst die Hornveilchen, Monsterklee in Bunt, lockten noch mit prächtigen mischfarbigen Dreiblättern. Jede Menge zu tun, die Äpfel sind bald dran, der Birnbaum muss raus, der hat’s leider nicht geschafft, kein Wunder nach dem letzten Winter, war aber auch arschkalt, der eine Tag, glatt die Leitungen eingefroren, ganz was Neues, in der Stadt ist das nie passiert, was wir da für ein Schwein gehabt haben, Hannes hat gar nichts begriffen, und was kann dann passieren … Wasserrohrbruch, ist das schlimm? Der Beinwell wuchert zu sehr, muss ich noch mal ran, gar nicht mehr lange, dann muss alles winterfest gemacht werden.

Meta spannte die Wäschespinne auf, sie schloss die Augen, einen Moment nur innehalten, bis ein Gefühl sie wärmend durchströmte, dann griff sie sich das erste T-Shirt und befestigte es mit Holzklammern am wackelnden Plastikstrang. Erneut lärmten die Glocken, einmal mehr, Samstagmittag, Sondertermin wegen der Kirmes? Damit sich die Festgäste moralisch stärken können, bevor es auf die Piste geht? Na. Nichts dagegen. Warum auch? Immer dieses Rechten und Hadern, bin ja nicht Hannes, der. Man lebt besser, wenn man einverstanden ist, Zufriedenheit, klingt platt, trotzdem ist es das, zufrieden mit der Situation und mit sich selbst im Einklang. Mit dem Großen Ganzen nicht, der Politik, der Einrichtung der Welt … das nicht, natürlich nicht. Aber wir, das ist doch prima, geradezu privilegiert. Wenn er nur nicht so unruhig wäre, warum ist er nur so unruhig? Fast verbittert, warum? Er sitzt immer in seiner Bürohöhle, brütet und sinnt, das ganze Zimmer raucht davon, wie in so ‘ner Comiczeichnung, brüt, brüt, und so Rauchringe überm Kopf. Genau so sieht das aus. Und das ist lästig, belastend, man hat doch nur dieses eine Mal, es gibt keine zweite Chance. Lohnt sich das? Wegen Geld? Schon mal gar nicht. Sicher, die geringen Spielräume, hätte das auch gerne anders, Sechser im Lotto, nie mehr dran denken, aber sonst ist alles in Ordnung. Alles in bester Ordnung. Schau dich mal um, wer kann das von sich sagen, ein eigenes Haus, na ja, Kredit von der Bank, trotzdem, wir leben drin, der kleine Garten, Supermarkt um die Ecke und die Nachbarn sind nett. Er muss nicht klagen. Was soll ich sagen, 400-Euro-Job, Koch- und Backkurse im Offenen Ganztag, davon ist gar nicht zu reden. Als könnte man mit den Schülern ... Kaum zu motivieren sind die, Hausaufgabenhilfe, mehr ist nicht drin. Dabei würden sie es brauchen, viele schon so übergewichtig, zwölf, dreizehn Jahre und trotzdem. Unterschichtenthema, hatte ich ja reingeschrieben ins Konzept, genau das wollten die, aber. Hat keinen Sinn. Die saufen weiter ihre Riesencolas und Eisteetüten. Fuck-egal, was die Alte da erzählt. Was soll ich scheiß-kochen, ich geh lieber zu McDonald’s. Wozu habe ich überhaupt studiert? Könnte ich auch fragen. Trotzdem. Werde mir davon nicht mein Leben vermiesen lassen. Ganz bestimmt nicht, manchmal ist es auch schön, als Yvonne da mit ihrer Freundin, wie heißt die noch gleich? … Hm … Komm nicht drauf. Das Hirn, das Hirn. Oder war das Nicole? Ja, genau, freudestrahlend, dass sie am Wochenende zusammen einen Kuchen gebacken haben, einen eigenen Kuchen zu Hause, nach meinem Rezept. Ohnehin nur vorübergehend, bald ändert sich das. Wenn Cora in die Schule kommt … Alles zu seiner Zeit, will schließlich was mitbekommen von meinem Kind, diese Mütter, die ihre Tochter bloß frühmorgens zu Gesicht kriegen und die Erziehung anderen überlassen. Businessfrau, drei Kinder und dann eine solche Karriere hingelegt – wer soll das glauben? Was bleibt auf der Strecke? Das wird nicht erwähnt.

Meta hatte den Bottich geleert, alles aufgehängt, die Spinne war erst halb voll, doch eine ganze Maschine voller Wäsche wartete noch. Die Treppe runter in die Kellergrotte, der Geruch der Sickergrube, müsste mal gereinigt werden – aber da muss ich Hannes erst mal zu kriegen, mache ich wohl besser selbst –, sie zerrte Knäuel nasser Wäsche aus der Maschine, abwechselnd mit beiden Händen, als zöge sie an einem Tau, bis der ganze Batzen auf einmal hineinplumpste in die Bütt, nicht enden wollende Menge an T-Shirts und Hemden von Hannes, Hosen von Cora, Strümpfe, unendlich viele winzige Söckchen. Ein einziges Kind, was das allein schon verbraucht, nicht auszudenken, wenn es zwei oder drei wären, sie stöhnte innerlich, wieso bin ich eigentlich für die Wäsche zuständig? Von wegen Gleichberechtigung. Sowieso Illusion, ungleiche Bezahlung, ungleiche Rente, ungleiche Krankenkassenbeiträge. Und diese Karrieresache, ob mit Frauenquote in deutschen Firmenvorständen oder ohne, soll das das etwa Gleichberechtigung sein? Aufstieg um jeden Preis, genauso werden wie die Männer in den Führungsetagen? Nach dem Abi die Frage, wie geht es weiter, tiefste Eifel, unser Hof bei Neroth … Wie der jetzt wohl aussieht mit den neuen Eigentümern? … Traurig, ein bisschen traurig, aber doch sehr abgelegen, da haben wir es hier besser, sind sofort in Düsseldorf oder Köln, wenn wir wollen. Eigentlich wollen wir gar nicht … Genau diese Überlegung, Karriere, was soll das, ich pfeif drauf, geprüft und ausgeschlossen. Wozu etwas darstellen in dieser verkorksten Gesellschaft, die sich immer zweifelhaftere Ikonen sucht? Erfolg, Ruhm, alles nur Ballast, der einen am Leben hindert. Ist doch nicht das, was es ausmacht. Wenn Hannes es nur mal begreifen würde. Ist doch hyperintelligent, im Intelligenztest als Kind habe ich über 140 gehabt … Da ist er dann stolz drauf, aber dass er wirklich mal was kapiert, etwas Essenzielles, das ihn lehrt, sein Leben zu führen, so weit ist er nicht, der Ehrgeiz, der an ihm nagt, ist das Problem. Was bringt das? Ruhm ist unwichtig, Karriere auch, gelingendes Leben hängt davon nicht ab. Will gar nicht daran mitwirken, dass es hierzulande immer so weitergeht, die Wenigen viel, die Vielen wenig, wo bleibt da die Gerechtigkeit?

Enno Stahl: Spätkirmes. Roman. Verbrecher Verlag. 224 Seiten, 18,00 Euro. Zur Verlagsseite.

Mi, 10:30 Uhr: taz und Ybersinn Verlag präsentieren Lutz Büge: VirenkriegModeration: Georg Löwisch (taz)

Literaturverlag Droschl

Droschl widmet sich ausschließlich und kontinuierlich der Gegenwartsliteratur, nicht nur der deutschsprachigen, sondern auch einzelnen markanten Autoren aus unterschiedlichen Sprachräumen. Schon sehr früh war es klar, dass von den vielen Schreibweisen besonders die Tradition der Aufsässigen, der formalen Erneuerer und Traditionsbrecher einen Publikationsort bei Droschl finden würde.

Mit den Droschl-Büchern möchten wir neugierige Leser und Leserinnen ansprechen, die etwas entdecken wollen, Wortfixierte, deren große Liebe der Sprache gehört, den Sprachen, den zahllosen verschiedenen Sprechweisen. Zur

Mi, 11:00 Uhr: Literaturverlag Droschl präsentiert Gertraud Klemm: Erbsenzählen. RomanModeration: Christopher Heil

Literaturverlag Droschl

Droschl widmet sich ausschließlich und kontinuierlich der Gegenwartsliteratur, nicht nur der deutschsprachigen, sondern auch einzelnen markanten Autoren aus unterschiedlichen Sprachräumen. Schon sehr früh war es klar, dass von den vielen Schreibweisen besonders die Tradition der Aufsässigen, der formalen Erneuerer und Traditionsbrecher einen Publikationsort bei Droschl finden würde.

Mit den Droschl-Büchern möchten wir neugierige Leser und Leserinnen ansprechen, die etwas entdecken wollen, Wortfixierte, deren große Liebe der Sprache gehört, den Sprachen, den zahllosen verschiedenen Sprechweisen. Zur

Über das Buch

Gertraud Klemm durchleuchtet scharfzüngig und bitterböse, aber auch humorvoll unsere heutigen Zustände. Kein Blatt nimmt sie vor den Mund, wenn sie die verschiedensten Lebensentwürfe von den Nachkriegskindern bis zur Generation Z aus ganz unterschiedlichen Milieus schonungslos auseinandernimmt.

Wie kann man in einer von Regeln und Normen durchdrungenen Welt frei leben? Vor nicht weniger als dieser Frage steht die fast 30-jährige Annika, die sämtliche beruflichen und privaten Erwartungshaltungen von sich fernhält. Sie hat ihren sicheren Job geschmissen und lehnt sich mehr kellnernd als studierend nonchalant gegen die unsägliche Erbsenzählerei auf. Karriere, Ehe, Kinder, Eigenheim – das sind für sie belanglose Statussymbole, die andere von der Soll- zur Haben-Seite aufsummieren.

Immer wieder durchbricht Annika die Schranken der neoliberalen Leistungs- und traditionellen Wertegesellschaft und entzieht sich den vorgegebenen Lebensentwürfen. Aber wie lassen sich Ideal und Wirklichkeit miteinander vereinbaren, wenn die Gefühlswelt zu ihrem fast doppelt so alten Partner Alfred durcheinandergerät oder sie die »Stieftussi« für dessen 13-jährigen Sohn Elias spielen und Verantwortung übernehmen muss?

»Dieses Erzählen zeichnet eine Lust am bösen Blick aus, die der Leserin gallige Freude bereitet.« Julia Schröder, Deutschlandradio

»Klemm hat Erstaunliches geschafft: Eine ebenso lustige wie traurige Geschichte, in der sich viel Lebensklugheit unterhaltsam vermittelt. Ein kleines großes Buch.« Wolfgang Huber-Lang, APA

Über die Autorin

Gertraud Klemm, geboren 1971 in Wien, aufgewachsen in Baden, Biologiestudium. 2010 erschien ihr Roman Mutter auf Papier (Neuauflage als Muttergehäuse, 2016). Für ein Kapitel aus Aberland (Droschl 2015) erhielt Klemm den Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (2014) und mit dem ganzen Roman stand sie auf der Longlist des deutschen Buchpreises (2015). Im selben Jahr verschuf ihr außerdem ihr Debüt bei Droschl, Herzmilch (2014), einen Platz auf der Shortlist des European Union Prize for Literature.

Darüber hinaus erhielt Klemm weitere Stipendien und Förderpreise wie den Harder Literaturpreis (2012) und den Irseer Pegasus Literaturpreis (2014). Zur Homepage.

Auszug aus Gertraud Klemm: Erbsenzählen. Roman

There is a princess in all our heads: she must be destroyed. Laurie Penny: Unspeakable Things: Sex, Lies and Revolution

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Vor der Garderobentür schlagartig Turnsaalgeruch, nicht überraschend, aber in dieser Heftigkeit dann doch, ein Bubengeruch, noch nicht beißend, aber schon eine Spur Raubtier. Das müssen die einschießenden Hormone sein, die Gummisohlen ihrer Schuhe und ihr Milchbubenatem. Sie stehen dicht und wackelnd auf einem Bein, draußen verstopfen sie den Zugang zur Kabine, reden dabei miteinander, ich stehe knapp hinter Elias, warte darauf, ob er sich durchsetzt und vorbeiquetscht.

Lass ihn am besten in Ruhe, lass ihn erwachsen werden, hat Alfred gesagt, alles Übrige ergibt sich schon. Elias entscheidet sich für einen Spind, und ich ziehe mich diskret auf den Gang zurück.

Alfred hat den Literaturkritiker zu Besuch, es sei etwas Wichtiges, sagte er, aber auch das Turnier sei wichtig. Elias hatte keinen Einwand, dass ich anstatt Alfred oder Valerie mitkomme, aber einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck hatte er schon für uns. Er könne das alleine, sagte Alfred, eigentlich könne er alles alleine, was nicht die Eltern für ihn erledigen, aber das ist nicht sehr viel, fürchte ich. Was hat er denn davon, wenn die Stieftussi dasitzt und zusieht, Stieftussi, so sagt er zu mir, wenn ich scheinbar außer Hörweite bin, ich habe es ihn letzte Woche zischen gehört, im Vorraum, zu Alfred, aber es tat gar nicht richtig weh. Man muss ihn nicht mögen, um ihn zu verstehen. 

Jedes Kaff hat seinen Fußballplatz, so klein kann es gar nicht sein. Eine Kirche, ein Kriegerdenkmal, einen Fußballplatz, das ist die Grundausstattung, alles andere, Arzt, Bäcker, Feuerwehr, ist Luxus. Kirche am Sonntag, das muss nicht unbedingt sein, Fußball am Samstag schon eher. Den Kindern zuschauen, das ist wichtig. Überwiegend Väter da, mit wenigen Ausnahmen, eine der wenigen Ausnahmen hat Permanent Make-up auf den Augenlidern, angeblich wird das tätowiert. Man müsste mich narkotisieren. Manche stehen schon unter dem Vordach der Kantine, manche verschwinden in der Kantine, manche richten es sich im Zuschauerbereich auf den Plastikstühlen und Bänken ohne Lehne gemütlich ein. Nur wenige gehen noch mit zu den Kabinen. In der Früh herbstelt es schon voll, sagt die mit den tätowierten Augenlidern zu niemand Bestimmtem, während sie sich tiefer in ihre winterlich aussehende Jacke verkriecht. Spricht sie mit mir? Ich flüchte zum Spielfeldrand und sehe auf die Uhr. 

Die Väter beim Fußball, die Mütter bei allen anderen Veranstaltungen, so viel habe ich in den letzten eineinhalb Jahren beobachten können, bei den wenigen Events, bei denen ich Elias’ Mutter ausnahmsweise, wie Alfred gerne sagt, vertreten durfte. Ausnahmsweise auf dem Fußballplatz beim Match zusehen, ausnahmsweise vom Training abholen, ausnahmsweise zu einem Freund bringen. Elias’ Mutter ist sehr bemüht, die Ausnahme nie zur Regel werden zu lassen, und dabei so freundlich: Sag doch Valerie zu mir, wenn wir uns schon die Familie teilen, sollten wir keine unnötige Distanz aufbauen. 

Eine dunkelgraue Wolkenbank schiebt sich über den frühherbstlichen Fußballplatz. Sie sieht nach Hagel aus, nach nahem Winter, nach einem eiskalten Regenguss und durchnässten vorpubertären Buben, nach einer Nebenhöhleneiterung, die ich Elias eingebrockt habe, weil ich meinen Stiefmutterpflichten nicht nachgekommen bin und kontrolliert habe, ob er die Vereinsregenjacke mitgenommen hat. Ob sie noch im Alfa liegt? Ich gehe meiner Verantwortung nach, zum Auto, tatsächlich, die Regenjacke auf der Rückbank, ich nehme sie, trage sie in das Nebengebäude und bleibe vor dem Umkleideraum stehen, an die Wand gelehnt, so wie zwei Väter. Wenn er aus der Kabine kommt, werde ich sie ihm mit einem schwesterlichen Augenzwinkern unterjubeln, darauf bedacht, keinen Funken Bevormundung aufkommen zu lassen. Die Tür zur Kabine ist angelehnt, man hört die Buben lachen und cool reden. Ich stelle mir vor, wie Elias seine Sachen in den Spind stopft, die Hose verdreht und das T-Shirt auch, so wie zu Hause, wahrscheinlich die dreckigen Schuhe oben auf. Diese Sache mit der Wäsche, warum stört mich das so an ihm, muss ich seine Wäsche waschen und bügeln? Nein, das macht Valerie, warum also unbeliebt machen und es ansprechen, es überhaupt andenken. In ein paar Stunden ist er wieder bei Mama, und in ein paar Jahren ist er ganz aus dem Haus, und Alfred und ich haben einander und endlich Ruhe. Theoretisch. Wenn ich mir das so überlege, ist das die Schokoladenseite des Elternseins, die Spitze der Bedürfniserfüllungspyramide, ganz unten das Gebären und die Windeln, darüber gleich das ständige Putzen, das Kochen, die Wäsche, das Einkaufen, so klettert man jahrelang hinauf, Hausaufgaben, Lernen, Trösten, und ich darf auf der Spitze der Pyramide sitzen und die schöne Aussicht auf ein U14 Match genießen und die gute Luft, alles völlig unverdient! Andere würden sich darum reißen.

Hier kann ich sitzen und passiv meine Patchworkpflichten abdienen, ich kann mir diese völlig absurde Fußballwelt einmal hautnah ansehen, es ist wie eine Exkursion an einen Ort, den man nicht mögen muss, um ihn, für einen kurzen Zeitraum zumindest, spannend zu finden. So wie eine Kläranlage. Eine Kläranlage ist kein Ort der Erbauung, aber wichtig, sie muss funktionieren, so wie diese Fußballnachmittage mit den Kindern funktionieren müssen. Ohne Kläranlage und ohne Fußballkinderwelt gibt es keine funktionierende Gesellschaft, zumindest nicht für Alfred und mich. 

Wenigstens müssen Elias und ich einander keine Stief-Liebe vortäuschen. Ich nehme mein Handy heraus und tippe ein bisschen darauf herum, lösche mechanisch SMS und alte Fotos. So sieht das also aus, das harmonische Familienleben. Der Vater zu Hause in einen Dialog über Knausgård vertieft, Mutter in Venedig, Sohn und Stieftussi am Sportplatz. Valerie ist dort auf einem Kongress, sie hält sogar einen Vortrag, irgendwas mit Gender. Endlich wieder eine gute Auftragslage, endlich wieder voll im Stress, hat sie erleichtert geseufzt, als sie schwungvoll um den Golf herumgegangen ist, um ihrem Sohn die Tasche herauszunehmen, dabei sind ihre ausgeföhnten, honigfarbenen Locken im Takt auf- und abgewippt. Elias ließ sich einen Kuss auf die Wange drücken und stand zerzaust da. Ich vergönne Valerie Venedig, das ist das Schlagobers zum Alltag, und von mir aus vergönne ich ihr ein Liebesabenteuer, das ist die Karamelsoße darauf. Darüber weiß ich aber nichts. Alfred hält sich bedeckt, um mich oder sich selbst zu schützen, oder vielleicht weiß er wirklich nichts.

Ein paar Buben kommen aus der Umkleidekabine und steuern das Klo an, ich sehe kurz, durch den geöffneten Türspalt, dass Elias noch immer nicht im Dress ist, sein nackter Oberkörper nicht mehr kindlich, mager, knabenhaft, es zeichnet sich bereits ab, dass er Alfreds leptosome Arme bekommen wird. Er reißt gerade den schön gefalteten Fußballdress achtlos aus seiner Tasche, immer dieses Zornige in seinen Bewegungen, als würde er zu jeder einzelnen Handlung in seinem kleinen Bubenleben gezwungen. Die vorbeidrängenden Spieler riechen blümchenfrisch, diese Frauen verwenden alle Weichspüler, mit dem halten sie den Knabengeruch in Schach, so wie Valerie, der ganze Familiengeruch wird unter »Regenfrisch« oder »Sommerwind« begraben. Wenn Elias am Wochenende bei uns schläft, zieht er diesen Geruch hinter sich her wie einen synthetischen Geist.

Ich hasse Fußball, ich habe Bälle immer schon gehasst. So ein Ball ist eine Waffe, wenn man kein Ballgefühl hat, das Wort Gefühl ist völlig fehl am Platz, es sollte Ballgewalt heißen. Was hat sich Mutter Natur nur dabei gedacht, dieses Ball-Gen in den Genpool zu werfen, es so sorglos den ohnehin schon Stärksten und Gröbsten zu überlassen? Wahrscheinlich war das, was man als Ballgefühl bezeichnet, einmal als Früchtegefühl vorgesehen, damit man vom Baum fallendes Obst besser fangen kann, oder es war ursprünglich als Steingefühl gedacht, denn so ein Stein soll gut in der Hand liegen, bevor man ihn einem anderen Neandertaler über den Schädel zieht. Aber vermutlich hat sich Mutter Natur gar nichts dabei gedacht, wie so oft, da war einfach ein dominantes Gen, das einen grandiosen evolutionären Vorteil gebracht hat, und das wiederum wäre eine Erklärung für die Besessenheit der Gesellschaft von dieser Ballspielerei, ihre Hysterie bei jeder EM, WM, Olympiade.

Der Trainer kommt auf uns zu, verkaterter Eindruck, er trägt eine Kappe, aus der die blonden Haare hervorsprießen und über die verschwollenen Augen hängen, er nimmt die Kappe kurz ab, kratzt sich den niedergetretenen Binsengraspolster, setzt sie wieder auf, die Nase zu großporig für das Alter. Er nickt uns zu, geht in die Kabine, zieht die Tür zu, wir hören gerade noch, wie er sagt: Morgen, Teambesprechung.

Jetzt setzen sich die Eltern in Bewegung, ich stehe da mit meiner Jacke, soll ich klopfen? Ich sehe Elias vor mir, peinlich errötet, sich für mich schämend, die Stieftussi, die unnötigerweise mit der Regenjacke im Weg herumsteht. Ich lasse es gut sein und gehe hinter den anderen her, zurück auf den Platz, wir sind eine pflichtbewusste Prozession, wir verteilen uns gleichmäßig im Zuschauerbereich. Samstäglicher Präsenzdienst am Nachwuchs, damit der Nachwuchs Teamfähigkeit lernt, Zusammenhalt, so etwas lernt man nicht mehr im alltäglichen Leben, überall nur sitzender Frontalunterricht und jeder gegen jeden und dazwischen alleine vor dem Bildschirm, also: Mannschaftssport. 

Ich setze mich auf die Bank, der Wind ist von einer novemberhaften Bösartigkeit, keine Spur mehr von Spätsommer, meine Jacke ist zu dünn. Warum kann man bei so einem Wetter nicht schon drinnen spielen? Wir sitzen in Blöcken, es gibt vier Mannschaften und vier unterschiedlich gut bestückte Blöcke, manche Gemeinden haben einfach bravere Eltern als andere. 

Wieso können Kinder nicht Sport treiben, ohne dass ihre Eltern ihnen dabei zusehen müssen? Beim Tennis haben die Eltern auch immer zugesehen, und die Geschwister, wir saßen immer alle durcheinander, die Gegner und wir, mein Bruder Daniel in der knappen Hose auf dem Platz, nervös trippelnd, den Schläger in der Hand drehend, Vater und Mutter brav bei jedem Spiel dabei, und ich auch, mit meinem Lackköfferchen, Annika, pack deine Puppen ein, Annika, pack dein Steckspiel ein, na, was weiß denn ich, pack halt ein Buch ein oder was auch immer, jetzt frag doch nicht immer, Annika! Mutter dann doch ungeduldig, denn irgendwann war der Tank leer, der Leistungssport hat einen hohen Verbrauch, Kalorien, Zeit, viel Geduld und Ausdauer, Ausdauer, das musste man immer zweimal sagen, zur Bestätigung, das zweite Ausdauer war wichtig, denn sonst wäre es nur ein ordinäres Hobby gewesen. Und als es endlich mit dem Tennis zu Ende ging, kam das Nesthäkchen, die Klette, die als ungeplante Spätgeborene – Mutter war immerhin schon zweiundvierzig – in unserem Alltag detonierte, und ich reifte direkt vom Barbie-Alter ins große Schwestern-Alter, und von da an hing die Klette an mir, zehn Jahre lang, und wenn ich nicht mit achtzehn ausgezogen wäre, hinge sie immer noch an mir. 

Der erste Kaffee in Pappbechern wird geholt, und geraucht wird immer noch, trotz der Kinder und der Vorbildfunktion, nichts hilft gegen das Rauchen, nicht einmal das Kinderhaben. Im hinteren Teil des Sportplatzes wird jetzt aufgewärmt, die zwei Mannschaften, die beginnen, laufen, springen und schießen sich in Form, die Wolke ist vorbeigezogen, ein kurzer Wärmemoment, bevor die nächste Wolke kommt. Ist das ein Klima für Sport, ist das ein Klima für einen Samstag? Es ist kein Klima für mich.

Wie oft Alfred wohl bei einem Fußballspiel dabei war? Er hat sich bis jetzt fast immer herausgewunden aus der Verpflichtung, Valerie war bislang dafür zuständig, aber Valerie hat jetzt auch etwas anderes zu tun, die Metamorphose von der Mutter zur Frau geht genauso schleichend wie die von der Frau zur Mutter, und man kann es ihr nicht verübeln, das geht jetzt wohl seit knapp dreizehn Jahren so, dass sie eigentlich für fast alles zuständig ist. Ich kann mir Alfred schlecht mit Baby-Elias vorstellen, auch wenn die Fotos in seiner Stadtwohnung bezeugen, dass er ihn gehalten hat, ihn und sich ins Bild gesetzt hat, liebevoll und mit diesem Gesichtsausdruck, der immer ein bisschen überwältigt wirkt. Valerie habe sich bald nach Elias’ Geburt von Alfred entfremdet, erzählte er, oder hat er sich von ihr entfremdet? Aus der Entfremdung wurde jedenfalls eine saubere Entwöhnung, die ohne große zwischenmenschliche Katastrophen auskommen durfte, woran Alfreds großzügige Alimente, die er vollmundig Reparationszahlungen nennt, sicherlich nicht unbeteiligt sind. Valerie und Elias jedenfalls sind fest miteinander verwachsen, aber irgendwann gehöre auch diese Nabelschnur durchtrennt, sagte Alfred, irgendwann gehöre dieses Gebrauchtwerden ausgeschlichen, und am besten geht das anscheinend, wenn so eine Betreuungspflicht von der Mutter an den Vater delegiert wird, der kann es dann an die junge Geliebte weiterdelegieren, bis der verwöhnte Fußballfratz irgendwann kein Zuschauerkomitee mehr braucht. 

Alfred und der dicke Literaturkritiker saßen einander gegenüber, als ich mich heute Morgen verabschiedet habe, sie waren schon tief ineinander verkeilt, Knausgård wurde besprochen, schon wieder, leere Espressotassen, die Morgensonne streifte die Buchrücken hinter ihnen, den Staub auf dem Bücherregal, und die beiden haben die Köpfe gedreht und mich angesehen, da hat sich eine Erinnerung in mir breitgemacht, ich bin schon einmal so angesehen worden, nur – wo?

Die Kinder rennen wie verrückt herum, schon bevor das Spiel mit einem Pfiff überhaupt begonnen hat. Wie sie einander rempeln, wie sie foulen, ohne zu foulen, immer dieses Gegeneinander. Ohne Gegeneinander gibt es kein Miteinander, ohne Verlieren kein Gewinnen, ohne Krieg keinen Frieden. Völkerball mussten wir in der Schule spielen, es hätte Völkerkrieg heißen müssen, verstecken ging nicht, das Einzige, was half, war, sich möglichst früh abknallen zu lassen, am besten von einem Mädchen, die schossen die Bälle nicht so scharf, außer den zwei Barbaras, die gut werfen konnten, die zielten den Mädchen vorsätzlich auf den sprießenden Busen und den Buben in den Schritt. 

Das Wort Völkerball haben die Reformpädagogen angeblich aus dem Turnunterricht-Lehrplan herauskorrigiert, so wie sie den Neger aus den Schulbüchern korrigiert haben und die Bundeshymne ganz konsequent mit Töchtern singen. Aber leider nur das Wort, sie haben es einfach umbenannt, Merkball heißt es jetzt, aber der Ball ist geblieben, und Leuten wie mir hilft so etwas auch nicht. 

Jetzt der Anpfiff und gleich das erste Tor gegen Elias’ Mannschaft, zweites Tor gegen Elias’ Mannschaft und das schon in der dritten Spielminute, ich habe keine Ahnung von den Regeln, aber es sieht nicht gut aus für uns. Der Trainer beginnt auf und ab zu gehen und mit dem Kopf zu schütteln. Immer, wenn ich mich auf das Regelwerk konzentrieren will, verschwimmt das Spiel vor meinen Augen, aber da sind die Schreie der Zuschauer und die Pfiffe des Schiedsrichters, die retten mich. Jetzt fällt mir plötzlich ein, woran mich Alfred und der Literaturkritiker erinnert haben. Joschi und sein Freund Lukas in Joschis Jugendzimmer auf dem Bett, wir waren sechzehn, und Lukas war völlig entwurzelt, als ich zur Tür hineinkam, in dem Raum gab es keinen Platz für drei, so eine Dreierkonstellation in diesem Alter ist absurd. Aber Joschi versuchte, abwechselnd mit mir in Körperkontakt zu treten und mit Lukas über das 22-er Modul seiner neuen Vespa zu sprechen, bis Lukas entnervt das Feld räumte und Joschi mir in seiner Verzweiflung die Zunge noch ein bisschen tiefer in den Rachen steckte als sonst.

Wenn mein Block grölt, mache ich auch ein Geräusch, ein Raunen muss reichen, ich spüre, wie sie mich beobachten, von der Seite, 0:3, Uuuuh macht unser Block. Der Trainer beginnt, sich desillusioniert sein Gesicht zu reiben. Diese seitlichen Stielaugen, die sich so schnell zurückziehen können, wenn man dann den Kopf wendet, wer ist denn das, das ist aber nicht die Mama, die neue Jungevom Radiomoderator, oder vomOpi, der aber der Papiist.

Ein Fußballverein lebt vom Tratsch der Eltern, vom Alkohol des ersten Spritzers, bei so einem Turnier ist viel Zeit zum Schauen und Reden, wenn die anderen Mannschaften spielen und man trotzdem zusehen muss. Ich spüre die Neugier, aber auch das Verständnis. Man versteht Alfred ohne langes Nachdenken, dass er sich eine Jüngere sucht. Man versteht auch, warum sich die Junge ausgerechnet Alfred ausgesucht hat. Alfred ist der silberschläfige Kulturradio-Moderator mit der Waldhonigstimme, die man auch aus den Universum-Fernsehsendungen kennt und aus der Werbung. Diese Stimme, die einen dunkel und packend überrollt, sie kriecht einem ins Ohr und von dort weiter in den Bauch, während man hört, warum das Tölpelweibchen kein Futter finden kann, wer das Klavierkonzert dirigiert hat und dass es nur eine Versicherung gibt, die tatsächlich auf unserer Seite ist. Weil Alfred berühmt ist, ist er auch entsprechend gut vernetzt, und wie alle, die so gut vernetzt sind, muss er auch reich sein, und eine nicht mehr ganz junge Kunstgeschichtestudentin ohne große Ambitionen und ein alternder, renommierter Kulturredakteur beim Radio, das passt wie die Fliegen auf den Scheißhaufen, das habe ich unlängst in einem dieser Wirtshäuser gehört, in denen Alfred so gerne zu Mittag isst, eines dieser Gasthäuser, wo sie die Gerichte noch nach Tierarten sortieren: Vom Rind, Vom Schwein bekommen je eine eigene Kategorie, Huhn, Forelle und Pangasius hingegen müssen sich unter G’sund & G’schmackig zusammendrängen, neben den Fertig-Gemüselaibchen. 

Was man sich jedoch nicht vorstellen kann, trotz langen Nachdenkens, ist erstens die Sache mit den Kindern und zweitens, dass eine Frau es in Kauf nimmt, dass sie dann übrig bleibt und noch ein paar Jahre überlebt, wenn der Radiomoderator früher stirbt. Vor allem die Frauen können das nicht verstehen, dabei sollten gerade sie es besser wissen, denn bleiben nicht so gut wie alle Frauen übrig, weil die Männer früher sterben? Und sind Kinder wirklich das einzig Wahre, das man auf gar keinen Fall versäumt haben darf? Kann es nicht auch eine Atlantiküberquerung, ein Medizinstudium, eine Everestbesteigung, der Jakobsweg, vielleicht sogar Eremitentum sein? Was ist es bei mir? Wenn ich das wüsste. 

Gertraud Klemm, Erbsenzählen. Roman. Literaturverlag Droschl 2017. 160 Seiten, 19 Euro. Zur Verlagsseite.

Mi, 11:30 Uhr: Passagen Verlag präsentiert Peter Engelmann (HG): STÖREN! Das Passagen-BuchModeration: Barbara Stang

Passagen Verlag

1987 gründete Peter Engelmannn in Wien den Passagen Verlag, der als erster Verlag im deutschsprachigen Raum die umfassende Übersetzung der Schlüsseltexte von Postmoderne und Dekonstruktion zu einem zentralen Programmpunkt seiner Arbeit machte. Ausgehend von diesem programmatischen Schwerpunkt hat der Passagen Verlag seither ein unabhängiges, genreübergreifendes Programm entwickelt, das aktuelle Positionen aus den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, Kunst, Literatur und Philosophie vereint. Mit einer Backlist von nahezu 1000 Titeln und ca. 50 Neuerscheinungen pro Jahr hat sich der Passagen Verlag als bedeutender geistes- und kulturwissenschaftlicher Verlag profiliert. Er zählt zu den renommiertesten nichtkommerziellen Qualitäts- und Programmverlagen im deutschen Sprachraum. Zur

Über das Buch

Der Passagen Verlag engagiert sich seit nunmehr 30 Jahren für die Vermittlung französischen Denkens im deutschsprachigen Raum. Anlässlich dieses Jubiläums erscheint ein besonderes Buch, das die Gründungszeit des Verlages wiederaufleben lässt und dabei die Kernthemen herauskristallisiert, die bis heute für die Arbeit des Verlages wegweisend sind.

Autoren der ersten Stunde wie Jacques Derrida und Jean-François Lyotard sind Ideengeber des wichtigsten gesellschaftlichen Umbruchs am Ende des 20. Jahrhunderts, das durch zwei totalitäre Systeme - Kommunismus und Faschismus - dominiert war. Angesichts der gegenwärtigen politischen Weltlage zeigt sich heute erneut die fundamentale Bedeutung dieser kritischen Positionen. Dieses Buch führt den Leser in die 1980er-Jahre, die Hoch-Zeit der „Postmodernen Philosophie“ in Frankreich, zurück und illustriert anhand ausgewählter Dokumente die Anfänge des Projekts Passagen Verlag. Bisher unveröffentlichte Gespräche mit Jacques Derrida, Jean-François Lyotard und zahlreiche Fotos sowie aktuelle Beiträge von Hélène Cixous, Alain Badiou und Jacques Rancière gewähren dem Leser einen Einblick in den lebhaften intellektuellen Austausch, der die theoretischen Diskurse der Gegenwart noch immer um innovative Positionen bereichert.

Über den Herausgeber und die Autoren

Peter Engelmann ist Philosoph, Herausgeber der französischen Philosophen der Postmoderne und der Dekonstruktion und Leiter des Passagen Verlages. Zur Autorenseite.

Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA. Zur Autorenseite.

Jean-François Lyotard (1924-1998) lehrte Philosophie in Paris und den USA. Zur Autorenseite.

Hélène Cixous, geboren 1937 in Algerien, lebt als Schriftstellerin und Professorin in Paris. Zur Autorenseite.

Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, Marokko, lebt als Philosoph, Mathematiker und Romancier in Paris. Zur Autorenseite.

Jacques Rancière, geboren 1940, ist emeritierter Professor für Philosophie und Kunsttheoretiker in Paris. Zur Autorenseite.

Auszug aus Peter Engelmann (HG): STÖREN! Das Passagen-Buch

In eigener Sache

Dies ist seit 30 Jahren das erste Wort in eigener Sache, das kein Programm einleitet, sondern ein Innehalten nach 30 Jahren voller Erfolge und voller Fehler, aber immer aufregend, riskant engagiert und entschlossen – und eben störend.

Seit seinem ersten Programm wurde der Passagen Verlag als Störung und unsere Autoren als Störer empfunden. Den Linken war es zu rechts und den Rechten zu links, aber uns waren genau diese Kategorien, diese Denkkorsette zu eng. In Frankreich wurden die Autoren der ersten Stunde, von denen Sie in diesem Buch unveröffentlichte Texte finden, allesamt am Beginn ihrer Karriere als Störer aus dem akademischen Kontext ausgegrenzt, bis hin zu der Absurdität, dass Jacques Derrida eine Professur in Nanterre verweigert wurde. In Deutschland wurden die französischen Philosophen Anfang der 80er-Jahre erbittert bekämpft, weil sie es wagten, das Kritik-Monopol Frankfurter Schule unter Habermas mit neuen Ansätzen gesellschaftskritischen Denkens in Frage zu stellen. Störer eben.

Das Gleiche gilt heute für Jacques Rancière, Alain Badiou und Jean-Luc Nancy, die auf jeweils verschiedene Weise unsere selbstbezogene und oft genug selbstgefällige westliche Demokratie in Frage stellen und neue Wege suchen, ihre Mängel zu beseitigen und sie für eine globalisierte Welt neu zu denken. Ihre Texte lassen sich nicht in das politische Rechts-Links-Schema einordnen. Sie stören. Als uns das Berliner Gorkitheater vor zwei Jahren um ein Motto für unsere Kooperation bei den Passagen Gesprächen bat, fiel mir ohne viel Nachdenken „Stören!“ ein. Seither entwickelte und festigte sich dieses Motto für das gesamte Passagen Projekt. Es ist nur folgerichtig, dass „Stören!“ nun auch der Titel für dieses Passagen Buch wurde.

Zum Schluss drängt sich mir eine kleine persönliche Anekdote aus meiner Kindheit auf. Eines Tages, es war während meines ersten Schuljahrs, wurde meine Mutter angerufen, sie solle umgehend in die Schule kommen, es gäbe ein Problem mit mir. Ich war unter die Schulbank gekrochen und wollte partout nicht mehr darunter hervorkommen. Ich störte. Erst meine Mutter konnte mich unter der Schulbank hervor­locken und mich überzeugen, diese Störung in der Klasse zu beenden. Bis zum Abitur gab es immer wieder schlechte Noten in Betragen und Ordnung, die aber einfach nur meiner schwach ausgeprägten Bereitschaft geschuldet waren, diese „Fächer“ ernst zu nehmen. Ja selbst die Stasi, die mich seit dem Ende der Schulzeit im Auge hatte, beschrieb mich auf vielen Seiten meiner Akte als Störer. So blieb fast nichts anderes übrig, als alle diese Prophezeiungen zu erfüllen und einen Stör-Verlag zu gründen, auch wenn er schließlich Passagen Verlag hieß. Aber Passagen bedeuten ja immer auch Bewegung, Ausbruch, Störung. Und Stören bedeutet Passagen, Eröffnung neuer Denkräume und Erkundung von Wegen und Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Nach 30 Jahren gibt es zu jeder Bedeutung von Stören eine Geschichte, und Sie werden selbst neue Geschichten dazu finden. Wir hätten etwas falsch gemacht, wenn es nicht so wäre. Etwas ist gelungen, wenn man seine Überzeugungen und Träume in den Mühen des alltäglichen Lebens nicht verliert und sich im Wesentlichen treu bleiben kann.

Peter Engelmann

Rückkehr nach Paris

Der 30. Geburtstag des Passagen Verlags fällt mit dem Jahrestag des größten politischen Einschnitts seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers unter sowjetischer Herrschaft zusammen. 1989 brachte nicht nur das Ende des s­ozialistischen Lagers und damit das Ende des Kalten Krieges, sondern bedeutete mit der Wiedervereinigung Deutschlands auch das Ende der Nachkriegsperiode des vom deutschen Nationalsozialismus angezettelten Zweiten Weltkrieges. Aber als wären alle historischen Lehren, wenigstens des 20. Jahrhunderts, vergessen, erleben wir heute als Antwort auf die Veränderungen durch die Globalisierung der Wirtschaft und der Kommunikation eine Wiederkehr protektionistischer Wirtschafts- und nationalistischer Politikkonzepte als Heilsversprechen an die verarmten und abgehängten Teile der Gesellschaft. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Die Globalisierung der Wirtschaft erzeugt tendenziell einen einheitlichen Lebensraum, in dem sich jeder mit jedem in jeder Hinsicht vergleicht, in dem aber alle mit extrem ungleichen Chancen ausgestattet sind, sowohl was die Teilnahme als auch was die Ergebnisse betrifft. Die ungleiche Chancen­verteilung folgt dabei sowohl regionalen als auch nationalstaatlichen Differenzierungen, sowie Differenzierungen nach Herkunft und Bildung.

Die Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaft begann nicht erst mit dem Ende des sozialistischen Systems und des Warschauer Paktes, aber durch den Wegfall dieser Konfrontation erhielt sie einen großen Schub. Aus heutiger Sicht war die Existenz des sozialistischen Lagers ein starkes Globalisierungshindernis. Die Globalisierung gehört wesensmäßig zur kapitalistischen Produktions­weise, die danach trachtet, alles zur Ware zu machen und alle Waren auf möglichst großen Märkten zu handeln. Und der größte Markt ist bis zu Eroberung des Weltraums nun einmal der Weltmarkt. Das Ende der Konfrontation des Westens und des sozialistischen Lagers führte zu einer neuen Welle der Globalisierung. Ein weiterer, oft unterschätzter Faktor ist die Entwicklung globaler Kommunikationsnetze durch die Digitalisierung der Kommunikation. Virtuell bin ich durch die Fähigkeiten des Smart­phones, das überall auf der Welt mit dem Netz verbunden ist, ein Weltbürger, der in M­aputo in Echtzeit mit New York kommuniziert und umgekehrt. Die bewusstseinsverändernden Auswirkungen dieser technologisch-soziologischen Entwicklung liegen noch weitgehend im Dunkeln, da wir uns erst an ihrem Anfang befinden. Seit die Globalisierung immer weiter anschwellende Migrationsströme erzeugt hat, wird die Frage nach der Bedeutung der Globalisierung der Kommunika­tion für diese Entwicklung aber immer dringlicher. Denn neben dem Elend der Migranten zerstört die Massen­migration nicht nur die Herkunftsländer, sondern zunehmend auch das politische System der Zielländer mit unabsehbaren Folgen. Der durch die Armutsmigration entstehende Druck auf die Sozialsysteme der europäischen Sozialstaaten führt zur Abwehrhaltung derer, die von diesem System profitieren und nun teilen müssten. Die Verteidigung von Ressourcen der Sozialstaaten gegen Menschen, die in diese Systeme migrieren, führt zu Rassismus und Nationalismus in immer größeren Teilen der Bevölkerung und etabliert mit demokratischen Prozeduren autoritäre politische Führer und Parteien.

Heute müssen wir uns nun die Frage stellen, welche Rolle die in den 60er-Jahren entwickelten differenzphilosophischen Ansätze und die neuen libertären politischen Organisationsformen und Themen im Globalisierungsprozess und für diesen spielen.

Die Entwicklung differenzphilosophisch begründeter Positionen als Alternative zu autoritären und zentralistischen Politikkonzepten in den 60er-Jahren kann als philosophisch-politische Reaktion auf das grauenvolle, unendliches Leid produzierende Versagen totalitärer rechter und linker Politikversuche des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Post­moderne und Dekonstruktion, unter denen die differenzphilosophische Entwicklung journalistisch gelabelt wurde, gaben die Möglichkeit, nicht-kommunistische, alternative kritische Positionen zu formulieren und politisch zu entwickeln, die aus identitätsphilosophischer Sicht keine Legitimation hatten, da sie sich nicht aus einem übergeordneten Ziel ableiten ließen, dem alle individuellen Interessen unterzuordnen waren. In dieser Zeit entstanden zivilgesellschaftliche, basisdemokratische gesellschaftskritische Bewegungen, die, wie die Grünen, zu politischen Parteien mutierten, die heute etabliert und Teil des politischen Systems sind. Auch die zunehmende Anerkennung bis dahin verfolgter Minderheiten und ihre Normalisierung als ein Teil der Gesellschaft hat hier ihre Basis.

Heute haben wir weitgehend tolerante Verhältnisse in den westeuropäischen Demokratien, die nun aber unter den Druck autoritärer, intoleranter, rassistischer, nationalistischer Politiker und ihrer Parteien geraten, die dabei sind, auf demokratische Weise die Macht zu ergreifen, um diese Demokratie­n dann autoritär umzubauen. In Venezuela erleben wir gerade die links-totalitäre Variante dieser Entwicklung. Bis heute haben die westlichen Demokratien mit ihrer langjährigen institutionellen Tradition dieser Entwicklung weitgehend widerstanden. Die Länder mit autoritärer Tradition sind mit der institutionellen Abschaffung demokratischer Grund­elemente wie Presse- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, den Rechtsstaat sichernder Institutionen dagegen schon weit vorangeschritten, und das teilweise als weitgehend unbehelligte Mitglieder der EU. Diese autoritären Politiker und ihre Parteien distanzieren sich mit ihren politischen Konzepten zwar rhetorisch von der kommunistischen oder nationalsozialistischen Vergangenheit und deren Politikdiskursen, führen diese aber zugleich ungehemmt fort und machen sie zum legitimen Teil der politischen Auseinandersetzung – sie sind ja vom Volk gewählt. Diese Entwicklung weist darauf hin, dass die differenzphilosophische Position der Toleranz und Anerkennung der Unterschiede und die Entwicklung von Formen gleichberechtigten Zusammenlebens zugleich eine Gegenbewegung hervorgerufen hat, die diskursiv, aber auch in der institutionellen politischen Umsetzung, eine Rückkehr zu den Verhältnissen hervorgebracht hat, gegen die differenzphilosophische Positionen und toleranzorientierte, Vielfalt anerkennende und berücksichtigende Politikformen in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts ent­wickelt wurden.

Kehren wir nun noch einmal in die 60er-Jahre zurück, dann sehen wir, dass die damaligen Abstoßungspunkte für eine differenzphilosophische Umorientierung des philosophischen Diskurses heute in neuem Gewand, aber im Kern gleich und fast unverhüllt, wiederkehren.

Wir erleben nicht nur eine Widerkehr fremdenfeindlicher, offen rassistischer, nationalistischer, homophober Diskurse und Politikkonzepte sowie ihre politische Etablierung in Staaten wie der Türkei, Russland, aber auch in der EU in Ungarn und Polen. Und das, als hätte es die grauenhafte Geschichte faschistischer Politik nicht gegeben. Wir erleben auch eine Wiederkehr der Idee des Kommunismus, die neben den Altkadern kommunistischer Parteien auch immer mehr Anhänger unter jungen Leuten findet. Und das als hätte es die Geschichte der grauenhaften Versuche, den Kommunismus aufzubauen, nicht gegeben. Die damaligen zentralistischen oder totalitären politischen Konzepte erleben heute ein Revival, das an die 60er-Jahre und die Zeit davor erinnert. Dabei wird außer Acht gelassen, dass all diese Erscheinungsformen mehr oder weniger reiner totalitärer Politikkonzepte gescheitert sind.

Allerdings sehen wir heute, dass eine auf Differenzierung und Interessenausgleich gerichtete Politik der Toleranz, die der globalisierten Wirtschaft ihren Lauf lässt, weil sie angeblich alles besser kann als politikgeleitete Wirtschaft, zu keinen besseren Ergebnissen führt. Politikfreie, globalisierte Wirtschaft ist um nichts besser für die Gesellschaft. Ungezügelte Gier kapitalistischer Wirtschaftakteure richtet genauso viel Schaden an wie politisch motivierte Lenkungsdummheit, die zudem nicht selten ebenso kleinlich privatinteressiert ist wie diese. Statt politischer Macht etabliert sich wirtschaftliche Macht, die Politik beliebig kauft und über Lobbyisten nach ihren Wünschen steuert. So sind Strukturen und Verhältnisse entstanden, die ungeheure Profite ermöglichen, anfallende Verluste aber brutal der Allgemeinheit aufbürden, bis hin zur Zerstörung von Staaten wie in Griechenland.

Der Passagen Verlag hat sich bemüht, mit seinem ideologie­kritischen Programm totalitäre politische Strukturen in Frage zu stellen und für eine freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Gesellschaft zu werben und seit 1989 die gesellschaftlichen Erneuerungsprozesse zu unterstützen und k­ritisch zu begleiten. Heute müssen wir feststellen, dass das Ergebnis dieser Bemühungen ambivalent ist. Nach dem Erfolg bei der Verbreitung differenzphilosophischer Gedanken, insbesondere des Werkes Jacques Derridas mit über 40 Büchern, stellen wir heute nicht nur fest, dass die negative Entwicklung des globalisierten Kapitalismus immer mehr zu autoritären Regimen führt, sondern dass auch in der intellektuellen Auseinandersetzung um diese Entwicklung und bei der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen vermehrt vorkritische Ansätze auftauchen und breite Resonanz finden.

Wir haben diese Entwicklung aufgegriffen und bemühen uns, sie im differenzphilosophischen Umfeld unseres Programms in einen Dialog zu bringen. Mit Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy, Alain Badiou und Slavoj Žižek haben wir die wesentlichen Autoren dieser neuen, unorthodoxen Linken früh publiziert und dazu beigetragen, dass der rechten autoritären Gesellschaftskritik nicht das Feld überlassen wurde. Rückkehr nach Paris bedeutet heute nicht, Rückkehr zu einem absolut gesetzten differenzphilosophischen Ansatz, sondern zu Korrekturversuchen, die stärker als Philosophien anderswo die Entwicklung des differenzphilosophischen Paradigmas, das auch in ihrer eigenen Arbeit mehr oder weniger wirksam wurde, begleitend vor Augen hatten.

Heute sind die philosophischen Vordenker in Paris J­acques Rancière, Jean-Luc Nancy und Alain Badiou. Von außen kommt noch Slavoj Žižek dazu, dessen philosophische Entwicklung sich in enger Freundschaft und im regen Austausch mit Alain Badiou vollzog. An der Schnittstelle zwischen Philosophie, Feminismus und Literatur finden wir heute auch Hélène Cixous, deren Arbeit nun durch unsere Übersetzungen der letzten zehn Jahre auch im deutschen Sprachraum immer mehr verstanden und anerkannt wird. Alle haben zur selben Zeit – oder etwas zeitversetzt als deren Schüler – wie Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Paul Virilio und Jean Baudrillard in Paris und Straßburg gearbeitet und die Ausarbeitung des differenz­philosophischen Ansatzes begleitet, entweder mitarbeitend oder sich distanzierend, und dabei ihre eigenen Themen und Positionen entwickelt.

Jean-Luc Nancy, der eng mit Derrida verbunden war, knüpft noch am stärksten an dessen Denken der différance an, stellt aber seit jeher die Frage nach der Rückkehr zum Gemeinsamen, die politisch die Frage nach der Gemeinschaft ist und nach ihrem Verhältnis zum Einzelnen. J­acques Rancière, der in den 60er-Jahren durch die Mitarbeit an der strukturalistischen Marxlektüre Lire le Capital bekannt wurde, hat sich früh von Althusser und dessen theoretischen Positionen abgewandt und sich der Erforschung der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gewidmet. Von dort aus entwickelt er seine heute sehr erfolgreichen ästhetischen und politischen Gedanken. Alain Badiou, politischer Aktivist in maoistischen Gruppen, war wohl am wenigsten differenzphilosophisch geprägt. Seine Theorien faszinieren und überzeugen junge Leute, die festen Halt und Überzeugungen suchen. Sein Festhalten an der kommunistischen Idee wird von seinen Kritikern jedoch oft als dogmatisch und uneinsichtig gesehen. Selbst sein Freund Slavoj Žižek hält ihm das zuweilen vor. Dennoch ist die Kohärenz seines Denkens, das von der Musik bis zur Liebe, von der Politik bis zur Mathematik alles in ein stringentes Weltbild fasst, die vielleicht politisch wirksamste Position dieser Philosophenriege.

Hélène Cixous, die am engsten und innigsten mit Jacques Derrida und der Entwicklung seines Denkens der Differenz verbunden war, verteidigt in ihrem Denken und literarischen Schreiben das Prinzip der Dekonstruktion am überzeugendsten. Auf politischer Ebene ist sie durch ihre Texte, genauso wie durch ihre eigene Migrations-Biografie, heute zur einfühlsamsten Verteidigerin der heimatlosen, auf der Welt umherirrenden Migranten geworden.

In diesem Passagen Buch wollen wir nun zurückblicken auf die Geschichte dieses Denkens, das im Paris der 60er-Jahre seinen Anfang nahm und das mit dem Projekt des Passagen Verlages, nicht zuletzt auch aufgrund der Freundschaft und der Verbundenheit mit seinen Autoren, bis heute aufs Engste verknüpft ist.

Die bisher unpublizierten Texte in diesem Buch umreißen die vielfältige Geschichte der Vermittlung französischen Denkens, die bis heute ein wichtiges Anliegen der Verlags­arbeit darstellt.