Leseinsel der unabhängigen Verlage – E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2018 - CulturBooks Verlag - kostenlos E-Book

Leseinsel der unabhängigen Verlage – E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2018 E-Book

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Beschreibung

Die Leseinsel der unabhängigen Verlage 2018 gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen. Unser kostenloser E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel der Frankfurter Buchmesse 2017. Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung, unterstützt von der taz; der E-Reader wird umgesetzt von CulturBooks.

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Seitenzahl: 606

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Die Leseinsel der unabhängigen Verlage gibt’s jetzt auch zum Mitnehmen.Unser kostenloser E-Reader präsentiert die Texte, Autoren und Verlage der diesjährigen Veranstaltungen auf der Leseinsel der Frankfurter Buchmesse. Die Leseinsel in Halle 4.1 D36 ist eine Initiative der Kurt Wolff Stiftung, unterstützt von der taz; der E-Reader wird umgesetzt von CulturBooks.

Leseinsel der unabhängigen Verlage

Ein E-Reader zur Frankfurter Buchmesse 2018

Inhaltsverzeichnis
Mittwoch, 10. Oktober 2018 10:00 Uhr - 18:30 Uhr
Mi, 10:00 Uhr: panel discussion AFRICAN CHILDRENS BOOK PUBLISHING
Mi, 11:00 Uhr: Größenwahn Verlag präsentiert Barbara Bisicky-Ehrlich
Mi, 11:30 Uhr: Elfenbein Verlag präsentiert Anthony Powell
Mi, 12:00 Uhr: Die Kurt Wolff Stiftung präsentiert den neuen Katalog "Es geht um das Buch 2018/19"
Mi, 12:30 Uhr: Wallstein Verlag präsentiert Steffen Mensching
Mi, 13:00 Uhr: ebersbach&simon präsentiert Unda Hörner
Mi, 13:30 Uhr: Ink Press präsentiert Albertine Sarrazin
Mi, 14:00 Uhr: taz und Westend Verlag präsentieren Helmut Höge
Mi, 14:30 Uhr: Verlag Das Wunderhorn präsentiert Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts
Mi, 15:00 Uhr: Literaturverlag Droschl präsentiert Ally Klein
Mi, 15:30 Uhr: Drava Verlag präsentiert Carsten Schmidt
Mi, 16:00 Uhr: Unionsverlag präsentiert Jeong Yu-Jeong
Mi, 16:30 Uhr: Schöffling Verlag präsentiert Barbara Kalender/Jörg Schröder
Mi, 17:00 Uhr: Bilgerverlag präsentiert Willi Wottreng
Mi, 17:30 Uhr: Die Hotlist 2018 präsentiert »Die zehn Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen«
Donnerstag, 11. Oktober 2018 10:00 Uhr - 18:30 Uhr
Do, 10:00 Uhr: panel discussion INDEPENDENT PUBLISHING IN SOUTHEAST ASIA
Do, 11:00 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Gela Tschkwanawa
Do, 11:30 Uhr: Edition Monhardt präsentiert Surab Leschawa
Do, 12:00 Uhr: Edition Blau im Rotpunktverlag präsentiert Ruska Jorjoliani
Do, 12:30 Uhr: Verlag Die Brotsuppe präsentiert Sabine Haupt
Do, 13:00 Uhr: edition 8 präsentiert Maurizio Pinarello
Do, 13:30 Uhr: Mitteldeutscher Verlag präsentiert Hans-Günter Lindner/Zurab Tsertsvadze
Do, 14:00 Uhr: taz und grenzEcho präsentieren Bernd Müllender
Do, 14:30 Uhr: Berenberg Verlag präsentiert Jeanette Erazo Heufelder
Do, 15:00 Uhr: Argument Verlag/Ariadne präsentiert Dominique Manotti
Do, 15:30 Uhr: taz und Folio Verlag präsentieren Goran Vojnovic
Do, 16:00 Uhr: BücherFrauen e.V. präsentiert: Female Perspectives – Publishing in Georgia
Freitag, 12. Oktober 2018 09:30 Uhr - 18:30 Uhr
Fr, 09:30 Uhr: Residenz Verlag präsentiert Thomas Bernhard/Lukas Kummer
Fr, 10:00 Uhr: panel discussion WOMEN PUBLISHERS IN INDEPENDENT COMPANIES IN LATINAMERICA
Fr, 11:00 Uhr: Septime Verlag präsentiert Ekaterine Togonidze
Fr, 11:30 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Lasha Bugadze
Fr, 12:00 Uhr: Edition Korrespondenzen präsentiert Anja Golob
Fr, 12:30 Uhr: Open House Verlag präsentiert Christoph Jehlicka
Fr, 13:00 Uhr: Edition Contra-Bass präsentiert Pia Klemp
Fr, 13:30 Uhr: taz und Edition Tiamat präsentieren Wolfgang Pohrt
Fr, 14:00 Uhr: Die taz präsentiert LE MONDE diplomatique
Fr, 14:30 Uhr: Haymon Verlag präsentiert Andrej Kurkow
Fr, 15:00 Uhr: Verlag Das Wunderhorn feiert 40 Jahre Wunderhorn
Fr, 15:30 Uhr: Passagen Verlag präsentiert Kirstin Breitenfellner
Fr, 16:00 Uhr: Satyr Verlag präsentiert Severin Groebner
Fr, 16:30 Uhr: avant Verlag präsentiert Mikael Ross
Fr, 17:00 Uhr: Ch. Links Verlag präsentiert Andreas Speit
Fr, 17:30 Uhr: bahoe books präsentiert Evelyn Steinthaler/Verena Loisl
Fr, 18:00 Uhr: Verlag Voland & Quist präsentiert Nico Semsrott
Samstag, 13. Oktober 2018 10:00 Uhr - 18:30 Uhr
Sa, 10:00 Uhr: Ulrike Helmer Verlag präsentiert Sibylle Plogstedt
Sa, 10:30 Uhr: taz und Verbrecher Verlag präsentieren Anke Stelling
Sa, 11:00 Uhr: Klak Verlag präsentiert Aleko Shugladze
Sa, 11:30 Uhr: Mitteldeutscher Verlag präsentiert Lewan Berdsenischwili
Sa, 12:00 Uhr: zu Klampen Verlag präsentiert Johann-Günther König
Sa, 12:30 Uhr: Palmartpress präsentiert Markus Ziener
Sa, 13:00 Uhr: Pendragon Verlag präsentiert Willi Achten
Sa, 13:30 Uhr: taz und Verbrecher Verlag präsentieren Bettina Wilpert
Sa, 14:00 Uhr: Die taz präsentiert Wahrheitklub-Treffen
Sa, 14:30 Uhr: Friedenauer Presse präsentiert Edward Dębicki
Sa, 15:00 Uhr: Drachenhaus Verlag präsentiert Lihong Koblin/Sabine Weber-Loewe
Sa, 15:30 Uhr: Comicbattle Deutsches Team: Jan Altehenger und Marc Angel
Sa, 16:00 Uhr: Dörlemann Verlag präsentiert Dawit Kldiaschwili
Sa, 16:30 Uhr: Guggolz Verlag präsentiert Andor Endre Gelléri
Sa, 17:00 Uhr: AvivA Verlag präsentiert Lessie Sachs
Sa, 17:30 Uhr: Frankfurter Verlagsanstalt präsentiert Karoline Menge
Sa, 18:00 Uhr: Louisoder Verlag präsentiert Christian Rupprecht
Sonntag, 14. Oktober 2018 10:00 Uhr - 15:30 Uhr
So, 10:00 Uhr: Edition Azur präsentiert Dirk Skiba (Fotos)/Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt (Hrsg.)
So, 10:30 Uhr: Büchergilde Gutenberg präsentiert Martin Stark
So, 11:00 Uhr: Satyr Verlag präsentiert Michael Marten
So, 11:30 Uhr: Weidle Verlag präsentiert Aka Morchiladze
So, 12:00 Uhr: Europaverlag präsentiert Noémi Kiss
So, 12:30 Uhr: Edition Rugerup präsentiert Klaus Anders
So, 13:00 Uhr: Edition AV präsentiert Werner Abel
So, 13:30 Uhr: Konkursbuch Verlag präsentiert: Liebesleben-Performance
So, 14:00 Uhr: taz und Mandelbaum Verlag präsentieren Ilker Ataç, Michael Fanizadeh, Volkan Ağar, VIDC
So, 14:30 Uhr: weissbooks.w präsentiert Alan Schweingruber
So, 15:00 Uhr: Ch. Links Verlag präsentiert Dieter Boden

Mittwoch, 10. Oktober 201810:00 Uhr - 18:30 Uhr

Mi, 10:00 Uhr: panel discussion AFRICAN CHILDRENS BOOK PUBLISHINGModeration: Laurence Hughes, Alliance des Editeurs Independents Christine Warugaba, Furaha Publishers (RWANDA), Sophie Batiskaf, Dodo Vole (MADAGASKAR),

Mi, 11:00 Uhr: Größenwahn Verlag präsentiert Barbara Bisicky-Ehrlich: „Sag´das es dir gut geht“. Eine jüdische Familienchronik

Größenwahn Verlag

Wer Visionen hat, geht am besten zum Größenwahn Verlag! Ein 2009 aus dem legendären Café Größenwahn in Frankfurt am Main gegründeter Independent Verlag mit subkulturellem Spürsinn, der das Konzept herkömmlicher Grenzen von Sprachen, Kulturen und Genres übertritt. Verleger Sewastos Sampsounis bietet eine literarische Heimat, besonders für Autoren mit Migrationshintergrund – ein buntes Zuhause für LGBTQ-Themen, aber auch für kritische und politische Stimmen. Der Verlag publiziert unter anderem Gegenwartsliteratur, Übersetzungen aus Süd-Osteuropa, Lyrik und Krimis in Print und als E-Book. Zur

Über das Buch

Barbara Bišický-Ehrlich erzählt ihre Familiengeschichte und die damit verknüpften Schicksale über mehrere Generationen hinweg. Sie überbrückt somit mühelos Jahrzehnte und lässt den Leser in die Zeitgeschichte eintauchen. Die Erzählung beginnt bei ihren Urgroßeltern in der ehemaligen Tschechoslowakei, geht über zu ihren Großeltern und Eltern, bis hin zu ihr selbst – eine Enkelin von Holocaust-Überlebenden in der Bundesrepublik Deutschland. Die Weltgeschichte kreuzt immer wieder den Weg der Familie, worin auch die Schreckensnamen Bergen-Belsen vorkommen und der Kommunismus nach 1945 in der CSSR und der Prager Frühling verknüpft sind. Es ist ein Leben zwischen den Extremen und ein Leben voller Wendungen, Traumata und unglaublichem Überlebenswillen.

Barbara Bišický-Ehrlich schafft eine Nähe zwischen den Schicksalen ihrer Familie und dem Leser, welche ihm erlauben an den Ängsten und Hoffnungen der Menschen teilzuhaben, die sich nichts sehnlicher wünschen als den Frieden auf Erden. Sie fragen sich unaufhörlich: Wie gehe ich mit der Vergangenheit um?

Als Barbara Bišický-Ehrlich anfing zu recherchieren, fragte sie zuerst ihre Oma Helenka. Sie fragte: „Bára... warum interessiert dich das alles?“ und wiederholte stets den gleichen Satz: „Sag‘, dass es dir gut geht...“.

Über die Autorin

Als Tochter tschechisch-jüdischer Emigranten ist Barbara Bišický-Ehrlich 1974 in Deutschland geboren und aufgewachsen. Für ihre gesamte Familie waren Entwurzelung und Identitätssuche tägliche Begleiter. Nach ihrem Studium der Theaterregie und Dramaturgie in Prag absolvierte sie ein multimediales Redaktionsvolontariat beim Südwestfunk. Heute arbeitet sie selbstständig als Werbe- und Synchronsprecherin, leitet eine kleine Filmproduktion und eine Kinder-Theater-Gruppe in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Mit ihrer autobiografischen Familienchronik feierte sie ihr Debut als Autorin. Zur Homepage.

Auszug aus Barbara Bisicky-Ehrlich: „Sag´das es dir gut geht“. Eine jüdische Familienchronik

Helenka

Als ich anfing, meine Oma Helenka für dieses Buch zu befragen, was denn genau alles passiert sei, wiederholte sie nur immer wieder die Worte: »Das kann man niemandem erzählen, Bára. Das glaubt einem kein Mensch. Ich hätte das selbst nicht geglaubt, wenn man es mir erzählt hätte. Das kann man nicht erzählen.«

Sie erzählte dennoch – und ich begann zu schreiben.

Štepanka Budlovská, meine Uroma, und ihre Familie lebten schon seit vielen Generationen in Humpolec, einer böhmischen Stadt etwa 100 Kilometer südöstlich von Prag. In Humpolec gab es eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge und einen jüdischen Friedhof. Etwa 300 Menschen lebten im jüdischen Viertel. Štepanka verlor früh ihre Mutter, die unter schwerem Diabetes litt, und kurz darauf ihren Bruder; er starb an einer Rippenfellentzündung. Ihr Vater, ihre Schwester Gusti und deren Familie wurden Jahre später in Bergen-Belsen ermordet.

Štepanka heiratete Oskar Haller, der ebenfalls aus Humpolec stammte und dessen Vater einige Jahre lang Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde war. Štepanka und Oskar führten eine glückliche Ehe. Am 4. April 1924 wurde ihre Tochter Helenka, meine Oma, geboren. Ein weiteres Kind wollten die beiden nicht, denn dem einen sollte es gut gehen. Štepanka arbeitete als Buchhalterin in der Kolonialwarenhandlung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Oskar führte. Damals wurde noch alles mit der Hand geschrieben: Jede Rechnung, jeden Brief, jedes Dokument verfasste sie handschriftlich. Oskar arbeitete Tag und Nacht, auch Urlaub machte die Familie nie. Eine Kinderfrau, die im selben Zimmer mit ihr wohnte, erzog die kleine Helenka. Aber Helenka mochte Fräulein Hrachová, genannt Tante Ella, nicht besonders. Lieber hätte sie mehr Zeit mit ihren Eltern verbracht. Immerzu wollte Tante Ella etwas von ihr: Wasch̕ dich, räum̕ auf, mach̕ deine Schularbeiten, sitz̕ gerade, Ellbogen vom Tisch, Finger aus der Nase! In der vierten Klasse bekam Helenka Rheuma und wurde über Monate von einem Privatlehrer unterrichtet, um die Klasse nicht wiederholen zu müssen. In dieser Zeit langweilte sie sich unendlich.

Helenka hatte eine wunderbare, sehr friedliche Kindheit. Sie hatte viele Freunde, die sie alle mit nach Hause bringen durfte, spielte Tennis, fuhr Fahrrad, schwamm und war eine durchschnittlich gute Schülerin. Ihr Judentum spielte eine eher untergeordnete Rolle. Im selben Haus wie sie wohnten ihre großen Cousins, und überhaupt waren die Familienbande sehr eng. Zu Großeltern, Tanten und Onkeln gab es ein sehr inniges und herzliches Verhältnis. »Das ist wohl der Grund, warum mir bis heute Familie das Allerwichtigste ist«, überlegte Helenka viele Jahrzehnte später.

Als die Nazis die Macht ergriffen und später die Tschechoslowakei besetzten, war Helenka fünfzehn Jahre alt und musste die Schule verlassen. Oskar aber war der Überzeugung, sie müsse unbedingt trotzdem etwas lernen. So begann sie eine Ausbildung zur Schneiderin bei der ehemaligen Schneiderin von Štepanka. Es sei ein nobler Salon gewesen, sagte meine Oma. Die Kleider der wohlhabenderen Menschen wurden hier geändert oder geschneidert. Sie waren aus feinen Stoffen und rochen gut.

Doch das Leben hatte sich von Grund auf verändert, schon bald musste die gesamte Familie nach Prag umsiedeln, das Haus und alle Freunde zurücklassen. Den Lebensmittelhandel überließen sie notgedrungen einem Bekannten zu einem symbolischen Preis. Damals verstand Helenka nicht, wie schwer das für ihre Eltern war. Für sie war es ein großes Abenteuer. Abgesehen davon kannte sie Prag schon, da sie bereits ein Jahr auf einem Mädchengymnasium in Prag gelernt hatte.

Nun war aber alles anders: Die Rassengesetze betrafen alle Juden. Wenn Helenka einmal Freunde treffen wollte oder gar ein Rendezvous hatte, so ging das nur noch auf dem großen »Neuen jüdischen Friedhof«. Zwischen den Gräbern konnten sich die Jugendlichen treffen und zusammen lachen.

Am 18. Dezember 1942 wurde die Familie Haller zum Abtransport aufgerufen. Zunächst mussten sich alle im Messepalast »Veletržni Palác« einfinden. Sie schliefen hier vier Tage auf dem Boden und auf ihren Koffern. Alle erhielten eine Nummer, Helenka die Nummer 241.

Am 22. Dezember 1942 wurden Oskar, Štepanka und Helenka nach Theresienstadt abtransportiert. Dort waren sie etwa ein Jahr. Helenka arbeitete zunächst in einer Putzkolonne, später meldete sie sich zur Arbeit auf einer der Krankenstationen. Schließlich war es immer ihr großer Traum, Medizin zu studieren. Und, wenn sie schon an einem solchen Ort sein musste, so wollte sie doch wenigstens etwas für andere tun.

Sie war die jüngste in der Abteilung und bekam die schwersten Aufgaben. Dennoch machte ihr die Arbeit Spaß. Ihre Mutter Štepanka arbeitete in einer der Wärmeküchen Theresienstadts, in denen sie das mitgebrachte Essen der Menschen erwärmte und die Kessel und das Geschirr bewachte. Sie kochte Brei, Milch und Nahrung für Babys, Kleinkinder und Mütter. Was grade eben ging. Oskar war zunächst bei der Ghettowache, was ein sehr angesehener und verantwortungsvoller Posten war.

Später sortierte er in der Kleiderkammer all die Dinge, die in den Koffern der Menschen übrigblieben, die in ein Lager deportiert wurden. Selbstverständlich konnte diese Arbeit nur unter strengster Kontrolle erfolgen, denn die guten und wertvollen Dinge wurden direkt nach Deutschland verschickt. Es ging ihnen einigermaßen gut, und Oskar wiederholte immer wieder: »Wenn Gott will, können wir hier überleben.«

Eines Tages wurde eine große Zählung der Häftlinge anberaumt und alle Insassen in einen Talkessel gejagt. Der Grund war ein Fehler in der Anzahl der Ghettobewohner, und so wollten die deutschen Wachen lieber selber noch einmal nachzählen. Einige wenige Krankenschwestern blieben mit den Patienten im Ghetto zurück, darunter auch Helenka. Sie hatte schreckliche Angst und wusste nicht, was mit den Menschen, die hinaus mussten, geschehen würde. Den ganzen Tag hatte sie die Aufgabe, Schwerstkranke auf Karren auf andere Stationen zu verlegen. Das bedeutete für Helenka sowohl psychisch als auch körperlich vollkommenes Auszehren. Viele der Kranken in den Karren starben an diesem Tag. Als die anderen Ghettobewohner am späten Abend endlich zurückkehrten, konnte Helenka das Glück kaum fassen: Ihre Eltern lebten!

Eines Nachts wurden Helenka und einige andere Krankenschwestern geweckt, für alle anderen gab es eine strenge Ausgangssperre, nicht einmal aus dem Fenster durfte man sehen. Ein Transport mit 1200 polnischen Kindern kam am Gleis von Theresienstadt an. Es waren Kinder aus dem Ghetto Bialystok. Sie sahen schlimm aus, waren in einem katastrophalen Zustand: ausgehungert, schmutzig, in Lumpen, teilweise ohne Schuhe, krank, panisch. Sie schwiegen. Auf dem Gelände von Theresienstadt gab es eine alte Brauerei, hier sollten die Kinder desinfiziert und entlaust werden. Als den Kindern befohlen wurde, sich auszuziehen, begannen sie hysterisch zu schreien und sich mit Händen und Füßen zu wehren: »Gas! Gas!« Das war das erste Mal, das Helenka dieses Wort hörte – sie wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Die ganze Nacht kümmerten sich die Schwestern um die bedürftigsten Kinder. Danach wurden sie in einer Halle untergebracht, die etwas abseits lag, und besonders gut verpflegt. Es gingen einige Gerüchte über die Zukunft dieser Kinder um. Dr. Reinisch, einer der jüdischen Lagerärzte und Leiter des dortigen Gesundheitswesens, kam ein paar Tage nach der Ankunft der Kinder auf Helenka zu und sagte ihr, die polnischen Kinder seien da, um aufgepäppelt und dann mit ein paar Auserwählten, darunter auch Helenka, in die Schweiz in Freiheit gebracht zu werden. Es liefen Verhandlungen über einen Austausch gegen in Palästina inhaftierte Deutsche. Das war ein sehr verlockendes Angebot. Helenka aber wollte mit ihren Eltern bleiben und lehnte wenige Tage später schweren Herzens ab. Nach einigen Wochen wurden alle Kinder und die »Auserwählten« in Viehwaggons gepfercht – in Auschwitz angekommen, gingen sie direkt von der Rampe ins Gas.

Am 1. August 1944 wurde Oskar, Helenkas Papa, nach Auschwitz deportiert. Dann kam die Meldung, dass auch Štepanka für einen Transport vorgesehen sei. Helenka lief sofort zu den zuständigen Dienststellen und meldete sich ebenfalls für den Transport. Dr. Reinisch flehte Helenka an, nicht zu gehen, sie stehe auf einer Schutzliste. Doch ihr Entschluss stand fest. Schließlich konnte sie ihre Mama nicht allein gehen lassen, schon gar nicht nachdem Oskar seine Tochter beim Abschied gebeten hatte, sich um diese zu kümmern. Štepanka war zu dieser Zeit sehr krank und nach einer Diphterie ziemlich gebrechlich. Die furchtbaren Bedingungen machten sich bei ihr besonders bemerkbar, mehr als bei einer jungen Frau von 20 Jahren, wie es meine Oma damals war. Mutter und Tochter wurden also gemeinsam in den Viehwaggon getrieben. Sie dachten, sie seien auf dem Weg nach Deutschland zur Arbeit. Gegen eine Wand gepresst, las Helenka ins Holz geritzte Worte: »Jetzt fahrt ihr nach Auschwitz.« Ihr war nicht bewusst, was das bedeutete. Bei der Ankunft führte der Lagerarzt Josef Mengele höchstpersönlich die Selektion durch. Štepanka schickte er in eine andere Richtung als ihre Tochter. Daraufhin begann Helenka panisch zu schreien. Mengele rief Štepanka zu sich und fragte: »Wie alt bist du?« Instinktiv machte sich die 44jährige einige Jahre jünger und durfte so auf die Seite ihrer Tochter. Sie wurden geschoren, desinfiziert und vor allem scheinbar endlos lange gezählt, immer wieder. Es wurde gepfiffen und gezählt, gezählt und gepfiffen.

Nach etwa zwei Wochen in Auschwitz wurden die beiden mit 1000 anderen Frauen zur Strafarbeit geschickt. »Wenn ich heute daran denke, Barunko«, sagte meine Oma, »habe ich keine Ahnung, wieso ich das überlebt habe.«

Sie arbeiteten auf dem Feld, hoben Panzergräben aus, schliefen in einer Scheune ohne Decken – und für alle 1000 Frauen gab es gerade einmal eine Wasserpumpe, die zwischendurch auch noch kaputt ging. Das wichtigste waren die Schuhe. Deshalb zogen Helenka und Štepanka sie auch niemals aus, zu groß war die Angst, dass sie gestohlen würden.

Am 18. Januar 1945 wurde das Straflager evakuiert und die noch lebenden Häftlinge auf den Weg in ein weiteres Lager getrieben, dieses Mal zu Fuß. Es folgte ein grauenvoller Todesmarsch durch den eisigen Winter, auf abgelegenen Feldwegen und durch den Wald. Immer wieder mussten die Frauen große Löcher in den gefrorenen Boden graben. Die Schwachen wurden einfach hineingeschossen. Helenka aß Schnee und vor allem wusch sie sich damit, um frisch und sauber auszusehen und so nicht erschossen zu werden. Einige Wochen ging das so, bis der Winter, die Anstrengung des Marsches und eine schwere Durchfallerkrankung Štepanka das Weitergehen vollkommen unmöglich machten. Sie konnte nicht weiter. Helenka blieb mit ihrer Mutter stehen. Ein bewaffneter SS-Mann trieb die beiden in den Wald und wollte meine kleine Uroma erschießen. Er sah Helenka an und sagte: »Bist du nicht die Krankenschwester aus Theresienstadt?« Helenka nickte, und es folgten kaum zu ertragende Sekunden. Schließlich setzte der SS-Mann an: »Lauft!« Er schoss zweimal in die Luft und ging zurück zu den Gefangenen.

Im Wald kauernd, blieben zwei vollkommen kraftlose Geschöpfe zurück. In diesem Moment verließ Helenka ihr letzter Lebenswille. Sie wollte sich von einer Brücke stürzen oder sonst irgendwie ihr Leben beenden. Štepanka aber schöpfte neue Kraft: »Jetzt, da wir allein sind? Jetzt möchtest du sterben? Jetzt musst du leben!«

Sie befanden sich irgendwo in der Nähe von Dresden. Es war der 13. Februar 1945, der Tag, an dem die großen Luftangriffe auf die Stadt begannen. Sie rafften sich auf und gingen zur nächsten Straße. Am ersten Haus, das sie sahen, klopfte Helenka und bat um etwas zu essen. Das bekamen sie, allerdings durften die beiden Frauen nicht in der Scheune übernachten. Über ihren Köpfen flogen die Geschosse und alle möglichen Kampfbomber. Sie schlugen sich weiter durch, waren zwischenzeitlich noch einmal in einer Schule eingesperrt und beteuerten stets, ausgebombte tschechische Arbeiterinnen zu sein, die es auf der Flucht vor einem Angriff nicht mehr geschafft hatten ihre Papiere mitzunehmen. Immer wieder wurden sie gefragt, ob sie nicht zu dem Gefangenenmarsch gehörten, der in der Nähe vorbeizog. Ihr großes Glück waren zwei Kopftücher und der Umstand, dass ihre Unterarme am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz nicht mit Zahlen gebrandmarkt worden waren. Das ist höchstwahrscheinlich einem Fehler der SS bei der Registrierung geschuldet, was vor allem bei weiblichen Häftlingen, die ein Lager nur als Durchgangslager benutzen sollten, geschah.

Auf einer Landstraße hielt Helenka todesmutig einen mit Holz beladenen Lastwagen an und fragte den Fahrer, ob er sie in die Nähe eines noch intakten Bahnhofs bringen könne. Er nahm die beiden sogar bis nach Zittau nahe der tschechischen Grenze mit und erzählte den Frauen die ganze Fahrt über vom bevorstehenden deutschen Endsieg. Ihre Herzen rasten vor Angst. Sie schafften es zum Bahnhof, und nach vielen Umwegen stiegen sie in einen Zug Richtung Prag. Ein mitreisender deutscher Soldat riet Helenka, sie solle sich mit ihrer Mutter schlafend an die Seite setzen, als eine Kontrolle nahte. Nach der überstandenen Fahrkartenkontrolle dankte Helenka und fragte den Soldaten, warum er das getan, warum er ihnen das geraten habe. Er antwortete trocken: »Weil ich kein Wort von eurer ›ausgebombten Arbeiterinnengeschichte‹ glaube.« Sie bat um seinen Namen, um ihm möglicherweise eines Tages danken zu können. Doch er schwieg.

Auf dem Prager Bahnhof herrschte das Chaos des Krieges: Gefangene wurden abgeführt, Soldaten überall und mittendrin Štepanka und Helenka. Die Angst war kaum zu ertragen. Keiner hielt sie an. Sie fuhren mit der Straßenbahn zu alten Freunden, die zunächst Helenka und Štepanka nicht erkannten. So sehr hatten die erlebten Gräuel ihre Gesichter verzerrt und ihre Körper gezeichnet. Die Freunde gaben ihnen zu essen und ließen sie erst einmal schlafen. Bleiben konnten sie nicht. Sie fuhren wieder mit dem Zug hin und her, bis Helenka die einzig logische Möglichkeit einfiel zu überleben: Sie mussten zurück nach Theresienstadt. Dort würden sie den Krieg schon irgendwie überstehen. Doch vorher müssten sie noch der Familie Vaňha über ihre Pläne Bescheid geben. Helenkas Cousin würde ganz sicher zu Vaňhas fahren, sollte er aus dem Krieg zurückkehren, denn er liebte deren Tochter. Und so wüsste wenigstens irgendjemand, was mit ihnen geschehen war und wo man sie suchen könnte. Familie Vaňha lebte zu sechst mit einem Hund in einer Zweizimmerwohnung. Als sie die beiden Frauen endlich erkannten und von ihren Plänen hörten, nach Theresienstadt zurückzukehren, war sofort klar, dass das überhaupt nicht in Frage komme. Sie beschworen die beiden Frauen, bei ihnen zu bleiben. Vaňhas versteckten sie bis zum Ende des Krieges in ihrer winzigen Wohnung. Immer wieder mussten die Frauen stundenlang im Schrank ausharren oder allein in der Wohnung zittern, wenn Kontrollen drohten oder Bombenalarm war und die anderen in den Schutzkeller eilten. »Das war eigentlich die schlimmste Zeit«, sagte mir meine Oma. Zu der Angst, selbst entdeckt zu werden, kam nun noch die Angst um die lieben Freunde, die ihr Leben für sie riskierten. Das muss für meine Oma, die ihr Leben lang immer nur für andere gelebt hatte, furchtbar gewesen sein.

Die beiden Cousins kehrten als einzige Familienmitglieder zurück.

Oskar, Helenkas Vater, kam in Auschwitz ums Leben.

Jahrzehnte lang verfolgten Helenka jede Nacht schlimme Albträume rund um die Kriegsjahre. Die Träume endeten jedoch mit einem Schlag an dem Tag, als ihr Mann, mein Opa Tonda, 1974 starb.

Štepanka zog recht schnell nach Tondas Tod zu ihrer Tochter Helenka, die sich fortan um ihre Mutter kümmerte.

»Báro, warum interessiert dich das alles? Darüber wurden so viele Bücher geschrieben. Jede meiner Freundinnen wird dir etwas anderes erzählen. Jede erinnert sich an etwas anderes. Aber das glaubt doch sowieso alles niemand. Mir ist nur wichtig, dass es dir gut geht. Geht es dir gut? ... Du musst mir das öfter sagen. Ich brauche das.«

Barbara Bišický-Ehrlich: Sag‘, dass es dir gut geht. Größenwahn Verlag. Seiten: 200. Preis: 21,90€ Print, 17,00€ E-Book. Zur Verlagsseite.

Mi, 11:30 Uhr: Elfenbein Verlag präsentiert Anthony Powell: ›Der Klang geheimer Harmonien‹ (Ein Tanz zur Musik der Zeit, Bd. 12)Präsentation und Lesung des letzten Bandes mit Verleger Ingo Držečnik

Elfenbein Verlag

Über das Buch

Der letzte Band des Zyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“, der zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts zählt und seit 2015 in einer viel gelobten Übersetzung erscheint. Inspiriert von dem gleichnamigen Gemälde des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet er ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich-Erzählers Jenkins bietet der „Tanz“ eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen Einblick geben in die Gedankenwelt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten.

Über den Autor

Auszug aus Anthony Powell: Der Klang geheimer Harmonien

Zu Ehren des Empfängers des Magnus-Donners-Preises wurde ein Dinner veranstaltet, dessen Kosten die Firma übernahm. Eingeladen war eine Auswahl aus Schriftstellern, Verlegern, Literaturredakteuren, Kolumnisten und allen anderen, von denen man glaubte, dass sie der Publicity förderlich sein könnten. Es wurden Reden gehalten. Es handelte sich nicht um eine Veranstaltung, zu der Abendkleidung erwartet wurde. Die Zusammenkunft fand in einer Suite im oberen Stockwerk eines Restaurants statt, das für solche Gelegenheiten häufig benutzt wurde, und wie gewöhnlich in den Anfangsmonaten des Jahres, das dem folgte, für das das Buch ausgewählt war. Als Veranstaltung war das Dinner anlässlich der Verleihung des Magnus-Donners-Gedächtnispreises genau das, was man erwarten mochte – eher ein Geschäfts- als ein Gesellschaftsereignis. Delavacquerie, dem die Vorbereitungen oblagen, sorgte dafür, dass Speisen und Getränke nie schlechter als ganz passabel waren. Als er und ich uns wieder zu einem unserer gemeinsamen Lunches trafen, fragte ich ihn, was Widmerpools Bedingung für seine freundliche Haltung gewesen sei.

»Dass auch er selbst zu dem Dinner eingeladen würde.«

»Hat er diese Bitte ironisch vorgebracht?«

»Keineswegs.«

Widmerpool als so etwas wie einer Figur des öffentlichen Lebens – obwohl einer, die in relative Vergessenheit geraten war – eine Einladung auszusprechen, lief in keiner Weise der allgemeinen Zusammensetzung der Gästeliste zuwider, wenn auch seine Gegenwart wegen der besonderen Umstände einen bizarren Ton in die Veranstaltung bringen mochte. Es schien wahrscheinlich, dass ein großer Teil der Anwesenden zu jung sein würde, um von den zehn Jahre zurückliegenden Skandalen gehört zu haben – jedenfalls zu jung, um großes Interesse daran zu nehmen.

»Natürlich kann man Widmerpool eine Einladungskarte schicken. Sie hatten Recht zu glauben, dass mich die Bedingung amüsieren würde.«

»Sie haben noch nicht alles gehört.«

»Was gibt es denn noch?«

»Er möchte zwei Gäste mitbringen.«

»Vermutlich ist Donners-Brebners Gastlichkeit weitherzig genug, das zuzulassen.«

»Natürlich.«

»Und wer sollen die Gäste Widmerpools sein?«

»Was glauben Sie?«

Die Antwort war nicht so einfach, wie es zunächst schien. Wen würde Widmerpool fragen? Ich stellte mehrere Vermutungen an, dachte an Persönlichkeiten, die ihm irgendwie ähnlich waren, die er in der einen oder anderen Hinsicht für nützlich halten mochte. Als ich diese Namen vorbrachte, wurde mir bewusst, wie wenig mir jetzt von Widmerpools neuesten Orientierungen und ehrgeizigen Zielen bekannt war. Delavacquerie schüttelte den Kopf und lächelte darüber, wie falsch meine Spekulationen waren.

»Ich sagte Ihnen doch, dass Lord Widmerpool sich stark verändert habe. Ich will Ihnen einen Tip geben. Zwei Damen.«

Ich nannte ihm eine Dame, die in den Adelsstand erhoben worden war, und eine Schauspielerin, beide nicht mehr in ihrer ersten Jugend.

»Noch nicht so alt.«

»Ich gebe auf.«

»Die Quiggin-Zwillinge.«

»Die Mädchen, die ihn mit Farbe beworfen haben?«

»Genau die.«

»Aber – hat er denn eine Affäre mit den beiden?«

Delavacquerie lachte. Er freute sich über die Wirkung der Information, die er mir gegeben hatte.

»Nicht, da bin ich mir ziemlich sicher, in irgendeinem physischen Sinn, obwohl ich glaube, dass er nichts dagegen hat, wenn die Mädchen, die sein Haus frequentieren – auch die Jungen, wie mir Étienne versichert – gut anzuschauen sind. Bei warmem Wetter werden sie ermutigt, sich auszuziehen. Ich bezweifle, dass er erwägt, mit dem einen oder anderen Geschlecht zu schlafen. Wissen Sie, Widmerpool ist in der letzten Zeit nicht weit davon entfernt, einen ›heiligen Mann‹ aus sich zu machen, gewiss jemanden, der in seinem eigenen Zirkel hoch verehrt wird.«

»Was wird Gwinnett davon halten, falls er zu der Preisverleihung kommt? Ich kann mir vorstellen, es ist sehr gut möglich, dass er kommt. Haben Sie von ihm gehört, was er dazu sagt, dass er den Preis bekommt? Ich habe ihm geschrieben und ihm gratuliert, aber ich habe noch keine Antwort.«

Es erstaunte mich nicht, dass Gwinnett nicht geantwortet hatte. Es entsprach durchaus seinem gewohnten Verhalten. Wenn es überhaupt etwas bedeutete, dann wies es darauf hin, dass seine bedrückenden Erfahrungen in London ihn nicht verändert hatten.

»Professor Gwinnett hat mir, als dem Sekretär des Preiskomitees, geschrieben, dass er sich darauf freue, hierherzureisen, um den Preis persönlich in Empfang zu nehmen.«

»Das wird das Dinner dramatischer machen.«

»Er schrieb, er habe sowieso die Absicht gehabt, dieses Land zu besuchen. Jetzt werde er sein Vorhaben beschleunigen.«

»War er erfreut, dass die Wahl auf sein Buch gefallen ist?«

»Erfreut – aber bei weitem nicht überwältigt. Er schrieb einige konventionelle Sätze, die seine Dankbarkeit ausdrückten, und fügte hinzu, er werde zu dem Dinner erscheinen, wenn ich ihn Zeit und Ort wissen ließe. Nichts sonst. Er war keineswegs überschwänglich. Ja, im Vergleich mit meinen eigenen Erfahrungen mit Amerikanern grenzte die Zurückhaltung, mit der er sich bedankte, nahezu an Ruppigkeit.«

»Das entspricht so seiner Art.«

Der Verleger veröffentlichte »Totenkopf und Schwert« noch gerade rechtzeitig, um zur Preisverleihung gelesen werden zu können, allerdings nicht zu einem Zeitpunkt, der günstig gewesen wäre, die Aufmerksamkeit vieler Rezensenten zu erregen. Unter den gegebenen Umständen war das unvermeidlich. Die Besprechungen, die erschienen, waren positiv, aber an dem Tag, an dem das Magnus-Donners-Dinner stattfand, wie gewöhnlich ein Tag im neuen Jahr, war ihre Zahl immer noch gering.

»Ich werde das Komitee bitten, früher zu kommen«, sagte Delavacquerie. »In diesem Jahr handelt es sich um eine ungewöhnliche Veranstaltung. Es mögen sich in letzter Minute noch Probleme ergeben.«

Als ich eintraf, lief er gerade im Speisesaal hin und her und überprüfte die Sitzordnung. Emily Brightman und Mark Members waren noch nicht erschienen.

»Professor Gwinnett sitzt natürlich rechts von Matilda, und ich habe Isobel den Platz an seiner anderen Seite gegeben. Emily Brightman meinte, es sehe vielleicht so aus, als ob sie ein Auge auf ihn halten solle, wenn sie seine Nachbarin sei. Emily wird neben Ihnen sitzen, Nick, und auf der anderen Seite von Ihnen die Frau eines Direktors von Donners-Brebner. Lassen Sie mich sehen, Mrs. …«

Der Empfänger des Preises hatte immer seinen Platz neben Matilda Donners, an einer langen Tafel, an der auch die Juroren und Repräsentanten der Firma und deren Frauen saßen. Am Ende des Dinners war es stets Delavacqueries Pflicht, ein paar Worte über die Natur des Preises zu sagen. Dann stellte einer der Juroren den Empfänger der Auszeichnung vor und sprach über das Buch. Members, ein zwanghafter öffentlicher Redner, war leicht dazu zu überreden gewesen, diese Pflicht auf sich zu nehmen. Zwar war bei ihm nicht mit Kürze zu rechnen, aber es war mehr als wahrscheinlich, dass er, da er Trapnel persönlich gekannt hatte, sowieso aufstehen und sprechen würde. Die Geschichte von den geborgten fünf Pfund zu erzählen würde sich als zu verlockend erweisen. Members hatte zuvor schon einmal »ein paar Worte« gesprochen, nachdem die planmäßigen Reden gehalten worden waren, und ihm war dann Alaric Kydd gefolgt, der ebenfalls geglaubt hatte, es sei seine Schuldigkeit, das Wort zu ergreifen. Kydd lebte nun schon seit einigen Jahren im Ausland, so dass solches Risiko an diesem Abend nicht bestand. Delavacquerie warf einen letzten Blick auf die verschiedenen Tische.

»Ich habe Lord Widmerpool und den beiden Fräulein Quiggin einen Platz ziemlich weit entfernt von dem Empfänger des Preises und den Juroren gegeben. In der hinteren Ecke des Zimmer, neben der anderen Tür. Ich denke, das ist weise, meinen Sie nicht auch? Ein ruhiger Tisch. Ältere Rezensenten und deren Frauen oder Boyfriends. Keine jungen Journalisten. Nur um sicherzugehen.«

»Ich bezweifle, dass sich die gegenwärtige Generation junger Journalisten an die Verbindung Gwinnetts zu Widmerpool erinnert. Sie weiß vielleicht noch, dass die Quiggin-Zwillinge Farbe über ihn geschüttet haben, aber auch das liegt ja so weit zurück wie letzten Sommer und ist alte Geschichte. In welcher Form befindet sich Gwinnett denn eigentlich?«

»Ich hab ihn noch nicht gesehen.«

»Hat er Sie nicht nach seiner Ankunft angerufen?«

»Ich habe seit seiner Antwort auf meinen zweiten Brief nichts mehr von ihm gehört. Ich hatte vorgeschlagen, wir sollten vor dem Dinner in Kontakt treten. Er antwortete, er habe all die Informationen, die er brauche. Er werde zur festgesetzten Zeit erscheinen.«

»Wo wohnt er?«

»Nicht einmal das weiß ich. Ich hab ihm angeboten, ihn in einem Hotel unterzubringen. Er schrieb, er wolle das selbst arrangieren.«

»Ja, das sieht Gwinnett ähnlich. Ich hoffe, er wird heute Abend hier erscheinen. Andererseits ist es vielleicht besser, wenn er nicht kommt. Wir können auch leicht die ganze Zeremonie der Verleihung des Preises in absentia durchziehen. Die Gegenwart des Autors ist nicht erforderlich für die Äußerung angemessener Meinungen zu dem Buch. Verschiedene mögliche Peinlichkeiten können vielleicht vermieden werden, wenn er selbst nicht da ist.«

»Gwinnett wird sicher kommen. Sein Brief ist der eines zielstrebigen Menschen.«

Ich teilte diese Meinung. Gwinnett war zweifellos ein zielstrebiger Mensch. Ehe wir weiter über diese Sache sprechen konnten, kam Emily Brightman herein, einen Moment später gefolgt von Members. Sie war sorgfältig für ihre Rolle als Jurorin gekleidet – ein langes, fast weißes, bauschiges Kleid und ein von ihrem Hals hängendes Medaillon, das mir wie eine stilvolle Parodie desjenigen von Murtlock vorkam. Delavacquerie befingerte fragend dieses Schmuckstück.

»Koptisch, Gibson. Ich hätte doch gedacht, ein Mensch von Ihrer Bildung würde seine Provenienz unmittelbar erkennen. Kommt Lenore heute Abend, Mark?«

»Lenore ist sehr traurig, dass sie nicht teilnehmen kann. Sie musste schnell wieder rüber nach Boston.

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem eigenen Preis.«

Members verbeugte sich. Er war in guter Stimmung. Emily Brightman spielte auf den Poesiepreis an, den er kurz zuvor für seine »Gesammelten Gedichte« erhalten hatte, einen Band, der alle seine Gedichte von »Der eiserne Gummibaum« (1923) bis »H-Bomben-Ekloge« (1966) umfasste, das letztere eines der wenigen Werke, das Members in seinen späteren Jahren verfasst hatte. Es handelte sich um einen Preis, der finanziell bei weitem nicht so großzügig ausgestattet war wie der Magnus Donners’, aber doch akzeptabel war.

»Ich danke Ihnen, Emily.«

»Haben Sie gehört, dass die Quiggin-Zwillinge heute Abend hier sein werden?«

»Ziemlich stressig für J. G. und Ada, die ja auch kommen. Sie haben alles für diese Mädchen getan. Die einzige Belohnung ist, dass sie Farbe auf Kenneth Widmerpool werfen und dann mit ihm auf der Party auftauchen, auf der auch ihre Eltern sind.«

Die Missbilligung in Members’ Stimme verbarg nicht eine Spur von Erregung. Man wusste nie, was passieren mochte, wenn die Quiggin-Zwillinge anwesend waren. Das Zimmer begann sich zu füllen. L. O. Salvidge, ein alter Fan Trapnels (der sich einige Mühe gegeben hatte, eine freundliche Rezension über »Totenkopf und Schwert« zu schreiben), hatte seine neue Frau mitgebracht, seine vierte. Sie trug sehr hohe, glänzende Stiefel und viel Blau um die Augen und war deutlich jünger als ihre Vorgängerin. Ihnen folgte Bernard Shernmaker, der im Gegensatz zu Salvidge immer unverheiratet geblieben war. Er hatte Gwinnetts Buch noch nicht besprochen und so weiterhin vermieden, sich in Bezug auf Trapnel festzulegen. Er war in sehr schlechter Stimmung, ja schien erfüllt von tiefer Wut und Verzweiflung. Seinem Äußeren nach zu urteilen würde er nie eine Besprechung von »Totenkopf und Schwert« schreiben. Als ein alter Bekannter wollte es Members nicht zulassen, dass Shernmakers freudlose Fassade die bewusste Heiterkeit seiner eigenen Begrüßung abschwächte.

»Hallo, Bernard. Hast du gehört, dass die Quiggin-Zwillinge heute Abend kommen werden? Was hältst du davon?«

Shernmakers Gesicht verzog sich auf eine schreckliche Weise. Er verströmte Albträume der Langeweile und Melancholie, die die gesamte Atmosphäre um ihn herum infizierten. Jemand gab ihm einen Drink in die Hand. Die Spannung lockerte sich leicht. Einen Moment später erschien das Elternpaar Quiggin. Wie üblich machte Ada das Beste aus der Lage der Dinge. Falls sie wusste, dass ihre Töchter zusammen mit Widmerpool an der Party teilnehmen würden, war sie entschlossen, die Situation in diesem Stadium als etwas ganz Natürliches zu betrachten. Es war allerdings wahrscheinlich, dass sie noch nicht wusste, dass die Zwillinge kommen würden. Fast fünfzig, hatte sich Ada ihr gutes Aussehen in bemerkenswerter Weise erhalten. Sie bekannte ihre riesige Freude über die Aussicht, Gwinnett wiederzusehen.

»Ist er schon hier? Ich habe ihn kaum wahrgenommen, als wir damals alle in Venedig waren. Ich bin gespannt, wie er jetzt aussieht. Wenn man bedenkt, dass ausgerechnet Pamela für einen Mann so weit gehen würde.«

»Gwinnett ist noch nicht eingetroffen.«

»Jetzt, wo Gwinnett den Magnus-Donners gewonnen hat, ist J. G. wütend, das wir ihn nicht für die Trapnel-Biografie unter Vertrag genommen haben. Damals hatte ich das vorgeschlagen. J. G. hatte nicht das geringste Interesse. Er meinte, Bücher über kürzlich verstorbene Autoren seien nur Ladenhüter. Er ist besonders ärgerlich, weil L. O. Salvidge eine so gute Besprechung des Buchs geschrieben hat. Ich hab ihm gesagt, dass sei nur, weil zu dieser Jahreszeit sonst nichts da ist. J. G. ist nicht nur verärgert, weil keines unserer Bücher je den Magnus-Donners gewinnt, sondern er hat auch Halsschmerzen. Das erfüllt ihn mit Angst, Sorgen und Bedauern über alles Mögliche. Er darf nicht lange hierbleiben.«

Quiggin fühlte sich zweifellos bedauernswert. Er verströmte Ausdünstungen von Arzneien gegen Erkältungen und zog seine hohe Stirn ärgerlich in Falten. Anders als Ada gesagt hatte, interessierte es ihn so gut wie überhaupt nicht, wer den Preis gewonnen hatte und wer nicht. Er wies Evadne Clapham brüsk ab, als sie versuchte, seine Meinung über die diesjährige Wahl zu erfahren. Evadne Clapham selbst hatte sich kürzlich mit »Kains Kiefer« (ihrem fünfunddreißigsten Roman) einer Art Comeback erfreut, einer Geschichte, mit der sie zu dem Stil zurückkehrte, mit dem sie sich zuerst einen Namen gemacht hatte.

»Der Titel von Mr. Gwinnetts Buch ist seltsamerweise so ähnlich wie der meines eigenen letzten Romans, J. G. Glaubst du, er könnte Zeit gehabt haben, ihn zu lesen und davon beeinflusst worden zu sein? Ich bin so gespannt, ihn kennenzulernen. Es gibt etwas, das muss ich ihm im Vertrauen über Trappy erzählen.«

Quiggin, der keine Meinung zu Buchtiteln offerierte, wiederholte seine eigene Position.

»Ich hätte heute Abend nicht kommen sollen. Ich fühle mich erbärmlich.«

»Glaubst du, Kenneth Widmerpool weiß, dass Mr. Gwinnett in London ist?«, bemerkte Ada.

Das gab Members seine Chance.

»Hast du nicht gehört, dass Widmerpool heute Abend kommen wird, Ada? Er bringt Amanda und Belinda mit.«

Members konnte nicht völlig sein Erstaunen über sein Glück verbergen, das den Eltern der Zwillinge verkünden zu können. Ada hatte sich unter Kontrolle, aber schien äußerst verärgert. Für ihren Mann dagegen war die Information ganz offensichtlich zu viel. Quiggin und Members mochten neuerdings auf gutem Fuß miteinander stehen, aber dennoch, es gab Grenzen für das, was Quiggin von seinem alten Freund hinzunehmen bereit war. Er nahm die Eröffnung auf, als sei sie eine simple Zurschaustellung von Bosheit seitens Members, dessen leutseliger Ton dieser Vermutung nicht völlig widersprach. Der wegen seiner Indisponiertheit bleichgesichtige Quiggin wurde rot. Ihn überkam ein heftiger Hustenanfall. Als dieser überstanden war, brach es aus ihm heraus, wobei seine Stimme mitten im Satz fast zu einem Kreischen anstieg.

»Amanda und Belinda werden zu diesem Dinner kommen?«

Members hatte nicht erwartet, dass seine Worte eine so heftige Wirkung erzeugen würden. Er sprach jetzt in einem beruhigenden Ton.

»Kenneth Widmerpool hat einfach nur gefragt, ob er sie mitbringen könne. Es schien dagegen nichts einzuwenden zu sein.«

»Aber warum verdammt kommt Widmerpool selbst denn überhaupt?«

»Er wurde einfach eingeladen.«

Das war nicht ganz aufrichtig von Members. Als ob Widmerpool einzuladen die natürlichste Sache der Welt gewesen sei. In einer Hinsicht mochte das so sein, aber nicht unter den gegebenen Umständen. Quiggin war zu verärgert, um das durchdenken zu können.

»Warum zum Teufel hast du uns das nicht vorher gesagt, Mark? Es war mir gar nicht bewusst, dass diese ganze Sache mit Widmerpool und den Zwillingen noch im Gange war. Und außerdem, warum sollten sie überhaupt an einer Party wie dieser teilnehmen wollen?«

Ada intervenierte. Selbst wenn die Nachricht für sie selbst ebenso ärgerlich war, sie verstand es besser, ihren Unmut zu verbergen.

»Ach halt doch die Klappe, J. G. Die Mädchen sind schon in Ordnung. Wir wissen doch, dass sie oft mit Widmerpool zusammen sind. Das ist doch nichts Schlimmes. Sie machen selbst Witze darüber. Schließlich ist er der Kanzler ihrer verdammten Universität. Wenn jemand ein Recht darauf hat, mit ihnen freundschaftlich zu verkehren, dann ist er das. […]«

Anthony Powell: Der Klang geheimer Harmonien (Ein Tanz zur Musik der Zeit, Band 12). Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Gebunden, farbiges Vorsatz, Lesebändchen, 312 Seiten € 22,— [D] / € 22,60 [A] / sFr 31,80. ISBN 978–3–941184–47–3. Zur Verlagsseite.

Mi, 12:00 Uhr: Die Kurt Wolff Stiftung präsentiert den neuen Katalog "Es geht um das Buch 2018/19"

Der Katalog 2018

"Es geht um das Buch", der Katalog der Kurt Wolff Stiftung, liegt in seiner dreizehnten Ausgabe vor. Das wunderschöne graphisch aufwendig gestaltete Nachschlagewerk vereint erneut 65 Porträts unabhängiger Verlage aus Deutschland. Lassen Sie nicht nur sich sondern alle Liebhaber des schönen Buchs zu wichtigen Büchern verführen, die man haben muss.

Über die Kurt Wolff Stiftung

Die Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene wurde im Oktober 2000 von unabhängigen Verlegern und vom damaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann gegründet. Der Name der Stiftung erinnert an den bedeutenden Verleger des deutschen Expressionismus, der von 1887 bis 1963 lebte und mit dem Kurt Wolff Verlag unter anderem in Leipzig wirkte. Die Stiftung wurde im Dezember 2000 als gemeinnützig anerkannt und eingetragen. Im Januar des folgenden Jahres konnte sie ihre Arbeit aufnehmen. Seit März 2002 hat die Kurt Wolff Stiftung ihren Sitz im Haus des Buches in Leipzig.

Ziele der Kurt Wolff Stiftung

Die Kurt Wolff Stiftung versteht sich als Interessen­vertretung unabhängiger deutscher Verlage. Die Zusammenarbeit mit anderen kulturellen Einrichtungen im In- und Ausland, vor allem aus dem Verlagswesen, dem Buchhandel, dem Bibliothekswesen und der Presse sowie mit Autorinnen und Autoren und anderen Kulturschaffenden ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit der Stiftung. Dabei werden Netzwerke geknüpft, internationale Kontakte hergestellt und Analysen, Konzepte, Empfehlungen sowie politische Forderungen im Verlagsbereich erarbeitet. Auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig finden regelmäßig Diskussionsrunden unabhängiger Verlegerinnen und Verleger unter der Leitung der Stiftung statt. Auf der Leipziger Buchmesse wird jährlich, vom Kuratorium der Kurt Wolff Stiftung ausgewählt, der Kurt Wolff Preis für das Lebenswerk, für das Gesamt­schaffen oder das vorbildhafte Verlagsprogramm eines deutschen oder in Deutschland ansässigen unabhängigen Verlages vergeben. Außerdem wird einem weiteren Verlag der Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung für ein herausragendes Einzelprojekt zuerkannt. Zur Webseite.

Mi, 12:30 Uhr: Wallstein Verlag präsentiert Steffen Mensching: Schermanns AugenModeration: Thorsten Ahrend

Wallstein Verlag

Seit 31 Jahren verlegt Wallstein anspruchsvolle Bücher aus den Bereichen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Geschichte. Außerdem sind im Verlag eine Vielzahl von sorgfältigen Editionen erschienen, zuletzt u.a. die Briefe von Johannes Bobrowski. Seit 2005 ist der Verlag mit einem erfolgreichen literarischen Programm vertreten. So wurde Ralph Dutli für seinen Roman ›Soutines letzte Fahrt‹ ebenso mehrfach ausgezeichnet (Preis der LiteraTour Nord, Düsseldorfer Literaturpreis) wie Lukas Bärfuss für seinen Roman ›Koala‹ (u.a. Schweizer Buchpreis 2014). Zur

Über das Buch

Eben noch war Rafael Schermann in der Wiener Caféhaus-Szene ein bunter Hund, bekannt mit Gott und der Welt von Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Magnus Hirschfeld bis zu Else Lasker-Schüler, Herwarth Walden, Ehrenstein, Döblin, Bruckner, Eisenstein, Stanislawski, Piscator ... Selbst der scharfzüngige Karl Kraus erhoffte sich von Schermanns graphologischer Begabung beim Deuten von Briefhandschriften entscheidende Hilfe bei seinem Liebeswerben um Sidonie Nádherný ... Und jetzt landet dieser schillernde Mann völlig abgerissen und todkrank als Gefangener am Ende der Welt, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas an der Bahntrasse nach Workuta im Lager Artek. Sofort zieht einer, der aus Handschriften Vorhersagen ableiten kann, außerordentliches Interesse auf sich, ob nun das des Lagerkommandanten (selbst der kann nicht sicher sein, ob er morgen Chef eines größeren Lagers sein oder man ihn erschießen wird) oder das seiner Mitgefangenen, »achthundert Männer, zweihundert Frauen. Eine echte sowjetische Großfamilie ... jeder weiß alles vom anderen und wünscht ihm die Krätze an den Hals.« Und dann behauptet Schermann noch, kein Russisch zu können, und beansprucht einen Übersetzer.

Steffen Mensching stellt ihm den jungen deutschen Kommunisten Otto Haferkorn an die Seite. Ein knappes Jahr verbringen die beiden ungleichen Gesellen im Gulag miteinander – ein Überlebenskampf unter brutalen, absurden Verhältnissen im mörderischen Räderwerk des 20. Jahrhunderts. Zwölf Jahre hat Steffen Mensching an seinem opus magnum gearbeitet, es ist ein großer Wurf geworden.

Über den Autor

Steffen Mensching, geb. 1958 in Berlin (Ost), studierte an der HU Berlin Kulturwissenschaft und arbeitete viele Jahre als freiberuflicher Autor, Schauspieler, Clown und Regisseur. Bekannt wurde er vor allem durch die Clownsprogramme, die er mit seinem Partner Hans-Eckardt Wenzel auf die Bühne gebracht hat (u. a. »Letztes aus der DaDaeR«, 1983-1989). Seit der Spielzeit 2008/09 ist Steffen Mensching Intendant am Theater Rudolstadt. 1979 debütierte er mit einem Gedichtband, zuletzt veröffentlichte er im Aufbau Verlag die Romane »Jacobs Leiter« (2003) und »Lustigs Flucht« (2005) sowie »In derselben Nacht«, Rudolf Leonhards »Traumbuch des Exils« (2001). Zur Verlagsseite.

Auszug aus Steffen Mensching: Schermanns Augen

Väterchen, Augen auf, es gibt was zwischen die Zähne. Petrenkow als netter Onkel. Nicht sein Rollenfach. Da habe er aber Schwein gehabt, meinte er, dass sie ihn hier, bei ihnen, ausgeladen hätten, Arzt sei er zwar keiner, habe aber eine solide medizinische Ausbildung, zehn Jahre Dienst im Sanitätsbataillon. Schwachsinn. Wer glaubte das? Der Alte hob das Kinn, fordernd. Übersetze! Otto dachte nicht dran. Was wollte der Kerl von ihm? Du kannst doch deutsch. Er war zu lange Häftling, um sich von einem Gespenst foppen zu lassen. Ein Schlag, und die Jammergestalt stand nie wieder auf. Woher weiß er, dass ich Deutscher bin, dachte Haferkorn, wo er doch gerade erst eingeliefert wurde? Das Lager war klein, achthundert Männer, zweihundert Frauen. Eine echte sowjetische Großfamilie, sagte Michail Zederbaum, jeder weiß alles vom andern und wünscht ihm die Krätze an den Hals. Otto war der einzige Deutsche in Artek, die Hessen aus den Dörfern um Engels behaupteten zwar, welche zu sein, aber das Gewäsch, das sie redeten, hatte so viel mit Deutsch zu tun wie ein Furz mit einer Fanfare. Noch weniger das Plautdietsch der Mennoniten, die zu Schlitten Schlirre sagten, wer sollte das verstehen? Der Pole hatte kurze Wachphasen, gähnte, räkelte sich, fluchte, forderte Aufmerksamkeit, schlief wieder ein. Hör zu, Faschistschik, vergatterte ihn der Feldscher, wenn er das Maul aufmacht, ruf mich. Und zwar sofort. Otto nickte. Er hasste den Spitznamen, musste aber einräumen, dass er ihn schützte. Faschistschik, der kleine Faschist. Der Teufelspakt vom August 39 hatte, auch wenn es widersinnig war, seine Lage gebessert. Seitdem stand er unter Protektion. Keiner wagte, ihn zu schlagen, nur seiner Herkunft wegen. Deutsche und Russen waren Verbündete, Partner im Kampf gegen den westlichen Imperialismus. An einem seiner besseren Tage hatte ihm Jelomanow, der Untersuchungsrichter in der Lubjanka, mit aufgesetztem Lächeln gratuliert. Der Reichsaußenminister würde heute im Kreml empfangen, da dürfe er während der Befragung sitzen. Tage später erfuhr Otto, durch einen Neuzugang in der Zelle, von Ribbentrops Audienz bei Stalin. Gerüchte über einen Freundschaftsvertrag machten die Runde. England und Frankreich seien schachmatt. Litwinow blieb verschwunden. Bewährte Kader im Narkomindel wurden aussortiert. Die Gemeinschaftszellen füllten sich bis an die Schmerzgrenze. Der September war so schneidend heiß, wie der Winter bitterkalt werden sollte. Ende Oktober ging Otto auf Transport. Die Welt versank hinter einem Schneevorhang. Beschlüsse, Gesetze, Manifeste, die in der Hauptstadt von Wissenschaftlern der Lomonossow-Universität, Verkäuferinnen im Staatlichen Warenhaus, den Mitarbeitern der Konfitürenfabrik Bolschewik, von Belegschaftsversammlungen, Einheiten der Roten Armee, Matrosen der Arbeiter-und-Bauern-Flotte, Wohngenossenschaften, von Traktoristen in Kolchosen und Melkern in Sowchosen begrüßt und ausgewertet wurden, spielten, tausend Kilometer weiter nordöstlich, keine Rolle mehr, es sei denn, sie hatten Auswirkungen auf die Löhnung der Wachen oder die Brotration der Gefangenen. Dreihundert Gramm waren das mindeste. Die Prawda erhielt der Lagerleiter mit zweitägiger Verspätung, das Exemplar war bereits von Semjon Schemjena, seinem Vorgesetzten in Kotlas, gelesen, zerknittert und gelegentlich befleckt worden. Den Seki, das Kurzwort stand für Gefangene, Sakljutschonnyje, reichte die Gerüchteküche. Zuzüglich der Propaganda, die am 1. Mai oder am 7. November aus den Lautsprechern dröhnte. Nach einem knappen Jahr in Safranowka hatte ihn Kosinzew in sein Büro kommandiert. Wenn der Genosse Molotow, wie man munkelt, nach Berlin fährt, Faschistschik, wirst du amnestiert, todsicher. Das war wenige Tage vor dem Revolutionsfeiertag gewesen. Seitdem nichts. Still ruhte der See. Otto war bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Wenn die führenden Genossen mit den Nazis gemeinsame Sache machten, warum nicht auch die kleinen Leute? Anfangs, in den Wochen der Untersuchungshaft, hatte er den Pakt für ein Märchen gehalten, für den Trick eines Spitzels, die Fieberfantasie eines Durchgedrehten, der zu lange im Isolator gehockt hatte. Hitler, der Abschaum, ein Gefährte, Mitstreiter, Vertrauter Stalins? Jetzt, nach Monaten in Eis, Schneestürmen, Schlamm, in Mückenschwärmen, Gluthitze, bei Dauerregen im Wald, mit offenen Blasen an den Händen, Geschwüren in Kniebeugen, Achselhöhlen, im Schritt, mit losen Zähnen und wachsgelber Haut, verlaust und verwanzt, mit verschissener Wäsche, war Otto Haferkorn, Jungkommunist und Sohn eines sozialdemokratischen Arbeiters aus Berlin-Lichtenberg, derart vom Elend angefressen, dass er alles tun würde, um in ein warmes deutsches Konzentrationslager ausgeliefert zu werden. Im Traum lief er trotzdem jede Nacht durch Moskau, überquerte die Gorki-Straße, stand an der Linotype und setzte im Haus der Iskra Revoljuzii die Deutsche Zentral-Zeitung. Verschwitzt verließ er den Druckereibetrieb in der Filippowskigasse, nickte dem schwerhörigen Wassil, der an der Pforte saß, Sonnenblumenkerne kaute und die Schalen unter den Tisch spuckte, einen Abschiedsgruß zu, schob die Schiebermütze schräg auf den Scheitel und folgte einem weißen Sommerkleid.

Wer zu nachlässig, geschwächt oder zu dumm war, auf seine sieben Sachen aufzupassen – glücklich, wer sieben Sachen sein Eigentum nennen konnte –, hatte das Nachsehen. Am Abend legten sich die Männer in voller Montur auf die Pritschen. Damit bekämpfte man weniger die Kälte, die Holzfäller kehrten meist in klitschnassen Lumpen von der Arbeit zurück, sondern wollte verhindern, dass einem das Hab und Gut, das man am Leib trug, buchstäblich unter dem Arsch weggestohlen wurde. Nachts, sagten die Urki, ist die beste Zeit, um im Trocknen zu angeln. War der Verlust eines Löffels noch zu verschmerzen - man schnitzte sich im Wald, wo man an Werkzeug herankam, einen neuen -, konnte ein verschwundener Essnapf den Hungertod bedeuten. Niemand würde einem seinen leihen. Ersatz aus dem Depot erhielt man erst nach umständlichen Anträgen, deren Bearbeitung, wenn sie erfolgte, Wochen brauchte. Obwohl wässrig und fleischlos, bildete Balanda den Grundstock der Verpflegung. Das schlimmste, kaum ertragbare Verhängnis war, wenn ein Gefangener, durch Fahrlässigkeit oder Diebstahl, etwas verlor, das ihn an sein ziviles Vorleben erinnerte, einen Kamm, eine Pfeife, die Fotografie seiner Frau oder Kinder, oder ein geliebtes, behütetes Buch. Vielleicht traf den Polen der Schlag? Dann käme er, dachte Otto, in keine Erklärungsnot. Er selbst besaß nur noch einen Gegenstand, den er am Morgen des 18. Juli 1939 bei sich gehabt hatte: ein handgroßer Zettel, Karomuster, vierfach gefaltet: Besuch mich, wenn Du Zeit hast und Mumm. Maria, Hotel Metropol, Zimmer 558. Die Nachricht hatte er – während der Fahrt im Gefängniswagen - nicht in den Schuhen versteckt. Anders als das Foto seiner Eltern, das er dort zu verbergen suchte, wurde der Zettel nicht entdeckt. Vielleicht würde er auch das Foto noch besitzen, wenn er es nicht hätte hineinschmuggeln wollen. Was wäre, wenn. Die Litanei aller Gefangenen. Wie oft hatte Otto sich in den letzten fünfzehn Monaten gefragt, ob sie ihn auch geholt hätten, wenn er krank oder zu feige gewesen wäre, um Marias Einladung Folge zu leisten. Zehn Jahre für ein Rendezvous? Ein teurer Spaß. In Safranowka galt für ihn wie für alle 10-Ender Schreibverbot. Würde er ihr geschrieben haben, wenn er gedurft hätte? War sie noch frei? Man verschwand eben mal so. Spurlos. Falls man nach viertausend Tagen zurückkam, würde man sehen, was vom alten Leben übrig war. Nichts, meinte Zederbaum, mach dir keine Illusionen, alles wird weg sein, Frau, Kinder, Freunde, deine Katze, die Bibliothek, Tagebücher, deine Orden und Zigarettenspitzen, sogar die Erinnerungen. Ausgelöscht. Trübe Gedanken. Otto verdrängte sie. Er lag im Lazarett. Immerhin. Die anderen zogen in diesem Augenblick los, bei eisigem Nordwind, Brigaden zu zwanzig Mann, Äxte und Sägen geschultert, begleitet von einem mürrischen Posten mit Karabiner, der am Kolonnenende lief und vor allem die Axtträger im Blick behielt, die an der Spitze zu marschieren hatten. Wer unaufgefordert aus der Rotte ausbrach, wurde angerufen. Einmal. Erst ein Schuss in die Luft, dann, gezielt, auf den Körper. Manche Wachen gönnten sich auch den Spaß, die Regel von rechts nach links zu lesen, indem sie erst auf den Flüchtling schossen und den obligaten Warnschuss in den Äther nachlieferten. Otto hatte es erlebt. Aus der Kehle des Alten kam ein Pfeifen, heiser, animalisch, ekelhaft. Stirb doch, dachte Otto. Hast du’s hinter dir. Hier ist der beste Ort, um die Fliege zu machen. Die erste Regel des Lazaretts hieß Teilnahmslosigkeit. Entweder war man zu geschwächt, um irgendetwas außerhalb des eigenen Schmerzes wahrzunehmen, oder man gab vor, todkrank zu sein und musste sich vor nichts mehr hüten, als vor Mitleid. Kranke waren selbstsüchtig. Durst, sagte der Pole auf Deutsch, gib mir zu trinken. Was denkt er, wer er ist? Das ist kein Hotel und er kein Zimmerkellner. Flink wie ein Geist kam Kolja zurück. Aus dem Blechnapf in seiner Hand stieg Dampf. Halte den Kopf, wurde der Deutsche aufgefordert. Während der Feldscher zu seinem Verschlag zurückeilte, nippte er an dem Getränk. Tee, kein Wasser. Gib! Die linke Hand des Alten traf Ottos Oberschenkel. Scheusal, soll ich dir die Brühe ins Gesicht kippen? Der Sanitäter drängte ihn zur Seite, stopfte dem Polen Brotkrümel ins Maul. Ich habe auch Durst, maulte der Deutsche.

[...]

Der Alte schlief mit offenem Mund. Otto begutachtete sein Gebiss. Keine Lücke. Der Fremde hatte bessere Zeiten erlebt, sich einen Zahnarzt leisten können. Armer Kerl. Die Reichen waren das Hungern nicht gewöhnt. Wer wie er aus einfachen Verhältnissen kam, hielt die Diät bei Wasser und Brot länger durch. In Artek wurde, auf Anweisung Kosinzews, die Tagesration geteilt, zur Hälfte früh und abends ausgegeben. Dadurch sollte verhindert werden, dass Häftlinge ihren ganzen Brotvorrat auf einen Schlag verschlangen. Was Diebstähle, Schlägereien und unlautere Tauschgeschäfte zur Folge hatte. Nicht wenige Urki priesen die Lager-Küche in höchsten Tönen. Zwar schmeckte Iwan der Fraß auch nicht, aber wenigstens hatte er ihn regelmäßig in der Schüssel. Laffen wie der hier, ein Bourgeois, Aristokrat oder Intelligenzler, an Kartoffeln und Fleisch gewöhnt, schluckten die salzlose Balanda nur mit Ekel. Dass der Pole besonders krank oder heruntergekommen wirkte, konnte Otto nicht finden. Der Mann atmete schwer, aber regelmäßig. Nicht mal Husten. Seine Hände waren durchblutet, ein Gesicht ohne Narben. Kein Krimineller. Wäre er ein Urka, würde ihm irgendwas fehlen, ein Finger, eine Fingerkuppe, ein Teil des Ohrs. Ein Frischling, einer, den es gerade erwischt hatte. War er dafür nicht zu alt? Oder war er klug genug gewesen, seine Verbrechen am ersten Tag zu gestehen? Andere, Dümmere, Otto zum Beispiel, gönnten sich das ganze Programm, das die Verhör-Spezialisten vom NKWD im Angebot hatten, Schläge, Beleidigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Essensentzug, stundenlanges Stehen ohne Kleider, Dunkelhaft, um irgendwann alle Anklagepunkte mit zitternder Hand und im Glücksgefühl, die Quälerei abzukürzen, zu gestehen und mit ihrer Unterschrift zu bestätigen: Konterrevolutionäre Tätigkeit, Spionage, antisowjetische Propaganda, Devisenschmuggel, faschistische Wühlarbeit. Vor dreizehn Monaten, als Otto in der Zelle in der Lubjanka gelegen oder, besser gesagt, zu liegen versucht hatte, denn die Blutergüsse, Schwellungen im Leistenbereich, Striemen auf dem Rücken schmerzten wie die Hölle, war ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen. Wenn er das Protokoll unterschrieb und sich bezichtigte, ein Spion Hitlers zu sein, obwohl er wusste, dass dies ein Hirngespinst war, eine Verleumdung oder ein Irrtum, konnten nicht auch andere Verfemte, die Volksfeinde Pjatakow, Radek, Bucharin und Konsorten, ihre Aussagen nur gemacht haben, um die Folter abzukürzen, ein mildes Urteil zu erschleichen oder wenigstens die erlösende Kugel? Wäre das die Wahrheit, müsste am Ende alles falsch sein. Das ganze Land. Nur Theater. So kaputt, das zu glauben, war er noch nicht. Im Augenblick der Schwäche lauerte Verrat. Zweifel an der Schuld der Verurteilten kannte er nicht, solange er ein freier Mann war. Wie auch? Die Prozesse 36/37 waren doch öffentlich. Ausländische Journalisten saßen als Beobachter im Säulensaal des Gewerkschaftshauses. Für die Zentral-Zeitung berichtete die Chefredakteurin Julia Annenkowa. Sie fiel später in Ungnade, weil sie mit dem Volksfeind Gamarnik in wilder Ehe lebte, einem Komplizen des Verräters Tuchatschewski. Angeblich hatte auch sie gestanden. Alle hatten gestanden. Der Gedanke verfolgte Otto wie eine Furie.

Im Adressbuch des Fremden standen, alphabetisch ungeordnet, Hunderte Namen, Straßen, Fernsprechanschlüsse. Merkwürdig war, dass die Eintragungen von verschiedenen Schreibern stammten, aber immer mit dem gleichen Federhalter gemacht worden waren. Adolf Friedland, Anton Kuh, Arthur & Sadie Gladys Clarence, Henry Bidou, Oskar Fischer, Adolf Loos, Martha Musil, Oskar Kokoschka, Zofia Rosenstrauch, Max Hayek. Robert Scheu, Genia Schwarzwald, Alfred Döblin, Ivan Goll, Redakteur Saxl (gestrichen), Arthur Stadler, Else Lasker, Julius Sachs, Ferdinand Bruckner (USA), Chaim Hilpstein, Kornel Tabori, Wilhelm Stekel, Franciszek Pusłowski, Cornelius van den Busch, Baron Andreas Hadvany, Ellie Lafite, Joseph Hermann, Lucien Vogel, Baronin Nádherný-Borutin, Ludwig Ficker, Leopoldine Konstantin, Hans Natonek, Lily Braun, Ludwig Fulda, Karin Michaelis, Hertha Pauli, Karl Kraus (gestrichen), Magnus Hirschfeld (gestrichen), Max Dessoir, Oskar Beregi, Rosa Silberer (Schwester von Geza), Max Landa, Ida Kcor, Erika Glässner, James B. Pond, Robert Michel (Kino-Woche), Gräfin Pejacsevitch-Lumbe (gestrichen), Maria Theodora, Ernst Lorsy (Pester Lloyd), Franz Th. Csokor, Charlotte Berend-Corinth, Dr. Kuchynka (Prag), William Bullit, Dr. Arthur Zucker, S. M. Eisenstein, Bela Balasz, Wilhelm Schaefer (Verlag), Alexander Ameisen, Suesser (Metz), S. Biegeleisen, Sandor Incze, Prager Tagblatt, Ida Roland (Coudenhove), Ludwig Ullmann (Wiener Allgemeine), Ufa-Berlin, 8-Uhr-Blatt, Rudo-Film GmbH Wien, Famous Players Film Company, New York. Manche Namen glaubte Otto schon mal gelesen oder sogar, während seiner Arbeit in der Druckerei, gesetzt zu haben, andere hatte er noch nie gehört, hätte sie sich aber gewiss gemerkt, so außergewöhnlich wie sie waren: Baronessa Pia Hippoliti, Eugene S. Bagger, Helene Scheu-Riesz. Die Schrift war Latein, nicht kyrillisch. Keine einzige russische Anschrift. Stattdessen: Paris, London, München, Innsbruck, Zürich, Amsterdam, Budapest. Über den Inhalt der einliegenden Zeitungsartikel konnte Häftling Nummer 80824 nur rätseln. Er verstand immerhin: die Beiträge handelten von ein und derselben Person, einem Mann namens Rafael (Raphael, Rafał oder Rafaël) Schermann (oder Szerman). Ein Handlungsreisender? Varietékünstler? Oder Spion? Ilustrowany Kuryer Codzienny, ein polnisches Blatt. Hundsgemein kleine Type, 8-Punkt-Antiqua. Der Artikel berichtete, wenn Otto die Sache richtig verstand, von einem Buch, das in Krakau gedruckt oder vorgestellt worden war, wobei unklar blieb, wann. Die Zeitungsseite trug kein Datum. Im Buchtitel wurde das Wort Brief erwähnt, Pismo, als Verfasser jener Rafał Szerman gehandelt, der, als bedeutender Sohn der Stadt, im Senatssaal der Jagellonischen Universität vielen Leuten Autogramme hatte geben müssen. Seine Unterschriften waren, hieß es da, vor allem beim weiblichen Teil des Publikums begehrt. Auf einem anderen Blatt fiel Otto der Name Sherlock Holmes ins Auge. Den englischen Meisterdetektiv kannte jeder Berliner Junge. Polish Sherlock Gives Science New Problem lautete die Überschrift. Was immer der Titel bedeutete, erschienen war der Bericht am 8. November 1923 in der Zeitung The Los Angeles Times. Dabei klang der Name des Verfassers eher deutsch, nicht amerikanisch. Ein gewisser Oskar Fischer, als Professor of Psychiatry vorgestellt, also ein Irrenarzt, schrieb den Mehrspalter über Herrn Schermann. Vom Titelblatt einer Illustrierten namens VU war nur noch die Hälfte vorhanden. Eine Fotomontage, auf der ein Mann mit Lupe durch einen Wald aus Bleistiften irrte. Erscheinungsjahr 1934. In Frankreich gedruckt. Otto fehlte für ein gründliches Studium der Fundstücke die nötige Ruhe. Behutsam faltete er alles zusammen und schob das Konvolut ins Adressbuch zurück. Eine Visitenkarte fiel ihm in den Schoß, Karton, an den Rändern gezackt: Rafael Schermann, Berlin-Charlottenburg, Bleibtreustr. 38/39 Fernsprechanschluss J 1 Bismarck 1329. War der Fremde selbst dieser Schermann? Wenn nicht, was hatte er mit ihm zu schaffen?

Steffen Mensching: Schermanns Augen. Wallstein Verlag. 820 Seiten. 28,00 Euro. Zur Verlagsseite.

Mi, 13:00 Uhr: ebersbach&simon präsentiert Unda Hörner: 1919 – Das Jahr der Frauen

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Der Verlag wurde 1990 unter dem Namen edition ebersbach von Brigitte Ebersbach gegründet, die als Verlegerin und Programmchefin das Profil rund 25 Jahre federführend prägte. Seit Januar 2015 hat Sascha Nicoletta Simon als Verlegerin die Nachfolge angetreten. Brigitte Ebersbach bleibt beratende Seniorverlegerin. Der Verlag firmiert seither unter dem Namen ebersbach & simon.

Der unabhängige literarische Verlag steht für liebevoll gestaltete Bücher mit anspruchsvollen Inhalten. Den Schwerpunkt des Programms bildet – trotz einiger Ausflüge in die Männerwelt – die Literatur von und über außergewöhnliche Frauen. Jährlich entstehen knapp zwanzig Titel aus den Bereichen Belletristik, Sachbuch, Geschenkbuch, Wissenschaft und Kalender. Zur Verlagsseite.

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