Leviathan - Peter Schindler - E-Book

Leviathan E-Book

Peter Schindler

4,6

Beschreibung

Dies ist nach den Titeln Sternenflug, Drachenfeuer, Himmelfahrtskommando, Scheideweg, Planetarlandung, Vorauskommando, Die Basis, Drachenwelt und Planetarerkundung die Fortsetzung und zugleich der zehnte Band der Buchreihe der Geschichte um Marc Ewert und die Mission rund um den extrasolaren Planeten Tarnas B300433-A. Die Independence, jenes Raumschiff, das die Menschen ins Siriussystem und zum Exoplaneten brachte, macht sich auf den Rückflug in Richtung Erde. Der Abschied fällt schwer, denn mit dem Aufbruch des Raumschiffes sind die Menschen sowie die planetare Basis namens Azores endgültig auf sich alleingestellt. Und tatsächlich offenbaren sich schon bald nach dem Abflug der Independence die ersten Probleme. Eine Bedrohung taucht auf, so mächtig, dass der Fortbestand der Bodenbasis und seiner sechstausendzweihundert Bewohner plötzlich in Frage steht. Die Menschen von Azores müssen sich der Gefahr entgegenstellen und das Blatt zu ihren Gunsten wenden. Es kommt zu Vorfällen und zu immer neuen Auseinandersetzungen, die mit Opfern und Verlusten verbunden sind. Dabei stellen die um ihr Überleben kämpfenden Basisbewohner, zu denen auch Corporal Marc Ewert gehört, sehr rasch fest, dass sie nach jedem bitter errungenen Sieg vor einem noch größeren Problem stehen. Um der eigenen Existenz Willen wagen sie abenteuerliche Missionen, um die Bedrohung auszuschalten.

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Seitenzahl: 1090

Veröffentlichungsjahr: 2022

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„Denke nicht an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast! Diese Buchreihe ist meiner Familie gewidmet, die meinen größten und wertvollsten Schatz darstellt. Vielen Dank für euer Verständnis, euer Vertrauen sowie eure Unterstützung.“

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 – Geschenke

Kapitel 2 – Spuren

Kapitel 3 – Abschied

Kapitel 4 – Kontaktverluste

Kapitel 5 – Die Struktur

Kapitel 6 – Das Todestal

Kapitel 7 – Die Killergruppe

Kapitel 8 – Die Dämonen

Kapitel 9 – Die Schlacht

Kapitel 10 – Der lange Weg

Kapitel 11 – Das Hirn

Epilog

Nachwort

Dieses Buch ist Teil 10 einer aus insgesamt zehn Bänden bestehenden Reihe mit einer chronologisch fortlaufenden Geschichte.

Weitere Titel aus dieser Reihe sind:

Buch 1 --- Sternenflug

ISBN: 978-3-7460-4314-2 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7494-6102-8 (E-Book)

Buch 2 --- Drachenfeuer

ISBN: 978-3-7412-8431-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7481-4563-9 (E-Book)

Buch 3 --- Himmelfahrtskommando

ISBN: 978-3-7504-2492-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-7660-8 (E-Book)

Buch 4 --- Am Scheideweg

ISBN: 978-3-7504-4118-7 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-8866-3 (E-Book)

Buch 5 --- Planetarlandung

ISBN: 978-3-7519-5153-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7519-4357-4 (E-Book)

Buch 6 --- Vorauskommando

ISBN: 978-3-7526-0937-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7526-1560-9 (E-Book)

Buch 7 --- Die Basis

ISBN: 978-3-7526-7340-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7534-8685-7 (E-Book)

Buch 8 --- Drachenwelt

ISBN: 978-3-7543-3225-2 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7543-8237-0 (E-Book)

Buch 9 --- Planetarerkundung

ISBN: 978-3-7543-5957-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7543-7857- (E-Book)

Prolog

Die Gefechtszentrale für die Energieoffensivbewaffnung von Solarian Union Ship „Independence“ ISV-11 befand sich ganz vorn in der Kopfsektion des mächtigen Interstellarraumschiffes. Zusammen mit den Führungs- und Steuerzentren für die Raumtorpedowerfer sowie den Raketenstationen des Schiffes verbarg sie sich etwa einhundert Meter unterhalb des wuchtigen Kommandoturms. Dabei hatte man sie nicht nur tief im Schutz des Schiffsrumpfes untergebracht, sondern zusätzlich auch noch mit meterdicken Mehrschichtpanzerwänden umgeben. Auf diese Weise glich sie einem Tresor, in dessen Innerem auch dann noch etwas leben und weiter funktionieren konnte, wenn der Rest des beinahe sechs Kilometer langen Schiffsriesen schon zerstört und brutal ausgeweidet war.

Major Yusuf Amrouche, Stationsführer eines der insgesamt einhundertzwanzig 800-Kilowatt-Zwillings-Lasergeschütztürme der Independence, durfte sich insofern während seines Schicht- und Gefechtsdienstes an einem der sichersten Orte überhaupt wähnen, den das 166-Megatonnen-Raumschiff einem Menschen zu bieten hatte. Aber darüber dachte er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr nach. Im Moment nahm ihn zudem ganz der Alarm in Anspruch, der ein anfliegendes Feindobjekt signalisierte. Der Fünfundvierzigjährige lauschte auf das schrille Piepen und blickte auf einen der großen Lagebildschirme an der Seitenwand des hallenartigen Raums. Dann entspannte er sich, als er feststellte, dass die schrillen Töne nicht den Ernstfall markierten, sondern lediglich eine Übungssimulation darstellten.

Keine Stationswache blieb von solchen Übungen verschont. Die meisten Leute mochten sie sogar, da sie für etwas Abwechslung im ansonsten eher langweiligen Dienstbetrieb sorgten.

Allerdings galt das eben nur für die Übungen. Tatsächlich hätte es durchaus auch bitterer Ernst sein können. Denn man wusste inzwischen, dass die Independence und ihr Schwesterschiff Antares längst nicht die einzigen beiden Raumeinheiten waren, die nach einer langen Interstellarreise sowie einer Passage durch das Heliogantis-1-Wurmloch das Siriussystem erreicht hatten.

Einem mächtigen Industriekonsortium namens Draconis war dies ebenfalls schon gelungen. Und das sogar noch deutlich früher als den beiden Schiffen unter der Flagge der Solaren Union. Die Vermutungen schwankten zwischen einem halben und gar schon weit mehr als drei Jahren, die Draconis eher im Doppelsternsystem angekommen sein sollte.

Das Syndikat betrachtete die Solare Union nicht nur als lästige Konkurrenz, sondern sogar als einen Feind, dem man mit Waffengewalt begegnen musste. Und so hatte es mutmaßlich Terroranschläge verübt, in deren Ergebnis Antares ISV-12 durch eine thermonukleare Bombe zerstört worden war und zwölftausend Menschen den Tod gefunden hatten. In einem nächsten Schritt war das Industriekartell dann vier Monate später noch sehr viel weiter gegangen, indem es das Raumkampfgeschwader der Independence angegriffen hatte.

In der sich daraus entwickelnden großen Schlacht war die Solare Union unter großen Opfern Sieger geblieben. Und sie hatte mit einer Kommandooperation gegen einen Flugstützpunkt des Industriesyndikats zurückgeschlagen. Die Draconis-Basis war erfolgreich zerstört worden. Doch die Verluste wogen schwer – immer noch. Das an Bord des Solaren Unionsraumschiffes stationierte Space-Infantry-Corps-Bataillon hatte bei der Unternehmung achthundert Marines verloren.

Seit diesen schweren Kämpfen herrschte Ruhe.

Die Solare Union widmete sich inzwischen der Erkundung des Tarnas – eines extrasolaren Gesteinsplaneten innerhalb des Siriussystems. Auf der Oberfläche des Himmelskörpers stand inzwischen sogar eine Bodenbasis.

Wie es nun um das Industriekonsortium bestellt war, wusste niemand. Befand es sich noch im Siriussystem und dabei möglicherweise sogar im Umfeld des Exoplaneten, um den im Moment alle Wünsche, Vorstellungen und Visionen der Menschen kreiselten? Oder war es gar schon auf dem Tarnas gelandet? Spekulationen gab es viele. Die Menschen hatten das Interstellarschiff des Kartells nie zu Gesicht bekommen. Sie wussten lediglich, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt im Doppelsternsystem präsent gewesen war und dabei auch den dritten Systemplaneten besucht hatte. Die Daten sprachen dafür, dass es bis auf fünfzehntausend Kilometer Orbitalhöhe über diesem abgestiegen war und Raumflugeinheiten zu seiner Oberfläche geschickt hatte. Was es vielleicht noch getan haben mochte, stand als bange Frage allgegenwärtig im Raum.

Wirklich sicher durften sich jedenfalls weder die Menschen an Bord der Independence noch die Bewohner der Bodenbasis namens Azores fühlen. Daher übte man immer wieder für den möglichen Ernstfall. Wie eben jetzt.

Kommandos flogen durch den großen Gefechtsstand tief im Rumpf der Independence. Im Ernstfall arbeiteten an den Waffensteuerpulten und den Führungsstationen einhundertfünfzig Menschen gleichzeitig. Im Moment waren es allerdings nur vierzig – die komplette Mannschaft der 8-bis-16-Uhr-Wachschicht.

„Objekt nähert sich an Steuerbord aus null-sechs-zwo Grad mit vierzehn Grad positiver Erhöhung. Wird als feindlich klassifiziert und nachfolgend als Bandit-2 bezeichnet“, bellte der verantwortliche Batterieführer von seiner leicht erhöht stehenden Kommandoanlage her in die Zentrale hinein. „Geschwindigkeit – siebzehn kps, Entfernung – dreizehntausendvierhundert km, erreicht Waffeneinsatzdistanz in dreiundachtzig Sekunden. Romeo-Alpha-7 bis Romeo-Alpha-9, der gehört Ihnen.“

„Verstanden, Sir“, quittierte Yusuf Amrouche lahm. Er besaß schon lange kein Interesse mehr daran, sich bei seinen Vorgesetzten durch ein zackiges Auftreten in positiver Weise hervorzuheben. Denn sein Karrierezug war längst abgefahren. Mit fünfundvierzig stellten der Majorsdienstgrad und die gegenwärtige Dienstfunktion als Stationsführer definitiv das Ende der Fahnenstange dar. Ganz egal, wie sehr der Algerier sich jetzt noch anstrengte, man würde ihn weder irgendwann zum Commander befördern noch ihm einen Job als Batterieführer anbieten. Also wandte er sich jetzt betont gelassen den Geschützgasten der drei genannten Waffentürme zu, die ihm bei dieser Schicht direkt unterstanden. „Romeo-Alpha-7 bis Romeo-Alpha-9, Sie haben es gehört. Bandit-2 erfassen. Warten Sie auf mein Kommando zur Feuersalve.“

Die drei Angesprochenen wurden an ihren Kampfstationen tätig und gab ein paar Befehle ein.

Nachdem die mächtigen Fernradaranlagen auf der Ober- und Unterseite der Steuerbordflügelsektion des Raumschiffes den „Gegner“ schon vor fünfundvierzig Minuten in etwa sechzigtausend Kilometern Distanz erfasst hatten, waren längst sämtliche elektronischen Augen und Visiersysteme auf das Ziel ausgerichtet.

Der Mensch musste den computergesteuerten Waffensystemen nur noch per Knopfdruck befehlen, sich aufzuschalten, das Ziel anzuvisieren und die Feuerbereitschaft herzustellen.

Tatsächlich drehten sich auf der oberen Steuerbordseite des Raumschiffes drei 800-Kilowatt-Zwillings-Lasergeschütztürme behäbig auf das Ziel zu und richteten ihre mehr als sechsundzwanzig Meter langen Geschützemitterrohre aus.

Die Independence besaß die mächtigsten Energiewaffenanlagen, welche gegenwärtig innerhalb der Solaren Union Verwendung fanden. Die Panzertürme, die in ihrer Form jenen der Schlachtschiffe des zwanzigsten Jahrhunderts glichen, erreichten die Größe von Hochhäusern und wogen zusammen mit ihren Drehsockeln jeweils achttausendfünfhundert Tonnen. Ihre Frontpanzerung entsprach einer fünf Meter dicken Stahlwand.

Yusuf Amrouche beobachtete mit leicht zusammengekniffenen Augen den großen Wandbildschirm mit dem zusehends zusammenschmelzenden Distanzwert.

Bandit-2 stellte keineswegs ein rein virtuell erzeugtes Übungsziel dar, sondern war real. Tatsächlich handelte es sich um einen Gesteinsbrocken von der Größe einer Turnhalle und einer Masse von mehr als vierunddreißigtausend Tonnen. Das Ding stammte aus einem der fünf orbitalen Asteroidengürtel, die den Exoplaneten wie breite Bänder in verschiedenen Höhen mit unterschiedlichen Drehrichtungen umspannten. Hochrechnungen besagten, dass mehr als 1,1 Billionen große kosmische Körper aus Felsgestein und Metall den Himmelskörper umkreisten. Und da sich die Independence momentan auf einer geosynchronen Parkbahn in sechsunddreißigtausend Kilometern Höhe über dem Tarnas hielt, besaß sie keinen Mangel an Zielen.

Die Zielentfernungsanzeige auf dem großen Wandschirm unterschritt zwölftausend Kilometer. Der Brocken befand sich damit jetzt in der effektiven Schussreichweite der Energieoffensivbewaffnung.

„Romeo-Alpha-7, -8 und -9, Salvenfeuer auf mein Kommando“, stieß Yusuf Amrouche hervor. „Feuer!“

Die mächtigen Geschütztürme spien aus ihren sechs Emitterrohren energiegepumpte Ytterbium-Faserlaserlanzen aus, die sich in den Asteroiden bohrten und ihn zerspringen ließen.

Bandit-2 löste sich explosionsartig in mehr als dreißig kleinere Brocken auf, die jetzt den anderen wartenden Geschütztürmen als Übungsziele dienten.

Zwei Stunden später war die Wachschicht beendet, und Major Amrouche machte sich auf den Weg zu seiner Wohneinheit auf Rumpfebene 71. Im 68-Quadratmeter-Quartier angekommen, wechselte er den sperrigen Raumanzug gegen einen sehr viel bequemeren Schlamperlook und setzte sich in sein kleines Wohnzimmer. Obwohl es nach Independence-Bordzeit erst Nachmittag war und bis zum Schlafengehen noch viele Stunden Zeit blieben, musste der Major nicht erst darüber nachdenken, wie er seine Freizeit am besten ausfüllte. Er würde sich jetzt um die Dinge kümmern, die aus seiner Sicht längst den größten Wert in seinem Leben besaßen.

Mit dem Gedanken daran blickte der Algerier auf den großen Videobildschirm an der gegenüberliegenden Zimmerwand, der in einer Außenkamerasicht den Tarnas zeigte, jenen Himmelskörper, wegen dem die Menscheit die lange, gefährliche Interstellarreise unternommen hatte.

Der Gesteinsplanet war um etwa fünfzig Prozent größer als die Erde, um zehn Prozent massereicher, besaß eine dichte Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre und lag mit 523,5 Millionen Kilometern Distanz zu Sirius A innerhalb der sogenannten habitablen Zone, in der Leben auf seiner Oberfläche möglich war. Aus diesem Grund durfte er sich auch mit der wissenschaftlichen Katalognummer B300433-A schmücken. Für die Menschheit, die ihren Heimatplaneten Erde durch Umweltverschmutzung und Überbevölkerung an den Rand der Unbewohnbarkeit gebracht hatte, stellte der Himmelskörper einen Hoffnungsträger dar. Man wollte ihn langfristig zu einer alternativen Heimat für Millionen oder gar Milliarden von Menschen machen.

Seit der ersten Landung auf seiner Oberfläche vor etwa viereinhalb Monaten hatten die Hoffnungen jedoch bereits einige Dämpfer erhalten. Wegen der auf ihm herrschenden Bedingungen wurde Tarnas B300433-A inzwischen nur noch mit einem Erdähnlichkeitsindex von 0,87 eingestuft. Andere Exoplaneten kamen da deutlich besser weg. Man erreichte sie nur nicht. Ein weiteres Manko des dritten Systemplaneten bestand darin, dass auf ihm bereits Leben in Form einer komplexen Pflanzen- und Tierwelt existierte. Was im ersten Moment – zumindest aus wissenschaftlicher Sicht – absolut fantastisch klang, war es nicht. Denn seine Flora und Fauna ließ Tarnas weder wie einen Garten Eden erscheinen noch wie einen Streichelzoo. Er wirkte eher wie ein Tummelplatz monströser Ungeheuer. Der Mensch würde es schwer haben, sich in dieser Welt zu behaupten und nicht dauerhaft ganz am Ende der Nahrungskette zu verharren.

Yusuf Amrouche berührten diese Probleme nicht. Denn als Besatzungsmitglied der Independence kam er ganz gewiss nicht in die Verlegenheit, seinen Fuß auf die Oberfläche des Planeten setzen zu müssen. Und das ging für ihn völlig in Ordnung. Schließlich verspürte er weder das Verlangen, sich dort unten auffressen zu lassen noch wollte er sich Rückenschmerzen wegen der erhöhten Schwerkraft holen. Auch das extreme Wetter, die nicht enden wollenden 35-Stunden-Nächte, die ewige Asteroidengefahr und die bisweilen geradezu apokalyptisch anmutenden geologischen Ereignisse ließen einen persönlichen Aufenthalt seiner Person auf dem Himmelskörper nicht besonders erstrebenswert erscheinen.

Nein, dem Algerier genügte es völlig, sich den Himmelskörper jeden Tag aus dem Orbit anzusehen. Zumal er diese Blickperspektive durchaus gewohnt war. Sie erinnerte ihn an sein Leben vor der Dienstzeit in den Solaren Weltraumstreitkräften. Ein Leben, das er in einem Wohnhabitat verbracht hatte, einer künstlich geschaffenen 20.000-Einwohner-Welt, die mit mehr als dreizehntausend Stundenkilometern auf einer orbitalen Bahn in vierundzwanzigtausend Kilometern Höhe über dem Mutterplaneten der Menschheit dahingejagt war.

Alle vierzehn Stunden einmal komplett um die Erde – daran erinnerte sich Yusuf Amrouche gut. Den „Blauen Planeten“ selbst hatte er nie persönlich kennengelernt, nicht einmal während seiner Urlaube. Zuerst war es das fehlende Geld gewesen, später das fehlende Interesse. Nachdem er mit seinem Eintritt in die Reihen des Militärs der eng begrenzten Welt des Wohnhabitats hatte entfliehen können, waren ihm die fremden Himmelskörper im All stets interessanter erschienen. Er hatte sich daher für die Aufnahme in die Sirius- und Tarnas-Mission beworben und tatsächlich erfolgreich sämtliche Hürden genommen. Es war ein Schritt von unglaublicher Tragweite gewesen. Er bereute ihn bis heute nicht. Die zweiundzwanzigmonatige Reise durchs All, der mehr als einjährige Kälteschlaf während dieser Zeit, die hochriskante Wurmlochpassage und die drohenden Gefahren in der unbekannten neuen Welt – die Inkaufnahme all dieser Dinge hatte sich aus der Sicht des Majors mehr als gelohnt.

Denn Yusuf Amrouche war Sammler von Exponaten, die man auf außerirdischen Welten fand. Zu seiner Kollektion zählten beispielsweise Gesteinsproben von Mond und Mars, ein großer Brocken Methanhydrat vom Saturntrabanten Titan sowie ein Silikatsplitter vom Jupitermond Europa.

Seitdem sich der Menscheit jedoch mit der Entdeckung des Heliogantis-Wurmlochs die Möglichkeit eröffnet hatte, über den stellaren Horizont des Sonnensystems hinaus in eine andere Welt zu reisen, wollte Amrouche mehr – sehr viel mehr. Plötzlich besaß er die Chance, sich Dinge aus einem anderen Sternensystem zu beschaffen – Objekte, die in ihrer Bedeutung und ihrem Wert weit über denen von lumpigen extraterrestrischen Gesteinsklumpen lagen. Die Sammelleidenschaft des Majors galt inzwischen in erster Linie Exponaten, die von Tarnas-Lebensformen stammten.

Dummerweise waren die private Beschaffung und der persönliche Besitz von Objekten, die den Exoplaneten als Ursprungsort hatten, verboten. Nicht einmal das Aufheben und Einstecken von Steinen wurde erlaubt. Es würde nicht so bleiben, das wusste jeder. Aber momentan galt diese Verordnung noch. Was viele Menschen an Bord der Independence sowie unten in der Azores-Bodenbasis nicht daran hinderte, sich trotzdem in den Besitz von solchen „Souvenirs“ zu bringen.

Auch Yusuf Amrouche ließ sich von dem Verbot nicht in seiner Sammelleidenschaft behindern. Er besaß inzwischen schon ein paar Stängel von jener Lebensform, die als Tarnas-Moos bezeichnet wurde. Der Name war irreführend, denn mit irdischem Moos hatte dieses Aliengeschöpf nichts zu tun. Was es allerdings tatsächlich darstellte, wusste niemand. Die Wissenschaftler wollten sich noch nicht einmal so weit festlegen, dass es sich um eine Pflanzenspezies handelte. Einige von ihnen hielten die Tarnas-Moosteppiche auf den Ebenen des Planeten für Teile eines intelligenten Wesens von globaler Größe.

Das zweite Kronjuwel in Yusuf Amrouches Sammlung bildete eine Hornschuppe von etwa der Größe eines Esstellers. Das Ding sollte von einer reptilienähnlichen Spezies stammen, die es auf bis zu vierzig Tonnen Gewicht brachte und daher allein schon wegen ihrer Abmessungen nicht in das Wohnquartier des Algeriers passte. Die Hornschuppe musste also reichen.

Zufrieden war der Major mit dieser Ausbeute aber noch nicht. Auf dem Tarnas wimmelte es nur so von riesigen, wilden Bestien, und sein Traum ging dahin, sich unbedingt noch in den Besitz eines Erinnerungsstücks von solch einem Monster zu bringen – beispielsweise eines Zahns oder einer Kralle.

Der Waffenstationsführer starrte wieder auf den Bildschirm an der Wohnzimmerwand. Aus dem hohen Orbit der Independence betrachtet, war der Tarnas schon rein äußerlich kein Himmelskörper, auf dessen Oberfläche man sich unbedingt wünschte. Denn ihm fehlten solche lebendigen, warmen Farben, wie das Blau des Wassers und das Grün von Vegetation. Mit seinen Gelb-, Braun- und Grautönen wirkte er eher öde und trostlos, ja beinahe tot. Und die grauweiße Wolkendecke, die ihn in großen Teilen einhüllte, machte ihn für den Betrachter auch nicht sympathischer. Das galt erst recht für die fünf Asteroidenringe, die ihn auf verschiedenen Höhen umspannten und einen Flug hinab zur Oberfläche beziehungsweise umgekehrt von dieser hinauf zum Raumschiff zu einem großen Wagnis machten.

Aber Yusuf Amrouche befand sich ja gottseidank sechsunddreißigtausend Kilometer hoch über dem Planetenboden und musste sich all dies nicht antun. Sein Plan sah ohnehin nicht vor, sich bei der Jagd nach diversen außerirdischen Sammlerobjekten persönlich in Gefahr zu bringen. Stattdessen nahm er viel Geld in die Hand, um andere Leute ausreichend dafür zu begeistern, es an seiner Stelle zu tun. Allerdings rannte ihm inzwischen die Zeit davon. Denn nach menschlicher Kalenderrechnung schrieb man heute den 21. Dezember 2173, und es stand inzwischen fest, dass die Independence sich kurz nach dem Jahreswechsel auf den langen, gefahrvollen Heimflug in Richtung Sonnensystem und Erde machen würde. Das Raumschiff hielt sich aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Draconis-Kartell inzwischen schon sechs Monate länger im Bereich des Tarnas auf als ursprünglich eigentlich geplant gewesen war. Der Aufbruchtermin stand daher unumstößlich fest.

Allerdings schloss sich das Zeitfenster bereits eher, in einer Woche schon. Denn am 28. Dezember starteten das letzte Mal zwölf Transportfähren, um Fracht vom Raumschiff hinunter zur Planetenoberfläche zu bringen. Dann waren die gewaltigen Laderäume der Independence endgültig leer und Millionen Tonnen Material hinunter auf den Tarnas geschafft. Im Anschluss würden zwar immer noch vereinzelte Kuriermaschinen zwischen Schiff und Bodenbasis verkehren, aber die Frachtkontrollen dann auch sehr viel strenger ausfallen. Illegales Transportgut von zweifelhaften Absendern für ebenso zweifelhafte Empfänger ließ sich dann kaum noch durch die Kontrollen bringen.

Der Algerier hatte in den zurückliegenden Wochen alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgelotet, um in der wenigen verbleibenden Zeit doch noch irgendwie in den Besitz eines Teils von einem Tarnas-Ungeheuer zu kommen. Aber seine Hoffnung war zunehmend geschwunden. Jedoch nur bis zu jenem Moment, als er vor etwa einem Monat im Darknet auf eine kuriose Suchanzeige gestoßen war. Er hatte die Sache zunächst für einen Fake gehalten. Denn Personen, die sich in der garantierten Anonymität des versteckten Bereiches des Internets herumdrückten, suchten nach allen möglichen Dingen, aber ganz bestimmt nicht nach einem Musikinstrument. Doch die Sache war keineswegs ein dummer Scherz gewesen.

Jemand mit dem Avatarnamen Kaguya-hime befand sich tatsächlich auf der Suche nach einem Klavier. Der Major hatte ein bisschen über den Namen recherchiert und war dabei auf ein altes japanisches Märchen über eine Mondprinzessin mit eben diesem Namen gestoßen. Seitdem ging er davon aus, dass die betreffende Kontaktperson eine Frau war.

Wahrscheinlich handelte es sich um eine Mitarbeiterin der wissenschaftlichen Abteilung in Azores, die sich offenbar nicht nur der Forschung verschrieben hatte, sondern auch einen gewissen Hang zum Musizieren besaß. Und sie schien sich eben nicht nur in ihrem Fachgebiet auszukennen, sondern auch in den dunklen Bereichen des Internets. Darüber hinaus musste sie Kontakt zu wenigstens einer Person in der Bodenbasis besitzen, die an Außeneinsätzen teilnahm und auf diese Weise tatsächlich jenen Ungeheuern begegnete, die den Tarnas so zahlreich bevölkerten. Andernfalls wäre sie wohl kaum auf den Deal eingegangen, den der Major ihr im anonymen Chatraum vorgeschlagen hatte. Sie bekam ihr Klavier, wenn sie Yusuf Amrouche im Gegenzug ein hübsches Mitbringsel von einem außerirdischen Monster beschaffte.

Der Algerier fragte sich, ob die Dame tatsächlich mit der sprichwörtlichen Schönheit der Mondprinzessin aus dem japanischen Märchen mithalten konnte. Nun ja, zumindest besaß sie Mut. Oder sie kannte schlicht jemanden, der tapfer und zugleich dämlich genug war, den Job für sie zu erledigen. Aber ganz egal, wer sie nun wirklich war, wie sie aussah und wie sie’s anstellte – sie wollte sich unbedingt in den Besitz eines Klaviers bringen. Es stellte ein Vorhaben dar, das hier – am gefühlten Ende der Welt – ganz gewiss keine große Chance besaß.

Aber du bist wirklich ein echter Glückspilz, Kaguya-hime, dachte Yusuf Amrouche und blickte quer durch sein Wohnzimmer auf das schwarz glänzende E-Piano an der gegenüberliegenden Wand. Es stand dort nicht nur als Dekoration. Manchmal, wenn es den Major überkam, setzte er sich tatsächlich an das Instrument. Ein begnadeter Klavierspieler war er zwar nicht. Doch sein Können ging deutlich über sinnloses Geklimpere hinaus. Er hatte das elektrische Klavier kurz vor seiner Einschiffung auf die Independence erworben. Es war damals eine eher sporadische Idee gewesen, die sich aber im Nachhinein als sehr gut erwiesen hatte. Dies galt umso mehr, da das Instrument Yusuf Amrouche jetzt dabei helfen würde, seine Sammlung an außerirdischen Raritäten mit einem ganz besonderen Exponat zu krönen. Okay, die Trennung von dem Instrument würde ihm schwerfallen. Denn er mochte das Klavier und gab es wirklich nicht gerne her. Aber sobald das Raumschiff den Erdorbit erreichte, konnte er sich jederzeit ein neues Instrument beschaffen. Für das Teil von einer Alienkreatur galt das dagegen nicht.

Der Algerier tippte auf die Platte seines gläsernen Wohnzimmertisches, woraufhin eine virtuelle Computertastatur sichtbar wurde. Der Waffenstationsoffizier ließ seine Finger flink über die Tasten laufen und lehnte sich dann bequem auf seiner Couch zurück. Jetzt kam der Teil, den er am meisten liebte – an dem er sich geradezu berauschen konnte. Gebannt und mit angehaltenem Atem sah er zu, wie sich in der Luft ein dreidimensionales Hologramm jenes Exponates aufbaute, das Kaguya-hime ihm vor neun Tagen zusammen mit Fotos, Videoaufnahmen sowie diversen wissenschaftlichen Dokumenten über einen versteckten Darknetkanal zugesandt hatte. Yusuf Amrouche starrte auf das etwa zwanzig Zentimeter lange „Ding“, das ihn an einen aus Elfenbein geschnitzten Dolch mit langer, spitzer Klinge und einem runden Griffheft erinnerte. Es handelte sich um einen aus Alienknochen bestehenden Wurfpfeil. Geschosse dieser Art verwendete eine ganz bestimmte wurmartige Höhlenkreatur auf sehr perverse Art dazu, ihre Beute zu erlegen. Sie spuckte diese Geschosse aus Öffnungen in ihrem Lippenwulst, welcher sich ringförmig um einen großen Fressschlund anordnete. Die Pfeile erreichten dabei die Wucht und Geschwindigkeit von mittelalterlichen Armbrustbolzen.

Der Major hatte sich sehr eingehend mit dem Informationsmaterial beschäftigt, das ihm durch Kaguya-hime zugesandt worden war. Und er ergötzte sich jeden Tag aufs Neue daran. Manchmal so sehr, dass ihn die Bilder sogar bis in den Schlaf hinein verfolgten und er mitten in der Nacht hochfuhr, weil ihm die riesige Wurmkreatur in seinen Träumen auf grässliche Art mit ihren Knochenpfeilen durchbohrte oder ihn mit ihrem aus unzähligen Segmenten bestehenden Leib zerquetschte. Yusuf Amrouche wischte das Holomodell beiseite und betrachtete sich die Fotos sowie Videoaufnahmen, die aus den Helmkameras der Menschen stammten, die dem Ungeheuer von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten. Es waren zum Teil sehr verstörende Bilder und Filmsequenzen. Der Major allerdings mochte sie. Es dauerte eine ganze Weile, bis er durch erneutes Wischen ein Dokument aufrief, das eine Art wissenschaftlichen Steckbrief darstellte.

„Name: Riesenhöhlenwurm – lateinische Bezeichnung: magnum caverna vermis – geschätzte Länge: 60 Meter – geschätzte Rumpfhöhe: 1,5 Meter – geschätzte Rumpfbreite 2,6 Meter – Gewicht: 20 bis 25 Tonnen (ebenfalls geschätzt) – Ernährungstyp: Fleischfresser – Aussehen: grün und schwarz gemustert – Stamm: Urmünder (Protostomia) – Überstamm: Lophotrochozoen – Einordnung in Systematik des Tarnas-Tierreiches: Titan-Klasse – Lebensraum: unterirdisch – Fundort: Höhlensystem in der nordöstlichen Wand des Syrakkraters.“ Während Yusuf Amrouche all dies las, erfasste ihn Aufregung. Wie eigentlich jedes Mal, wenn er die beeindruckenden Daten studierte.

Der im Steckbrief erwähnte Fundort verriet, dass die Menschen dem Höhlenwurm während der ersten großen Expedition begegnet waren, die gerade erst ihren Abschluss gefunden hatte. Den Nachrichten zufolge hatte sich das Zusammentreffen mit dem Ungeheuer keineswegs auf freundschaftlich-netter Ebene abgespielt, sondern war eher blutig verlaufen. Alles deutete insofern darauf hin, dass die Beteiligten nicht die nötige Zeit zum Sammeln von biologischen Proben besessen hatten.

Yusuf Amrouche durfte also davon ausgehen, dass es nur einen einzigen Knochenpfeil in Besitz von Menschenhand gab. Der Gedanke, dass eben dieses eine Exponat bald ihm gehören könnte, trieb seinen Puls nach oben. Er musste sich unbedingt in den Besitz dieses Alienwurfgeschosses bringen.

Azores News und Independence News hatten in ihren gestrigen Abendsendungen live darüber berichtet, wie die Expedition nach dreiwöchiger Reise in der Bodenbasis eingetroffen war. Falls Kaguya-hime zu den Teilnehmern der Planetarerkundung gehört hatte, musste sie jetzt wieder in Azores weilen. Es wurde somit höchste Zeit, den Deal endgültig abzuwickeln.

Mit dem Gedanken daran befahl Yusuf Amrouche der Smart-Home-Einheit seines Wohnquartiers: „Computer, zeig mir ein Außenkamerabild von Azores.“

„Verstanden“, quittierte die Künstliche Intelligenz.

Das Holomodell des Knochenpfeils sowie die Fotos, Videoaufnahmen und Dokumente machten einem neuen Bild Platz, das einen stark vergrößerten Ausschnitt jener riesigen Kontinentalebene auf der nördlichen Planetenhemisphäre zeigte, welche die Menschen wegen ihrer globalen Lage Nordatlantische Ebene nannten. Momentan befand sich das Gebiet auf der Tagseite des Planeten, war allerdings von einer dichten Decke aus grauem Dunst überzogen. Aus orbitaler Höhe betrachtet, bildete der menschliche Stützpunkt inmitten des trostlosen Graubrauns einer öden Tundra nur einen quadratischen Fleck mit einem Wirrwarr aus Gebäuden, Anlagen und Infrastruktur in seinem Inneren.

Das von zwei hohen Sperranlagen umschlossene 36-Quadratkilometer-Areal bildete den Wohnort von sechstausendzweihundert Menschen. Innerhalb der mächtigen 7-Meter-Panzermauern gab es jedoch noch genügend Platz für wesentlich mehr Bewohner und weitere Bauwerke.

Irgendwo dort unten steckst du jetzt also, Kaguya-hime. Und du besitzt etwas, das ich gerne haben möchte. Es wird höchste Zeit, dass du mir es endlich gibst, dachte Yusuf Amrouche und startete den Einstieg ins Tornetzwerk, das ihn über einen Knoten bis zum Austrittspunkt in die tiefe Dunkelheit des Darknets bringen würde.

Kapitel 1 – Geschenke

21. Dezember 2173

„Azores“-Bodenbasis / Nordöstliche Ecke innerer Bereich Bade- und Erholungsresort / Strand

Marc Ewert stand im Ufersand des Bade- und Erholungsresorts der planetaren Bodenbasis namens Azores. Obwohl er gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt war, kam es manchmal vor, dass er sich eher wie zweiundsiebzig fühlte.

Vielleicht lag es daran, dass sein Leben zuletzt sehr turbulent verlaufen war. Immerhin hatte er vor nicht einmal viereinhalb Jahren noch als ziviler Flugkapitän am Steuer einer Starmaster-Transportraumfähre gesessen. Aber es war eben sein unbedingter Wunsch gewesen, an der ersten interstellaren Reise der Menschheit in ein fernes Sternensystem – zu Sirius – teilzunehmen. Um sich diesen Wunsch erfüllen zu können, hatte der Deutsche sein Leben noch einmal komplett umgekrempelt und sich im Ergebnis als Offizier und Pilot eines leichten Cyclone-Raumjägers an Bord des Raumschiffes Solarian Union Ship Antares wiedergefunden.

Dann jedoch war die Antares nach ihrer Ankunft im Siriussystem einem thermonuklearen Anschlag zum Opfer gefallen.

Als einziger Überlebender dieses furchtbaren Ereignisses hatte der Deutsche im Wrack seines Cyclone-Jägers eine längere Odyssee durch den Weltraum unternommen. Als Raumeinheiten der Independence ihn schließlich in den Weiten des Alls entdeckten, hatte er seine Retter dummerweise nicht als solche erkannt und das Feuer auf sie eröffnet. Ihm war daraufhin der Prozess gemacht worden. Der Degradierung zum Mannschaftsdienstgrad hatte sich ein rekordverdächtig kurzer Dienst im Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazin des Schiffes angeschlossen, bevor dann eine Strafversetzung ins Space Infantry Corps erfolgt war.

Gebessert hatte sich damit nichts in seinem inzwischen sehr verqueren Leben. Ganz im Gegenteil. Als Starman Second Class war Marc mit eintausend weiteren Marines in einen mörderischen Kampfeinsatz gegen eine Flugbasis des Draconis-Kartells geschickt worden. Er hatte – im Gegensatz zu vielen anderen – überlebt, im Anschluss aber nicht beim Space Infantry Corps bleiben wollen und daher ein Versetzungsgesuch zu den Solarian Union Ground Forces geschrieben. Dem Gesuch war entsprochen worden, und der aufgrund seiner Leistungen beim Kampfeinsatz gerade erst zum Petty Officer Second Class Beförderte hatte sich flugs in einen Corporal und Planetar-Fahrzeugpiloten verwandelt.

Der Eintritt in die Solaren Bodenstreitkräfte war mit einer zweijährigen Dienstverpflichtung und der zwangsweisen Teilnahme an der Tarnas-Mission verbunden gewesen.

Im Ergebnis all dieser Ereignisse befand sich Corporal Marc Ewert nun auf der Oberfläche des Exoplaneten mit dem langen Namen Tarnas B300433-A, zählte zu den sechstausendzweihundert Bewohnern der Azores-Basis und starrte in diesem Moment auf das Wasser des Badesees, das im gedämpften Licht von Sirius A eine grünblaue Färbung besaß.

Das Nass sah eigentlich recht einladend aus. Zumindest, solange man gedanklich ausklammerte, wo man sich hier in Wirklichkeit befand. Tatsächlich hatten sich in diesem künstlichen Badesee schon große Würmer und ein gewaltiger Tarnas-Drache gesuhlt.

Inzwischen passten jedoch Sensoren, Radarsysteme, Roboter und ausgeklügelte Verteidigungsanlagen darauf auf, dass der Mensch auch einmal zum Zuge kam. Schließlich hatte er das große Badegewässer eigentlich allein für den Eigengebrauch angelegt, und nicht etwa, damit irgendwelche Tarnas-Kreaturen darin ihren Spaß fanden.

Nachdem der Deutsche am gestrigen Abend zusammen mit der ersten großen Tarnas-Expedition wieder in Azores eingetroffen war, besaß er heute einen freien Tag. In ihrer unendlichen Güte gönnte die Basisführung den vierundachtzig Teilnehmern der beendeten Erkundungsmission eine kleine Auszeit vom Dienst.

Marc brauchte diese Pause auch. Denn er fühlte sich nach der dreiwöchigen Reise durch die Weiten der Nordatlantischen Ebene erschöpft. Dies allerdings weniger in körperlicher Hinsicht als vielmehr mental. Beinahe jeden Tag hatte er bis zu zehn Stunden als Fahrer am Steuer eines der sechs Expeditionsfahrzeuge gesessen. Und in den Pausen zwischen den Marschphasen war er oft an der Absicherung von Forschungsausflügen beteiligt gewesen, hatte also darauf aufgepasst, dass die Wissenschaftler bei ihren Geländeexkursionen nicht im Rachen irgendeiner hungrigen Kreatur endeten.

Zur Wahrheit gehörte allerdings auch, dass Corporal Marc Ewert, Mitglied einer Spezialgruppe der Führungskompanie Queen des verstärkten Grenadierbataillons von Azores, sich für die meisten Außenunternehmungen freiwillig gemeldet hatte. So idiotisch das auch klang, es war nicht ohne Grund geschehen. Denn nur so hatte der Deutsche auf die Jagd nach einem extraterrestrischen Souvenir für einen gewissen Major Yusuf Amrouche gehen können. Wider Erwarten war das verrückte Vorhaben dann auch noch erfolgreich verlaufen – zu einem Zeitpunkt, als der Deutsche längst schon nicht mehr daran geglaubt hatte.

Was tut man nicht alles aus gewissen Gefühlen heraus, dachte Marc, während er weiterhin sinnend auf das Wasser blickte. Mit der beinahe einem Selbstmord gleichkommenden Aktion hatte er einer Frau namens Aiyana Rayen, die als Captain die Aufklärungssquadron Puma in Azores befehligte, ihren derzeit wohl sehnlichsten Wunsch erfüllen wollen – ein Klavier.

Ursprünglich war es dem Deutschen lediglich darum gegangen, der Amerikanerin nichts schuldig zu bleiben. Denn die hatte ihrerseits dafür gesorgt, dass er sich jetzt im Besitz eines elektronischen Schlagzeugs befand.

Der wahre Grund für sein verrücktes Handeln war jedoch ein anderer gewesen – er liebte diese Frau. Und zwar so ziemlich alles an ihr – ihr Aussehen, die Art, wie sie sprach, wie sie sich bewegte, und wie sie ihn in bestimmten Momenten ansah. Sie konnte bisweilen melancholisch sein, manchmal bissig-ironisch, oft aber auch voller Selbstspott. Und die Art, wie sie sich wieder und immer wieder die langen Haare aus den Augen strich – all diese Dinge übten einen unerklärlichen Zauber auf den Deutschen aus.

Doch da war diese eine Sache, die diesem überhaupt nicht an der Kundschafterin gefiel – diese war schon mit einem anderen Mann liiert. Ihr Verlobungsverhältnis mit Captain Shannon Scott, der gleich ihr ebenfalls als Aufklärer in den Bodenstreitkräften der Solaren Union diente, hatte so manche Dinge für Marc in den zurückliegenden Monaten reichlich kompliziert gestaltet. Vor allem auf der Gefühlsebene.

Natürlich sollte man eigentlich annehmen, dass die Situation aufgrund des Beziehungsstatus der siebenundzwanzigjährigen US-Amerikanerin sehr eindeutig ausfiel. Sie war bereits vergeben – basta, Pech gehabt!

Aber ganz so einfach war es eben doch nicht. Nicht in der Gefühlswelt des Deutschen… und wohl auch nicht in jener Aiyana Rayens. Bei der Kundschafterin hatte dies nicht zuletzt damit zu tun, dass sich ihr Verlobter im Moment sehr weit fort von ihr befand. Und dass dies auch noch für sehr lange Zeit so bleiben würde. Shannon Scott hielt sich nämlich weder auf dem Tarnas auf noch an Bord der Independence. Tatsächlich befand er sich nicht einmal in diesem Sternensystem hier. Dafür hatte er selbst gesorgt, indem er kurz vor dem Aufbruch der Independence zu ihrer interstellaren Reise wieder von Bord des Schiffes gegangen war. Er hatte seine Verlobte allein ins Siriussystem fliegen lassen. Und das trotz des Wissens, dass es eine langjährige Trennung von ihr bedeutete. Brutal ausgedrückt, konnte man es auch so betrachten – er hatte seine zukünftige Braut einfach sitzengelassen.

Aiyana Rayen war lange Zeit wider besseres Wissen und aus falscher Loyalität heraus nicht bereit gewesen, es so zu sehen. Stattdessen hatte sie ihrem Verlobten, dessen Eheversprechen sowie sich selbst unbedingt eine Chance bewahren wollen, und sich daher mit aller Gewalt an den Gedanken festgeklammert, dass sich nach ihrer Rückkehr zur Erde das Verhältnis zwischen ihr und Shannon Scott irgendwie schon wieder einrenken würde. Aufgrund dieser Sichtweise sowie wegen ihres unbedingten Drangs, all diese Dinge und ihre eigenen Gefühle ganz tief in sich einzuschließen, hatte es zahlreiche Irritationen und peinliche Augenblicke zwischen ihr und Marc Ewert gegeben. Im Ergebnis der ganzen „Vorfälle“ waren sie und der Deutsche sich schließlich konsequent gegenseitig aus dem Weg gegangen.

In den letzten Wochen allerdings hatte das Luftschloss der Kundschafterin zunehmend Risse bekommen und an Stabilität verloren. Ihre Zweifel waren stetig gewachsen, und Marc hatte plötzlich eine Chance erhalten, ihr während der dreiwöchigen Fernerkundung wieder näherzukommen.

Umso mehr wünschte der Deutsche sich jetzt, dass die Klavieraktion glücklich über die Bühne ging.

Aiyana Rayen wusste nichts von ihrem sich anbahnenden Glück. Ihre eigene Suche nach einem Klavier im Dunstkreis der Basis und des Raumschiffes war jedenfalls erfolglos verlaufen, weshalb sie ihren Traum von einem solchen Instrument längst als geplatzt betrachtete. Sie lernte gerade, mit ihrer tiefen Enttäuschung zu leben. Denn frühestens in zwei Jahren, eher aber noch später, würden die nächsten beiden Raumschiffe aus dem Sonnensystem beim Tarnas eintreffen. Was nicht automatisch bedeutete, dass dann auch jemand ein Klavier im Gepäck hatte, das er abzugeben bereit war. Im schlimmsten Fall konnte sich die US-Amerikanerin ihren Traum erst nach ihrer Heimkehr zur Erde erfüllen. Was aber dann noch in sehr ferner Zukunft lag.

Da Marc diese Frau liebte, war er bereit, alles zu unternehmen, um es nicht so weit kommen zu lassen. Im Moment allerdings musste er erst einmal etwas für sich selbst tun. Jetzt, wo man ihm diesen freien Tag gewährte, hatte er ursprünglich joggen gehen wollen. Doch bei tropischen siebenunddreißig Grad im Schatten und annähernd einhundert Prozent Luftfeuchte besaß das einen leichten Hauch von Irrsinn. Ein Freibadbesuch erschien da deutlich praktischer. Der Deutsche konnte dem Schwimmen ohnehin sehr viel mehr abgewinnen als dem Laufen. Tatsächlich hatte er in seiner Kindheit und Jugendzeit als Leistungssportler im kühlen Nass beachtliche Erfolge erzielt. Es mochte lange zurückliegen, aber das Schwimmen zählte immer noch zu seinen absoluten Leidenschaften.

Vor etwa anderthalb Monaten allerdings hätte ihn diese Leidenschaft beinahe das Leben gekostet. Zu jener Zeit war der Planet von starkem Asteroidenbeschuss heimgesucht worden. Einige der kosmischen Geschosse hatten dabei trotz des massierten Abwehrfeuers der Verteidigungstürme auch Azores getroffen.

Marc war zu diesem Zeitpunkt dummerweise gerade in eben jenem Badesee schwimmen gegangen, an dessen westlichen Ufer er jetzt stand. In der Hoffnung auf Schutz hatte er sich unter eine der drei Pontoninseln geschoben, die dann jedoch nach einem Einschlag untergegangen und zu einer tödlichen Falle für ihn geworden war.

Der Deutsche dachte nicht gern an jenen Moment zurück, in dem er in fünf Metern Wassertiefe in einem Kerker aus verbogenem Metall festgesessen hatte. Der grausame Schmerz, als anstatt von Luft nur noch Seewasser in seine Lungen geschossen war, ließ sich nur schwer vergessen. Und so stand er jetzt im heißen Ufersand und hielt unschlüssig die Schwimmbrille in der Hand.

Eigentlich stellte es schon ein Wunder dar, dass er sich überhaupt ohne schützenden Raumanzug und künstliche Atemluftversorgung hier draußen aufhalten konnte. Diese Freiheit verdankte er zwei Dingen. Zum einen hatte sein Körper einen langen Impfmarathon durchlaufen, der ihn mit den Mikroorganismen des fremdartigen Exoplaneten zurechtkommen ließ. Zum anderen waren da die mittlerweile vierzig hochhausgroßen Lufttauscher- und Sauerstoffkonzentrator-Anlagen, die man überall in der Basis errichtet hatte. Sie sorgten dafür, dass ein Mensch trotz des für ihn zu geringen 15-Prozent-Sauerstoffanteils in der Planetenatmosphäre nicht erstickte.

Marc sah in die Runde. Er befand sich derzeit völlig allein hier im Freibad. Denn der übergroße Rest der sechstausendzweihundert Bewohner von Azores war momentan noch schwer damit beschäftigt, die Bodenbasis am Laufen zu halten und der Menschheit eine mögliche Überlebensperspektive in dieser fremden, gefährlichen Welt zu verschaffen.

Na los, du Feighose, gib dir einen Ruck, dachte der Deutsche und setzte sich die Schwimmbrille auf. Dann schlenkerte er die Badelatschen von den Füßen und marschierte entschlossen ins Wasser hinein.

Das Nass fühlte sich wohltemperiert an. Unterirdische Magmaadern heizten den Seeboden auf, der wiederum diese Wärme an das Wasser abgab. Auf diese Weise bildete sich selbst in den langen und extrem kalten Planetennächten niemals eine Eisschicht auf der Gewässeroberfläche.

Marc kraulte entschlossen los. Das Wasser, das er mit seinen wirbelnden Armen und den kräftigen Beinschlägen zum Schäumen brachte, schien die Angst regelrecht von ihm abzuwaschen. Er steuerte die südliche Pontoninsel an und drehte nach deren Erreichen nach Norden ein. Einhundert Meter waren es bis zum nördlichen, schwimmenden Eiland – eben jenem, das ihn vor anderthalb Monaten nach einem Asteroidentreffer als ächzendes Metallwrack mit sich hinunter auf den Seegrund genommen hatte. Der Corporal hielt sich nicht an dem Ding auf, sondern zog mit ständig wechselnden Schwimmstilen seine Bahnen kreuz und quer durch den Badesee.

Irgendwann bekam er dabei zwei Begleiter, die wie Delphine aussahen. Tatsächlich jedoch handelte es sich um Tauchroboter, die ständig nach unerwünschten außerirdischen Badegästen Ausschau hielten und im Fall der Fälle auch die Aufgabe von Rettungsschwimmern übernahmen.

Nach anderthalb Kilometern ging Marc zunehmend die Puste aus, und seine Muskeln sangen ein heftiges Protestlied. Als sich sein Handgelenkcomputer meldete, hievte er sich keuchend auf die Plattform der nördlichen Pontoninsel hinauf und nahm den Anruf an.

Auf dem kleinen Display des Gerätes wurde eine Frau mit schwarzen Haaren, dunklen Augen und schmalen, asiatischen Gesichtszügen sichtbar. Sie besaß ein niedliches Gesicht, das die meisten Menschen allerdings zumindest im ersten Moment eher einem vielleicht sechzehnjährigen Mädchen zuordnen würden. Doch Private Second Class Hoshiko Savelli war keine sechzehn mehr, sondern bereits vierundzwanzig Jahre alt. Sie diente als IT-Spezialistin in eben jener Sondergruppe der Führungskompanie Queen, der auch Marc als Mitglied angehörte.

Die insgesamt elf Leute umfassende Einheit existierte erst seit etwas mehr als sieben Monaten und trug die Abkürzung FSU, was für „For Special Use“ oder übersetzt für „Zur besonderen Verwendung“ stand. Seit ihrer Landung auf dem Planetenboden im Zuge einer Vorhutmission vor einem knappen halben Jahr spielte die Gruppe bei Außeneinsätzen Kindermädchen für ein drei- bis vierköpfiges Presseteam.

Vor der Aufstellung der FSU-Gruppe war Hoshiko Savelli als Sachbearbeiterin im Stab der Schiffsführung der Independence tätig gewesen – ein staubtrockener Job, welcher der Tochter einer Japanerin und eines Italieners zu langweilig erschienen war. Tatsächlich bescherte ihr der jetzige Dienst wesentlich mehr Action und Aufregung – manchmal auch zu viel von beidem. Als IT-Spezialistin stellte die kleine, agile Frau ein echtes Genie dar. Wobei ihr Interesse für alles, was mit Programmierung und Software zu tun hatte, weit über das dienstliche Maß hinausreichte. Aber das wusste kaum jemand. Und noch weniger Menschen wussten, dass der weibliche Private erster Klasse im Netz den Namen Kaguya-hime führte.

Marc gehörte zu den ausgesuchten Personen, denen das bekannt war. Erfahren hatte er es allerdings erst, als er sich mit seiner Idee von einer Klaviersuche über das Darknet direkt an die Italo-Japanerin gewandt hatte.

„Grüß dich“, sagte Hoshiko Savelli und kniff die Augen zusammen. „Wo bist du? Du siehst so… nass aus. Stehst du etwa gerade unter der Dusche?“

„Nein, ich bin im Freibad. Was ist passiert? Hat sich der Interessent etwa gemeldet?“

„Ja. Er schickte mir eine Botschaft. Und da ich gerade online war, kontaktierte ich ihn sofort via Chat.“

„Er lässt doch den Deal nicht etwa platzen?“

„Nein. Das einzige, was bei ihm kurz vorm Platzen steht, ist seine Geduld. Er möchte das Exponat möglichst rasch in seine Finger bekommen. Deshalb macht er jetzt maximalen Druck.“

Marc, der sich einen atemlosen Moment lang schon vor dem Scherbenhaufen all seiner Bemühungen gesehen hatte, atmete erleichtert durch. „Puh, dagegen ist nichts einzuwenden. In drei Tagen ist schließlich schon Weihnachten, und ich hätte das Klavier bis dahin ebenfalls sehr gerne hier unten. Ich glaube die ganze Geschichte sowieso erst, wenn ich das Instrument mit eigenen Augen sehe und berühren kann.“

„Hab ein bisschen Vertrauen. Wo ist die Ware derzeit? Immer noch bei deinem Freund, dem Multikopter-Piloten, der uns während der Expedition mit seiner Maschine Nachschub brachte?“

„Ja. Aber ich werde sie heute Abend bei ihm abholen, wenn er vom Dienst kommt.“

„Bekam der das mit dem Säubern und dem Präparieren hin?“

„Ja.“

„Dann liegt der Ball ab sofort auf deiner Spielfeldseite. Denn unser Klient ließ mir genaue Instruktionen zukommen, wie das Geschäft bis zu seinem endgültigen Abschluss komplikationsfrei abzuwickeln ist. Da ich dir diese Informationen nicht übers Intercom schicken will, kommst du bitte sofort bei mir vorbei, sobald du deine Planscherei beendet hast.“

„Okay“, bestätigte der Deutsche und zögerte bei seiner nächsten Frage. Doch seine Neugier war so groß, dass er sie schließlich stellte. „Wie steht es mit dem endgültigen Wert der Ware? Äußerte sich unser Interessent dazu?“

Major Yusuf Amrouche alias Lichtbringer002, wie er sich im Netz nannte, hatte beim Aushandeln des Deals den aktuellen Wert seines E-Pianos mit zweitausendsiebenhundert Solardollar beziffert. Das stellte schon eine ziemliche Frechheit dar, da die Summe exakt dem Wert eines nagelneuen Instruments entsprach. Dabei war das elektrische Klavier des Algeriers bereits dreieinhalb Jahre alt. Das mochte für so ein Instrument nicht viel sein. Aber es rechtfertigte nicht den von Amrouche angesetzten Preis. Der Mann hatte zwar erklärt, das E-Piano sei in einem einwandfreien Zustand. Aber ob das wirklich stimmte, würde man erst wissen, wenn sich das Gerät hier unten auf dem Planetenboden befand. So widersinnig es auch sein mochte, das illegale Geschäft fußte allein auf der Basis von Glauben und gegenseitigem Vertrauen.

„Auf Grundlage der Informationen, die wir ihm zukommen ließen, gibt der Interessent den Schätzwert unserer Ware jetzt mit zweitausend Solardollar an“, erklärte die Italo-Japanerin weiter.

Obwohl Marc das für eine durchaus stolze Summe hielt, fragte er: „Was denkst du? Will der Kerl uns damit über den Tisch ziehen?“

„Tja, das ist ‘ne reine Glaubensfrage und hängt vor allem davon ab, wie sehr der betreffende Käufer das Teil wirklich haben will. Meine Recherchen in einschlägigen Sammlerforen besagen, dass einige Kunden noch deutlich mehr für unsere Ware bezahlen würden. Und da es unerbittlich dem Abflugtag der Independence entgegengeht, schießen die Preise für diverse ‚Sammlerstücke‘ ohnehin gerade durch die Decke. Aus den genannten Gründen machte ich unserem Interessenten unmissverständlich klar, dass der Deal platzt, falls er auf seine 2.000-Solardollar-Schätzung nicht noch eine ordentliche Schippe draufpackt.“

Dem Deutschen blieb einen Moment lang die Luft weg. Dann fragte er krächzend: „Großer Gott, was soll der Unsinn?“

Auf dem kleinen Display des Armbandcomputers zeigte Hoshiko Savelli an dieser Stelle ein Grinsen, das sie plötzlich überhaupt nicht mehr mädchenhaft aussehen ließ. „Entspann dich. Der Typ sabbert doch schon vor Vorfreude auf das Teil. Wir geben ihm immerhin etwas, das niemand sonst besitzt, nicht einmal die wissenschaftliche Abteilung. Allein das macht das Ding schon beinahe unbezahlbar. Zumindest, wenn man sich auf diese Sichtweise einlässt.“

Der Deutsche atmete einmal tief durch. „Und? Ließ der Kerl sich auf diese Sichtweise ein? Oder kann ich das Instrument jetzt abschreiben?“

„Wie schon gesagt, entspann dich. Er begann mit mir zu feilschen. War fast wie auf einem Basar. Ich wies ihn an dieser Stelle darauf hin, dass die Ware beinahe ein Mitglied unserer Einheit umgebracht hätte, was man in den Wert einkalkulieren muss.“

Das stimmte. Der besagte Knochenpfeil hatte die Helmscheibe des Maschinengewehrschützen der FSU-Gruppe durchschlagen und war ihm unterhalb des linken Auges tief in den Kopf eingedrungen. Den letzten Buschfunkmeldungen zufolge hatte Private Third Class Stephen Fletcher inzwischen seine zweite kosmetische Operation hinter sich und würde nach seiner vollständigen Genesung wohl wieder genauso aussehen, wie seine Kameradinnen und Kameraden ihn in Erinnerung hatten. Obwohl zusammen mit dem Knochenpfeil sehr viel Körpersekret des Höhlenwurmes in die Kopfwunde gelangt war, schienen sich die Entzündungen erfreulicherweise in Grenzen zu halten. Trotzdem würde es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis der Kanadier in seine Einheit zurückkehren konnte.

„Am Ende standen unser Interessent und ich bei zweitausendfünfhundert Solardollar, und wir waren beide zufrieden“, fuhr Hoshiko Savelli fort. „Ich glaube zwar, der hätte mir das Teil auch noch für zwo-sieben aus der Hand gerissen. Aber das passt schon so, wie es jetzt ist. Der Typ musste schließlich sein Gesicht wahren. Nun gewinnen alle Seiten. Das E-Piano kostet dich aktuell also nur noch läppische zweihundert Solardollar. Für so ein Instrument ist das ein Witz. Und unser Kunde kann sich ebenfalls als Sieger fühlen. Was er auch tut, da er uns den Klavierhocker gratis spendiert. Immerhin bekommt er jetzt etwas, das noch deutlich exquisiter und imposanter ist als das, was er eigentlich wollte. Dass er dafür sein E-Piano hergeben muss, sollte er verschmerzen können. Denn, wenn er nach der Rückkehr der Independence ins Sonnensystem auf die Idee kommt, sein Sammlerstück zu verscherbeln, würde er so viel Gewinn machen, dass er sich mindestens zwanzig neue E-Pianos kaufen kann. Wobei ich nicht glaube, dass er so etwas tun wird. Der Kerl scheint ein echter Liebhaber zu sein. Wenn er unsere Ware erst einmal in seinen Fängen hält, wird er sie nie wieder hergeben, für kein Geld dieser Welt.“

21. Dezember 2173

„Azores“-Bodenbasis / Stationsmodul 1

Wohndeckebene 4 / Unterkunft 1.4.103-L

Der Deutsche hatte es nicht weit. Denn sein Ziel lag auf der gleichen Wohndeckebene, auf der sich auch sein eigenes Quartier befand. Er musste lediglich einen Quergang nehmen, um den langen Hauptkorridor auf der Backbordseite von Stationsmodul 1 zu erreichen.

Die sechstausendzweihundert Einwohner von Azores lebten in Stationsgebäuden, deren äußere Form immer noch deutlich ihre Vergangenheit als Raumfahrzeuge verriet. Die unter Tarnas-Bedingungen mehr als zweihunderttausend Tonnen schweren Ungetüme besaßen kantige Titanrümpfe von fast dreihundertneunzig Metern Länge und erreichten mitsamt ihrer vier mächtigen Stützbeine eine Höhe, die einem zehnstöckigen Wohnhaus entsprach. Jede ihrer mächtigen Tragflächen bot einem ganzen Fußballfeld Platz.

Vor viereinhalb Monaten war mit Stationsmodul 1 der erste dieser Kolosse eigenständig von der Independence aus hinab zur Tarnas-Oberfläche geflogen, um seinen Platz im Innenbereich von Azores einzunehmen. Weitere neunzehn Fluggeräte waren im Anschluss Tag für Tag gefolgt. Seitdem bildeten sie um das Zentrum der Basis herum als „Gebäude“ ein großes Karree.

Marc blieb vor der Tür mit der Nummer 1.4.103-L stehen und blickte auf das Leuchtschild, das verriet, dass hier eine Despoina Scala und ein Alvaro Soto wohnten. Der Deutsche fuhr mit der Hand entschlossen über das Sensorfeld der Klingel.

Kurz darauf wich die Tür zur Seite, und eine durchtrainierte Frau mit dunklen Haaren wurde sichtbar.

Despoina Scala war eine durchaus hübsche Person. Die Vier- undzwanzigjährige selbst sah das wegen ihrer markanten gebogenen Nase allerdings deutlich distanzierter. Und sie bedauerte sich wegen dieses „Erbstücks“ ihrer griechischen Vorfahren immer wieder auch mal gerne selbst. Im Moment jedoch galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Besucher. Sie umarmte den Deutschen wortlos und betrachtete ihn im Anschluss mit jenem kritischen Blick, den sie immer bekam, wenn der beste Freund ihres Lebenspartners auftauchte. Ihr Drang, sich Marc gegenüber wie eine besorgte, große Schwester aufzuführen, war stets präsent. Vermutlich lag es daran, dass sie dem Deutschen drei sehr wichtige Dinge verdankte – ihre beste Freundin, ihren Lebenspartner und sogar ihr eigenes Leben.

Letzteres im ganz Besonderen. Denn gleich dem damaligen Starman Second Class Marc Ewert hatte die „Sternenfrau zweiter Klasse“ als Angehörige des Space Infantry Corps an jenem blutigen Kommandounternehmen gegen die Draconis-Flugbasis teilgenommen, mit welchem die Solare Union sich auf die Siegerseite gebracht hatte. Im Zuge der Kämpfe war sie mit zertrümmertem Bein unter einem implodierenden Kommandogebäude begraben worden und wäre wohl ganz jämmerlich verbrannt, wenn sie der Deutsche nicht zuvor ausgebuddelt und zum Evakuierungspunkt geschafft hätte. Obwohl hochdekoriert, war die Griechin nach ihrer Verletzung als außendienstuntauglich eingestuft worden und hatte ihren Abschied vom Space Infantry Corps nehmen müssen. Heute arbeitete sie in der Abteilung Bauwesen/Basisbau des S2-Logistik-Stabszuges des Grenadierbataillons von Azores – ein Job, in dem sie sich als studierte Bauingenieurin sehr wohl fühlte.

Aber es gab eben nicht nur die furchtbaren Erlebnisse aus der Vergangenheit, die sie mit Marc Ewert verbanden. Vielmehr war dessen bester Freund Alvaro Soto heute ihr Lebenspartner. Und mit Aiyana Rayen, also ausgerechnet jener Frau, an die der Deutsche sein Herz verloren hatte, verband sie inzwischen eine sehr tiefe Freundschaft.

„Ach, sieh an. Zur Abwechslung wirkst du mal nicht so abgekämpft, wie ich das sonst immer bei dir feststellen muss“, erklärte die Griechin jetzt mit einer gewissen Strenge in der Stimme.

Marc verzog das Gesicht. „Lässt du mich jetzt reinkommen, oder muss ich mir noch weitere Komplimente dieser Art von dir gefallen lassen?“

Despoina Scala schmunzelte und trat dann zur Seite. „Na los, rein mit dir. Aber lass mich das trotzdem noch sagen – dein halbwegs entkrampftes, gesundes Aussehen hat ganz sicher nicht allein mit dem freien Tag zu tun, den sie dir heute so außerordentlich großzügig gewähren. Da half wohl noch eine andere Sache nach. Eine Sache, die vermutlich mit meiner Freundin zu tun hat. Ich konnte leider nur kurz mit Aiyana reden, weil man ihr im Gegensatz zu dir keinen freien Tag spendierte. Da sie die Expedition als Chefin leitete, beschäftigt die Basisführung sie schon seit dem frühen Morgen mit Rapporten und Auswertungen. Es tat mir richtig gut, aus ihrem Munde zu hören, dass die Dinge zwischen euch beiden endlich den Verlauf nehmen, den sie längst schon hätten nehmen sollen. Und jetzt lass uns in die Küche gehen und etwas trinken. Wir sind im Moment noch allein. Alvaro macht Überstunden, sollte aber bald kommen.“

Während der Deutsche seiner Gastgeberin folgte, beobachtete er sie beim Laufen. „Du hinkst nicht mehr, wie ich sehe. Macht dein linkes Bein jetzt endlich mal echte Genesungsfortschritte, oder dröhnst du dich lediglich mit Schmerzmitteln zu?“

„Ersteres“, erwiderte die Griechin, der vor etwa einem Monat bei einem Außeneinsatz ein extraterrestrisches Krabbeltier von der Größe einer Hauskatze seine Zangen tief in die linke Wade hineingebohrt hatte. „Aber noch einmal brauche ich so etwas nicht. Und schon gar nicht am linken Bein. Das ist jetzt wirklich kaputt genug.“

Marc glaubte ihr das aufs Wort, wechselte aber nach dem Platznehmen abrupt das Thema. „Ich hoffe, Alvaro richtete es dir schon aus. Zur Sicherheit sage ich es dir jetzt aber noch einmal – ich bin dir sehr dankbar. Zugegeben, ich war mir nicht ganz sicher, ob du dich in Bezug auf deine beste Freundin nicht vielleicht irrst. Aber du hattest recht. Mit allem. Ohne deine nette kleine Geschichte hätte ich niemals probiert, die Dinge zwischen Aiyana und mir noch einmal zu ändern. Sie und ich, wir wären uns weiter aus dem Weg gegangen. Und das wahrscheinlich bis ans Ende unserer Tage.“

„Was für eine entsetzliche Vorstellung“, meinte die Griechin, und ihr Blick war voller Wärme für den Mann sich gegenüber, der ihr einst das Leben gerettet hatte. „Ich tat es gern, Freund meines Freundes. Es ist nur traurig, dass es dieses Tipps von mir an dich überhaupt bedurfte. Aber um ehrlich zu sein, eigentlich verlor ich schon vor einer ganzen Weile meinen naiven Glauben daran, du könntest irgendwie doch noch von selbst merken, dass bei Aiyana einige Dinge stark ins Rutschen gekommen sind. Leider aber warst du wohl zu sehr damit beschäftigt, Distanz zu ihr zu halten, als die entscheidenden Sachen mitzubekommen. Und leider bist du auch ein viel zu großer Trottel, um bestimmte Dinge überhaupt zu schnallen. Ein netter Trottel zwar, aber eben trotzdem ein Trottel.“

Der Deutsche schnitt eine Grimasse, da sich die Aussage der Griechin auf frappierende Weise mit der Aiyana Rayens deckte. Die hatte ihn als „liebenswerten Idioten“ und „Märchenprinz mit einigen Fehlern“ tituliert. Das klang jetzt irgendwie nach einer sehr ähnlichen Bewertung.

„Du erinnerst dich doch hoffentlich noch an deinen Schwur, gegenüber meiner besten Freundin, über unser kleines Gespräch vor drei Wochen die Klappe zu halten?“, erkundigte sich Despoina Scala argwöhnisch.

„Ja. Warum fragst du? Ist er jetzt überflüssig geworden?“

„Keineswegs. Vergiss ihn über deinem ganzen Verliebtsein bloß nicht.“

„Keine Angst.“

„Na schön. Was sagt dir dazu dein Gefühl? Ahnt Aiyana vielleicht trotzdem etwas? Es muss ihr doch schließlich seltsam vorgekommen sein, dass du Trottel auf einmal ganz von dir aus wieder auf sie zugingst, anstatt weiter einen riesengroßen Bogen um sie zu machen.“

„So war es doch jetzt gar nicht“, widersprach Marc, der sich ob ihrer Einschätzung etwas verletzt fühlte. „Und nein, ich kann dir nicht sagen, ob sie etwas ahnt. Sie sprach mich zumindest nicht direkt darauf an.“

„Sehr wahrscheinlich ahnt sie’s trotzdem“, entgegnete die Griechin und biss sich auf die Lippen. Wenn sie in sich hineinhorchte, stellte sie fest, dass sie ihre anfänglichen Bedenken und das miese Gefühl ob der Tatsache, dass sie dem Glück ihrer besten Freundin hinter deren Rücken ein bisschen nachzuhelfen versucht hatte, inzwischen kaum noch quälten. Spätestens seit dem Intercom-Telefonat nicht mehr, das sie vor einigen Stunden mit der Kundschafterin geführt hatte. Denn bei diesem war ihr in der Stimme und Haltung Aiyana Rayens etwas aufgefallen, das sie schon länger nicht mehr bei dieser gehört, gesehen und gespürt hatte – eine entschlossene Klarheit und auch ein Hauch von Freude, ja sogar beinahe schon von Glück.

Das Geräusch einer sich öffnenden Automatiktür drang bis in die Küche.

„Klingt ganz danach, als käme jetzt Alvaro“, stellte die Griechin fest.

Gleich darauf trat der Erwähnte, ein großer, hagerer Mann mit braunem Haar und auffallend hellen Augen, in die Küche. Er steckte in einem grünen Militär-Raumanzug der Solarian Union Ground Forces mit den Abzeichen eines First Lieutenants, der in der Multikopter-Flugsquadron Sphinx zum sogenannten „fliegenden Personal“ zählte.

Marc erhob sich und umarmte seinen Freund.

Im Anschluss musterten die beiden Männer einander.

Alvaro Soto, achtundzwanzig Jahre alt und Sohn argentinischer Rinderzüchter, war im Gegensatz zu seiner Schwester und seinen drei Brüdern nie besonders begeistert von einer beruflichen Zukunft im elterlichen Familienunternehmen gewesen. Er liebte das Fliegen und hatte daher eine Karriere als Raumjägerpilot der Solaren Weltraumstreitkräfte eingeschlagen. In der Folge war er als Kommandeur eines Schwarms schwerer Typhoon-Raumjäger bei der Siriusmission gelandet und hatte nach der Ankunft der Independence im Doppelsternsystem während eines Erkundungsfluges den einzigen Überlebenden der Antares in den Weiten des Alls aufgepickt – einen Cyclone-Raumjägerpiloten namens Marc Ewert. Obwohl das Aufeinandertreffen in einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Folgen für beide Seiten eskaliert war, hatte es auf eigenartige Weise den Grundstein für ihre spätere Männerfreundschaft gelegt.

Der Argentinier war dann allerdings bei der ersten großen Raumschlacht mit dem Draconis-Kartell verwundet worden, was seiner Karriere als Raumjägerpilot ein jähes Ende gesetzt hatte. Er war daraufhin in die Reihen der Solarian Union Ground Forces gewechselt, die ihn zwar wieder fliegen ließen, nun allerdings „nur noch“ Multikopter auf der Oberfläche des Exoplaneten.

„Okay, Amigo, ich hoffe, du hast meiner Señorita noch nicht allzu viel erzählt“, erklärte der schlaksige Argentinier. „Ich möchte nämlich auch noch etwas mitbekommen. Aber vorher lass mich erst einmal aus meinem Raumstrampler steigen und duschen. Ich mach schnell, ist versprochen.“

Der Argentinier hielt sein Versprechen, sodass sie schon fünfzehn Minuten später zu dritt in der Küche saßen. „Also, Amigo, jetzt lass hören“, forderte er. „Bevor du uns allerdings mit einer wahnsinnig spannenden Erzählung über die Expedition den restlichen Abend versüßt, möchte ich von dir erfahren, wie es jetzt in einer anderen Sache weitergehen soll. Einer Sache, die momentan im Schlafzimmerschrank gut versteckt zwischen meiner Unterwäsche liegt. Wo ich sie aber eigentlich gar nicht haben möchte. Davon abgesehen, dass sich meine Höschen in der Gegenwart von dem Ding nicht sehr wohlfühlen, gibt es mir selbst permanent das Gefühl, ein Verbrecher zu sein.“

„Ein Verbrecher bist du ja auch, Alvaro“, erklärte Marc ungerührt. „Aber keine Angst, ich nehme die Ware nachher mit.“

„Das ist gut. Warte, ich hole sie gleich mal.“ Der Argentinier erhob sich und kehrte zwei Minuten später mit einem hermetisch verschließbaren Bioprobenbeutel zurück. Mit einem leichten Daumendruck auf eine ganz bestimmte Stelle an der verschließbaren Seite ließ er die silberblaue Spezialfolie des Beutels transparent werden, sodass man in das Innere schauen konnte.

Der Knochenpfeil des Riesenhöhlenwurms sah von seiner Form her immer noch genauso aus, wie ihn Marc in Erinnerung hatte. Mit dem Unterschied, dass jetzt kein menschliches Blut und auch kein Körpersekret des Wurmes mehr an ihm klebten. Er war völlig sauber und besaß die typische Farbe von Elfenbein.

Der Deutsche betrachtete den Beutel eine Weile von allen Seiten und fragte dann misstrauisch: „Wo sind denn die Naniten abgeblieben?“

Seine Frage bezog sich auf die Nanobots, die das Alien-Wurfgeschoss von sämtlichem biologischem Weichgewebe, Schmutz, Viren und Bakterien befreit hatten. So hilfreich die mikroskopisch kleinen Roboter von lediglich der Größe menschlicher Blutkörperchen auch gewesen sein mochten, sie stellten sehr gefährliche Werkzeuge dar. Denn es spielte für sie absolut keine Rolle, wessen Knochen sie vollständig von Fett, Fleisch, Knorpel und Sehnen befreiten. Wer mit ihnen in direkte Berührung kam, wurde bei lebendigem Leib bis hinunter auf sein Skelett abgenagt.

„Die Naniten sind weg“, antwortete Alvaro Soto. „Als die mit dem Knochenpfeil fertig waren, sah der schön sauber aus. Aber am Boden des Beutels lag dann ganz viel staubartiges Zeug. Ich schätze mal, das waren die entfernten biologischen Rückstände und die Naniten selbst. Auf der Dose, mit der uns die fiesen kleinen Dinger geliefert wurden, fanden sich dankenswerterweise Anweisungen, wie man den ganzen Kram fachgerecht entsorgt. Tja, und das tat ich dann.“ Der Argentinier ließ sich den Beutel wieder reichen und öffnete ihn unter den entsetzten Augen seines Freundes mit einem Grinsen. „Ganz cool bleiben, Amigo. Das Ding ist jetzt so keimfrei sauber, wie ein gewaschener Babypopo. Du könntest sogar dran lecken. Was ich aber trotzdem nicht empfehle. Aber anfassen ist jetzt durchaus drin.“ Er griff mit der Hand in den Beutel, holte das Aliengeschoss heraus und reichte es dem Deutschen über den Tisch.

Marc betrachtete den Knochenpfeil, der tatsächlich ein bisschen an einen großen, aus Elfenbein geschnitzten Dolch erinnerte. Der Deutsche wusste inzwischen, dass das Ding ein Produkt verschiedener biochemischer Prozesse im Körper des Wurmes darstellte. Die Kreatur produzierte ihre fiese Munition sozusagen im eigenen Leib.

Das beinerne Geschoss fühlte sich sehr glatt an. Es war von seinem Material her viel härter und widerstandsfähiger als jeder irdische Knochen. Denn die Wesen auf dem Tarnas mussten mit einer im Vergleich zur Erde um zehn Prozent höheren Schwerkraft klarkommen, die dann meist noch einige Kilogramm oder gar Tonnen auf ihr ohnehin schon großes Eigengewicht draufpackte. Um unter der eigenen Körpermasse nicht zusammenzubrechen und elend zu ersticken, hatte die Natur den Stützapparaten der Kreaturen einen besonders hohen Mineralgehalt spendiert, der den Knochen eine hohe Dichte und Stabilität verlieh.

Das Wurfgeschoss wog deshalb auch ziemlich schwer. Als Marc es kurz nach der Auseinandersetzung mit dem Riesenwurm vom Höhlenboden aufgehoben hatte, war ihm das so gar nicht aufgefallen. Allerdings hatten ihn da wohl die Geschehnisse um sich herum sowie die Schmerzen infolge seiner leichten Verwundung abgelenkt. Bei der unschönen Erinnerung daran packte er den Knochenpfeil jetzt rasch zurück in den Probenbeutel.

„Was machst du jetzt damit, Amigo?“, wollte Alvaro Soto wissen.

„Ich gebe das Ding noch heute Abend mit der Frachtpost auf. Unser Interessent oben im Raumschiff ließ mir genaue Instruktionen zukommen, welchen Transportbehälter ich nehmen muss, und wie die Begleitdokumente auszufüllen sind.“

„Aber das kann doch trotzdem nicht funktionieren“, erklärte Despoina Scala ratlos. „Soweit ich das weiß, durchleuchten die oben auf dem Schiff alles und lassen verschiedene Scanner drüberlaufen.“

„Ja, das tun sie“, bestätigte Marc. „Der Knochenpfeil wird hoffentlich trotzdem keinen Verdacht erregen. Denn die Frachtpapiere deklarieren ihn ganz offiziell als biologische Probe der wissenschaftlichen Abteilung von Azores, die mit dem Raumschiff den Weg ins Sonnensystem antreten soll. Die Raumtransportgruppe nimmt jeden Tag so ’n Zeug mit hinauf zur Independence. Und jetzt im Moment ist es besonders viel, da die Expedition tonnenweise Material mitbrachte, von dem ein Großteil an Bord des Schiffes geht. Das kommt uns jetzt entgegen. Spannend wird es im Grunde genommen erst, wenn unsere Paketsendung bereits alle Kontrollen durchlaufen hat. Dann nämlich sollte sie auf geheimnisvolle Weise nicht den Weg in die Frachtmagazine des Raumschiffes nehmen, sondern als ganz normale Postsendung im Wohnquartier unseres Klienten landen. Sobald ich das Paket heute erfolgreich aufgegeben habe, sende ich eine Quittung darüber an meine IT-Kameradin, die sie dann an unseren Freund auf der Independence weiterleitet. Der Mann schickt daraufhin gemäß der gegenseitigen Absprache seinerseits das Klavier auf die Reise in Richtung Azores. Wenn das alles klappt, findet das Instrument übermorgen an Bord einer der zwölf Transportfähren den Weg zu uns hier herunter. Und erst dann, wenn wir es sicher bei uns haben, müssen wir dem Klienten die Restsumme bezahlen. Das ist der Deal.“

„Wenn das tatsächlich reibungslos funktioniert, wäre das Instrument rechtzeitig vor Heiligabend bei uns“, rechnete sich Despoina Scala hoffnungsvoll aus.

„Vorausgesetzt, der Interessent hält sich wirklich an die Abmachung“, spielte Alvaro Soto den Zweifler.

„Meine IT-Kameradin ist sich da absolut sicher“, erklärte Marc. „Man will es kaum glauben, aber die Abwicklung der dunklen Geschäfte im Darknet folgt einem auf Vertrauen fußenden Verhaltenskodex. Wer den bricht, riskiert es, im Darknet als ‚Schwarzes Schaf‘ geächtet zu werden. Das würde zu einem sofortigen Ausschluss von allen Geschäften führen und könnte im Extremfall sogar mit einem anonymen Tipp an die Sicherheitsorgane des Raumschiffes enden. Falls jetzt noch etwas schiefgeht, dann geschieht es eher auf dem Transportweg. Denn die orbitalen Asteroidengürtel scheren sich leider einen feuchten Kehricht um den Verhaltenskodex.“

Die Griechin und der Argentinier nickten verstehend.

Der Flug durch die fünf Materiebänder, die den Tarnas