Planetarerkundung - Peter Schindler - E-Book

Planetarerkundung E-Book

Peter Schindler

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Beschreibung

Dies ist nach den Titeln Sternenflug, Drachenfeuer, Himmelfahrtskommando, Scheideweg, Planetarlandung, Vorauskommando, Die Basis und Drachenwelt die Fortsetzung und zugleich der neunte Band der Geschichte um Marc Ewert und die Mission rund um den extrasolaren Planeten Tarnas B300433-A. Auch, wenn der Bau ihrer Bodenbasis auf dem extrasolaren Planeten längst noch nicht abgeschlossen ist, die Neugier der Menschen kennt keine Grenzen. Und so brechen sie zu einer ersten großen Fernerkundung auf der Oberfläche des Planeten auf. Auf ihrer Reise entdecken sie zahlreiche ungewöhnliche, fantastische, bizarre, gefährliche und manchmal auch sehr tödliche Orte, Wesen und Erscheinungen. Sie lernen dabei, dass Neugier sowie Wagemut stets ihren Preis haben. Und nicht immer geht die Gefahr allein von der extraterrestrischen Welt aus. Manchmal sind es auch Menschen, die für die Expedition zu einem Problem werden. Zusammen mit beinahe neunzig anderen Teilnehmern der Fernerkundung erlebt Corporal Marc Ewert eine abenteuerliche Reise durch eine geheimnisvolle, fremde Welt, die auch auf ganz persönlicher Ebene einige Überraschungen für ihn bereithält.

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Seitenzahl: 1064

Veröffentlichungsjahr: 2022

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„Denke nicht an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast! Diese Buchreihe ist meiner Familie gewidmet, die meinen größten und wertvollsten Schatz darstellt. Vielen Dank für euer Verständnis, euer Vertrauen sowie eure Unterstützung.“

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 – Die Sondierung

Kapitel 2 – Die Sammelaktion

Kapitel 3 – Kosmischer Regen

Kapitel 4 – Die Krabbler

Kapitel 5 – Privatgeschichten

Kapitel 6 – Vorbereitungen

Kapitel 7 – Aufbruch

Kapitel 8 – Fremde Orte

Kapitel 9 – Das erste Ziel

Kapitel 10 – Der Krater

Kapitel 11 – Das Licht Gottes

Epilog

Nachwort

Dieses Buch ist Teil 9 einer aus insgesamt zehn Bänden bestehenden Reihe mit einer chronologisch fortlaufenden Geschichte.

Weitere Titel aus dieser Reihe sind:

Buch 1 --- Sternenflug

ISBN: 978-3-7460-4314-2 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7494-6102-8 (E-Book)

Buch 2 --- Drachenfeuer

ISBN: 978-3-7412-8431-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7481-4563-9 (E-Book)

Buch 3 --- Himmelfahrtskommando

ISBN: 978-3-7504-2492-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-7660-8 (E-Book)

Buch 4 --- Am Scheideweg

ISBN: 978-3-7504-4118-7 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-8866-3 (E-Book)

Buch 5 --- Planetarlandung

ISBN: 978-3-7519-5153-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7519-4357-4 (E-Book)

Buch 6 --- Vorauskommando

ISBN: 978-3-7526-0937-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7526-1560-9 (E-Book)

Buch 7 --- Die Basis

ISBN: 978-3-7526-7340-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7534-8685-7 (E-Book)

Buch 8 --- Drachenwelt

ISBN: 978-3-7543-3225-2 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7543-8237-0 (E-Book)

Buch 10 --- Leviathan

Prolog

Sergeant First Class Aasmi Rajavade blickte gähnend auf den düsteren Klotz des mächtigen Torbunkers, der das östliche Basisaußentor auf seiner rechten Seite flankierte.

Der Zeitanzeige ihres Handgelenkcomputers nach war es zwar gerade kurz vor acht Uhr morgens, doch auf diesem 8,6 Lichtjahre vom Sonnensystem entfernten Himmelskörper galt eine gänzlich andere Zeitrechnung.

Tatsächlich hatte sich auf dem extrasolaren Planeten namens Tarnas B300433-A vor dreißig Minuten die Tageslichtphase verabschiedet und nächtlichem Dunkel Platz gemacht. Dieses Dunkel würde sehr lange bleiben – mehr als fünfunddreißig Stunden – und alles unter sich zunehmend in eisige Kälte tauchen. Außerdem war Nebel angekündigt. Schon jetzt erwies es sich als leicht dunstig.

Der Wind wehte nur leicht, erzeugte dabei aber trotzdem ein leises Heulen und Winseln. Die Atmosphäre des Tarnas war deutlich dichter als die der Erde, sodass schon ein schwaches Lüftchen mehr Kraft besaß. Bei einem Sturm oder gar Orkan, wie sie dieser Himmelskörper ebenfalls kannte, wurde es dann extrem turbulent.

Na wenigstens mal kein Niederschlag, dachte Aasmi Rajavade in der Absicht, irgendetwas Gutes an der gegenwärtigen Wettersituation zu finden.

Tatsächlich sollte es trockenbleiben, was wirklich eine gute Nachricht darstellte. Denn der Regen auf dem Tarnas besaß die Eigenschaft, eher einer Sintflut zu gleichen. In den Nächten war es beinahe noch schlimmer. Denn dann fiel er als Eis vom Himmel – entweder in Form von tennisballgroßen Klumpen oder als ein Hagel aus scharfen, spitzen Spindelgeschossen.

Die Gruppenführerin gab den vier Troopern, die gleich ihr etwas schwerfällig aus dem schweren, sechsachsigen Deimos-Geländewagen geklettert waren, ein Zeichen, ihr zu folgen.

Ursprünglich hatte die kleine Einheit der Waran-Kompanie mit der Rufkennung Delta-3 einmal sechs Leute besessen. Doch vor einem Monat war einer der Privates von einem Tarnas-Drachen geholt worden – einer riesigen, geflügelten Echsenkreatur.

Ersatz für den armen Kerl gab es momentan nicht. Denn von den sechstausendzweihundert Bewohnern der planetaren Bodenbasis waren zwei Drittel Zivilisten. Und von denen verspürte kaum einer Lust, sich fürs Militär rekrutieren zu lassen. Als Soldat unterlag man nämlich hier auf dem dritten Planeten des Siriussystems längst nicht nur dem Uniform- und Befehlszwang. Man musste vielmehr auch mit der Möglichkeit klarkommen, während des Dienstes – und dabei vor allem während eines Außeneinsatzes – im Maul einer gefräßigen Kreatur zu enden.

Tarnas B300433-A war nun einmal kein toter Gesteinsklumpen, sondern eine Welt, in der zahllose große Ungeheuer lebten. Es gab monströse Wesen in der Luft, im Wasser, im Boden und auf seiner Oberfläche. Als ein eher winziger Zweibeiner im Vergleich zu all diesen Monstern hatte man es wahrlich nicht leicht.

Die fünf Trooper marschierten auf den Bunker zu. Obwohl die Planetenschwerkraft sie samt ihrer Ausrüstung um zehn Prozent schwerer sein ließ, als dies auf der Erde der Fall gewesen wäre, nahmen sie es kaum wahr. Nach zwei Monaten hier unten auf der Oberfläche des Tarnas waren die Tage ständiger Rücken- und Nackenschmerzen längst vergessen.

Die abzulösende Trooper-Einheit wartete bereits außerhalb des gepanzerten Gebäudes. Nach einer zeitweise von Aufregung und dann wieder von Phasen der Langeweile geprägten 8-Stunden-Wachschicht konnte es ihr jetzt nicht schnell genug gehen. Einige hatten ihre Helme abgesetzt. Es ging inzwischen auch ohne die Dinger. Tatsächlich kam man mittlerweile in den meisten Bereichen von Azores dank hochhausgroßer Lufttauscher- und Sauerstoffkonzentratoranlagen ganz ohne zusätzliche Atemhilfe aus. Aber das galt wirklich nur für die unmittelbare Zone der Basis.

Die Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre des Planeten ähnelte zwar jener der Erde, doch die Prozente an Sauerstoff fielen leider zu niedrig aus, während der Kohlenstoffdioxidanteil im Gegenzug zu hoch war.

Aasmi Rajavade behielt daher ihren Helm auf und ging auch in ihrer Freizeit niemals ohne Sauerstoffnasensonde ins Freie. Denn die dichte, aber sauerstoffarme Luft des Tarnas bescherte ihr selbst innerhalb von Azores starke Kopfschmerzen, wenn sie sich ihr zu lange aussetzte.

Der Anführer der abzulösenden Gruppe, ein Staff Sergeant, vollzog erleichtert die Übergabe. „War insgesamt ‘ne recht ruhige Nacht“, berichtete er. „Gegen zwei Uhr und vier Uhr zogen zwar Tierherden vorbei, aber die Viecher gaben sich durchweg harmlos und friedlich. Raubtiere, die uns hätten Ärger machen können, ließen sich nicht blicken.“

„Okay, dann übernehme ich ab hier“, erklärte Aasmi Rajavade. Laut Dienstvorschrift war der Wachwechsel eigentlich mit formalen Meldungen, Ehrenbezeigung und einem elektronischen Übergabeprotokoll zu vollziehen. Aber diesen Unsinn ließ man bleiben. Zumindest, solange man unter sich war. Die Gruppenführerin wünschte einen schönen Feierabend und verfolgte etwas neidisch, wie die abgelöste Gruppe in ihr Fahrzeug stieg und davonfuhr. Im Anschluss wandte sie sich den eigenen Leuten zu und teilte diese in die anstehenden Aufgaben ein.

Ein Private musste zusammen mit einem Trooper der Nachbargruppe Waran-Delta-4 als Wache ans Tor, zwei Mann hatten den rechten Torbunker mitsamt des Geschützturms zu besetzen, und sie selbst wollte gemeinsam mit ihrem Lance Corporal zur ersten Patrouillenrunde aufbrechen. Kurze Zeit später saßen der besagte Stabsgefreite und sie wieder im Deimos-Buggy und machten sich auf den Weg.

Der Patrouillenpfad führte auf der Ringstraße immer entlang der hohen Sperrmauer – sechzehn Kilometer einmal rund um das Innere von Azores. Dreißig Minuten waren für die Überwachungsfahrt veranschlagt. Diese Zeit hielt man in der Regel auch exakt ein. Es sei denn, Vorkommnisse zwangen zum Anhalten und zum Handeln. Das kam schon mal vor. Der Stützpunkt der Menschen stellte für die außerirdischen Geschöpfe ein fremdartiges und daher sehr interessantes Objekt dar, dem sie sehr gerne persönlich auf den Zahn fühlten. Manche Ungeheuer kamen dabei sogar furchtlos bis direkt an die Sperranlagen heran.

Wurmkreaturen hatten es noch einfacher. Da ihr Lebensbreich der Boden war, juckten sie die Mauersysteme von Azores nicht. Sie konnten jederzeit und überall auch innerhalb der Basis aus dem Boden hervorkriechen und sich umschauen.

Auch auf diese Form von unerwünschten Besuchen mussten die Trooper während ihrer Patrouillen ein aufmerksames Auge haben.

Während das offene 6-Tonnen-Vehikel mit den beiden schwenkbaren 15-Kilowatt-Impulslasern auf dem Dachholm über das breite Asphaltbetonband rollte, starrte Aasmi Rajavade auf die Basis, die in der nächtlichen Dunkelheit unter einem Teppich aus unzähligen Lichtern lag.

Azores stellte den ersten Stützpunkt überhaupt auf diesem Planeten dar. Es bildete eine sechsunddreißig Quadratkilometer große, quadratische Insel inmitten einer fremdartigen, extraterrestrischen Wildnis. Gepanzerte Sperranlagen, Waffentürme und ein ganzes Grenadierbataillon sicherten sie gegen die tödliche Welt außerhalb der Außenwälle aus Titanstahl ab. Es existierte allerdings noch eine zweite, eine innere Panzermauer, die den zentralen Bereich mit seinen zwanzig riesigen Stationsmodulen, Gebäuden, Hallen sowie Anlagen umgab.

Die Trooper-Gruppenführerin spähte zur Baustelle einer der großen Multifunktionshallen hinüber, die hier im äußeren Ringbereich entstanden.

In Azores wurde immer noch gebaut. Und selbst über die gegenwärtig bereits existierenden Baustellen hinaus standen noch viele weitere Projekte an, die man noch gar nicht begonnen hatte.

Aasmi Rajavade schweifte mit ihren Gedanken in die Vergangenheit zurück. Obwohl sie Hindi war und indische Vorfahren besaß, hatte sie das Licht der Welt in einem orbitalen Wohnhabitat erblickt. Auf der Erde war sie nur zweimal gewesen – in beiden Fällen in Form von Urlaubsreisen. Die Besuche auf dem Mutterplaneten der Menschheit verknüpften sich mit Erinnerungen an Landschaften, die von Hitze zerglüht waren und kaum Grün besaßen. Sie verbanden sich außerdem mit den Eindrücken von stickiger Luft sowie maßlos übervölkerten Städten voller rastloser, hektischer Menschen.

Zwei Dinge hatten Sergeant First Class Rajavade allerdings gefallen – der weite, blaue Himmel sowie der ungestörte Blick in die Ferne bis zum Horizont. Das Wohnhabitat, in dem sie lebte, hatten ihr als arg begrenzte Welt beides niemals bieten können. Damals war ihr plötzlich klargeworden, wie sehr sie diese zwei Dinge vermisste. Und sie hatte sich entschlossen, sie zu suchen und für sich zu finden.

Die Erde selbst war diesbezüglich leider keine Option gewesen. Denn sie nahm keine „Außenweltler“ auf, sondern versuchte im Gegenteil ihre eigenen Bewohner an die Außenkolonien loszuwerden.

Aasmi Rajavade hatte daher einen anderen Weg gewählt. Als es hieß, man werde eine lange, interstellare Reise in ein anderes Sternensystem unternehmen, um einen extrasolaren Planeten mit wahrscheinlich erdähnlichen Eigenschaften auf seine Besiedlung hin zu erkunden, hatte sie gehandelt und sich für die Teilnahme beworben. Das Glück war ihr hold gewesen. Mit ihren Fähigkeiten als Trooperin der Solaren Bodenstreitkräfte hatte die Auswahlkommission sie offenbar für wichtig und wertvoll genug gehalten, um ihre Teilnahme an der Sirius- und Tarnas-Mission in Betracht zu ziehen. Rajavades Unterlagen waren aus Millionen anderer Bewerbungen herausgefischt worden. Am Ende hatte sie dann tatsächlich zu jenen vierundzwanzigtausend Menschen gehört, die an Bord der beiden Raumschiffe Antares und Independence in Richtung Siriussystem aufgebrochen waren.

Dank eines Wurmloches war die Reisezeit mit zweiundzwanzig Monaten vergleichweise gering ausgefallen. Andernfalls hätten die Antares und die Independence mit den von ihnen erreichbaren Geschwindigkeiten zweitausendneunhundert Jahre für den Flug ins Siriussystem benötigt.

Die Trooperin musste daran denken, wie sehr nach der Ankunft der beiden Schiffe im Doppelsternsystem alles schiefgegangen war.

Die Antares existierte nicht mehr. Zwölftausend Menschen waren gestorben. Und die Independence als Schwesterschiff hatte viele Opfer zu beklagen. Allein schon die bewaffnete Auseinandersetzung mit einem Industriekartell namens Draconis war mit dem Preis von mehr als achthundert Menschenleben bezahlt worden. Aber auch der Tarnas hatte bereits seinen Tribut gefordert.

Sergeant First Class Rajavades Nachsinnen wurde abrupt unterbrochen, da sich die Sicherheitszentrale der Bodenbasis über Funk meldete.

„Waran-Delta-3, hier spricht Azores Security Control. Wir empfangen von einem der Sensortürme im nördlichen Bereich der östlichen Außensperrmauer Warnsignale“, erklärte eine Frauenstimme. „Mir wird angezeigt, dass Sie gerade in Richtung dieses Bereiches unterwegs sind. Schauen Sie sich an, was den Bewegungsmelder von Sensorturm Oscar-vier-zero-drei so stört. Und erstatten Sie Meldung.“

„Hier Waran-Delta-3, verstanden“, bestätigte die Inderin und warf ihrem Fahrer einen stummen Blick zu.

Zwei Minuten später näherten sie sich auf der Ringstraße dem angesprochenen Mauerbereich und erkannten schon von weitem das gelbe, heftig blinkende Alarmlicht von Sensorturm Oscar-vierzero-drei.

Der Lance Corporal brachte den Deimos zum Stehen.

„Bleib beim Fahrzeug. Es reicht, wenn ich nachschaue. Wer auch immer das Signal ausgelöst hat, ist wahrscheinlich längst schon wieder verschwunden“, erklärte Aasmi Rajavade und stieg aus. Sie nahm ihren Laserkarabiner schussbereit in die Hand und bewegte sich vorsichtig in Richtung der etwa vierzig Meter entfernten Panzermauer.

Flutlichtscheinwerfer leuchteten den Bereich halbwegs gut aus. Trotzdem gab es wegen einiger Felsen größere Schattenbereiche, in denen sich Ungeziefer verstecken konnte.

Die Sergeantin erster Klasse ging zwar davon aus, dass die Sensoren eher eine Bewegung auf der Außenseite der Mauer wahrgenommen hatten. Doch die nunmehr zwei Monate ihres Aufenthalts auf der Planetenoberfläche hatten sie inzwischen gelehrt, dass man viel länger lebte und gesund blieb, wenn man sich nicht gutgläubig auf etwas verließ, sondern besser misstrauisch alle Eventualitäten in Betracht zog. Sie erreichte die sieben Meter hohe Sperrmauer und stieg über eine stählerne Sprossenleiter auf den Wallgang hinauf. Die Suche nach der Ursache für den ausgelösten Alarm dauerte nicht lange.

An der Außenseite der gepanzerten Titanmauer gab es Bewegung. Ein dicker, schwarzer Hakenwurm von mehr als zwanzig Metern Länge lag an ihrem Fuß. Er hatte sich mit seinem stark verdickten, vorderen Ende aufgerichtet und tastete in drei Metern Höhe an der senkrechten Wand herum. Seine dolchartigen Knochenklingen am Kopfteil sowie die überall aus seinem Leib herausragenden Knochenhaken, denen er seinen Namen verdankte, kratzten dabei ständig am Metall der Mauer entlang.

Du blödes Vieh, wieso bist du noch hier, dachte Aasmi Rajavade und entsicherte ihren Laserkarabiner. Nach kurzem Zögern feuerte sie zwei Schüsse auf den Wurm ab.

Die roten Faserlaserstrahlen brannten sich zischend in den Körper der Kreatur hinein, deren Schmerzresistenz allerdings erstaunlich hoch war. Erst nach zwei weiteren Schüssen, zuckte sie leicht und ließ von ihrem gegenwärtigen Tun ab. Mit einem dumpfen Geräusch kippte der steil aufgerichtete Teil ihres massigen Körpers zurück auf den Boden. Dann begann das fette Wesen wegzukriechen.

Die Inderin verfolgte den Hakenwurm weiter sehr aufmerksam mit ihren Blicken. Kreaturen dieser Art ließen ein ausgeprägtes Denkvermögen vermissen, weshalb es durchaus sein konnte, dass der Wurm schon nach wenigen Metern wieder vergaß, dass ihm wehgetan worden war und er einfach kehrtmachte.

Doch das Tier schob sich immer weiter durch den Staub von der Mauer weg, dabei eine breite Furche ziehend. Auf diese Weise erreichte es schließlich den außerhalb der Beleuchtung liegenden Bereich und bohrte sich an einer Stelle mit weichem Erdreich in den Boden hinein. Auf diese Weise verschwand es schließlich.

Aasmi Rajavade sicherte ihre Waffe und aktivierte ihren Helmfunk: „Azores Security Control, hier Waran-Delta-3. Das Problem ist gelöst. Es war nur ein dicker, hässlicher Hakenwurm. Er ließ sich verscheuchen.“ Sie lauschte kurz auf die Antwort aus der Sicherheitszentrale und erwiderte dann: „Nein, keine Ahnung, ob er wirklich genug hat und sich endgültig trollt. Falls er so dämlich ist, jetzt innerhalb des Basisgeländes wieder an die Oberfläche zu kommen, wird ihn eine der anderen Trooper-Patrouillen sicher entdecken und ihn dann möglicherweise nicht so nachsichtig behandeln, wie ich es getan habe.“

Die in Stationsmodul 1 sitzende Überwachungsspezialistin bestätigte.

Kurz darauf erlosch die ständig hektisch aufblitzende, gelbe Alarmleuchte von Sensorturm Oscar-vier-zero-drei, und nur das rote Positionslicht an der Spitze warf noch einen fahlen Schein in die Nacht hinaus.

Aasmi Rajavade wandte sich zufrieden ab, stockte dann aber, als ihre Helmaußenmikrofone ein seltsames Rauschen auffingen. Sie sah nach oben und entdeckte die helle, breite Flammenspur, die ein glühender Meteor in einhundert Kilometern Höhe durch die Atmosphäre zog.

Der Eisen-Nickel-Brocken von der Größe eines Lastkraftwagens zerbarst gleich darauf in zahllose Trümmerteile, von denen die Mehrzahl Sekunden später schon komplett verglühte.

Die größeren Bruchstücke setzten jedoch ihren Weg als Feuerkugeln mit langen Rauchschweifen in Richtung Planetenoberfläche fort. Zwei von ihnen waren groß genug, um es mutmaßlich bis zum Boden zu schaffen. Sie verschwanden allerdings im Osten hinter der Horizontlinie, sodass ihre Einschläge unsichtbar blieben.

Kurz darauf erreichte die Trooperin erst der Knall des am Himmel explodierten Asteroiden als dumpfes Wummern.

Es knackte im Funk. „Heh, Aasmi, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte der Lance Corporal aus dem Deimos-Geländewagen an.

„Ja, ja, alles bewegt sich im grünen Bereich. Ich bin gleich wieder bei dir“, antwortete die First-Class-Sergeantin, und ob der Sorge ihres Begleiters stahl sich kurzzeitig ein Lächeln auf ihre Lippen. Anstatt sich jedoch jetzt tatsächlich in Bewegung zu setzen und über die Leiter von der Mauer herunterzuklettern, blickte sie hinauf in den Himmel, der nicht im Entferntesten jenem Firmament glich, das sie von ihren zwei Besuchen auf der Erde her in Erinnerung hatte.

Jetzt, in der halbwegs wolkenfreien Nacht, war der Himmel des Tarnas nämlich keineswegs so dunkel und von funkelnden Sternen durchsetzt, wie sie es auf Terra erlebt hatte. Stattdessen tanzte ein irres Feuer über ihn hinweg, sich ständig verzerrend und seine Farben wechselnd.

Bis zu ihrer Ankunft im Siriussystem hatte die Inderin nie ein Polarlicht zu Gesicht bekommen. Am Nachthimmel von Tarnas B300433-A sah sie es bei klarem Wetter dagegen ständig. Und das mit unglaublicher Intensität. Aber da waren auch noch die fünf breiten Bögen der orbitalen Asteroidenbänder, die sich silbern leuchtend in verschiedenen Höhen und Richtungen über den Himmel spannten.

Aasmi Rajavade schürzte die Lippen, denn sie fühlte sich betrogen. Seit ihrer Ankunft vor zwei Monaten auf der Oberfläche des Exoplaneten überkamen sie immer wieder Momente tiefer Enttäuschung. Ihre Hoffnung, der Tarnas würde wenigstens ein bisschen dem Blauen Planeten im Sonnensystem ähneln, hatte sich nicht erfüllt. Sein Himmel erschien ihr genauso fremd, wie seine bizarren Landschaften. Okay, wenn ihr keine Staubfahnen, kein Nebel und kein Niederschlag die Sicht nahmen, konnte sie hier unten tatsächlich sehr weit in die Ferne sehen. Der Himmelskörper war immerhin anderthalbmal größer als die Erde und besaß sogar das Doppelte an Fläche. Sein Horizont lag somit in noch größerer Distanz, als die Trooperin es auf dem Mutterplaneten der Menscheit gesehen hatte. Wenigstens das stimmte.

Was allerdings nichts daran änderte, dass man der Gesteinskugel in ihren Eigenschaften keineswegs eine enge Verwandtschaft zur Erde nachsagen konnte. Obwohl sie sich aufgrund ihrer angenommenen Vergleichbarkeit mit dem Heimatplaneten der Menschheit sogar mit einer entsprechenden Katalognummer in ihrem Namen schmücken durfte, stuften die Wissenschaftler ihren Erdähnlichkeitsindex inzwischen nur noch mit 0,87 ein.

Es gab zahlreiche Exoplaneten im Universum, die auf einen deutlich höheren Wert kamen. Doch selbst bis zum nahesten von ihnen – Teegarden B mit einem traumhaften Index von 0,95 – musste man mehr als viertausend Jahre reisen.

Der weibliche Sergeant First Class blickte nach Osten in das weite Land hinein, das die Menschen wegen seiner geografischen Lage auf der Nordhalbkugel dieses Himmelskörpers Nordatlantische Ebene nannten.

Auf drei Seiten von gigantischen Kontinentalgebirgen eingekeilt, bildete diese Ebene einen schier unendlichen „Ozean“ aus Staub, Sand und Fels. In einer nie enden wollenden Aufeinanderfolge von Bodenwellen, Hügeln, Tälern, Schluchten, Erdspalten, Felsmonolithen und bizarren, spitzen Steintürmen erstreckte sich die einer kargen Tundra gleichende Landschaft in jeder Richtung über tausende und abertausende von Kilometern hinweg. Sie war keineswegs überall öde und leer. In vielen Regionen existierte auch eine Vegetation. Schöner machte das diese Welt nicht. Höchstens interessanter für die Wissenschaftler. Und leider auch gefährlicher. Denn wo es viele pflanzliche Lebensformen gab, waren die tierischen Vertreter meist nicht weit.

Aus Sicht der Forscher stellte Tarnas B300433-A zweifellos eine fantastische Welt dar, deren Geheimnisse nur darauf warteten, ergründet zu werden.

Aasmi Rajavade jedoch sah das anders. Sie wusste nicht, ob irgendwann jemals wirklich der Tag kam, an dem sie sich so weit mit dem Himmelskörper angefreundet hatte, dass sie bereit war, ihn dauerhaft zu ihrer zukünftigen Heimat zu machen. Allerdings besaß sie noch genügend Zeit, um diese Frage für sich ganz persönlich zu klären.

Denn im Moment hatte sich ja noch nicht einmal die Independence, die gegenwärtig noch auf einer Parkbahn in sechsunddreißigtausend Kilometern Höhe über dem Planeten kreiste, auf den Rückweg in Richtung Sonnensystem gemacht. Nach ihrem Abflug würden dann zwei lange Jahre ins Land gehen, bis man mit der Ankunft der nächsten Raumschiffe von der Erde rechnen durfte.

Die Inderin drängte also absolut nichts bei ihrer Entscheidung. In ihren Helmkopfhörern erklang nun wieder die Stimme ihres Lance Corporals.

Der Mann wirkte zunehmend ungeduldig. „Ist wirklich alles in Ordnung, Aasmi? Wir sollten langsam weiter, um die Patrouillenzeit nicht zu überziehen. Hier draußen macht es echt keinen Spaß. Ich bin froh, wenn wir die Runde hinter uns haben und endlich ein zweites Frühstück im Bunker machen können. Was tust du überhaupt noch auf der Mauer? Findest du diese scheiß Welt dort draußen tatsächlich so dermaßen cool, dass du dich nicht an ihr sattsehen kannst?“

Aasmi Rajavade musste ob dieser völlig danebenliegenden Unterstellung lächeln. Sie tippte an ihren Helm, um das Mikro zu aktivieren. „Jetzt hast du mich aber echt erwischt, Armando. Okay, ich bin gleich bei dir, du toller Menschenkenner.“

Kapitel 1 – Die Sondierung

5. November 2173

„Azores“-Bodenbasis / Stationsmodul 1

Wohndeck Ebene 4 / Waffenkammer

Corporal Marc Ewert kontrollierte die vier Energiemagazine, die ihm der Waffenkammerverantwortliche über den Ausgabethresen schob, sehr gewissenhaft auf ihre volle Aufladung. Es war schon einmal vorgekommen, dass der beleibte Lagerist mit den Geheimratsecken und den Ärmelabzeichen eines Warrant Officer Class 1 – was dem deutschen Dienstgrad eines Oberfähnrichs entsprach – ihm ein leeres Magazin mitgegeben hatte. Es mochte ein Versehen gewesen sein. Doch wenn es auf einen Außeneinsatz ging, machte sich das im Zweifelsfall nicht so gut.

Denn der Planet, auf dessen Oberfläche man sich gegenwärtig aufhielt, verzieh keine Fehler. Er besaß außerdem die unschöne Eigenart, Menschen schnell in sehr verrückte Situationen zu bringen. Situationen, in denen eine einsatzbereite Waffe unabdingbar war. Doch diesmal bestand kein Anlass zu einer Reklamation. Der Deutsche nahm nun auch sein Lasersturmgewehr vom Thresen und schob eines der vier Energiemagazine in den Aufnahmeschacht der Waffe hinein. Die restlichen drei Magazine stopfte er sich in die Taschen seines Ausrüstungsgürtels.

Ernest Hirsh, dem die Waffenkammer unterstand, hatte das misstrauische Tun des Unteroffiziers aufmerksam und mit einem schiefen Lächeln verfolgt. Als sein „Klient“ sich jetzt abwenden wollte, hielt er ihn zurück. „Halt mal, Corporal, bloß nicht so schnell. Laut meiner Anforderungsliste dürfen Sie sich auch noch einen Georadar um den Hals baumeln.“

Marc wandte sich entgeistert wieder dem Lageristen zu. „Echt jetzt?“

Der tragbare Geodetektor, der hochfrequente elektromagnetische Wellen aussandte, um seinen Benutzer tiefe Einblicke in zu untersuchende Bodenschichten zu gewähren, mochte für den bevorstehenden Einsatz durchaus wichtig sein. Der Deutsche fragte sich allerdings, weshalb man nun ausgerechnet ihm das Gerät als zusätzliches Gepäckstück auflud.

„Ja, ja, so steht’s hier“, meinte Hirsh und tippte vielsagend gegen seinen elektronischen Aufzeichner. Er packte das Gerät, das in seiner Form einem etwas überdimensionierten Damenfön mit Displayaufsatz glich, auf den Ausgabetisch. Während er zusah, wie sein Gegenüber das Ding an sich nahm, überkam ihn Neugier. „Darf man fragen, wohin es heute für Sie und Ihre Gruppe geht, Corporal? Schickt man Sie mit dem Ding durch die Basis, damit Sie die Würmer im Untergrund zählen? Wenn es das ist, werden Sie heute ganz bestimmt nicht fertig damit.“

Marc fand die Vermutung des korpulenten Lageristen, von dem er wusste, dass dieser Luxemburger war, reichlich abwegig, aber auch durchaus lustig. „Nein, wir schauen uns draußen nach geeignetem Grünzeug für den Botanischen Park um.“

Ernest Hirsh zog eine Grimasse. „Dann machen unsere Oberen mit ihrer Schwachsinnsidee also wirklich ernst?“

Mit der besagten „Schwachsinnsidee“ war der Plan gemeint, in der nordwestlichen Ecke des äußeren Ringbereiches von Azores – und damit innerhalb der Basisgrenzen – eine große Parkanlage mit extraterrestrischen Pflanzen anzulegen. Das Vorhaben besaß mindestens so viele Gegner, wie Befürworter.

Da die Lagerkommandantin, Colonel Ragna Solverson, definitiv zu den Liebhabern des ehrgeizigen Projektes zählte und das Sagen hatte, wurden längst Nägel mit Köpfen gemacht. Tatsächlich kamen die Baumaßnahmen im Tarnas-Park mit Riesenschritten voran. Der zentrale Parksee war bereits ausgeschachtet sowie geflutet. Die große Fahrbahnbetonbrücke, die ihn in Nord-Süd-Richtung überspannte, existierte ebenfalls schon. Auch der Bau des Gehwegenetzes, der Flutlichtanlagen, der Sicherheitsumzäunung und des Gebäudes der Parkverwaltung stand vor seinem Abschluss. Inzwischen war das Projekt schon so weit gediehen, dass man an das Heranschaffen der zukünftigen Parkpflanzen gehen konnte.

„Wie kann man eigentlich so dermaßen blöde sein und sich mit Absicht gefährliches Unkraut ins eigene Haus holen? Wir wissen doch gar nicht, wie giftig und aggressiv das Zeug ist, das dort draußen in der Ebene wächst. Unsere Führungselite muss komplett den Verstand verloren haben“, erregte sich Hirsh, der ganz offensichtlich kein Fan des zukünftigen Botanischen Parks war.

Marc zuckte mit den Schultern. Er fand die Idee eigentlich ganz cool, würde aber ganz bestimmt nicht an Herzdrücken sterben, wenn sie sich am Ende dann doch als zu verrückt und undurchführbar erwies. Ihn persönlich fragte in dieser Sache ohnehin niemand, und er selbst hielt die Diskussionen, die das Projekt gegenwärtig provozierte, für maßlos überzogen. Um es anders zu sehen, hatte er einfach schon zu viele Dinge erlebt. Dinge, die sehr viel wichtiger waren – und leider nur allzu oft auch sehr viel schlimmer.

Was bedeutete dieser blöde Park schließlich schon gegen die Explosion der Antares und den Tod von zwölftausend Menschen? Oder gegen ein Schiffsgerichtsverfahren sowie ein furchtbar blutiges Kommandounternehmen gegen das Draconis-Kartell?

Marc Ewert hatte schlicht zu viele Schicksalschläge hinnehmen müssen und zu viel Tod und Verderben gesehen, um das nötige Verständnis für die Debatte um das extraterrestrische Grünzeug aufzubringen. Darüber hinaus erschien ihm die Frage sehr viel interessanter, was die heutige Mission vielleicht an Gefahren mit sich brachte. Denn jeder Außeneinsatz außerhalb der Schutzmauern der Basis war riskant. Der Deutsche hing sich den Georadar um den Hals und trat von der Ausgabetheke weg. Von der anderen Seite des breiten Korridors wurde ihm schon ungeduldig zugewunken.

Lieutenant Annie Marchand bedachte den Corporal und Fahrer ihres Zeus-IFV-Schützenpanzerwagens aus dunkelblauen Augen mit einem unfreundlichen Blick. „Mon dieu, Corporal, was gibt es mit dem Warrant Officer denn so lange herumzudiskutieren? Wenn Sie auf den Kerl stehen, dann verabreden Sie sich gefälligst in Ihrer Freizeit mit ihm. Auf uns warten jetzt wahrlich höhere Aufgaben.“

Marc verzog das Gesicht. Der behäbige Lagerist war ganz gewiss nicht sein Typ. Und das längst nicht nur allein, weil er das falsche Geschlecht besaß. Und was die angesprochenen „höheren Aufgaben“ betraf – na ja, so hoch angesiedelt waren die jetzt seiner Meinung nach nicht. Er reihte sich in die Gruppe ein und ignorierte das Feixen der anderen.

Annie Marchand musterte ihre kleine aus vier Frauen und sieben Männern bestehende Einheit, die dem S2- beziehungsweise Bravo-Zug der Führungs- und Stabskompanie Queen angegliedert war. Vor sieben Monaten hatte es diese Einheit noch nicht gegeben. Sie war außerplanmäßig mit dem Ziel gebildet worden, Sonderaufgaben zu übernehmen und Lückenbüßer zu spielen. Insofern wunderte es auch nicht, dass sie eine zusammengewürfelte Truppe aus ehemaligen Mitgliedern verschiedener Waffengattungen und Teilstreitkräfte darstellte. Vier der insgesamt sieben Privates waren vor mehr als einem halben Jahr gar noch als Zivilisten herumgelaufen. So bunt, wie ihre nationalen und ethnischen Herkünfte, fielen auch die beruflichen Vergangenheiten der Leute aus. Die Bandbreite reichte vom einstigen Schiffskoch über eine Lehrerin bis hin zu einem gelernten Einzelhandelskaufmann und einem ehemaligen Sekretär.

Jeder im Bataillon bezeichnete die kleine Einheit als FSUGruppe. Das FSU bildete die Kurzform von „For Special Use“, was übersetzt „Zur besonderen Verwendung“ bedeutete. Momentan sah diese Verwendung so aus, dass sich die FSU-ler seit ihrer Ankunft auf der Oberfläche des Tarnas vorrangig als Aufpasser für ein Presseteam des Nachrichtensenders Azores News betätigten. Das hörte sich nicht besonders spektakulär an, war es aber manchmal eben doch. Denn die besagten Nachrichtenleute besaßen die dumme Angewohnheit, bei jeder noch so gefährlichen Außenmission dabeisein zu wollen. Wie riskant der Job am Ende sein konnte, zeigte sich immer wieder an den verletzungsbedingten Ausfällen.

Gegenwärtig fehlte der FSU-Gruppe beispielsweise ihr Maschinengewehrschütze, ein Private Third Class namens Stephen Fletcher. Dem Kanadier war beim letzten Einsatz – einer Rettungsmission für die Crew einer abgestürzten Starlifter-Raumfähre – durch eine Echsenkreatur das Bein zerbissen worden. Und Fletcher bildete keineswegs das erste Mitglied der kleinen Einheit, dem so etwas widerfuhr.

Bei dem Gedanken daran seufzte Annie Marchand und fuhr sich durch die blonden Haare. „Haben alle ihre Waffen und die Ausrüstung? In Ordnung. Sie wissen, um was es auch heute wieder geht. Unser Auftrag lautet, die Nachrichtenleute am Leben zu erhalten. Bei der Rettungsaktion vor neun Tagen bekamen wir das leider nicht so gut hin. Mister Smoley segnete zwar gottseidank nicht das Zeitliche, doch wegen seines zertrümmerten Fußes wird das Nachrichtenteam nun eine ganze Weile ohne ihn auskommen müssen. Noch einmal darf uns ein derartiges Versagen nicht passieren. Man erwartet von uns heute außerdem, dass wir uns ein bisschen als Botaniker betätigen. Was konkret das heißt, erfahren wir in vierzig Minuten am Raumflughafen. FSUGruppe – abrücken“

5. November 2173

„Azores“-Bodenbasis / Südlicher Außenringbereich

Raumflughafen / Rollfeld

Die vier starken Fahrscheinwerfer der breiten, gepanzerten Bugfront des Zeus-IFV-Schützenpanzerwagens stachen in das von Dunstfetzen durchzogene Halbdunkel hinein. Sie ließen die Leuchtstreifen auf der Asphaltbetondecke der Fahrbahn gelb strahlen, was es Corporal Marc Ewert als Fahrer deutlich leichter machte, das mächtige Vehikel in der Spur zu halten.

Denn der vierachsige Kampfwagen war immerhin mehr als dreiundzwanzig Meter lang, siebeneinhalb Meter breit, so hoch wie ein Wohnhaus und so schwer gepanzert wie ein Bunker. Er zählte zur Klasse der sogenannten Planetar-Fahrzeuge, bildete in dieser aber trotz seiner beeindruckenden Dimensionen nur einen eher kleinen Vertreter.

Das „Planetar“ in der Klassenbezeichnung war zudem etwas irreführend, denn Kolosse von der Art des Zeus kamen auch auf Planetoiden und Monden zum Einsatz – praktisch auf sämtlichen Himmelskörpern, deren Schwerkraft dies zuließ. Im Grunde genommen stellten sie Raumfahrzeuge auf Rädern dar. Zumindest besaßen sie alle diesbezüglichen Eigenschaften. Nur fliegen konnten sie eben nicht.

Hoher Druck, eisige Kälte, lodernde Hitze, radioaktive Strahlung, Vakuum, giftige oder ätzende Stoffe – all diesen Dingen hatte der Zeus IFV etwas entgegenzusetzen. Wenn man es von ihm erwartete, konnte er achtzehn Menschen über zwölf Tage hinweg auch in der schlimmsten Umwelt ein Überleben sichern. Er beschützte sie, versorgte sie mit Atemluft, mit Nahrung und Getränken, gab ihnen die Möglichkeit, ihrer Körperhygiene sowie ihren kleinen und großen Bedürfnissen nachzukommen – gewährte ihnen Schutz und Geborgenheit.

Darüber hinaus zeigte er sich mit seinem großen Waffenturm und dem 130-Kilowatt-Lasergeschütz durchaus wehrhaft. Auf dem Tarnas hatte sich der Kampfwagen mit dem Rufnamen Queen-Bravo-4 auch schon mehrfach beweisen müssen. Was man ihm auch deutlich ansah. Die zurückliegenden drei Einsatzmonate auf der Oberfläche des Exoplaneten hatten zahllose „Gebrauchsspuren“ an ihm hinterlassen. Aber es tat nichts zur Sache, er funktionierte unermüdlich weiter.

Während sich Marc als Fahrer und Annie Marchand als Kommandantin auf das Geschehen draußen konzentrierten, hatte die an der rechten Arbeitsstation sitzende Richtschützin gerade nichts zu tun. Man bewegte sich innerhalb der Basis, wo es nichts zu beobachten oder gar zu bekämpfen gab. Daher drehte sich Sergeant Marjam Alieva zu den beiden Cockpitpassagieren um. „Miss Kapua, darf ich Sie fragen, wie es Mister Smolej geht?“

Die Angesprochene, eine Hawaiianerin namens Nalani Kapua, nahm gegenwärtig zusammen mit ihrem Kameramann die zwei Formsitze an der rückwärtigen Schottwand in Beschlag. Als Reporterin sowie Moderatorin von Azores News bildete Kapua das Aushängeschild des Basissenders. Und mit ihren hohen Wangenknochen und den lackschwarzen Haaren, die ihr bis tief in den Rücken hineinfielen, war sie zweifellos ein sehr hübsches Aushängeschild. Sie hätte es vielleicht auch als Schauspielerin oder als Fotomodell in der Modebranche zu etwas bringen können.

Sehr viel lieber aber jagte sie mit ihrem Team, dem neben dem Kameramann außerdem noch ein Bild- und Tontechniker namens Felix Cicone sowie der besagte Mateo Smolej angehörten, dem aktuellen Geschehen nach. Und das tat sie längst nicht nur für die tägliche Nachrichtenberichterstattung. Ihr Auftrag ging noch sehr viel weiter. Gemeinsam mit ihren Leuten besaß sie von offizieller Seite her die Aufgabe, sämtliche Ereignisse der Tarnas-Mission für die Menschheit zu dokumentieren. Dies machte sie und ihre drei Mitarbeiter wertvoll genug, dass man ihnen die FSU-Gruppe als Bodyguard zur Seite gestellt hatte.

Was aber eben leider nicht bedeutete, dass bisher alles gutgegangen wäre. Neben Mateo Smolej hatte es auch schon Mihail Marinov erwischt, den Kameramann der kleinen Truppe. Während der ersten Bauphase von Azores bei einer Auseinandersetzung mit einem Rudel Tarnas-Echsen im Steinbruch hatte er seinen linken Arm verloren – und zwar bis hinauf über den Ellenbogen. Er trug seitdem eine Prothese.

Nalani Kapua tat die Frage der Zeus-IFV-Richtschützin weh. Denn sie sah sich in der Verantwortung für Smolej, den gerade einmal neunzehnjährigen Slovenen, der sich beim Sender noch in der Ausbildung befand und während Marinovs Genesungsphase ein lernbegieriger sowie tapferer Aushilfskameramann gewesen war. „Die Merlin-Drohne hat seinen linken Fuß ziemlich gründlich zerlegt“, erklärte sie dumpf. „Aber welcher Knochen widersteht auch schon zehn Tonnen Titanstahl, die auf ihn fallen. Dabei hatte er noch riesengroßes Glück, dass es an dem Tag regnete und der Talgrund aus weichem Schlamm bestand, der nachgab. Wäre es Betonboden gewesen, hätte die Drohne Mateos Fuß gänzlich in Brei verwandelt. Für die Ärzte wäre dann nichts mehr zum Reparieren dagewesen.“

„Er wird seinen Fuß also behalten?“

„Ja. Die Mediziner haben das Knochenpuzzle wieder vollständig zusammengesetzt und dabei sehr viel geklebt und geschraubt. Doch bis er wieder bei uns sein wird, dürfte es trotzdem eine ganze Weile dauern.“

„Es hätte wirklich schlimmer kommen können“, pflichtete Mihail Marinov seiner Chefin bei und griff bei diesen Worten unwillkürlich an seine Armprothese, die voll funktionsfähig war und sich von seinem echten Arm aus Fleisch und Blut nur bei sehr genauem Hinschauen unterscheiden ließ. Der Bulgare kam inzwischen sehr gut mit seinem „Ersatzarm“ zurecht. Was allerdings nichts daran änderte, dass ihn immer noch Phantomschmerzen plagten. Marinov verstand nicht, wie etwas dermaßen wehtun konnte, das es gar nicht mehr gab. Die Ärzte hatten ihm nicht versprechen können, dass sich das Problem mit der Zeit geben würde. Es war gut möglich, dass er für den Rest seines Lebens weiter mit den Schmerzen in einem nicht mehr vorhandenen Arm leben musste.

Draußen tauchte im eisigen Dunst eine Abfahrt auf.

Marc steuerte den 206-Tonnen-Zeus von der Ringtrasse nach links herunter auf die Zufahrtstraße zum Raumflughafen. Kurz darauf wurde voraus das riesige Rollfeld sichtbar, eine befestigte Fläche von rund neunhunderttausend Quadratmetern mit insgesamt fünfzig Start- und Landeflächen für Flugdrohnen, Multikopter, Raumjäger und Lastfähren aller Klassen und Größen.

Am nördlichen Rand des Raumflughafengeländes reihten sich in einer langen Linie große Containermodulgebäude nebeneinander auf. Die schmucklosen, grauen Klötze bildeten derzeit einen eigenartigen Anblick, da sie einen dicken weißen Überzug aus gefrorener Feuchtigkeit besaßen.

Die nunmehr schon sechsundzwanzig Stunden andauernde Tarnas-Nacht war klirrend kalt, sodass der Nebel sich auf sämtlichen Bauwerken sowie den abgestellten Flugmaschinen und Bodenfahrzeugen als dicke Eiskruste niederschlug.

Der Boden blieb dagegen verschont. Er vereiste selbst bei extremsten Minustemperaturen in der Luft nicht. Dies galt gleichermaßen für die Fahrbahnen und Betonflächen in der Basis.

Schuld daran trugen Magmaadern, die zum Teil sehr dicht unter der Oberfläche lagen und mit ihrer Hitze den Boden vor einem Überfrieren hinderten. Azores stand in einem sogenannten Hochtemperaturgebiet, in dem ultraheißes, geschmolzenes Gestein in der Planetenkruste wie eine Fußbodenheizung dafür sorgte, dass der Boden niemals gefror.

Nahe dem Gebäude der Funkstation kamen Lande- und Startplätze in Sicht, auf denen reges Treiben herrschte.

Drei Multikopter – große, gepanzerte Fluggeräte mit Kufen, Stummelflügeln und in Schächten sitzenden Vertikalpropellern – wurden startbereit gemacht. Die kantigen Maschinen mit den schwenkbaren Waffentürmen unter ihren Bugwannen stellten fliegende Panzer, Transporter und Kräne in einem dar. Derzeit schienen sie ganz heftig zu schwitzen. Tatsächlich jedoch arbeiteten lediglich ihre Enteisungsanlagen im Zuge der Herstellung der Flugbereitschaft mit aller Macht daran, die Krusten aus gefrorenem Wasser auf den Rümpfen aufzutauen.

Bodentechniker, Arbeitsdrohnen und Samson-Roboter wuselten geschäftig um die Flugapparate herum.

„Wir müssen zum Flugleitkontrollzentrum, Corporal“, erklärte Annie Marchand ihrem Fahrer.

Marc lenkte den Schützenpanzerwagen auf das besagte Bauwerk zu und stoppte ihn dann neben mehreren bereits dort stehenden Planetar-Fahrzeugen.

Die Cockpitcrew fuhr die Fahrzeugsysteme herunter. Kurz darauf stiegen die dreizehn Menschen aus.

„Beim Barte des Propheten, dieser scheiß Dunst hat uns gerade noch gefehlt“, hörte der Deutsche den Panzerabwehrschützen der FSU-Gruppe neben sich sagen.

Der dürre Pakistani namens Samit Kirmani, den alle wegen seines etwas ausgetrocknet wirkenden Körperbaus nur „Backpflaume“ nannten, wischte schnaufend über den Lauf seines Laserkarabiners, um den sich schlagartig darauf bildenden weißen Reifbelag zu entfernen. „Bei dieser Nebelsuppe können wir unsere Waffen auch gleich hierlassen und dort draußen mit Steinen werfen.“

Das mochte übertrieben sein, besaß aber schon ein Körnchen Wahrheit. Die Lichtenergiewaffen, mit denen sie allesamt ausgerüstet waren, büßten bei sehr staubigem oder feuchtem Wetter deutlich an Wirkung ein. Die Bodenpartikel beziehungsweise die Wasser- sowie Eiströpfchen in der Luft absorbierten und zerstreuten das Laserlicht mit zunehmender Schussentfernung ungleich stärker als unter Normalbedingungen.

Leider zeigte man sich auf diesem Planeten hier stets gut beraten, in möglichst großer Distanz zu seinem Ziel zu bleiben. Denn eine Kreatur, die sehr hungrig und zugleich drei- bis viermal größer war als ein Mensch, konnte sich in der Regel sehr viel schneller bewegen, als man selbst wegzurennen vermochte.

„Mon dieu bei diesem Mistwetter wird das heute hier ganz bestimmt keine spaßige Mission“, ärgerte sich jetzt auch Annie Marchand. „Also freuen wir uns ganz einfach mal darüber, dass wenigstens die Einsatzeinweisung im Warmen und Trockenen stattfindet.“

5. November 2173

„Azores“-Bodenbasis / Südlicher Außenringbereich

Raumflughafen / Flugleitkontrollzentrum / Ebene 3

Im Briefingraum auf Ebene 3 des Flugleitkontrollzentrums ging es wie in einem Bienenstock zu, da sich hier neben den Crews der drei Einsatz-Multikopter auch sämtliche anderen Missionsteilnehmer eingefunden hatten – alles in allem immerhin mehr als fünfzig Leute. Es fehlte an ausreichend Sitzplätzen, weshalb einige stehen mussten.

Ein weiblicher Oberleutnant mit dunklen, welligen Haaren und einer markanten gebogenen Nase machte eine Geste, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Guten Morgen, Ladies und Gentlemen. In der Annahme, dass einige unter Ihnen mich nicht kennen, möchte ich mich Ihnen kurz vorstellen. Ich bin First Lieutenant Rosella Turo und führe im Regelfall den Befehl über Puma-Leader, das Perseus-Command-Führungsfahrzeug der Aufklärungssquadron Puma. Wie die meisten von Ihnen sicher wissen, wurde die verantwortliche Außeneinsatzkoordinatorin von Azores, Captain Rayen, bei der etwas aus dem Ruder gelaufenen Rettungsmission für eine Raumfährenbesatzung vor neun Tagen verletzt. Da sie meine Chefin ist, hielt es die Basisleitung für eine sinnvolle Maßnahme, mich vertretungsweise mit dem Managen sämtlicher Außeneinsätze zu betrauen. Und in genau dieser Funktion stehe ich jetzt vor Ihnen. Gibt es Fragen zu meiner Person?“

Schweigen.

„Dann kommen wir jetzt zu Ihnen und Ihrem Auftrag. Jetzt, da die Baumaßnahmen in Azores einen Punkt erreicht haben, in dem die Basis halbwegs funktionstüchtig ist, will Colonel Ragna Solverson als Stützpunktkommandantin ihr Versprechen einlösen, das sie der Wissenschaftlichen Abteilung gab. Ab sofort dreht sich nicht mehr alles ausschließlich nur um den Basisbau. Wir schauen jetzt vielmehr über den Tellerrand hinaus und beginnen mit der Erforschung der Welt, in die wir Azores hineingesetzt haben. Es wird verstärkt Erkundungseinsätze zu Forschungszwecken geben. Ein Projekt, das den Wissenschaftlern und Colonel Solverson gleichermaßen am Herzen liegt, ist der Tarnas-Park, den unsere fleißigen Bauarbeiter gegenwärtig im nordwestlichen Außenbereich von Azores aus dem Boden stampfen. Die Arbeiten sind gut vorangekommen. Das Parkgelände ist schon für die Aufnahme der ersten Lebensformen bereit. Die wissenschaftliche Abteilung bastelt eifrig an einer Liste mit geeigneten außerirdischen Gewächsen, denen wir hier bei uns eine neue Heimat geben wollen. Momentan gestaltet sich diese Liste allerdings noch äußerst übersichtlich. Denn sie weist aktuell gerade einmal vier Pflanzenspezies aus, die wir uns mit gutem Gewissen in unseren Botanischen Park setzen können. Ganze vier Exemplare also. Die reichen nicht einmal aus, um sich seinen persönlichen Vorgarten zu begrünen – wenn wir alle denn so etwas besäßen. Es gibt zwar noch ungleich mehr Kandidaten auf der Wunschliste, die möglicherweise geeignet sind. Doch bei ihnen ist die Datenlage einfach noch zu mager, um sicherzugehen, dass sie uns nach ihrer Umpflanzung nicht umbringen wollen. Ihr heutiger Job besteht darin, die beklagenswerte Datenlage entscheidend zu verbessern. Das bedeutet, Sie bilden drei Einsatzteams mit der Aufgabe, den Wissenschaftlern neue Proben von den aussichtsreichen Pflanzenkandidaten heranzuschaffen. In dem Wissen, dass die meisten von Ihnen nur sehr bescheidene botanische Kenntnisse für diesen Job mitbringen, bekommt jedes Team einen Experten beziehungsweise eine Expertin an die Seite gestellt. Die betreffenden Personen sind im Besitz einer ‚Muttiwunschliste‘, die abgearbeitet werden muss. Also, Damen und Herren, zeigen Sie Einsatz und schaffen Sie die Proben heran. Viel Glück dabei.“

5. November 2173

Mittelschwerer Roch-Multikopter „Roch-3“

Nordatlantische Ebene / 44 km südwestlich „Azores“-Bodenbasis

Von seinen acht fauchenden Vertikalpropellern in der Luft gehalten und zugleich vorangetrieben, bewegte sich der Roch-Multikopter im Tiefflug über die Ebene. Er hielt sich wirklich in einer sehr geringen Flughöhe, denn gerade einmal einhundert Meter trennten ihn vom Planetenboden. Das führte dazu, dass er immer wieder hohen Felstürmen und mächtigen Säulen aus Kristall ausweichen musste, die als bizarre Gebilde weit über der Ebene aufragten.

Aber es ging nicht anders, denn aufgrund des in Bodennähe umherkriechenden Dunstes zeigte sich die Sicht sehr bescheiden. Und die Menschen an Bord von Roch-3 brauchten nun mal Sicht auf den Boden, um ihrem Einsatzauftrag nachkommen zu können.

Die Suche nach den von der wissenschaftlichen Abteilung aufgelisteten pflanzlichen Lebensformen gestaltete sich zäh und mühsam. Denn hier im zugewiesenen Suchgebiet südwestlich der Bodenbasis konnte man die Landschaft nicht unbedingt als „Grüne Hölle“ bezeichnen. In Bezug auf ihre Vegetation erwies sie sich eher als öde und leer. Dabei war bekannt, dass dies weiter im Norden der weiten Planetenebene ganz anders aussah. Dort gab es sehr viel mehr Flora, existierten sogar große Waldgebiete.

Dass man die drei Einsatzteams nicht dorthin geschickt hatte, stellte trotzdem pure Absicht dar. Denn man wusste inzwischen, dass die meisten Tarnas-Gewächse bei ausreichend guten Wachstumsbedingungen dazu neigten, regelrechte Kolonien zu bilden. Was sich im ersten Moment wie ein Vorteil für die Sammelaktion anhörte, war keiner. Denn in einer Kolonie verbanden sich die Gewächse unter der Erde über ein Röhrensystem miteinander.

Und kein Wissenschaftler in Azores vermochte zu sagen, was geschah, wenn man einzelne Individuen von der restlichen „Familie“ absonderte, indem man ihre Verbindung zu den Artgenossen brutal durchtrennte. Man konnte es natürlich darauf ankommen lassen. Im schlimmsten Fall starb die betreffende Pflanze eben, und man suchte sich einen anderen Kandidaten.

Doch so einfach war das eben nicht. Oder zumindest wollte man es sich nicht so einfach machen. Die Pflanzensammelaktion für den Botanischen Tarnas-Park stand ohnehin schon unter diversen Vorbehalten, da sie den Richtlinien und ethischen Grundlagen der Solaren Union in Bezug auf das Verhalten des Menschen in einer Welt mit extraterrestrischem Leben widersprach. Der mit dem internationalen Weltraumvertrag manifestierte Verhaltenskodex erlaubte Eingriffe in die Ökosysteme außerirdischer Himmelskörper nicht.

Aber genau dies stellte jetzt die erklärte Absicht dar. Dass man möglichst behutsam vorgehen wollte, mochte das Gewissen des einen oder anderen Beteiligten beruhigen, änderte aber im Grundsatz nichts.

Inzwischen wussten die siebzehn Menschen an Bord des Multikopters mit der Funkkennung Roch-3 außerdem, dass ihr Auftrag keineswegs so einfach war, wie er sich bei der Einweisung am frühen Morgen noch angehört hatte. Auf der „Muttiwunschliste“ der Verhaltensbiologin namens Sadhana Bohra, welche die FSUGruppe als Expertin begleitete, waren insgesamt zehn verschiedene Tarnas-Pflanzenarten aufgeführt. Die Palette reichte von farn- und agavenähnlichen Gewächsen über Lebensformen, die – zumindest ihrem Aussehen nach – irdischen Palmen glichen, bis hin zu kakteenartigen Wuchsformen. Und dann fand sich auch noch eine Spezies auf der Liste, bei der man sich darüber streiten konnte, ob sie überhaupt eine Pflanze darstellte.

Obwohl all diese botanischen Lebensformen gefühlt in riesiger Anzahl in der weiten Planetenebene vorkamen, erwies es sich jetzt, da man sie gezielt suchte, komischerweise als furchtbar schwierig, sie aufzuspüren.

Und wenn man sie dann gefunden hatte, musste man auf Rückschläge gefasst sein. Tatsächlich war bei gut der Hälfte der Pflanzen auf der Wunschliste schon bei der versuchten Probenentnahme ihre absolute Nichteignung für den Botanischen Park von Azores klargeworden. Denn sie hatten sich aggressiv und feindlich verhalten. Einige waren giftig gewesen, ein Individuum hatte kleine Pfeile verschossen und eine Pflanzenform war den fremdartigen Zweibeinern sogar mit einem aggressiven Säurenebel begegnet.

Als es für die Menschen bereits später Nachmittag war, begann der Nachthimmel einen fahlen Lichtschimmer anzunehmen. Ein neuer Tag brach an.

Da Tarnas B300433-A größer war und zudem langsamer rotierte als der Heimatplanet der Menschheit, dauerte die Dämmerungsphase mit dem Erscheinen von Sirius A auf ihm auch deutlich länger als ein irdischer Sonnenaufgang auf der Erde.

Der leuchtstarke A1-Hauptstern des Siriussystems schob sich geruhsam als große, blaue Scheibe über die Horizontlinie und tauchte die ohnehin schon seltsame Landschaft in ein noch seltsameres Zwielicht. Die Wärmestrahlung des Gestirns begann am Dunst zu fressen und ließ die eisigen Außentemperaturen langsam nach oben in Richtung Gefrierpunkt wandern.

„Ladies und Gentlemen, hier spricht Captain Cyneweard“, meldete sich der Flugkapitän aus dem Cockpit. „Acht Positionen können wir auf unserer Einsatzagenda inzwischen abhaken. Zwei sind noch übrig. Miss Bohra, die uns immer noch hier vorn im Cockpit bei der Suche assistiert und dabei hilft, das richtige Kraut aufzuspüren, nimmt an, dass wir es heute nicht mehr wirklich bis zu Nummer zehn schaffen werden. Sie ist der Meinung, dass eines der beiden noch ausstehenden Gewächse gar nicht in dieser Region hier zu finden ist. Ich glaube, ich spreche jedem hier an Bord von Roch-3 aus dem Herzen, wenn ich sage, dass ich das nicht besonders schade finde. Unterm Strich bleibt uns somit noch eine Spezies für heute übrig. Und wie es aussieht, haben wir auch gerade eben von dieser ein Exemplar unter uns entdeckt. Wir werden jetzt landen.“

Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung wehte durch die Passagierkabine. Die meisten hatten die Nase voll von diesem Einsatz. Zudem war die Hoffnung, noch vor Mitternacht zurück in die Basis zu kommen, längst den Bach hinuntergegangen. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, nervten die ständigen Kurvenmanöver des Multikopters, die nicht jedem Magen gut bekamen.

„Oh Allah, jetzt bist du aber wirklich einmal gnädig zu uns“, murmelte der FSU-Panzerabwehrschütze auf Marcs Nachbarsitz. Wegen des ewigen Geschaukels der Maschine – Samit Kirmani hasste das Fliegen – hatte seine Gesichtsfarbe ständig zwischen einer ungesunden Blässe und einer noch bedenklicher aussehenden Grünfärbung geschwankt.

Roch-3 ging in die Standschwebe über und sank dann langsam tiefer. Die Propeller der 132-Tonnen-Maschine wirbelten den Dunst auseinander, ohne ihn wirklich zu vertreiben. Dann endlich bekamen die vier mächtigen Kufen mit einem Stoß Grundberührung.

Das helle Singen der acht 4.500-kW-Antriebsmotoren erstarb genauso, wie das Brausen der großen Rotorblätter in den Stummelflügeln.

Die Cockpittür öffnete sich, und Sadhana Bohra erschien in der Passagierkabine. Nachdem sie sich kurz mit Annie Marchand und dem Presseteam besprochen hatte, lief sie auf dem Gang weiter nach hinten.

Die FSU-Kommandantin scheuchte ihre Leute hoch. „Auf, auf, Herrschaften. Wenn das hier ausnahmsweise mal glatt abläuft, haben wir vielleicht doch noch etwas von diesem angebrochenen Abend.“

„Wer‘s glaubt, wird selig“, brummte Samit Kirmani düster und schulterte ächzend seinen Karabiner sowie die Panzerfaust. Da sie bei vier der bisher acht Zwischenstopps auf dem Boden erfolglos geblieben waren, sah er inzwischen reichlich schwarz.

Während die Multikopter-Crew im Cockpit blieb und sich bereithielt, die Maschine bei Bedarf rasch wieder in die Luft zu bringen – hier draußen in der Ebene konnte einem ein beherzter Notstart durchaus das Leben retten – sammelte sich die FSUGruppe mit dem Presseteam und der Biologin in der Mittelsektion des Fluggerätes und schleuste sich truppweise aus.

Roch-3 war in einer Senke niedergegangen, deren Durchmesser bei etwas mehr als einhundert Metern liegen mochte. Sie wurde auf allen Seiten von hohen Bodenwellen eingeschlossen, auf deren Kämmen kantige Felsbrocken wie steinerne Wächter thronten.

Die FSU-Gruppe war eingespielt und verteilte sich kreisförmig rund um den Multikopter. Die Frauen und Männer suchten sich selbstständig Beobachtungspositionen, an denen sie mit schussbereiten Waffen in Stellung gingen. Sie taten dies zügig und routiniert, ohne, dass es großartiger Anweisungen oder Befehle bedurfte. Tatsächlich hatten sie dies inzwischen schon hunderte Male gemacht.

Marc hielt sich als Inhaber des Bodenradars dagegen bei seiner Chefin. Nach dem Ausstieg galt sein erster Blick dem Himmel. Jetzt, wo man wusste, dass die Luft auf diesem Himmelskörper von riesigen, drachenartigen Kreaturen beherrscht wurde, durfte man sich bei einem Außeneinsatz keinen Moment lang mehr sicher fühlen.

Hinzu kam, dass diese Gegend hier zum Reich des Alphaprädators gehörte – einer Kreatur von mehr als achtzehn Metern Höhe, sechzig Metern Länge und geschätzten einhundertzwanzig Tonnen Gewicht. Sich im Herrschaftsbereich des größten Landraubtiers dieses Planeten zu wissen, ließ die feinen Härchen auf der Haut des Deutschen sich aufstellen. Um sich abzulenken, betrachtete er aufmerksam einen mächtigen Felsblock, der um ein Mehrfaches größer war als der Roch.

Das Ding erinnerte in seiner Form an ein bizarres Kunstwerk und war mit einer hübschen Wirbelmaserung versehen. Der Planet besaß einen äußerst lebthaften Vulkanismus, und der riesige Brocken war ein beredtes Zeugnis dafür. Vor langer Zeit musste er einmal ein glühender, weicher Klumpen gewesen sein, den die Kräfte der Natur wie Knetmasse zu dieser seltsamen Skulptur verformt hatten.

Das Presseteam schien den großen Felsen ebenfalls sehr interessant zu finden, denn der Kameramann filmte das Ding von allen Seiten, während die Reporterin Erklärungen in ihr Aufnahmemikrofon hineinsprach.

Dicht neben dem Felsen wuchsen baumhohe, grüne Farngewächse mit riesigen Wedeln, von denen der Deutsche allerdings wusste, dass nicht sie es waren, die auf Position 8 der Wunschliste Sadhana Bohras standen. Man hatte einen dieser Tarnas-Fingerfarne, wie die Menschen diese Pflanzenart offiziell nannten, bereits am Vormittag „abgearbeitet“. Es handelte sich um eine Spezies, die den Menschen erfreulicherweise nicht dumm gekommen war und auch nicht giftig oder in anderer Hinsicht gefährlich zu sein schien. Falls die Biologen nach der Untersuchung der Gewebeproben ebenfalls Entwarnung gaben, stellte das baumhohe Gewächs mit seinen großen Wedeln einen sehr aussichtsreichen Kandidaten für den Tarnas-Park dar. Allerdings würde man garantiert kein Exemplar von diesem Ort hier besorgen, da die Pflanzen in der Senke in großer Zahl sehr dicht beisammenstanden und daher vermutlich unterirdisch miteinander verbunden waren.

Das Objekt, dem das eigentliche Interesse galt, stellte dagegen weit und breit das einzige seiner Art dar. Man musste es wohl zu den Agavengewächsen zählen, denn es besaß lanzenartige, grüngelbe Blätter, die acht bis neun Meter Länge erreichten, sehr fleischig waren und messerscharfe Kanten aufwiesen. Die Blätter entsprangen in etwa zwei Metern Höhe einer Säule, die aus einem Geflecht ineinander verschlungener Röhren gebildet wurde. Und dann existierten da noch drei Gebilde mit leicht herabhängenden Spitzen, die an Wunderkerzen erinnerten und weit nach oben aus der Lebensform herausragten. Von ihnen ging ein rotes Leuchten aus, das im zerfasernden Dunst einen matten Schimmer erzeugte.

Mihail Marinov wandte sich mit seiner Kamera der Entdeckung zu und filmte sie ausgiebig von allen Seiten. Was er aufnahm, war nicht nur für die Abendnachrichten und als Dokumentation für die Nachwelt bestimmt. Aus dem Filmmaterial würde die wissenschaftliche Abteilung im Rahmen ihrer Forschungsarbeit außerdem ein dreidimensionales Holomodell anfertigen.

„Das Ding sieht wirklich hübsch aus“, fand Marjam Alieva und vergaß in ihrer Faszination für die selbstleuchtende Lebensform sogar einen Moment lang, dass sie sich hier draußen gerade sehr unwohl fühlte.

Die FSU-Kommandantin ordnete die Pflanze zwar ebenfalls in die Kategorie „hübsch“ ein, doch die Schönheit des Gewächses löste bei ihr eher Misstrauen aus. Sie winkte ihren Zeus-IFVFahrer zu sich heran. „Was hier draußen in dieser Ödnis so attraktiv aussieht, hat bestimmt Dreck am Stecken. Und das will heißen, an dem Ding ist definitiv etwas faul. Corporal, locken Sie es mal ganz unwissenschaftlich aus der Reserve.“

„Jawohl, Ma’am“, murmelte Marc, hing sich seine Waffe über und sah sich auf dem Boden nach passenden Steinen um.

Die Französin ruderte währenddessen in Richtung der Biologin und der beiden Presseleute mit den Armen. „Schaffen Sie etwas mehr Distanz. Mindestens vierzig Meter, wenn ich bitten darf.“

Die drei Angesprochenen gehorchten. Sie kannten das Prozedere mit den Aus-der-Reserve-locken bereits. Und sie hatten durchweg alle schon persönlich miterlebt, was es auslösen konnte.

Der Deutsche klaubte währenddessen ein paar geeignete Kiesel vom Boden auf und wog sie prüfend in der Hand. Er besaß eine Gabe, die jemand einmal als „intuitive Präzision“ bezeichnet hatte. Es handelte sich um eine naturgegebene Anlage, die seine sensomotorischen Fähigkeiten in bestimmten Situationen auf ein außergewöhnliches Leistungsniveau anhoben. Das Meiste davon spielte sich im Unterbewusstsein ab, unterstützt von bestimmten Instinkten. Der Corporal vermochte das Ganze zwar nicht bewusst zu kontrollieren, doch wenn er es benötigte, hatte es ihn bisher noch nie im Stich gelassen. Seine intuitive Präzision war ihm während seiner Zeit als Raumpilot sehr dienlich gewesen, und sie half ihm auch jetzt bei seinem Job als Fahrer eines Planetar-Fahrzeugs. Sie machte ihn darüber hinaus zu einem treffsicheren Scharfschützen. Oder eben auch Steinewerfer. Denn im Moment ging es lediglich darum, einen hühnereigroßen Stein exakt ins Ziel zu bringen.

Das Wurfgeschoss beschrieb in der Luft einen flachen Bogen und traf mit dumpfem Geräusch eines der meterlangen Lanzenblätter.

Tatsächlich geschah etwas Seltsames – die Lebensform zeigte eine in dieser Form unerwartete Reaktion. Sie bewegte sich, als würde ein starker Luftzug durch sie hindurchfahren. Doch es gab keinen Wind. Die Eigenbewegung der Lebensform wurde von einem Rascheln und Säuseln begleitet. Die Geräusche erweckten den Anschein, die Pflanze würde mit den fremden Zweibeinern reden. Kurz darauf trat wieder Ruhe ein. Die Lebensform erstarrte in ihrem ursprünglichen Zustand.

„Das ist ja mal was ganz Neues“, meinte Nalani Kapua und sah prüfend zu ihrem Kameramann hin. „Hast du die Szene und die Geräusche im Kasten, Mihail?“

„Klar Boss. Ein Baum, der redet. So etwas Unheimliches können wir doch unserem Publikum unmöglich vorenthalten.“

Annie Marchand, die instinktiv zwei Schritte zurückgewichen war, wechselte einen Blick mit der Biologin und wandte sich dann wieder ihrem Fahrer zu. „Na schön, Corporal, das da eben macht uns leider auch nicht wirklich schlauer, ob wir diesem Kraut trauen können. Probieren Sie es jetzt mal mit den hohen Auswüchsen, die so schön rot leuchten. Mal sehen, was das Gewächs dazu meint.“

Marc gehorchte und warf den nächsten Stein.

Die Tarnas-Agave geriet erneut in Bewegung, diesmal sogar noch deutlich heftiger. Darüber hinaus tat sie jedoch nichts.

„Na wenigstens beschießt oder bewirft sie uns nicht“, knurrte die Französin und rollte leicht mit den Augen. „Mon dieu, für unseren Tarnas-Park wäre diese Spezies eine echte Zierde. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie wirklich so friedlich ist, wie sie sich uns gegenüber gerade gibt. Dieses seltsame Raunen oder auch Flüstern könnte eine Warnung gewesen sein. Machen wir trotzdem weiter, Miss Bohra?“

Die Gefragte nickte und legte ihr Tablet behutsam vor sich auf den Boden. „Mister Ewert kann fortfahren.“

„Sie haben es gehört, Corporal. Vergessen Sie jetzt die Steine, und bringen Sie den Georadar zum Einsatz. Aber halten Sie sich weiterhin schön brav außer Reichweite der Pflanze“, bestimmte Marchand

Der Deutsche nahm den großen „Damenfön“ zur Hand und aktivierte ihn. Im Anschluss feuerte er mit dem Gerät einen Schwall hochfrequenter Radarstrahlen in den Boden am Fuß des Tarnas-Gewächses hinein. Dies tat er aus mehreren Richtungen.

Der Georadar sendete die Messdaten in Echtzeit an das auf dem Boden liegende Tablet der Verhaltensbiologin. Das Ergebnis baute sich für alle Umstehenden deutlich sichtbar als buntes Hologramm in der Luft auf. Die virtuelle Darstellung ließ die Menschen nun den im Boden steckenden Teil der Pflanze sehen.

Die ineinander verschlungenen Röhren, die den säulenförmigen Stamm der Agave bildeten, reichten gut drei Meter tief in den Boden hinein und zerfaserten an ihrem unteren Ende nach allen Seiten hin.

„Okay, das Ding ist definitiv Single. Ich erkenne zumindest keine Verbindung zu irgendeinem anderen Individuum“, stellte Annie Marchand fest. „Wenn wir es als Zierde für unseren botanischen Park haben wollen, können wir es vermutlich recht einfach mit einem Bagger aus dem Boden ausbuddeln.“

Sadhana Bohra schaltete das Hologramm ab und nahm ihr Tablet vom Boden auf. Dann winkte sie vier Samson-Robotern zu, die bisher regungslos hinter dem Heck des Roch-Multikopters auf Befehle gewartet hatten.

Die Automaten, die mit nur etwas mehr als zwei Metern Höhe nicht sehr viel größer als ein Mensch waren, setzten sich gehorsam in Bewegung. Sie wiesen den steifen, stelzenden Gang von großen Vögeln auf, denn ihre Kniegelenke knickten nicht nach vorn ein, sondern nach hinten. Ansonsten besaßen sie eine weitgehend humanoide Bauform mit Armen, Beinen, Rumpf und einem zylindrischen Kopfteil.

Ein Warnruf erscholl von der weit auseinandergezogenen Postenkette her.

„Achtung, wir bekommen Besuch“, meldete Lance Corporal Armand Renou, der Truppführer der FSU-Gruppe, über Funk. „Ich erkenne am Westhang unserer Senke eine Kreatur. Sie ist reichlich groß, scheint aber ein harmloser Sauropode zu sein.“

„Samsons, stopp“, rief Sadhana Bohra den vier Robotern zu. „Wartet auf weitere Befehle.“

Die Automaten gehorchten und erstarrten wieder.

Währenddessen richteten sich alle Blicke nach Westen.

Der Tarnas-Sauropode glich mit seinem langen Hals und Schwanz sowie dem tonnenförmigen Rumpf, der von sechs säulenartigen Beinen getragen wurde, den gewaltigen, pflanzenfressenden Dinosauriern aus der Erdurzeit. Wobei sein Kopf sich als vergleichweise winzig erwies und in keinem Verhältnis zum Rest seines Körpers stand. Seine Lederhaut besaß eine eigenartige schwarz-braun-weiße Fleckenmusterung sowie entlang der Hals- und Rückenlinie Stachelkämme. Mit fast fünfzig Metern Länge und der Höhe eines dreistöckigen Wohnhauses durfte man ihn schon beinahe in die Titanen-Klasse einordnen. Dementsprechend behäbig bewegte er sich jetzt auch den Hang hinunter in die Senke hinein. Obwohl er die dreizehn Menschen, die zwei Roboter und den Roch-Multikopter bemerken musste, interessierte er sich zunächst nur für die Fingerfarnbäume. Nachdem er mit seinen Nasenspalten an den großen, fächerartigen Blättern gerochen hatte, packte er eines mit seinem Maul und riss es ab. Anstatt es zu zerkauen – dazu waren seine Kiefer schlicht nicht ausgelegt – schluckte er es im Ganzen hinunter. Dabei halfen ihm die starken Muskeln an seinem Hals, die mit konvulsiven Bewegungen die Nahrung tiefer in Richtung des Verdauungsapparates schoben.

„Es ist ein Rückenkamm-Sauropode“, erklärte Nalani Kapua den anderen. „In der Datenbank unserer Anzugcomputer finden sich bereits Einträge über ihn. Er steht nur auf Pflanzen als Nahrung und lebt in großen Herden, die immer wieder auch mal an Azores vorbeikommen. Der Computer stuft ihn als harmlos ein, solange man ihn nicht reizt. Er hat sich wohl eher durch Zufall und wegen der scheinbar leckeren Fingerfarnbäume zu uns hier in die Senke verirrt. Vermutlich ziehen seine Artgenossen gerade zu Hunderten oder gar Tausenden irgendwo dort drüben an uns vorbei.“ Sie wies mit dem ausgetreckten Arm nach Westen.

Die Menschen beobachteten das riesige Tier und wichen gleichzeitig langsam vor ihm zurück, darum bemüht, keine hektischen Bewegungen zu machen. Dass die Kreatur plötzlich vom Vegetarier zum Fleischfresser mutierte, konnte man wohl ausschließen. Das Risiko bestand eher darin, von dem Wesen aus Versehen zertrampelt zu werden.

Der Tarnas-Sauropode ließ von den Farnbäumen ab und richtete seine Aufmerksamkeit nun doch auf die Zweibeiner. Er näherte sich Sadhana Bohra, Annie Marchand sowie Marc Ewert und bog seinen langen, massigen Hals nach unten.

„Einfach ruhig stehenbleiben“, sagte die Biologin. „Er ist nur neugierig.“

Der Deutsche sah plötzlich direkt vor sich den großen Kopf des Wesens, dessen Atem sich als feuchter, schleimiger Film auf seinem Helmvisier niederschlug. Dann vernahm er ein lautes Zischen.

Die Kreatur saugte Luft durch ihre Nasenspalten ein, um den Geruch des Zweibeiners aufzunehmen und zu prüfen.

Hoffentlich sagt ihm mein Duft zu, dachte der Corporal angespannt.

Das Wesen wandte sich Sadhana Bohra zu, „beschnüffelte“ sie und verpasste ihr dann probehalber oder vielleicht auch aus reinem Spaß mit dem Kopf einen leichten Stubser.

Die Biologin landete auf ihrem Hintern und gab einen Schmerzenslaut von sich. „Aua, verdammt.“ Als sie sah, wie die FSU-Kommandantin reflexartig ihren Laserkarabiner hob, machte sie hastig eine beschwichtigende Handbewegung. „Nicht, Miss Marchand. Bloß nicht.“

Die Französin gehorchte und ließ die Waffe wieder sinken.

Die Wahrnehmung des Sauropoden fixierte sich jetzt auf den Roch-Multikoper. Das Tier setzte sich in Richtung des großen, kantigen Flugapparates in Bewegung. Dabei schlug es einen Bogen um die Pflanze, welche die Menschen sich eventuell in ihren Botanischen Park setzen wollten. Nach einer flüchtigen Riechprobe versetzte die Kreatur der Maschine prüfend einen Stoß. Als dieser erfolglos blieb, begann sie gegen das Heck des Roch zu drücken, in dem Versuch, es beiseitezuschieben.

Doch mit seinen einhundertzweiunddreißig Tonnen Masse bewegte sich der Multikopter keinen Zentimeter weit von der Stelle.

Der Sauropode gab sich trotzdem mit dem Ergebnis seiner Untersuchungen zufrieden. Er wollte sich wieder den Fingerfarnbäumen zuwenden, als plötzlich Lärm durch die Luft brandete.

Die Geräusche kamen von oben her.

Das Tier bog seinen langen Hals und äugte beunruhigt hinauf in den Himmel. Das multiple Fauchen starker Raketentriebwerke ähnelte ein wenig dem brachialen Tosen, das ein Meteorit oder gar Asteroid erzeugte, wenn er als Feuerkugel durch die Atmosphäreschichten schnitt und dem Planetenboden entgegenraste. Diese Feuerbälle hatte der Sauropode durchaus zu fürchten gelernt. Er wurde nun noch nervöser und versuchte die Geräuschequelle auszumachen.

Gleich darauf donnerte ein lauter Überschallknall heran und rollte grollend über die Ebene, sich als vielfaches Echo an Steintürmen und hohen Felsformationen brechend.

Das war für den Rückenkamm-Sauropoden zu viel. In Panik geratend, wandte er sich vom Multikopter ab und strebte mit einem reichlich unbeholfen wirkenden Laufstil der Bodenwelle zu, über die er zuvor in die Senke gekommen war. Dabei trampelte er blindlings in Richtung des Presseteams, der Biologin und Annie Marchands.

Und er hielt dabei auch in direkter Linie auf Marc Ewert zu.

5. November 2173

Nordatlantische Ebene

44 km südwestlich „Azores“-Bodenbasis / Bodensenke

Der Deutsche musste sich im Bruchteil einer Sekunde für eine Richtung entscheiden, um dem riesigen Tier auszuweichen. Er traf seine Entscheidung, und sie erwies sich als richtig, was sein Leben rettete. Trotzdem gaubte er, in seinem Rücken eine Berührung durch eines der säulenartigen Beine des Sauropoden zu spüren, als dieser dicht hinter ihm vorbeistürmte. Während ihm das Herz einen Moment lang bis hinauf zum Hals klopfte, fingen die Außenmikrofone seines Raumhelms das Ächzen eines Fingerfarnbaums auf, der nicht das Glück besaß, der kopflos gewordenen Kreatur ausweichen zu können.