Planetarlandung - Peter Schindler - E-Book

Planetarlandung E-Book

Peter Schindler

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Beschreibung

Dies ist nach den Titeln Sternenflug, Drachenfeuer, Himmelfahrtskommando sowie Scheideweg die Fortsetzung und zugleich der fünfte Band der Geschichte um Marc Ewert und die Mission rund um den extrasolaren Planeten Tarnas B300433-A. Eine beinahe dreijährige Interstellarreise, der Verlust des Schwester-Raumschiffes sowie der Tod tausender Menschen - das Erreichen des dritten Planeten des Siriussystems kostete viele Mühen und Opfer. Doch nun kreist das Raumschiff Independence ISV-11 endlich im Orbit von Tarnas B300433-A. Und die Menschen bewegt die Frage, wie erdähnlich der Himmelskörper tatsächlich ist, mit dem sich so viele Spekulationen und Fantasien verbinden. Je stärker die Vorbereitungen für die erste Landung von Menschen auf der Oberfläche des extrasolaren Planeten voranschreiten, desto mehr Überraschungen offenbaren sich. Und es zeigt sich, dass Tarnas B300433-A noch sehr viel mehr Geheimnisse besitzt. Gleich allen anderen Menschen an Bord des Schiffes bereitet sich Corporal Marc Ewert auf die Landung sowie den ersten Einsatz auf dem Himmelskörper vor. Als Mitglied einer frisch aufgestellten Einheit muss er sich dabei neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen. Und ihn erwartet das nächste große Abenteuer - der gefährliche Flug hinab zum Planeten.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 894

Veröffentlichungsjahr: 2020

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„Denke nicht an das, was dir fehlt,

sondern an das, was du hast!

Diese Buchreihe ist meiner Familie gewidmet, die meinen

größten und wertvollsten Schatz darstellt.

Vielen Dank für euer Verständnis, euer Vertrauen

sowie eure Unterstützung.“

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 – Die erste Prüfung

Kapitel 2 – Der nächste Schritt

Kapitel 3 – Die Geburtstagsfeier

Kapitel 4 – Die Bodensonden

Kapitel 5 – Kompanieübung

Kapitel 6 – Die Schiffsfeier

Kapitel 7 – Die Vorhut

Kapitel 8 – Letzte Vorbereitungen

Kapitel 9 – Der Abflug

Kapitel 10 – Gefährlicher Abstieg

Kapitel 11 – Der Boden

Epilog

Nachwort

Personenverzeichnis

Glossar

Dieses Buch ist Teil 5 einer aus insgesamt zehn Bänden bestehenden Reihe mit einer chronologisch fortlaufenden Geschichte.

Weitere Titel aus dieser Reihe sind:

Buch 1 --- Sternenflug

ISBN: 978-3-7460-4314-2 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7494-6102-8 (E-Book)

Buch 2 --- Drachenfeuer

ISBN: 978-3-7412-8431-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7481-4563-9 (E-Book)

Buch 3 --- Himmelfahrtskommando

ISBN: 978-3-7504-2492-0 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-7660-8 (E-Book)

Buch 4 --- Am Scheideweg

ISBN: 978-3-7504-4118-7 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-7504-8866-3 (E-Book)

Buch 6 --- Vorauskommando

Buch 7 --- Die Basis

Buch 8 --- Drachenwelt

Buch 9 --- Planetarerkundung

Buch 10 --- Leviathan

Prolog

Die wissenschaftliche Abteilung von Independence ISV-11 benötigte viel Platz und nahm daher beinahe vollständig die Rumpfdecks 31 und 32 ein. Tatsächlich setzte sich die Forschungseinrichtung aus einer Vielzahl von Einzel- und Großraumbüros, Labortrakten, hallenartigen Versuchsräumen, einem gewaltigen Datenarchiv sowie einer großen Kühlkammer zusammen.

Vierhundertfünfzig Menschen hatten hier ihren Arbeitsplatz. In der Masse handelte es sich um Wissenschaftler und ihre Assistenten, die hellsten Köpfe, welche die Menschheit aufzubringen vermochte.

Hinzu kamen Verwaltungssachbearbeiter sowie eine Reihe von Technikern. Denn bei aller Forschung – der Bürokram wollte genauso erledigt werden, wie etwa die Pflege und Unterhaltung des umfangreichen technischen Forschungs- und Labor-Equipments.

Es handelte sich um ein internationales Team, das sich an Bord des riesigen Raumschiffes zusammengefunden hatte. So bunt gemischt, wie die ethnische Herkunft, erwiesen sich auch die Fachgebiete, in denen die Professoren und Doktoren hier forschten. Astronomen und Astrophysiker gaben sich auf den beiden Decks mit Biologen, Chemikern und Geowissenschaftlern die Klinke in die Hand – Mathematiker und Analytiker trafen in den Korridoren, Laboren und Versuchshallen auf Meteorologen, Virologen und Genetiker.

Sie alle einte ein großes Ziel – die Erforschung jenes Himmelskörpers namens Tarnas, der aufgrund seiner vermuteten Erdähnlichkeit die wissenschaftliche Katalognummer B300433-A trug. Zumindest aus der sehr großen Entfernung von mehr als achteinhalb Lichtjahren versprach der dritte Planet des Sirius-Doppelsternsystems einen recht hohen Erdähnlichkeitsindex. Ob er dieses Versprechen aber auch hielt und sich zu Recht mit seiner derzeitigen Katalognummer schmückte, konnte man am Ende nur herausfinden, wenn man direkt zu ihm hinflog.

Aus diesem Grund befanden sich die vierhundertfünfzig Wissenschaftler – und mit ihnen noch knapp zwölftausend weitere Menschen – mit ihrem gewaltigen Interstellarschiff jetzt auch hier im Siriussystem. Und dabei nicht irgendwo in diesem, sondern im Orbit des Gesteinsplaneten.

Momentan hielt die Independence eine feste Position zu Tarnas B300433-A, indem sie sich in sechsunddreißigtausend Kilometern Höhe auf einer geostationären Umlaufbahn bewegte. Immer der unsichtbaren Linie des Äquators folgend, glitt sie mit viertausend Stundenkilometern dahin.

Nach kosmischen Maßstäben war das bestenfalls ein langsames Kriechen. Doch die vergleichsweise niedrige Geschwindigkeit war gewollt, sorgte sie doch dafür, dass der beinahe sechs Kilometer lange 166-Megatonnen-Schiffskoloss genau der Rotation des Planeten folgte.

Denn Letzterer ließ sich in seinen Umdrehungen viel Zeit. So viel, dass ein Tag auf seiner Oberfläche mit etwas mehr als zweiundsiebzig Stunden dreimal länger ausfiel, als auf der Erde.

Der lange Tag-/Nachtzyklus stellte allerdings nicht die einzige Sache dar, die zunehmend Zweifel an einer größeren Erdähnlichkeit des dritten Systemplaneten aufkommen ließ. Und sie war momentan auch längst nicht das vordringlichste Problem der Menschen, die eine beinahe zwei Jahre währende interstellare Reise – inklusive eines Wurmlochtransits – unternommen hatten, um das Siriussystem mit Tarnas B300433-A zu erreichen.

Sehr viel interessanter erschien derzeit die Frage, wie man heil auf die Oberfläche des extrasolaren Planeten gelangen konnte.

Denn der Himmelsklörper umgab sich mit einem System aus fünf gewaltigen Asteroidengürteln, die ihn in Höhen zwischen sechshundertfünfzig und zweiundvierzigtausend Kilometern ringförmig umschlossen. Dabei standen sie nicht etwa still, sondern rotierten – mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten und nicht minder unterschiedlichen Drehrichtungen.

Innerhalb dieser mehrere tausend Kilometer mächtigen Materiebänder existierten etwa 1,1 Billionen kosmische Kleinkörper in der Größenordnung zwischen einhundert Metern und mehreren Kilometern mit stabilen Positionen. Sie stellten kein großes Problem dar, denn die Abstände zwischen ihnen betrugen mehrheitlich einige tausend Kilometer. Außerdem befand man sich auf dem besten Wege, sie sämtlich zu kartografieren.

Ganz anders sah dies mit den Asteroiden und Meteoriden aus, die innerhalb der Gürtel nicht ihre Position hielten, sondern sie mit zum Teil sehr hohen Geschwindigkeiten auf irregulären Bahnen durchstreiften. Sie fielen zwar in der Regel sehr viel kleiner aus, als die großen Materiebrocken, waren dafür aber in erschöpfend großer Zahl vorhanden. Seriöse Angaben zu ihrer Menge gab es nicht. Es konnten aber Billiarden sein.

Diese Querschläger stellten ein unkalkulierbares Risiko dar und machten das Durchfliegen der Materiegrütel zu einem reinen Glücksspiel. Die Wahrscheinlichkeit, auf dem langen Weg von Raumschiff durch die fünf Asteroidengürtel hindurch von einem solchen schnellen, kosmischen Geschoss getroffen zu werden, fiel sehr hoch aus. Für eine Starmaster-Raumfähre, die mit rund einhundertelf Metern Rumpflänge und vierundvierzig Metern Spannweite eine große Angriffsfläche bot, lag sie bei über achtzig Prozent. Dabei vermochten die großen Maschinen mit ihren bis zu 1.630 Tonnen Gesamtmasse einiges einzustecken. Doch wer wollte solch ein Risiko eingehen?

Theoretisch ließen sich die ringförmigen Asteroidengürtel in weit ausholenden Bögen seitlich umfliegen. Allerdings verlängerte sich die Strecke dann auf ein Vielfaches. Die Flugeinheiten würden einen ganzen Tag allein für den Weg hinab zum Planeten benötigen und unten angekommen keinen Dyophen-Treibstoff mehr für den Rückflug besitzen.

Das wussten auch die beiden Astrophysiker, die gerade im Kontrollraum eines der großen Holotanks standen.

Der Vietnamese namens Dr. Nguyen Duc Thang und die Peruanerin mit dem etwas kompliziert wirkenden Namen Dr. Wari Ucharima Quihue gehörten zwei völlig verschiedenen Bevölkerungsgruppen an und entstammten außerdem Erdkontinenten, die viele tausend Kilometer voneinander trennten. Aber sie besaßen nichtsdestotrotz eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Und die lagen nicht allein in ihrer vergleichsweise geringen Körpergröße sowie der schmalen Statur. Noch sehr viel mehr einte sie ihr gemeinsames Fach- und Forschungsgebiet – die Astrophysik.

Sie hatten sich inzwischen sehr tiefgreifend mit den Asteroidengürteln von Tarnas B300433-A auseinandergesetzt und kannten nicht nur das vordringliche Problem, sondern besaßen inzwischen auch eine Ahnung, wie es zu lösen war.

Dr. Wari Ucharima Quihue trat im Kontrollraum an eine Konsole heran und gab einen Befehl ein.

Gleich darauf erschien auf einem großen Videoschirm das Bild einer der vielen Außenbordheckkameras der Independence.

Das künstliche Auge befand sich an der Hinterkante einer der gewaltigen Hecksteuerflossen des Raumschiffes und blickte nach hinten.

„Siehst du das?“, fragte Quihue ihren Kollegen.

Dr. Nguyen Duc Thang kniff die Augen zusammen. Dann entdeckte er tatsächlich den winzigen, matten Lichtpunkt in der Dunkelheit des Weltraums. „Ist das eine der Drohnen?“

„Ja. Mosquito 102 kommt nach Hause.“

Der matte Punkt gewann an Helligkeit und zerfiel in der Annäherung in mehrere, kleine Lichtquellen mit weißer, grüner und roter Färbung. Es handelte sich um die seitlichen Positionslampen und das Stroboskopblitzlicht der sich nähernden Hornet-Raumflugdrohne. Das nur etwas mehr als zwölf Meter lange, vollautomatisch handelnde Fluggerät hatte keine Mühe damit, von hinten her zum eher träge seiner Kreisbahn folgenden Raumschiff aufzuschließen.

„Wieder eine, die es zurückgeschafft hat“, murmelte der vietnamesische Wissenschaftler.

Die Bemerkung Duc Thangs galt der Tatsache, dass bereits einige der ausgesandten Drohnen während ihrer Einsätze Opfer kosmischer Querschläger geworden waren. Sieben Maschinen hatte man auf diese Weise inzwischen verloren.

An die große Glocke wurden diese Verluste nicht mehr gehangen. Die Schiffsführung verzichtete inzwischen bewusst darauf, den Bordsender über diese Vorfälle zu informieren, da sie bei den zwölftausend Menschen an Bord einfach zu sehr den Eindruck entstehen lassen konnten, die Tarnas-Mission verlaufe nicht im gewünschten Rahmen. Nun, das tat sie ohnehin nicht mehr, denn man befand sich inzwischen schon wochenlang im Zeitverzug.

Die Schuld daran trugen unvorhergesehene Ereignisse, die kurz nach der Ankunft der beiden Interstellarschiffe in der Nähe ihres Reisezieles eingetreten waren.

Zu diesen Ereignissen gehörte einerseits der tragische Verlust des Schwesterschiffes Antares. Das riesige Raumfahrzeug war mit sämtlichen Besatzungsmitgliedern und Passagieren an Bord in einer thermonuklearen Explosion vergangen.

Und dann gab es da noch das Draconis-Kartell, ein scheinbar sehr mächtiges Industriekonsortium, das die Solare Union als unliebsame Kokurrenz betrachtete und auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Draconis hatte nicht nur die Antares auf dem Gewissen, sondern sich auch auf einen bewaffneten Schlagabtrausch mit Raumeinheiten der Independence eingelassen. Das Treffen war für die Kartellkräfte nicht gut ausgegangen. Das Konsortium hatte nicht nur eine Raumschlacht verloren, sondern im Nachhinein auch noch einen auf einem Asteroiden liegenden großen Flugstützpunkt eingebüßt. Inwieweit es damit besiegt war, darüber herrschte völlige Unklarheit.

All diese Dinge hatten dazu geführt, dass die Independence einer Landung auf der Oberfläche von Tarnas B300433-A bisher kaum nähergekommen war.

Nguyen Duc Thang und seine Kollegin hofften, dass sich das nun endlich ändern würde.

Die Hornet-Raumdrohne wurde während ihres Anflugs auf einen der beiden Landetunnel in der Hinterkante der Steuerbordflügelsektion des Raumschiffes kurz noch einmal sichtbar, verschwand dann jedoch aus dem Blickfeld der beiden Astrophysiker.

Der Vietnamese wandte sich der Peruanerin zu. „Ich hoffe, die Maschine hat uns etwas mitgebracht.“

In Dr. Wari Ucharima Quihues kaffeebraunem Gesicht erschien ein Lächeln. „Oh ja, Mosquito 102 war in dieser Hinsicht sehr fleißig. Seit sie vor sechzehn Minuten aus dem Funkschatten des Epsilon-Gürtels heraustrat, sendete sie uns fleißig Daten. Mal schauen, ob wir uns die Ergebnisse schon anschauen können.“ Sie ließ ihre schmalen Finger über die Computertastatur tanzen.

Gleich darauf starrten sie und ihr männlicher Kollege durch die riesige Wandscheibe in den Holotank hinein.

Letzterer stellte eigentlich nichts anderes dar, als einen großen, saalartigen Raum, der auf den ersten Blick leer erschien. Seine Wände waren allerdings mit zahlreichen holografischen Projektoren besetzt, die jetzt zum Leben erwachten und ein dreidimensionales Modell des extrasolaren Planeten und seiner fünf Asteroidengürtel aufbauten.

Die virtuellen Materiebänder rund um den Planeten wirkten unglaublich detailliert. Tatsächlich erfasste das Modell sämtliche bereits kartografierten Asteroiden mit ihren festen Positionen in den ringfärmigen Gürteln.

Doch es gab eben auch noch Bereiche, die den berühmten weißen Flecken auf einer Landkarte glichen. In der Holografie wirkten sie zwar nicht weiß, dafür aber trübe und verwaschen.

Die Aufgabe jener ausgesandten Raumdrohnen, wie Mosquito 102, bestand darin, durch Gewinnen neuer Informationen diese „weißen Flecken“ zu füllen.

Momentan befanden sich zwei Dutzend Hornets genau für diese Aufgabe im Einsatz. Ihre gegenwärtigen Positionen wurden als grüne Lichtpunkte darstellt, die sich praktisch überall in und zwischen den fünf Asteroidengürteln auf verschiedenen Höhen verteilten. Fast alle Punkte blinkten, was verriet, dass ihre momentanen Positionen nur angenommen waren.

Tatsächlich besaß das Raumschiff zu den meisten Maschinen keinen Funkkontakt.

Zum Teil störten die Materiegürtel mit ihrem hohen Anteil an Metallasteroiden den Funk.

In der Hauptsache jedoch trugen die ständigen, starken Eruptionen auf der Oberfläche von Sirius A die Schuld, bei denen nach sogenannten koronalen Masseauswürfen heftige Partikelstürme im gesamten Doppelsternsystem wüteten.

Das virtuelle Modell des Planeten und seiner orbitalen Gürtel zeigte auch die gegenwärtige Position der Independence an.

Das 166-Megatonnen-Raumschiff schwamm momentan in der Seitenöffnung des mächtigen Epsilon-Gürtels, ziemlich nahe an dessen Rotationsachse. Aufgrund des großen Maßstabes der Darstellung bewegte es sich nur sehr langsam vorwärts. Allerdings konnte man doch recht deutlich erkennen, dass es der Drehrichtung von Tarnas B300433-A entgegen dem Uhrzeigersinn folgte und sich dabei direkt über immer dem gleichen Punkt über dem Äquator hielt.

Dr. Wari Ucharima Quihue warf einen Blick auf den Monitor des Kontrollpultes. „Die ersten Daten, die uns Mosquito 102 mitgebracht hat, werden jetzt eingespielt.“

Die beiden Wissenschaftler richteten ihre Blicke durch die große Glaswand hindurch wieder in den Holotank.

Am dort schwebenden Holomodell vollzogen sich leichte Veränderungen. Regionen in den Asteroidengürteln, die bisher diffus und verwischt gewirkt hatten, gewannen an Klarheit. In ihnen erschienen tausende und abertausende neue Lichtpunkte – jeder einzelne für einen Asteroiden stehend. Auf geradezu wundersame Weise füllten sich nun immer mehr Räume mit unzähligen matten Lichtern, die an einen stetig anwachsenden Schwarm Glühwürmchen erinnerten. Riesige Bereiche der Bänder nahmen detaillierte Strukturen an.

Die beiden Astrophysiker verfolgten das Geschehen zeitweise mit angehaltenem Atem.

„Sieh dir das dort drüben an“, machte Nguyen Duc Thang seine Kollegin aufmerksam und wies mit dem ausgestreckten Arm durch die große Glaswand. „Mosquito 102 hat scheinbar ein neues großes Loch im Delta-Band entdeckt.“

„Ja, sieht tatsächlich ziemlich groß aus“, bestätigte die Peruanerin und tippte rasch einen Befehl in das Pult ein. Dann las sie die angezeigten Daten ab. „Die Passage besitzt einen mittleren Durchmesser von zirka sechstausend Kilometern und verjüngt sich mit abnehmender Höhe auf zirka viertausend Kilometer. Sie ist zwar nicht völlig frei von Asteroiden und zudem leicht gebogen, führt aber tatsächlich als zweitausendachthundert Kilometer langer Tunnel vertikal durch den gesamten Delta-Gürtel hindurch. Sie könnte uns also durchaus von Nutzen sein.“

Sie entdeckten noch einige weitere Löcher, die vielleicht „von Nutzen“ sein mochten. Und das nicht nur im Delta-Band, sondern auch in den vier anderen Asteroidengürteln.

Der Plan bestand darin, diese gewaltigen und zumeist röhrenförmigen Lücken in den Asteroidengürteln für den Weg nach unten und wieder herauf als Durchflugstunnel zu verwenden. Nur so konnten Raumflugeinheiten vom Mutterschiff aus einigermaßen sicher und mit einem vertretbaren Zeit- und Treibstoffaufwand die Oberfläche des Exoplaneten erreichen.

Allerdings unterlag das gesamte Asteroidengürtelsystem ständigen Veränderungen. Es gab keine feststehenden Routen, die man – wenn man sie erst einmal gefunden hatte – jederzeit und immer wieder nutzen konnte. Wenn sich Wege nach unten oder auch nach oben öffneten, dann taten sie dies lediglich innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitfensters. Und in dieser Konstellation auch nur ein einziges Mal und dann nie wieder. Um sie zu passieren, musste man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. So etwas schaffte man nicht per Zufall, sondern allein durch exakte Vorausberechnungen.

Und genau an diesen Rechenprogramm arbeiteten Dr. Wari Ucharima Quihue und Dr. Nguyen Duc Thang. Das Holomodell des Asteroidengürtelsystems, das sämtliche Bewegungsvorgänge in Echtzeit simulierte, war in ihren Augen die Lösung des Problems.

„Okay, die Datenergänzung des Modells ist abgeschlossen“, stellte Ucharima Quihue nach einem Blick auf ihren Monitor fest. „Was meinst du? Wollen wir einen Versuch starten?“

Der Vietnamese verzog sein zerfurchtes Gesicht und wiegte zweifelnd den Kopf. Obwohl es auch ihn in den Fingern juckte, wollte er sich nicht von irgendwelchen falschen Hoffnungen verführen lassen. Dann jedoch überwog die Neugier. „Also okay, lass es uns tun.“

Die Peruanerin nickte. „Als Zeitvorgabe nehmen wir einfach mal die kommenden fünf Stunden. Ich glaube, das ist eine realistische Zeit, in der sich auch die Vorbereitungsarbeiten an einer Raumfähre bewerkstelligen lassen“, meinte sie und gab die genannten Parameter ein. „Und los geht’s.“ Sie schlug auf die Entertaste.

Im Holotank ging eine abrupte Veränderung vor sich.

Der virtuelle Planet und seine Materiebänder nahmen schlagartig die Konstellation ein, in der sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch der echte Tarnas und seine fünf Asteroidengürtel bewegten. Dann setzte sich das ganze virtuelle Konstrukt in Gang. Der Planet begann zu rotieren, und die ihn umschließenden Bänder taten dies ebenfalls.

„Achtung“, meldete eine Computerstimme. „Analysiere Echtzeitbewegungen des Planeten und seiner orbitalen Felder.“

Die Peruanerin und der Vietnamese wechselten rasch einen Blick miteinander.

Das Programm brauchte fünf Sekunden. Dann kam die Meldung: „Analyse abgeschlossen. Starte Suche nach verfügbarer Route.“ Diesmal hatte der Nanorechner etwas länger zu tun. Denn seine Aufgabe lautete, nicht einfach irgendeinen Weg vom Raumschiff hinab zum Planeten zu finden, sondern den kürzesten und gleichzeitig sichersten. „Suche abgeschlossen. Starte Simulationsdarstellung der verfügbaren Flugroute“, erklärte die geschlechtsneutrale Stimme emotionslos.

Vom im Holotank schwebenden virtuellen Raumschiff löste sich ein grüner Lichtpunkt, der sich jetzt nicht direkt auf den Planeten zubewegte, sondern eher schräg zu diesem. Während seines Fluges hinterließ er eine dünne Linie, die seine zurückgelegte Bahn darstellte.

Die Astrophysikerin und ihr Kollege sahen fasziniert zu, wie der Lichtpunkt den obersten Asteroidengürtel erreichte und in ein Loch hineinflog, das in dessen oberem Rand klaffte.

Dieses Loch wiederum mündete in einen Tunnel, der zwar weitgehend asteroidenfrei war, aber auf ziemlich bizarre Weise in Begriff war, seine Form zu verändern. Er verbog sich mit seinem unteren Ende zunehmend und wurde außerdem in seinem Querschnitt immer flacher – so, als presse ihn jemand zusammen.

Die beiden Menschen kannten den Grund für das seltsame Phänomen. Die unteren Schichten des Epsilon-Gürtels bewegten sich ein wenig schneller, als die oberen, sodass sich der Tunnel immer mehr verzerrte, bis er sich irgendwann ganz schloss.

Der Lichtpunkt erreichte trotzdem heil die untere Öffnung der Tunnelpassage und flog nun in die freie Zone zwischen dem Epsilon- und dem Gamma-Gürtel hinein. Hier änderte er wieder rapide seinen Kurs und hielt mit großer Vorhalte auf ein Loch im nächsten Materieband zu. So setzte sich das in einem stetigen Zickzackkurs immer weiter durch die Asteroidengürtel fort, bis der Lichtpunkt schließlich auch das Alpha-Band passiert hatte und nun direkt der Planetenoberfläche entgegenstrebte.

Die Simulation stoppte.

Die Peruanerin und der Vietnamese betrachteten eine Weile schweigend die dünne grüne Bahnlinie, die aussah, wie die völlig verzitterte Messlinie eines Seismographen nach einem starken Erdbeben.

Wari Ucharima Quihue las die Daten ab und runzelte die Stirn.

Ihr Kollege bemerkte es und fragte: „Wie sieht es aus? Zeigen wir es dem Chef, oder machen wir uns damit nur lächerlich?“

Die Peruanerin blickte erneut auf die Bildschirmdaten. „Er soll es sich anschauen. Mal sehen, was er meint.“ Sie aktivierte den Kommunikator ihres Armbandcomputers und funkte den angesprochenen „Chef“ an. Dann wandte sie sich wieder Duc Thang zu. „Der Professor hält sich gerade ein Deck höher in einem der Labore der Wetterfrösche auf. Aber er macht sich auf den Weg zu uns.“

Der Vietnamese nickte und fühlte plötzlich Unruhe in sich aufsteigen. Obwohl er schon seit vielen Jahren als Astrophysiker forschte und sich als solcher längst ein hohes Ansehen erworben hatte, machte es ihn immer noch nervös, wenn ein Kollege seine Arbeit kritisch zu bewerten hatte. Und das galt erst recht, wenn es sich bei diesem Kollegen um den Leiter der wissenschaftlichen Abteilung an Bord der Independence handelte.

Der Betreffende tauchte gleich darauf auf. Professor Nathan Dreezen trug einen weißen Laborkittel und besaß nicht nur schütteres Haar, sondern auch eine sehr fahrige Art. Letztere machte ihn nicht gerade zu einer Führungspersönlichkeit, da er mit seiner Zappeligkeit eigentlich ständig die falschen Signale gegenüber seinen Untergebenen aussandte. Dabei besaß er weiß Gott keinen leichten Job, denn die ihm unterstellten Wissenschaftler glichen mit ihren Allüren einem ewig unzufriedenem Hühnerhaufen. Angeblich unzureichende Forschungsbedingungen, fehlendes Laborgerät, der Neid der lieben Kolleginnen und Kollegen – das Gejammer endete nie. Als Dreezen jetzt den Kontrollraum der Holotankanlage betrat, verriet sein Gesichtsausdruck, dass er auch bei diesem Besuch nichts Gutes erwartete. „Dr. Quihue und Dr. Thang, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir brauchen Ihre Meinung, Herr Professor. Sehen Sie sich bitte die Ergebnisse der Probesimulation an und sagen Sie uns, was Sie davon halten.“

„Verstehe.“ Nathan Dreezen wirkte erleichtert. Keine persönlichen Mätzchen, sondern wissenschaftliche Arbeit – das gefiel ihm. „Na schön. Dann wollen wir doch mal…“ Er verstummte abrupt und starrte mit gekrauster Nase durch die Glaswand in den Holotank hinein. „Ach du liebe Güte, da hat sich aber einiges getan“, murmelte er überrascht. „Können Sie es bitte mal laufen lassen?“

Die Peruanerin tat ihrem Chef den Gefallen.

Im Holotank erwachte die holografische Darstellung zu neuem Leben, indem der Planet und seine fünf Asteroidengürtel wieder zu rotieren begannen.

Nathan Dreezen begab sich mit eiligen Schritten in den Holoraum und stand gleich darauf mitten in der virtuellen Darstellung des Planeten mit seinen fünf Asteroidengürteln. Voller Verzückung starrte er auf das riesige Gebilde, breitete dann gleich einem Messias die Arme weit aus und rief: „Was für ein unglaubliches Kunstwerk, das die Natur hier geschaffen hat. Es ist wirklich wunderschön.“

Wari Ucharima Quihue und Nguyen Duc Thang im Kontrollraum wechselten einen raschen Blick miteinander. Also manchmal machte ihnen ihr Chef schon ein bisschen Angst. Sie selbst betrachteten dieses „Kunstwerk der Natur“ sehr viel nüchterner. Vielleicht lag es daran, dass es Ihnen – und das im wirklich wörtlichsten Sinne – so viele Steine in den Weg legte.

Nathan Dreezen streckte währenddessen den rechten Arm aus und bemühte sich darum, mit dem Zeigefinger gegen einen Asteroiden zu tippen, der sich direkt über seinem Kopf hinweg inmitten des Gamma-Materiebandes mitbewegte.

Der Brocken – jetzt lediglich von den Dimensionen einer kleinen Stubenfliege – musste in der Realität eine Größe von mehreren Kilometern besitzen, sodass man auf seiner Oberfläche bequem eine ganze Kleinstadt hätte platzieren können. Er rotierte, was seine Bewegung weniger an einen Flug erinnern ließ. Es sah vielmehr so aus, als rolle er auf seiner Bahn über einen unsichtbaren Untergrund voran.

Der Zeigefinger Dreezens wanderte durch den Asteroiden hindurch, ohne ihn wirklich berühren zu können. Der Brocken stellte schließlich nur ein dreidimensionales Gebilde aus Laserlicht dar. Den Professor störte das nicht. Er wirkte für einen langen Moment wie ein kleines Kind, das man im Spielzeugladen von der Hand gelassen hatte. Dann allerdings erinnerte er sich abrupt daran, dass er dieses kleine Kind gar nicht war, sondern vielmehr der Leiter einer wissenschaftlichen Abteilung. Also verbannte er die Verzückung aus seinem Gesicht und straffte sich. Dann verließ er den Holotank und gesellte sich wieder zu den beiden Astrophysikern. „Na schön, wozu brauchen Sie meine Meinung?“

„Das Modell ist in seinem derzeitigen Entwicklungsstadium bereits in der Lage ist, eine Flugroute hinab zum Planeten zu berechnen.“

„Wirklich? Faszinierend.“ Dreezen starrte abwechselnd auf den Holotank und dann wieder auf die beiden Astrophysiker. „Welche Parameter legten Sie zugrunde?“

„Der Computer sollte innerhalb der nächsten fünf Stunden suchen.“

„Fünf Stunden? Dann haben wir bereits das erste Problem. Die Schiffsführung erwartet, dass Ihr Computermodell innerhalb eines Zeitfensters von nur einer einzigen Stunde eine Route findet. Nur so lassen sich die Ausschiffung und der Materialtransport zwischen Raumschiff und Planetenoberfläche halbwegs flexibel bewerkstelligen. Wie viele Routen fand der Computer innerhalb der vorgegebenen fünf Stunden insgesamt?“

„Äh, nur eine.“

„Hm, das ist mager. Zeigen Sie mir die Route bitte.“

Dr. Wari Ucharima Quihue rief gehorsam die Aufzeichnung auf und ließ das Geschehen noch einmal ablaufen.

Nathan Dreezen furchte das Gesicht. „Es funktioniert also tatsächlich. Das ist gut. Ich gratuliere Ihnen beiden. Was sagen die Daten zur Flugzeit und Sicherheit?“

„Die Flugzeit würde elf Stunden und vierzig Minuten betragen. Für eine Starmaster-Raumfähre wird die Wahrscheinlichkeit eines Treffers durch einen Materiebrocken mit einundvierzig Prozent angegeben. Für die wesentlich kleineren Begleitjäger wäre es dann natürlich entsprechend weniger.“

Das Gesicht des Professors umwölkte sich noch weiter. „Das sind leider keine akzeptablen Werte. Der Schiffsführung brauche ich damit nicht zu kommen.“ Als wissenschaftler Leiter musste Dreezen an den täglichen Sitzungen des Führungsstabes der Independence teilnehmen. Großartig zu melden hatte er dort nichts. Dafür durfte er sich immer wieder Schelte dafür einfangen, dass seine Abteilung mit der Suche nach einem geeigneten Weg hinunter zum Planeten nur unbefriedigend langsam voranzukam.

Admiral Fernando Gonzalez und sein Stab wollten Ergebnisse sehen, und das schnell. Der Schiffskapitän hatte Dreezen inzwischen mehr als einmal erklärt, dass nicht nur die Schiffsführung langsam die Geduld verliere, sondern auch die Menschen an Bord der Independence. „Professor, Ihnen muss doch klar sein, dass ich nicht alle fünf Tage lang irgendein Spektakel, wie zuletzt die Fünfkampf-Sportmeisterschaften, veranstalten kann, um die Leute bei Laune zu halten. Die Passagiere und die Besatzung brauchen das Gefühl, dass es mit der Mission zügig vorangeht. Liefern Sie mir baldigst etwas. Wenigstens so viel, dass wir endlich die Hornet-Raumdrohnen über der nördlichen Tarnas-Hemisphäre als Navigations- und Beobachtungsatelliten aussetzen können.“

An diese Worte musste Nathan Dreezen jetzt denken, und ein leicht gequälter Seufzer entrang sich ihm.

„Wie sähen denn akzeptable Werte für den Admiral aus?“, wollte Dr. Nguyen Duc Thang stirnrunzelnd wissen. „Es wäre für uns wahrlich leichter, wenn wir wüssten, worauf wir überhaupt hinarbeiten müssen.“

„Nun, genau dies habe ich den Schiffskapitän bei der gestrigen Besprechung auch gefragt. Er meinte daraufhin, wir Wissenschaftler sollten vielleicht mal darüber nachdenken, ab welchen Werten wir persönlich bereit wären, in eine Raumfähre zu steigen und hinunter zu Tarnas B300433-A zu fliegen. Dann wurde er aber doch noch konkret und erklärte, dass wir die Flugzeit unter acht Stunden und die Wahrscheinlichkeit eines Treffers durch Asteroiden oder Meteoriden für eine Starmaster-Raumfähre unter zwanzig Prozent drücken müssten.“

„Das ist aber heftig“, murmelte die Peruanerin betroffen.

Dreezen strich sich mit den Fingern fahrig über seine Hose und zeigte dabei ein maliziöses Lächeln. „Das kann man natürlich so sehen. Aber mal ganz ehrlich, Dr. Quihue, würden Sie unter anderen Umständen in eine der Raumfähren steigen wollen?“

Die Astrophysikerin gab keine Antwort.

Der wissenschaftliche Leiter hob daraufhin leicht die Schultern. „Nun, ich persönlich hätte jedenfalls ein dickes Problem damit. Denn schließlich bin ich hier, um auf Tarnas B300433-A aktive Forschungsarbeit zu betreiben. Das kann ich aber nicht tun, wenn ich bereits auf dem Weg hinab zum Planeten als Held sterbe.“

Kapitel 1 – Die erste Prüfung

15. Mai 2173

Solarian Union Ship „Independence“

Wohnsektion / Rumpfebene 40 / Backbordseitengalerie

Die dreihundertfünfzehn Meter langen, sehr großzügig verglasten Seitengalerien ragten gleich riesigen Wülsten aus den stählernen Rumpfflanken der Wohnsektion des Raumschiffes heraus. Wenn man auf den Exoplaneten und dessen orbitale Asteroidengürtel schauen wollte, boten sie einen hervorragenden Aussichtspunkt. Denn hier störte nichts den Blick nach draußen – keine Antennen, keine Luken und erst recht keine Aufbauten.

Obwohl sich auf den sechs Aussichtsdecks der Galerien manchmal viele hundert Menschen drängten, herrschte momentan weitgehende Leere. Man hatte sich inzwischen am Planetenpanorama sattgesehen.

Die langen Galeriedecks hinter der durchgehenden Wand aus doppeltem Panzerglas verfügten in gewissen Abständen über separate Sitzgruppen, die sich hinter kleinen Sichtschutzwänden aus Pflanzengrün versteckten.

Eine dieser Sitzgelegenheiten wurde von einer Frau und einem Mann belegt, die momentan ebenfalls keinen Blick an die Welt außerhalb des Raumschiffes verschwendeten. Ihr Interesse galt ausschließlich einer dreidimensionalen Holoprojektion, die über der Sitzgruppe schwebte.

Das virtuelle Gebilde bestand aus mehreren, verwinkelten Modulblöcken und wirkte reichlich kompliziert. Nur jemand mit den nötigen Fachkenntnissen vermochte zu erraten, dass es sich um die optische Zieleinrichtung eines Zeus-IFV-Planetar-Schützenpanzerwagens mit Zielfernrohr, Laserentfernungsmesser, Infrarot- und Wärmebildgeräten sowie einem 360-Grad-Rundblickperiskop handelte.

„Na schön. Lass uns einfach noch mal die Teile der Übertragungsoptik durchgehen“, erklärte die Frau namens Marjam Alieva gerade eben mit etwas piepsiger Stimme. In Uniform hätte man sie als einen weiblichen Sergeanten der Solaren Bodenstreitkräfte – der Solarian Union Ground Forces – identifiziert. Momentan jedoch trug sie lediglich zivile Bekleidung in Form einer blauen Latzhose und eines weißen T-Shirts.

Der Mann, ein Deutscher namens Marc Ewert, verzog auf den Vorschlag hin leicht das Gesicht. Was sie hier gerade taten, machte nicht wirklich Spaß. Und ihm fielen auf Anhieb ein halbes Dutzend Dinge ein, die er jetzt – in seiner Freizeit – sehr viel lieber getan hätte.

Natürlich half es nichts. In fünf Tagen stand für sie beide die erste Prüfung an. Wenn sie diese bestanden, besaßen sie das nötige Wissen und auch die offizielle Qualifikation, um als Richtschützin beziehungsweise Richtschütze an der Steuerstation der Waffenanlage ihres Planetar-Kampfwagens Platz nehmen zu dürfen.

Eigentlich war dieser Job ja allein Sergeant Marjam Alieva zugedacht.

Ihr deutscher Kollege mit dem Dienstgrad eines Corporals würde dagegen die Funktion des Fahrers übernehmen. Doch sie sollten sich in ihren Aufgaben gegenseitig ersetzen können.

Denn der Himmelskörper, zu dem sie sehr bald hinabflogen, stellte allem Anschein nach einen sehr gefährlichen Ort dar. Obwohl er seine Oberfläche unter einer dicken Wolkendecke verbarg, wusste man schon einige Dinge von ihm. Wie zum Beispiel, dass er gewaltige Vulkan- und Lavafelder besaß und abseits seiner Polkappen elf riesige Kältegebiete mit Eispanzern von bis zu einem Kilometer Dicke aufwies. Auch von gigantischen Oberflächeneinbrüchen von bis zu einem halben Kilometer Tiefe wurde geredet. All diese Dinge ließen nicht unbedingt darauf schließen, dass man nach der Landung einen paradiesisch sanften „Garten Eden“ betreten würde. So mancher befürchtete gar, die Welt könnte der biblischen Hölle sehr viel näher sein, als dem Paradies.

Davon abgesehen gab es möglicherweise noch eine weitere Bedrohung in Form jenes großen Industriekartells namens Draconis. Niemand wusste, ob dieses Kartell nicht vielleicht längst auf dem Exoplaneten präsent war.

Nach der Landung auf Tarnas B300433-A konnte es daher sehr rasch zu unvorhergesehenen Situationen kommen, die bis hin zu Ausfällen an Menschen und Technik führten. Auf solche Szenarien musste man vorbereitet sein.

Tragischerweise waren das Sergeant Marjam Alieva und Corporal Marc Ewert nicht. Noch jedenfalls nicht. Denn ihnen fehlten schlicht noch das Wissen und die Fähigkeiten. Was in der Hauptsache daran lag, dass sie beide noch nicht sehr lange die Uniform der Solarian Union Ground Forces trugen und dem Grenadierbataillon an Bord der Independence auch gerade einmal drei Wochen angehörten. Die Bataillonsführung hatte sie in eine zwölfköpfige Spezialgruppe gesteckt, die zur besonderen Verwendung – For Special Use – diente. Tatsächlich sollten die vier Frauen und acht Männer dieser Gruppe als Reservekader und „Mädchen für alles“ herhalten.

Irgendwie erwartete man dabei von ihnen, dass sie sich als Gruppe und Einzelpersonen bis zur Landung auf Tarnas B300433-A so weit fortentwickelt hatten, dass sie während des Einsatzes auf dem fremden Himmelskörper keine Belastung darstellten, sondern vielmehr eine Hilfe.

Okay, Marjam Alieva und Marc Ewert arbeiteten hart daran.

Wobei die Tschechin mit den blauen Augen, der leichten Stupsnase und den blonden, schulterlangen Haaren dies mit sehr viel mehr Elan tat, als der Deutsche. Vielleicht lag es daran, dass ihr Leben bisher sehr viel geradliniger verlaufen war, als das ihres Kollegen.

Tatsächlich hatte sich seit dem Aufbruch in Richtung Siriussystem sehr viel ereignet.

Das Schwesterschiff der Independence, Solarian Union Ship Antares ISV-12, war mitsamt seiner zwölftausend Menschen an Bord in einer thermonuklearen Explosion vergangen. Gleichzeitig war das Draconis-Kartell in Erscheinung getreten. Es hatte Kämpfe gegeben und neue Opfer.

Marc Ewert war von all diesen Dingen auf die eine oder andere Weise Zeuge geworden oder gar Beteiligter gewesen. Er hatte mit Mühe und Not das Ende der Antares überlebt, war dann aber vom Lieutenant zum Soldaten degradiert worden. Außerdem hatte man ihm die Fluglizenz als Raumjägerpilot entzogen und ihn letzten Endes auch noch als Space-Infanterist in einen Krieg gegen das Draconis-Kartell geschickt.

Doch all diesen Geschehnissen zum Trotz – er lebte immer noch und hatte neue Entscheidungen für sich getroffen. Entscheidungen, wegen denen er jetzt als Corporal dem verstärkten Grenadier-Kampfbataillon der Solarian Union Ground Forces angehörte. Und wegen denen er zusammen mit eintausendsechshundert anderen Frauen und Männern dieser Einheit hinunter auf Tarnas B300433-A gehen und für zwei Jahre in einer Basis auf dessen Oberfläche ausharren würde.

Der Deutsche beobachtete jetzt seine Kameradin, die das auf dem Tisch liegende Notepad antippte.

Die in der Luft schwebenden virtuellen Systeme der Zieloptik zerfielen daraufhin schlagartig in ihre Einzelteile, als habe jemand in ihrem Inneren einen kleinen Sprengsatz gezündet.

Die Tschechin griff in diese Wolke aus in der Luft treibenden Gehäusen, Linsen, Spiegeln, Nanoplatinen, Steckern und Kabeln hinein. Mit spitzem Zeigefinger schob sie die ersten Bauteile wieder zueinander hin, sodass diese sich auf geheimnisvolle Weise miteinander verbanden. Die vierundzwanzigjährige Frau mit den kirschroten, geschwungenen Lippen und den etwas zu großen Zähnen besaß großen Ehrgeiz. So viel, dass sie in ihrem Bemühen, immer sehr gut zu sein, manchmal etwas verkrampft wirkte. Als studierte Betriebswirtschaftlerin hatte sie während des beinahe zwei Jahre währenden, interstellaren Raumfluges im Tanklager des Raumtransportgeschwaders der Independence gearbeitet. Geistig besonders fordernd war die Arbeit wohl nicht gewesen. Marjam Alieva hatte insofern neue Herausforderungen gesucht. Offenbar glaubte sie, diese nun in der FSU-Gruppe des Grenadierbataillons sowie auf dem Boden von Tarnas B300433-A zu finden.

Marc Ewert wollte zwar auch alles richtig machen, doch den überbordenden Ehrgeiz der Tschechin teilte er dabei nicht. Vielleicht lag es daran, dass er die jetzige Situation mit einem kompletten Neuanfang nicht zum ersten Mal erlebte. Da war seine Arbeit als ziviler Raumfährenpilot gewesen. Er hatte sie aufgegeben und stattdessen einen Neustart aus Jägerpilot in den Solaren Weltraumstreitkräften gewagt, um am interstellaren Flug ins Siriussystem teilnehmen zu können.

Nach dem Verlust seines Dienstgrades und seiner Fluglizenz hatte man ihn zu einem Neuanfang als Lagerist in einem der Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazine des Raumschiffes verdammt. Und der war ja mal gleich richtig schief gegangen – die Zeit des Deutschen dort hatte sich auf lediglich einen Tag reduziert.

Im nächsten Schritt war er als Marine beim Space Infantry Corps gelandet, einer Elitekampfeinheit, die mit ihm zunächst nicht sehr viel hatte anfangen können. Dann allerdings war Marc Ewert zusammen mit beinahe eintausend anderen Space-Infanteristen in einen Kampfeinsatz gegen das Draconis-Kartell gezogen und hatte diesen auf wundersame Weise irgendwie überlebt. Er hätte nun möglicherweise Karriere beim Space Infantry Corps machen können, sich stattdessen aber dafür entschieden, dies alles gleich noch einmal komplett über den Haufen zu werfen. Im Ergebnis all dieser Entwicklungen, die mehrheitlich nicht er selbst für sich entschieden hatte, sondern das Schicksal für ihn, befand er sich nun hier in der Seitengalerie des Raumschiffes und arbeitete sich zusammen mit einer Frau, die er kaum kannte, durch die Innereien der Zielsysteme eines Zeus-IFV-Kampfwagens.

Die Tschechin hielt in ihrem Tun inne. „Heh, du, mach mal weiter. Vom reinen Zuschauen allein wirst du nicht schlauer.“

Der Deutsche schürzte die Lippen, gehorchte aber. Er betrachtete sich die vor seiner Nase schwebenden virtuellen Systemgruppen und setzte dann ihren „Zusammenbau“ fort.

Nach einer Weile übernahm diesen Part allerdings wieder Marjam Alieva, der es ohnehin ständig in den Fingern juckte.

Der Corporal nutzte die erneute Pause, um sich wieder seinen eigenen Gedanken hinzugeben. Er sah durch die grüne Trennwand aus niedrigen Topfpalmen hindurch in Richtung der panzerverglasten Außenwand der Seitengalerie.

Die fünf Asteroidengürtel befanden sich gerade in einer Konstellation, die einen weitgehend ungestörten Blick auf Tarnas B300433-A gestattete.

Zu sehen war von dessen Oberfläche nichts. Es existierten da unten zwar sich kilometerhoch auftürmende Gebirge, tiefe Krater, weite Ebenen und schroffe Schluchtensysteme, doch dies alles wurde von einer dichten, grauen Wolkendecke verdeckt.

Im Bereich des Äquatorialgürtels wirkten die Wolken sehr düster, ja beinahe schwarz. In vielen Bereichen auf der Nord- und Südhalbkugel erschienen sie dagegen sehr viel heller, besaßen stellenweise sogar ein warmes Weiß.

In der Nähe des Südpols hatten sich die Wolken zu einer gewaltigen Wirbelstruktur verformt. Dort schien gerade ein Orkan oder Hurrikan mit unbekannter Stärke zu toben.

Marc Ewert richtete seinen Blick rasch auf die nördliche Hemisphäre des Planeten.

Die verbarg sich zwar ebenfalls unter einem grauen Schlierenteppich, schien momentan aber wenigstens nicht von einem apokalyptischen Unwetter heimgesucht zu werden.

Der Deutsche fand diesen Umstand durchaus beruhigend. Denn irgendwo dort unter den grauweißen Schlieren lag – eingerahmt von gewaltigen Gebirgsmassiven aus Felsgestein und Silikaten – eine weite Ebene. Man hatte ihr in Anlehnung an ihre Lage den Namen Nordatlantische Ebene gegeben und widmete ihr momentan sehr viel Aufmerksamkeit. Denn die Menschen der Independence wollten in nicht allzu ferner Zeit in dieser Ebene landen, um genau dort zum ersten Mal ihren Fuß auf den Boden von Tarnas B300433-A zu setzen. Und möglicherweise würde diese Ebene zukünftig auch als Standort für die geplante Bodenbasis herhalten.

„Sag mal, schaust du überhaupt noch zu?“ Die vorwurfsvolle Stimme Sergeant Alievas riss den Corporal aus seiner Gedankenwelt. „Ich weiß zwar nicht genau, wovon du gerade träumst, aber wenn du die Richtschützenprüfung nicht vergeigen willst, sollte dein Traum besser etwas mit dieser Zieloptik hier zu tun haben.“

16. Mai 2173

Solarian Union Ship „Independence“

Wohnsektion / Rumpfebene 60 / Hauptkorridor

Der zentrale Hauptkorridor von Rumpfebene 60 durchzog über unglaubliche fünfeinhalb Kilometer hinweg in Längsrichtung beinahe das gesamte Raumschiff.

Tatsächlich nahm man diese Länge jedoch nicht wahr, da der Korridor in gewissen Abständen Verwinkelungen besaß und außerdem von Sicherheitstoren unterbrochen wurde. Imposant war er trotzdem, denn mit seinen zehn Metern Breite glich er eher einer kleinen Straße. Fahrzeuge hatten hier jedoch nichts zu suchen. Die breite Röhre war allein für Fußgänger bestimmt. Damit Letztere über größere Distanzen hinweg in akzeptablen Zeiten vorankamen, gab es neben dem breiten Gehweg zwei ebenso breite Laufbänder – bewegliche Bürgersteige in gegenläufigen Richtungen.

Obwohl Marc Ewert vom Stützpunkt des Grenadierbataillons in Frachtraum Golf-16 bis zu seiner Unterkunft in der Wohnsektion des Schiffes gut zweieinhalb Kilometer Weg und dreiundvierzig Rumpfebenen bewältigen musste, ging er zu Fuß. Er hatte zwar Dienstschluss, doch in seinem Wohnquartier erwartete ihn kein entspannter Abend. Er würde vielmehr weiter für die bevorstehende Richtschützenprüfung pauken müssen. Und das hasste er jetzt schon.

Auf dem Hauptkorridor herrschte einiger Betrieb. In einigen Abteilungen und Bereichen des riesigen Raumschiffes hatte gerade ein Schichtwechsel stattgefunden, sodass nun viele Leute unterwegs waren. Die meisten benutzten allerdings die Laufbänder und nicht den breiten Gehweg, wie Marc Ewert.

Während Letzterer durch den Hauptkorridor marschierte, glitt sein Blick immer wieder hinauf zu den Telesäulen, die von der viereinhalb Meter hohen Decke herabhingen. Die Werbeclips interessierten ihn nicht. Stattdessen verfolgte er die Kurzmeldungen des Bordsenders Independence News, die über die neuesten Erkenntnisse bezüglich der Fernerkundung von Tarnas B300433-A und seiner Asteroidengürtel berichteten.

Der Deutsche stellte fest, dass es nicht wirklich Neuigkeiten gab, sondern der Nachrichtensprecher lediglich wiederholte, was er den Zuschauern und Zuhörern schon am Vormittag berichtet hatte. Die Aufmerksamkeit des Corporals wandte sich daraufhin von den Telesäulen weg einem seltsamen Schauspiel zu, das sich direkt vor ihm im Hauptkorridor abspielte.

Auf dem breiten Gehweg voraus näherte sich eine etwa dreißigköpfige Gruppe von Leuten, die allesamt Raumanzüge trugen. Das war hier, tief im Herzen des Raumschiffrumpfes, schon etwas ungewöhnlich. Die kräftige Orangefärbung der Anzüge verriet, dass es sich bei ihren Trägern um Zivilisten handelte. Das machte die Sache dann gleich noch sehr viel ungewöhnlicher.

Lediglich der Führer an der Spitze dieser Gruppe trug einen Raumanzug in den himmelblauen Farben der Solarian Union Space Forces. Die Abzeichen wiesen ihn als Angehörigen der Schiffsbesatzung mit dem Fähnrichdienstgrad eines Warrant Officer Class 2 aus.

Immer mehr Fußgänger auf dem Gehweg blieben stehen, um den seltsamen Prozessionszug neugierig zu begaffen.

Auch Marc Ewert tat dies. Er hatte längst begriffen, dass er hier gerade Zeuge eines Crashkurses wurde, wie sie vom Schiffskapitän bereits vor einigen Tagen angekündigt worden waren.

Mit diesen Schulungen – die Teilnahme an diesen war Pflicht – sollten die zivilen Passagiere auf ihre Ausschiffung und den sich anschließenden Aufenthalt auf dem Exoplaneten vorbereitet werden. In diesem Kurs hier ging es offenbar um ganz grundlegende Dinge, wie etwa die richtige Handhabung des Raumanzuges.

Im Gegensatz zur Schiffsbesatzung und den meisten Militärangehörigen kamen die Zivilisten nur sehr selten in die Verlegenheit, in einen Raumanzug steigen zu müssen. Tatsächlich hatten sie das zuletzt vermutlich während einer Alarmübung getan, die inzwischen schon wieder sehr lange zurücklag. Insofern fehlte ihnen nun im Umgang mit dem Hightech-Bodysuit jegliche Erfahrung.

Der Warrant Officer Class 2 an der Spitze der Gruppe verhielt jetzt im Schritt und wandte sich den ihm hinterhertrottenden Leuten zu, die daraufhin ebenfalls zum Halten kamen. „So, Herrschaften, jetzt alle mal schön zuhören. Nun, da Sie es geschafft haben, sich in Ihre Anzüge zu zwängen, und Sie sich in diesen auch ein wenig warmgelaufen haben, wagen wir den nächsten Schritt. Schauen Sie bitte, ob Ihre Armbandcomputer sich mit der Künstlichen Intelligenz Ihrer Anzüge verbunden haben. Bei wem dies nicht der Fall ist, der hebt bitte mal seinen Arm.“

Geschäftiges Tun setzte ein. Die Frauen und Männer bemühten sich nun darum, mit einem Blick auf ihre Handgelenkcomputer herauszufinden, ob Letztere nun tatsächlich auf die interne Nanosteuereinheit ihrer Anzüges zugriffen.

Ein sehr korpulenter Mann, bei dem man sich unwillkürlich fragen musste, wie er es überhaupt in seinen Raumanzug hineingeschafft hatte, hob zögerlich den Arm.

„Bei Ihnen, Sir, hat das nicht funktioniert?“, erkundigte sich der Warrant Officer Class 2 mit bemüht geduldiger Stimme.

Der Gefragte zog hilflos die Schultern etwas nach oben.

„Ist einer der Umstehenden vielleicht in der Lage, mal nachzuschauen, wo das Problem liegt?“, fragte der Fähnrich, der sich offenbar selbst nicht zu dem betroffenen Mann hinbemühen wollte. „Eines müssen Sie sich merken. Wenn Sie nach Ihrer Landung auf dem Planeten aus der Raumfähre steigen, tragen Sie nicht nur für sich allein die Verantwortung, sondern auch für alle anderen, die mit Ihnen den Flug absolviert haben. Denn das Problem eines Einzelnen kann sehr schnell zum Problem für die gesamte Gruppe werden. Und ich glaube nicht, dass Sie so etwas wollen. Also seien Sie so nett, und helfen Sie sich gegenseitig. Wenn Sie bemerken, dass jemand nicht klarkommt, dann unterstützen Sie ihn, um nicht Situationen heraufzubeschwören, die Sie dann nicht mehr beherrschen können. Denn glauben Sie mir, dort unten werden Sie schon genug damit zu tun haben, sich auf die ganz wesentlichen Dinge zu konzentrieren, die Sie überleben lassen.“

Die Worte des Warrant Officers bewirkten, dass sich tatsächlich zwei Umstehende dem korpulenten Probleminhaber zuwandten.

„Es ist alles okay, Sir“, meldete gleich darauf eine Frau.

„Wie schön. Dann sind wir jetzt mal so kühn und wagen uns noch ein Stück weiter vor. Schließen Sie Ihre Helmvisiere und stellen Sie hermetische Dichtheit an Ihren Anzügen her. Vergessen Sie aber nicht, zuvor die Anzugkommunikation auf die Außenlautsprecher und -mikrofone umzuschalten. Es wäre nämlich ziemlich dumm, wenn sie plötzlich nichts mehr sagen und hören könnten. Also tun Sie das jetzt.“

Wieder setzte nervöses Gefummel ein.

So nach und nach schlossen sich dann tatsächlich die Helmvisiere. Aber nicht bei allen.

„Die Dame dahinten – ja, Sie meine ich – was ist los?“, wollte der Warrant Officer Class 2 wissen.

„Ich habe Platzangst“, antwortete die Gefragte kleinlaut. „Wenn ich den Helm schließe, bekomme ich sofort Panik.“

„Aber Sie tragen doch Ihren Raumanzug nicht das erste Mal. Schließlich gab es während des Fluges hierher schon einige Alarmübungen, wo Sie Ihn anlegen mussten.“

„Ja, das stimmt. Allerdings musste ich bei diesen Übungen nie mein Helmvisier schließen.“

„Aber Miss, Sie haben einen fast zweijährigen Interstellarflug in dieses Sternensystem zu einem extrasolaren Planeten unternommen. Kam es Ihnen da nie in den Sinn, dass Sie irgendwann einmal in einem geschlossenen Raumanzug würden umherlaufen müssen?“

„Wieso? Nein, natürlich nicht. Jeder hier erzählt doch, dass der Tarnas eine zweite Erde ist. Wozu brauche ich da den doofen Helm?“

Diese Antwort verschlug dem Schulungsleiter einen Moment lang die Sprache. Dann erklärte er, um Besonnenheit bemüht: „Aber Sie können doch nicht davon ausgehen, dass…“

„Also, jetzt hören Sie mir mal gut zu, junger Mann. Ich werde diesen Helm hier garantiert nicht schließen. Nicht bei Ihrer dämlichen Übung hier, und auch nicht irgendwann später einmal.“

Der Warrant Officer Class 2 überlegte einen Moment. Dann meinte er achselzuckend: „Na schön, Miss. Es ist am Ende allein Ihre Sache, wie Sie das später auf dem Planeten händeln wollen. Machen Sie jetzt einfach so weit mit, wie Sie können. Ich rate Ihnen aber dringend, Ihr Problem bis zum Zeitpunkt der Ausschiffung zu einer Klärung zu bringen. Es gibt da schon gewisse Möglichkeiten. Vielleicht sollten Sie sich vertrauensvoll an einen Psychotherapeuten wenden. Der kann Ihnen vielleicht helfen.“

„Ich bin nicht verrückt, junger Mann.“

„Selbstverständlich nicht, Miss. Aber darum geht es bei einem Psychotherapeuten doch auch gar nicht, sondern...“ Dem Mann blieben unter dem bitterbösen Blick der Frau die Worte im Halse stecken. „Na schön, dann lassen wir das eben. Vielleicht reicht es ja schon, wenn Sie sich einfach ein sehr starkes Beruhigungsmittel verschreiben lassen“, murmelte er.

„Also, das kommt schon gar nicht in Frage.“

Der Warrant Officer Class 2 seufzte. „Also gut, Miss. Ich weiß ehrlich nicht, wer Ihnen den Floh von einer zweiten Erde ins Ohr gesetzt hat. Aber die derzeitige Informationslage spricht nicht unbedingt dafür. Ihnen bleiben damit genau zwei Optionen. Entweder, Sie freunden sich doch noch mit dem Gedanken an, Ihren Helm zu schließen und sich Ihrem Anzugsystemen anzuvertrauen, oder Sie lernen irgendwie, nach der Landung auf Tarnas B300433-A über mehrere Stunden hinweg die Luft anzuhalten.“

18. Mai 2173

Solarian Union Ship „Independence“

Frachtsektion / Frachtraum „Golf-17“

Marc saß auf dem Rand des mächtigen Zeus-IFV-Waffenturms und lauschte durch die geöffnete Zugangsluke ins Innere.

Dumpfe Geräusche drangen zu ihm herauf. Verursacht wurden sie von Sergeant Marjam Alieva, die in der düsteren Enge des gepanzerten Hohlraums zwischen den sperrigen Baugruppen umherkroch, um an die Feuchtigkeitsfilter einiger optischer Sensoren heranzukommen.

Die Tschechin und der Deutsche arbeiteten momentan ganz allein an dem großen vierachsigen Planetar-Fahrzeug.

Die restliche Besatzung widmete sich anderen Aufgaben.

Lieutenant Annie Marchand war als Kommandantin unterwegs, um irgendwelche Dinge heranzuorganisieren.

Die fünf Privates und die vier Rekruten wiederum setzten heute ausnahmsweise auch während der zwei angesetzten Technikwartungsstunden ihre jeweiligen Ausbildungen fort, da diese sich angeblich in ganz entscheidenden Phasen befanden.

Marc war es Recht. Er fand es schön, wenn nicht zu viel Trubel um ihn herum herrschte, und er sich somit ganz auf seine Arbeit an dem 187,5-Tonnen-Kampfwagen konzentrieren konnte. Zudem war Sergeant Alieva eine sehr angenehme Arbeitspartnerin. Der Corporal horchte wieder und vernahm kratzende sowie schleifende Töne, denen ein verhaltener Fluch folgte.

Die Tschechin hatte sich offenbar den Kopf gestoßen. Wieder einmal. Irgendwie stellte das eine ihrer Spezialitäten dar.

Allerdings betrug die Inneraumhöhe des schweren Waffenturms auch nur gerade einmal einen Meter, was ihn nicht gerade geräumig machte.

„Du musst nur Bescheid sagen, wenn ich dich da drin mal ablösen soll“, brummte Marc.

„Nein, nein. Alles gut, ich hab’s gleich“, kam es zurück. Sekunden später stieß die Sergeantin allerdings einen neuerlichen Fluch aus, da ihr Kopf schon wieder Bekanntschaft mit der Kante eines Metallgehäuses gemacht hatte.

Na dann eben nicht, dachte der Corporal und richtete sich auf, um einen Blick in die Runde zu werfen. Da sich das Waffenturmdach des mächtigen Planetar-Fahrzeugs beinahe sechseinhalb Meter höher befand, als der Frachtraumboden, hatte er eine recht gute Übersicht.

Der Fuhrpark des Grenadierbataillons kam auf stolze Zahlen. Neben zweihundertzwanzig mächtigen Planetar-Bodenfahrzeugen und vierundsiebzig großen Zuganhängern umfasste er außerdem einhundertfünf konventionelle Deimos-Buggy-Geländefahrzeuge. Hinzu kamen dann noch acht Multikopter-Flugmaschinen verschiedener Größe sowie sechzehn Senkrechstarterdrohnen.

All diese Technik benötigte den Platz gleich zweier Laderäume in der Frachtsektion des Raumschiffes. Und es handelte sich um wirklich sehr große Laderäume mit Seitenlängen von immerhin vierhundert mal zweihundertsechzig Metern. In jede einzelne dieser gewaltigen Hallen hätte man drei konventionelle Flugzeugträger nebeneinander hineinstellen können.

Doch in den Laderäumen Golf-17 und Golf-18 standen keine Flugzeugträger und auch keine sonstigen Wasserfahrzeuge. Denn man würde auf einem extrasolaren Planeten landen, von dem man selbst jetzt noch nicht so genau wusste, ob es überhaupt Wasser auf seiner Oberfläche gab, geschweige denn größere Wasserflächen.

Marc blickte auf die dreizehn langen Reihen mit den abgestellten Bodenfahrzeugen, an denen fleißig gearbeitet wurde.

Nur ein Drittel davon waren tatsächlich reine Kampfwagen. Die große Masse bildeten vielmehr Transport- und Nutzfahrzeuge. Viele dieser Planetar-Vehikel besaßen verschiedene Spezialaufbauten, die absolut nichts mit Kämpfen und Schießen zu tun hatten, sondern eher fürs Bauen, Transportieren und Reparieren gedacht waren.

Denn die zuletzt genannten drei Dinge würden die Hauptaufgaben des verstärkten Grenadierbataillons der Solarian Union Ground Forces auf dem Boden von Tarnas B300433-A darstellen.

Zumindest sahen das die Planungen so vor. Sie wackelten seit dem Auftauchen des Draconis-Kartells allerdings etwas. Denn niemand konnte sich seit den zurückliegenden bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem feindlich und dabei sehr aggressiv auftretenden Industriekonsortium noch sicher sein, dass es nach der Landung auf dem Planeten tatsächlich vorrangig ums Aufbauen gehen würde, und nicht etwa doch ums Schießen.

Aber was auch immer das Expeditionskorps auf der Oberfläche des Tarnas erwartete, die FSU-Gruppe durfte sich mit ihrem Zeus-IFV-Schützenpanzerwagen als durchaus gut gerüstet betrachten. Denn das mehr als dreiundzwanzig Meter lange Planetar-Fahrzeug war nicht nur schwer gepanzert, sondern mit seinem 130-Kilowatt-Hochleistungs-Faserlasergeschütz sowie einem zusätzlichen 15-Kilowatt-Impulslaser auch stark bewaffnet.

„Nimm mir das mal bitte ab, Marc.“ Die Stimme von Marjam Alieva schien aus einem tiefen Brunnenschacht zu kommen. Gleich darauf tauchten in der Lukenöffnung ihre Hände auf, die eine kleine Metallkiste hielten.

Der Deutsche ergriff den Behälter und stellte ihn auf das Turmdach.

Die Tschechin schob ihren Kopf durch die Lukenöffnung und pustete erleichtert Luft durch ihre vollen, kirschroten Lippen. Dann wies sie auf die Entfeuchtungsfilter, die entfernt an Hosenknöpfe erinnerten und dazu dienten, die optischen Systeme vor Feuchtigkeitsbeschlag zu bewahren. „Sieh dir die Dinger mal an.“

Marc folgte der Aufforderung und stellte fest, dass einige der Filterelemente ihre Farbe von einem beruhigenden Tiefgrün in ein wesentlich helleres Grüngelb verändert hatten. „Die hier müssen wir wechseln. Oder besser noch, wir tauschen sie am besten alle komplett aus.“

Marjam Alieva blies die Backen auf. Ihr Schmollmund ließ sich scheinbar nie völlig schließen, sodass man fast immer ihre großen Zähne sehen konnte. Hässlich war sie deshalb allerdings nicht. „Eigentlich sollen die Entfeuchter ewig halten“, meinte sie.

„Den Spruch hast du vom Hersteller, hm?“

„Nun ja, die Fahrzeuge stehen seit dreieinhalb Jahren schön warm und trocken hier in diesem Frachtraum. Die haben bisher weder Wasser, noch Schlamm oder Staub gesehen. Die Filter dürften also noch lange nicht so aussehen, wie einige von ihnen eben jetzt schon aussehen. Scheint mir Ausschuss schon ab Werksproduktion zu sein.“

„Ja, ist wohl so. Aber das spielt keine Rolle. Wir ersetzen sie einfach alle gegen nagelneue Entfeuchter. Ich spreche außerdem mit der Kommandantin. Vielleicht kann sie gleich noch einmal einen ganzen Satz von den Dingern ordern, die wir uns als Reserve zurücklegen.“

„Da wird sie aber nicht sehr begeistert sein.“

„Ach was, ich glaube, sie schlägt sich sehr gern mit den Knausern vom Ersatzteillager herum.“ Marc grinste ironisch.

„Sag das noch mal, wenn sie in Hörweite ist. Da kommt sie nämlich gerade“, erwiderte Marjam Alieva und nickte mit dem Kopf in die Halle hinein.

Marc entdeckte Lieutenant Annie Marchand, die ihnen zuwinkte. „Ich glaube, sie will, dass wir zu ihr herunterkommen.“

Sie kletterten gehorsam vom Waffenturm und stiegen dann über eine angestellte Leiter ganz vom Fahrzeug herab.

Die FSU-Kommandantin war vierundzwanzig Jahre alt und eine waschechte Französin. Sie besaß leicht hervorspringende Wangenknochen, dunkelblondes Haar und tiefblaue Augen. Als sie sich jetzt dem großen Zeus IFV näherte, war sie nicht allein.

Gleich einem Hündchen seinem Herrchen folgte ihr ein Samson-Arbeitsroboter, der einen Transportwagen mit Metallkisten hinter sich herzog. Die zwei Meter große, halbwegs intelligente Maschine besaß in groben Zügen eine humanoide Form, die allerdings sehr kantig wirkte. Was auch nicht unbedingt dem Vergleich mit einem Menschen standhielt, war ihr seltsam geformter Metallschädel, der eher dem Kopf einer Ente glich, der man den Schnabel entfernt hatte. Auch die avoiden Beine mit den nach hinten einknickenden Kniegelenken wirkten nicht besonders menschlich.

Marc hielt Marchand den Kasten mit den Entfeuchtungselementen unter die Nase. „Die sollten wir allesamt wechseln und gleich noch eine vollständige Fuhre als Reserve bestellen.“

Die Französin verzog das Gesicht. Der Wunsch ihres Fahrers bedeutete nichts anderes, als dass sie schon wieder bei den Technikern vorstellig werden musste, um sich bei diesen etwas zu erbetteln. Sie hatte es inzwischen hassen gelernt, ständig als Bittstellerin aufzutreten.

Für die Leute des Instandsetzungszuges stellte sie als Kommandantin des Kampfwagens mit der Rufkennung Queen-Bravo-4 bereits einen Begriff dar. Und das nicht im positiven Sinne. „Na schön, ich kümmere mich darum“, erklärte sie endlich, wohl wissend, dass sie ohnehin keine Wahl besaß. Sie drehte sich zu dem Arbeitsroboter um und gab ihm einen Befehl.

Der Samson lud daraufhin die Transportkisten ab. Er bugsierte die schweren Behältnisse auf eine Art und Weise, die beim Betrachter den Anschein erweckte, die Metallbehälter besäßen das Gewicht von leeren Pappkartons.

„Gibt es außer den Entfeuchtern noch andere Probleme?“, wollte die Kommandantin wissen.

Marc und die Bordschützin schüttelten die Köpfe.

„Sehr gut.“ Annie Marchands Miene verwandelte sich nun doch noch in Zufriedenheit. „Dann können wir unter der Überprüfungsphase von Queen-Bravo-4 einen offiziellen Schlussstrich ziehen. Ich werde es nachher Major Chaves melden.“

Major Julieta Chaves war die S1-Personaloffizierin des Bataillons, deren Zug man die FSU-Gruppe angegliedert hatte.

„Damit stehen wir vor dem nächsten Schritt der Herstellung der Einsatzbereitschaft unseres Kampfwagens – der Ausrüstung mit den Verbrauchsgütern“, erklärte die Französin und wies auf den abseits wartenden Samson-Roboter. „Unser großer Metallkumpel hier war bereits so nett, uns die Verpflegung heranzukarren. Nachher holt er noch das ganze andere Zeugs, wie etwa Wasch- und Reinigungsmittel, Sanitärkram, Küchenartikel und alles, was sonst noch so dazugehört. Aber wir fangen erst mal mit dem Verstauen der Verpflegung an.“

Die Verpflegung für die Besatzung des Zeus-IFV-Kampfwagens bestand in der Hauptsache aus Nahrungsriegeln in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Es handelte sich um insgesamt siebenhundertzwanzig Portionen, die ausreichten, um maximal zwanzig Menschen über zwölf Tage hinweg jeweils drei vollwertige Tagesmahlzeiten zu bieten.

Aus der Sicht eines Gourmets rangierte das Essen mit Sicherheit noch ein ganzes Stück unter dem ohnehin schon weitgehend synthetischen „Kantinenfutter“. Dabei sah Letzteres wenigstens noch halbwegs so aus, wie Essen. Bei den Nahrungsriegeln konnte man diesbezüglich sehr geteilter Meinung sein.

Doch es ging nicht anders. Ein Planetar-Schützenpanzerwagen stellte nun mal kein fahrendes Feinschmeckerrestaurant dar. Er war vielmehr ein Gefechtsfahrzeug und folgte ganz anderen Prioritäten. Insofern interessierte es niemanden, ob die Besatzungsverpflegung in ihrem Aussehen schmackhaft wirkte und den Appetit des Betrachters weckte. Viel wichtiger waren solche Attribute, wie ein hoher Energiegehalt bei vergleichsweise geringem Platzbedarf sowie die Tatsache, dass man für den Verzehr der Riegel weder Besteck, noch irgendwelches Geschirr benötigte.

Unterm Strich gesehen machten die Rationen satt und enthielten sämtliche Inhaltsstoffe, die der menschliche Organismus benötigte, um ordentlich zu funktionieren. So lange man darauf verzichtete, das Auge mitessen lassen zu wollen, war alles in bester Ordnung.

Ein weiterer Verpflegungscontainer enthielt Kartuschen mit verschiedenen Getränkepulvern. Letztere wurden mit heißem oder kaltem Wasser versetzt und schufen so eine durchaus sehenswerte Angebotspalette an Kaffee- und Teesorten, bis hin zu verschiedenen isotonischen Säften. Hier war tatsächlich für viele Geschmäcker etwas dabei – wenn vielleicht auch nicht für alle.

Annie Marchand befahl dem wartenden Samson, die Transportbehälter an Bord des Fahrzeuges zu schaffen.

Die Maschine gehorchte, nahm die erste Kiste auf und setzte sich in Bewegung.

Die drei Menschen folgten ihr über die abgesenkte, große Heckluke hinterdrein.

Durch den geräumigen Heckraum mit seinen sechzehn bequemen Formsitzen und jeder Menge Ausrüstungsschränken führte sie ihr Weg in die Mittelsektion des Zeus IFV, die so mancher Grenadier auch gern als „Wohnzimmer“ titulierte.

Der Begriff erschien allerdings ziemlich weit hergeholt, denn dem Raum fehlte definitiv nicht nur eine bequeme Couch, sondern auch sonst beinahe jede Form von Gemütlichkeit. Immerhin aber beherbergte er einen Tisch mit vier Sitzgelegenheiten, eine kleine Bordküche, zwei an die Wand klappbare Schlafkojen, Schränke und einen großen Wandbildschirm mit Mediaanlage.

Der Samson stellte die Transportkisten ab und verhielt dann abwartend.

Annie Marchand überlegte, ob ihr noch Aufgaben für den Roboter einfielen. Jetzt, da man ihr endlich mal einen der „Blechköpfe“ zugeteilt hatte, machte es Sinn, diesen schamlos für alle schweren, schmutzigen und auch ansonsten ungeliebten Arbeiten auszunutzen. Dummerweise aber fiel ihr nichts mehr ein, sodass sie der Maschine schließlich gestattete, von dannen zu ziehen. „Sergeant, Corporal, Sie beide füttern jetzt die Automaten. Ich kümmere mich währenddessen um die Entfeuchter.“

Marjam Alieva und Marc machten sich gehorsam daran, den Inhalt der Kisten auszupacken und den Essens- sowie den Getränkeautomaten der kleinen Bordküche zu bestücken.

Besonders anspruchsvoll war diese Arbeit nicht. Man musste lediglich die Nahrungskassetten sowie die Getränkepulverkartuschen in die Aufnahmeöffnungen der beiden Automaten schieben.

Den Rest erledigten die wuchtigen, computergesteuerten Apparate dann von ganz allein. Sie identifizierten die mit elektronischen Datenchips versehenen verschiedenen Essens- und Getränkepulverbehälter und sortierten sie selbstständig in die Fächer ihres Lagermagazins ein.

Eine knappe Stunde später erschien die FSU-Kommandantin wieder, nun mit einer großen Schachtel Entfeuchterelemente in den Händen. Sie wirkte ziemlich aufgeregt. „Machen Sie beide mal Pause und schalten Sie den Videoschirm ein. Da gibt es etwas Interessantes auf dem Nachrichtenkanal zu sehen. Das ganze Bataillon spricht schon davon.“

Die Tschechin und der Deutsche gehorchten.

Marc aktivierte folgsam den großen Bildschirm an der hinteren Schottwand und schaltete auf den Informationskanal des Bordsenders Independence News. Er rief in der Mediathek die Datei der zuletzt ausgestrahlten Nachrichtensendung auf.

Auf dem großen Videoschirm erschien das Gesicht einer Frau mit bronzefarbenem Teint und lackschwarzen, langen Haaren, die ihr bis weit in den Rücken hinabfielen.

Ein Informationsfenster ploppte auf und verriet den Namen der Moderatorin, der vom Klang her die gleiche Südsee-Exotik ausstrahlte, wie die Gesichtszüge der Frau selbst. Tatsächlich stammte Nalani Kapua von der Pazifikinsel Hawaii und besaß polynesische Vorfahren, deren Blut sich irgendwann einmal mit dem von asiatischen Einwanderern vermischt haben musste. Im Ergebnis dieser genetischen Verschmelzung stellte die dreißigjährige Insulanerin ein Aushängeschild dar, mit dem sich der Bordsender durchaus sehen lassen konnte.

„Seit viereinhalb Monaten befinden wir uns nun schon in direkter Sichtweite von Tarnas B300433-A. Vor knapp vier Wochen erreichte unser Schiff dann endgültig den Orbit des Exoplaneten. Doch der Himmelskörper verstand es bisher sehr gut, sein Antlitz unter einer dichten Wolkendecke verborgen zu halten. Seit einigen Stunden jedoch scheint er uns endlich etwas mehr von seinem wahren Gesicht zeigen zu wollen“, erklärte sie mit leicht erhobener Stimme. „Fast scheint es, als wüsste er, dass die Zeit des Versteckens für ihn zu Ende geht. Die folgenden Aufnahmen stammen von einer Hornet-Raumdrohne, die zur Erforschung der obersten Atmosphäreschichten des Planeten ausgesandt wurde. Die Maschine erstellte nicht nur lange Messdatenreihen über die oberen Schichten der Gashülle des Planeten, sondern schoss auch ein paar spektakuläre Aufnahmen von diesem selbst.“

Videobilder wurden eingeblendet. Sie zeugten von noch immer vorhandenen, gewaltigen Wolkenformationen, die wie eine eigenständige Landschaft in mehreren Kilometern Höhe über der eigentlichen Oberfläche des Himmelskörpers hingen. Allerdings wies die graue Decke einige größere Löcher auf.

Der Fokus der Kamera richtete sich auf eine solche Lücke und zoomte tief in diese hinein.

Der Planetenboden präsentierte sich als ein buntes Sammelsurium aus verschiedenen Farben. Vorherrschend waren braune, graue und auch sandgelbe Töne. Doch es gab da noch etwas – große Flecken, die ein Grün in vielerlei Facetten aufwiesen.

„Oh mein Gott, ist das da etwa Vegetation?“, entfuhr es Marjam Alieva. Sie schlug sich mit einer Hand vor den Mund, als hätte sie etwas total Ungehöriges gesagt und wolle sich dafür nun selbst Redeverbot erteilen. Dann blickte sie hastig in die Runde.

Niemand beachtete sie. Die Französin und der Deutsche starrten auf den großen Bildschirm.

„Was Sie hier sehen, ist ein Kamerablick aus etwa fünfhundert Kilometern Höhe auf ein gewaltiges Gebiet der nördlichen Halbkugel von Tarnas B300433-A, das wir inzwischen als Nordatlantische Ebene bezeichnen“, erklärte Nalani Kapua.

Die Oberfläche dieser Ebene schien insgesamt sehr rauh zu sein. Neben zahllosen Kratern, Mulden, Tälern und Schluchten gab es eine Vielzahl von Bodenerhebungen, die wie Inseln aus dem Gelände herausragten und die Größe von kleinen Mittelgebirgen auf der Erde besaßen. Die sichtbaren Bodenfarben ließen auf Staub, Felsgestein und Sand schließen.

Aber es gab da eben doch noch diese anderen Facetten – Gebiete, die in ausgeprägten grünen Farben leuchteten.

„Verehrte Zuschauer, was die Wissenschaftler und auch alle anderen Menschen an Bord momentan sehr stark beschäftigt, sind die grünen Regionen, die Sie auf der Aufnahme sehen können“, fuhr die Nachrichtenmoderatorin fort. „Sie lassen vermuten, dass es auf Tarnas B300433-A möglicherweise tatsächlich eine Form von extraterrestrischer Vegetation gibt. Allerdings stellt dies nur eine Möglichkeit dar. Die grüne Färbung am Boden ließe sich auch auf andere Weise erklären. Hierzu gab der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung an Bord der Independence, Professor Nathan Dreezen, vor einer Stunde folgendes Statement ab.“

Der Genannte wurde eingeblendet. Direkt in die Kamera blickend, strich er sich mit einer Hand etwas nervös über sein Kinn und haspelte dann los: „Es ist völlig verständlich, dass die sogenannten ‚grünen Regionen‘, die uns die Erkundungsdrohne auf ihren Kamerabildern zeigt, bei vielen Menschen die Hoffnung weckt, es könnte auf Tarnas B300433-A so etwas wie eine Pflanzenwelt existieren. Wenn dies zuträfe, dann würde das selbstverständlich eine absolute Sensation darstellen. Die Grünfärbung könnte ein Indiz für das massenhafte Vorhandensein von Chlorophyll sein. Immerhin bestätigen mir meine Kolleginnen und Kollegen von der Astrobiologie, dass unser bisheriges Wissen zu den Gegebenheiten auf der Planetenoberfläche die Möglichkeit einer Photosynthese nicht grundsätzlich ausschließt. Es müssen ja auch nicht gleich höherentwickelte Pflanzen sein, die wir dort unten sehen. Es könnte sich beispielsweise um gewaltige Algenteppiche handeln.

Leider aber gibt es noch eine Reihe anderer möglicher Erklärungen. Vielleicht ist das, was wir dort unten sehen, einfach nur grüner Lehmboden. Diesen kennen wir auch von der Erde her. Er ensteht bei der Zersetzung von Feldspat und kommt meist in großen Tiefen vor. Möglicherweise bildet er auf dem Tarnas in bestimmten Regionen die Oberflächenschicht, weswegen wir ihn sogar aus großer Höhe wahrnehmen können. Die Geologen liefern uns aber noch eine weitere Theorie, die sehr viel wahrscheinlicher ist. Sie sprechen von der Möglichkeit, dass die betreffenden Gebiete von großen Mineralienfeldern überzogen sind. Tatsächlich gibt es Minerale, die – entweder durch eine entsprechende Absortion des Lichtes oder auch aufgrund von Eigenfärbung – ein kräftiges Grün aufweisen. Malachit wäre ein solches Beispiel. Wenn es nun in großen Mengen an der Oberfläche liegt, kann es für einen weit entfernten Beobachter durchaus diese ‚grünen Regionen‘ erzeugen. Es wäre sogar möglich, dass man es dort unten mit gewaltigen Smaragdfeldern zu tun hat.“