Lisas Bekenntnis - Sylvia McKaylander - E-Book

Lisas Bekenntnis E-Book

Sylvia McKaylander

0,0

Beschreibung

Als Sharon von dem illegalen Handel mit antiken Kunstschätzen ihres aufbrausenden Freundes erfährt, setzt sie alles daran, dies anonym an die Behörden weiterzuleiten - ahnungslos, bereits ins Visier geraten zu sein. Zur gleichen Zeit wird ihre Mutter Lisa von Schuldgefühlen aus ihrer Vergangenheit heimgesucht, bis sie eines Tages spurlos verschwindet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisas Bekenntnis

Lisas BekenntnisKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Epilog - Ein halbes Jahr späterQuellenangabeZur AutorinImpressum

Lisas Bekenntnis

Sylvia McKaylander

Lisas

Bekenntnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.dnb.de abrufbar.

©2018 Sylvia McKaylander

Herstellung und Verlag: BoD–Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783752802481

Kapitel 1

Endlich Wochenende, dachte Sharon froh, als sie mit großen Schritten zu ihrem Wagen quer über den Campus der University of California lief. Sie warf einen bangen Blick zurück über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte.  

Sie konnte es kaum erwarten, sich mit ihrem Lehrbuch in eine stille Ecke ihres gemütlichen Zimmers in der Wohnung ihrer Freundin zurückziehen zu können; an einen friedlichen Ort, von dem sie hoffte, zumindest Ruhe vor ihrem jähzornigen Exfreund noch einem seiner Bekannten zu haben. 

Besorgt blickte sie auf ihre Armbanduhr. Würde sie den Termin einhalten können?

„Sharon, warte!“ 

Sie zuckte zusammen. Sie hatte Judy, die ihr versteckt an einem Gebüsch stehend auf lauerte, nicht bemerkt. Die heftete sich unmittelbar an ihre Fersen. 

„Ich habe mit dir zu reden.“

Doch die wiegte stumm den Kopf. Sie dachte nicht mal im Traum daran, dieser schnippischen Person, die einst ihre Freundinnen war, auch nur ein Fünkchen ihrer Aufmerksamkeit zu widmen. Hastig schloss sie die Tür ihres roten BMW-Cabrio auf, warf ihre Umhängetasche auf den Beifahrersitz. 

Verächtlich musterte sie Judy aus den Augenwinkeln heraus. „Was willst du?“

Sharon war im Begriff sich in den Wagen setzen, wie Judy ihr die Wagentür mit vor Wut verzerrter Grimasse mit aller Kraft mit der bloßen Handfläche zuschlug. Beinahe wäre ihre Hand dazwischen geraten. Entsetzt starrte sie Judy an. „He! Spinnst du?“

„Du wirst dir jetzt gefälligst anhören, was ich dir zu sagen habe. Du hast Stuart gekränkt mit deinen Sticheleien.“

Sie lachte zynisch auf. „Ich ihn? Was soll das sein? Der Witz des Monats? Er hat mich verletzt, mich geschlagen – es war nie anders herum – gleichgültig welche Märchen er dir auftischte.“

Judy baute sich ärgerlich vor ihr auf. „Ich glaube dir kein Wort. Stuart ist ein echt lieber Kerl. Er tut so was nicht.“

„Nein, natürlich nicht - er ist ein Heiliger.“

„Du musst ihn ja schon sehr provoziert haben, damit es so weit kommt.“

Sie grinste schräg. „Du bist ja immer noch in ihn verknallt! Wie niedlich! Er hat sich wohl bei dir das kummervolle Herzchen erleichtert, wie?“

Judy's’ Gesicht lief rot an. „Stuart ist absolut nicht der Typ, der sich an Frauen vergreift. Wenn du ihn kennen würdest, dann wüsstest du das.“

Ruckartig zog Sharon sich das Tuch vom Hals. Judy riss die Augen auf. Sie blickte auf das Würgemal. Deutlich waren Fingerabdrücke zu sehen. Stuarts’ Finger. Ehe die Einwand erheben konnte, fiel Sharon ihr barsch ins Wort. „Soll ich dir die Rechnungen vom Krankenhaus zeigen, die mich einige Male wieder zusammengeflickt haben, nachdem er mich geschlagen hat? Es sind vier. Vier!“

Judy schüttelte den Kopf. Sie war dessen ungeachtet nicht gewillt, ihr auch nur ein Wort zu glauben. „Du lügst doch!“

Sharon lachte, vor allem über sich selbst; allem voran über ihre Unvernunft, diesen Dialog zu führen. Sie legte sich das Halstuch wieder um.

„Ach, ich muss beknackt sein! Warum rede ich überhaupt noch mit dir? Ist doch klar, auf wessen Seite du stehst. Du kannst deinen Stuart gern zurück haben. Vielleicht gehen dir ja dann die Augen auf, was für ein seelischer Krüppel er hinter der Fassade wirklich ist. Ein Psychopath.“ 

„Das ist ja mal wieder typisch für dich, immer sind es die anderen!“ Judy spie ihr ihre Abscheu ins Gesicht. „Ich komme jedenfalls gut mit ihm klar; ich lege ja auch nicht ständig wie du den Finger in die Wunde, sodass er am Ende ausflippt.“ Judy senkte die Stimme, einige Studenten liefen mit Büchern unterm Arm geklemmt an ihnen vorbei. „Verdammt, du weißt doch genauso gut wie ich über ihn Bescheid. Er tickt eben aus, wenn es um dieses eine Problem geht. Es ist nun einmal sein wunder Punkt.“

„Wovon er verdammt viele hat! Er ist doch total kaputt im Kopf.“

„Warum denn wohl? Durch Leute wie dich ist er doch erst so geworden! Du hast eben kein Verständnis für ihn; hattest du ja noch nie.“

Sie drehte den Zündschlüssel um. „Das muss ich mir nicht anhören.“ Sie startete den Wagen. „Mit euch beiden will ich nichts mehr zu tun haben! Ich möchte weder von dir von Stuart in Zukunft wiedersehen!“

Ein „Du musst ja wissen, was du tust“ gepaart mit einem frostigen Lächeln liess Sharon intuitiv das Gaspedal durchtreten. Sie fuhr vom Parkplatz, warf jedoch noch rasch einen Blick in den Rückspiegel. Judy blickte ihr bedenklich lange nach. Weshalb, fragte sie sich argwöhnisch. Die kleinen Härchen auf ihren Armen hatten sich steil aufgestellt, sie fröstelte trotz der achtundzwanzig Grad bei strahlendem Sonnenschein. 

Wie konnte es nur so weit kommen, fragte sie sich voller Bitterkeit, indes sie sich geschickt in den Verkehr auf den Highway einfädelte. Wie bin ich in diese schreckliche wie gefährliche Situation geraten?

Sie schüttelte über sich selbst heftig den Kopf, so heftig, dass einige Strähnen ihres lockigen langen pechschwarzen Haares sich aus dem Pferdeschwanz lösten, und auf ihrer nackten braun gebrannten Schulter kitzelten. 

Stuart war zu Beginn doch so liebevoll gewesen, nachdem sie ihn durch Judy, die als Modell für einen Katalog posierte, kennenlernte. Sie mochte den gut aussehenden, athletisch gebauten Mann mit den tief schwarzen kurzen Haaren und den dunklen Augen auf Anhieb. Sie wurde sich allerdings im Nachhinein auch schmerzlich bewusst, dass sie, ausgehungert nach Liebe und Zuwendung war; einer starken Schulter zum Anlehnen bedurfte, da ihre Eltern kaum Zeit für sie erübrigen konnten. Stuart brachte sie oftmals zum Lachen, sorgte dafür, dass sie ihr Sorgen mal für eine Weile vergessen konnte; holte ihr mit blumigen Worten die Sterne vom Himmel. In seinen Armen konnte sie sich sicher fühlen, sich fallen, ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Es war eine brisante Mischung aus seelischer Verwundbarkeit und abhängig nach Zuwendung, die er nach und nach perfekt für sich auszukosten wusste.

Sharon warf einen Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Sie war froh, dass ihr alle Ampeln wohlgesonnen waren, sie eine grüne Welle erwischte. Ihre feucht werdenden Hände umklammerten das Lenkrad. Sie biss die Zähne zusammen.

Je näher sie beide sich kamen, desto mehr sprach er in einem befehlendem Ton mit ihr, dessen Schärfe stetig zu nahm. Er wurde besitzergreifender, autoritärer, und mithin wurde seine Eifersucht zu einem Problem, sie in allerlei Hinsicht zu kontrollieren. Des Weiteren gelang es ihm meisterhaft, ihr von der Rhetorik her jedes Mal die Schuldigkeit an den Querelen zuzuschieben. Wenn sie nicht gemein zu ihm wäre, so vorlaut und aufmüpfig, dann brauchte er auch nicht so streng zu ihr zu sein. Punkt. Dennoch, sie war blind gegenüber der Warnungen ihrer Freunde – bis er sie zum allerersten Mal schlug. Hart, und voll ins Gesicht. Am Abend darauf erschien er zerknirscht und mit einem Strauss Blumen, bat sie auf Knien um Vergebung. Er war ein Ausrutscher. Eine einmalige Sache, beteuerte er. Es würde sich niemals mehr wiederholen. Versprochen. Sie glaubte ihm. 

Ich hätte es besser wissen müssen, fand sie verbittert. Eines Tages wurde sie Zeugin, wie er einen Anruf von einem Mann mit rauchiger Stimme bekam, hörte den dazugehörigen Vornamen aus Stuarts’ Munde. Glenn. 

Mit der Zeit, die derweil vergangen war, ließ sich objektiv betrachtet jedes Puzzlestück in ihrem Kopf mit dem anderen verbinden. Alles passte zum gegenwärtigen Zeitpunkt objektiv gesehen perfekt zusammen.

Sharon setzte den Blinker, nahm die nächste Abfahrt. 

Er erzählte ihr kurze Zeit später, er müsse beruflich nach London. Wenige Tage darauf las sie in der Zeitung einen Artikel über einen mit Gewalt verübten Einbruch bei einem bekannten Antiquitäten-Sammler und seiner Ehefrau in London, die schwer verletzt zurückblieben. Die zwei Männer seien Profis ihres Faches gewesen, hieß es. Sie hätten keinerlei Spuren hinterlassen. Eine Woche danach vereiste er erneut, diesmal wurde von einem Einbruch bei einem Sammler in Florida, Palm Beach, berichtet. Das Hauptinteresse konzentrierte sich nach und nach auf Artefakte der Regierungszeit Echnatons. Die Amarna-Periode. Ebenso erregten die Zeitungsartikel über die Zusammenarbeit eines Prof. Snyder mit der Kunstraub-Abteilung des FBI, unter anderem auch gegen die ausgeklügelten Aktionen der Grabräuber-Mafia ihre Aufmerksamkeit. 

Sie machte diesen Snyder ausfindig, vereinbarte telefonisch einen Termin mit ihm, was alles andere war als ein Kinderspiel, da der Typ viel unterwegs war. Nebenher dokumentierte sie von Neugier gepackt in aller Heimlichkeit alles, was ihre unermüdlichen Sinne in dieser Richtung registrierten, nicht zuletzt auch das, was sie in einem abgeschiedenen InInternetcafé beunruhigendes herausfand, penibel genau.

Sie erfuhr, dass Glenn Landers, ein brutaler Straftäter, eine mehrjährige Haftstrafe absaß, ehe er vor ungefähr einem Monat auf Bewährung entlassen wurde. Fast auf den Tag genau, an dem der erste Einbruch sich ereignete. Ihm wurden Raub, vorsätzliche schwere Körperverletzung und mehrere Vergewaltigungen zur Last gelegt. Landers schien in der Szene ein großes Tier zu sein, wenn nicht sogar der Boss, mutmaßte sie, angesichts der Tatsache, dass sich Stuart jedes Mal, wenn er mit ihm telefonierte, erstaunlich klein laut gab.

Dann eines Tages, wegen irgendeiner unbedachten Äußerung ihrerseits, sie konnte sich heute nicht einmal mehr daran erinnern, welche, eskalierte der Streit zwischen ihnen. Er verlor die Beherrschung und schlug sie erbarmungslos zusammen als je zuvor. Sie erwachte in der Notaufnahme mit grässlichen Schmerzen am ganzen Körper. Die warnenden Worte eine der Krankenschwestern gab ihr zu denken. Solche Männer wie ihr Freund würden sie zerstören, wenn sie dem endlich nicht ein Ende machte. 

Es war eine schreckliche Zeit für sie, nicht zuletzt auch aus Liebeskummer; denn geliebt hatte sie Stuart trotz all dem, selbst wenn sie deswegen noch heute an ihrem gesunden Menschenverstand von dereinst zweifelte. Es war für sie nicht der springende Punkt, dass er ihr Gewalt antat, es waren auch nicht seine boshaften, zum Teil niederträchtigen Bemerkungen, nein, es war die menschliche Enttäuschung, die ihr die Tränen in die Augen trieb. 

Sie brach den Kontakt zu ihm vollständig ab und zog gleich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu ihrer besten Freundin Karen, die ein luxuriöses Apartment nahe der Uni bewohnte. Das war vor zwei Wochen. Seitdem hatte sie zu ihrer Erleichterung nichts mehr von Stuart gehört. 

Nach zwanzig Minuten betrat Sharon den überfüllten Hörsaal. Prof. Snyder, ein stämmiger Mann mittleren Alters mit grauen Vollbart in Jeans und T-Shirt war mittendrin in einer mit Passion vorgetragenen Rede über die Regierungszeit des Ketzers Echnaton. Lautlos setzte sie sich auf einen der freien Plätze, lauschte seinen Worten. 

„Es gab eine Antiken-Polizei, die genau darauf achtete, welche religiösen Gegenstände die Menschen mit sich führten. Im ungünstigen Fall wurden diese ihnen entrissen und durch Feuer vernichtet. Die aufgezwungene Religion, Aton, verkörpert durch die Sonnenscheibe als einzigen und wahren Gott zu huldigen, verärgerte die mächtigen Amun-Priester. Ja, man konnte sogar zu Recht behaupten, er machte sie sich zum Feind. Seit Jahren mussten sie machtlos mit ansehen, wie Echnatons Vater, Amenophis III den Gott Sobek verehrte, unter Echnaton dann wurden sie gänzlich ihrer Macht beraubt.“ Er blickte auf die Uhr. „So! Schluss für heute. Das nächste Mal unterhalten wir uns über die politischen Auswirkungen, die der Aton-Kult nach sich zog. Wir kommen dann auch auf Haremhab zu sprechen, dem Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee.“

Ein donnernder Applaus erschallte. Mit einem selbstgefälligen Grinsen packte er seine Unterlagen in die alte Ledertasche, bevor er geschwind den Saal durch eine Seitentür rechts verließ. 

Sharon lief ihm nach. „Prof. Snyder! Bitte, warten Sie!“

Er blieb stehen. „Wer sind Sie denn?“

„Nennen Sie mich Sharon. Wir telefonierten miteinander.“

Er fuhr sich mit der Hand durch sein strubbeliges Haar. „Du liebe Zeit! Ich habe mich wohl nicht klar genug ausgedrückt, was? Folgen Sie mir bitte, diskret.“

Er ging den Korridor runter, schloss hastig die letzte Tür auf der linken Seite auf. Er betätigte den Lichtschalter, schloss direkt hinter ihr die Tür. 

„Hören Sie, ich werde Ihnen nicht helfen – in Ihrem eigenen Interesse! Ich habe Ihnen schon am Telefon gesagt, dass Sie Ihr niedliches Näschen besser in den Frisörsalon stecken sollen anstatt in dieses Milieu.“ 

„Und wie ich Ihnen bereits sagte, ich bin bereit mein Wissen den ermittelnden Behörden zur Verfügung zu stellen.“ Sie holte den Schnellhefter aus der Tasche, warf sie ihm mit einem lauten Klatschen auf den Schreibtisch. „Hier! Es ist in der Szene einiges in Gang, erst Recht seitdem Landers wieder auf freien Fuß ist.“

 „Was sagen Sie da? Sie reden von Glenn Landers?“ Sie bejahte stumm. „Dann ist es also wirklich ernst – und gefährlich!“

„Hätte ich Sie sonst ohne einen Grund kontaktiert, Professor?“

Snyder ließ sich auf den Stuhl hinterm Schreibtisch fallen, rieb sich resigniert stöhnend die Augen. „Und diesen Kerl lassen die laufen! Ja, sind die denn von allen guten Geistern verlassen, oder was?“, rief er wütend aus. „Landers hat die Herrschaften, die im Bewährungsausschuss sitzen anscheinend alle zum Narren gehalten.“

„Ich habe also voll ins Wespennest gestochen.“ 

„Das ist gar kein Ausdruck! Sharon, nicht, dass wir beide uns falsch verstehen, es ist gut und richtig, dass Sie zu mir gekommen sind, ich bin Ihnen auch dankbar für die Hinweise, aber Sie haben sich womöglich damit selbst in Gefahr gebracht. Wissen die, dass Sie ihre Aktionen verfolgen?“

„Halten Sie mich doch nicht für so bescheuert, Snyder!“, fuhr sie ihn hitzig an. „Ich bin nicht lebensmüde.“

„Also bewusst haben Sie es sicherlich nicht getan.“

„Wie meinen Sie das?“

„Die haben überall ihre Spione, wenn die einen begründeten Verdacht hegen, jemand sei ihnen auf den Fersen.“ Er stopfte ihre Akte, in seine Tasche. Sie lächelte zufrieden. Mehr hatte sie ja gar nicht wollen. „Nun gut, dieses Material wird, wenn es geprüft und für korrekt befunden wurde, einigen Herrschaften das Genick zu brechen.“ Er senkte die Stimme. „Leidenschaftliche Sammler geben schwarz, unter der Hand ein Vermögen aus um, an das Objekt ihrer Begierde zu gelangen; Museen zahlen nichts für ein antikes Kunstwerk. Da ist die Habgier stärker als die Vernunft. Die Statuetten, Krüge, Reliefs und Papyrusrollen wurden illegal durch bestechliche Zollbeamte ins Land geschmuggelt, sind wahrscheinlich für immer verschwunden – dabei gehören sie der Regierung Ägyptens. Einiges erschienen sogar bei Ebay. Die Werke in den Museen sind nichts weiter als großzügige Leihgaben.“

Sharon wollte gehen. „Ich habe meine Pflicht getan. Jetzt sind Sie dran.“

„Ihre Pflicht getan? Für wen halten Sie sich? Miss Marple?“

„Nicht ganz, aber immerhin bin ich meinem Freund auf die Schliche gekommen, das war alles andere als einfach.“ 

„Aber mehr als dämlich! Diese Personen kennen keine Moral und vom Gewissen reden wir mal besser gar nicht erst. Unliebsame Zeugen werden gnadenlos ausradiert. Diese Sippe hat den Ruf, mit der Grabräuber-Mafia in enger Verbindung zu stehen.“ 

Snyder sprang unvermittelt auf, fuchtelte mit seinem langen Zeigefinger vor ihrer Nase  herum. „Sharon, hören Sie mir zu – und hören Sie mir gut zu. Wenn die auch nur den kleinsten Funken eines Verdachts haben, dass Sie ihnen auf der Spur sind, dann schweben Sie ab jetzt ernsthaft in Lebensgefahr! Ist das deutlich genug?“ 

Sie nickte. Ihre Sonnenbräune war verschwunden. 

Er griff ihr unter die Achseln. „Kommen Sie! Sie brauchen frische Luft. Und da draußen keinen Mucks darüber. Verstanden?“

Es klang nicht wie eine Frage. Es war ein Befehl.

Eingeschüchtert folgte sie ihm. Ihr war übel. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie sich klar darüber wurde, wie arg sie die Lage unterschätzte. Auf dem Parkplatz legte ihr Snyder die Hand auf die Schulter. „Sharon, ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie angeschrien habe, aber ich musste Ihnen ja irgendwie die Augen öffnen. Geben Sie mir Ihr Handy.“

Sie starrte ihn an wie ein Kamel in der Mittsommernacht. „Was?“

„Ihr Handy.“

Geschwind hatte er das moderne Teil auseinander genommen, um es dann beruhigter wieder zusammenzusetzen. „Keine Wanze. Aber kaufen Sie sich besser ein neues. Geben Sie Ihre Nummer nur Ihren engsten Freunden. Sicher ist sicher.“ Er blickte zynisch an ihr herunter. „Sie haben ja genug Geld, so wie Sie gekleidet sind. Ihre Jeans kostet mehr, als ich in einem Monat verdiene.“ Er fischte in der Innentasche seines Jacketts nach einer Visitenkarte, reichte sie ihr. „Ich werde Ihr Material weiterleiten.“ Er sah sie mitfühlend an. „Besser wäre es, Sie würden für eine Weile untertauchen, und zwar dort, wo sie niemand kennt. Wo wohnen Sie?“

„Bei einer Freundin.“

„Weiß ihr Freund, wo Sie sich aufhalten?“

„Keine Ahnung. Ich glaube nicht.“

„Glauben heißt nicht wissen.“ 

Aus der Ferne hörte sie einen Motor aufheulen, hörte jemanden mit Vollgas davon rasen. Aufgeschreckt blickte sie sich um, zog eine Grimasse. Fuhr Stuart nicht so einen erbärmlich jaulenden Schlitten? Einen Cadillac im grellen Pink? Es war nichts zu sehen von ihm. Ach, was. Wahrscheinlich spielte ihr die Fantasie nur einen Streich. Wäre ja nicht das erste Mal. 

„Alles okay?“

„Was? Ja. Ich dachte, es wäre ein Bekannter.

„Passen Sie gut auf sich auf, Sharon.“

Sie entgegnete selbstsicher seinem Blick. „Das werde ich.“

***

„Komm, Valerie! Ich möchte dir jetzt was Tolles zeigen. Das hat vor dir noch niemand gesehen. Keine Menschenseele außer mir kennt diesen Raum. Nicht einmal dem Personal ist der Eintritt gestattet.“

Entzückt lächelte sie Ernest Watkins Junior an. an. Sie fürchtete, er würde ihr wild pochendes Herz schlagen hören. War nun endlich der große Augenblick gekommen, auf den sie so lange wartete?

Sie gab sich gerührt, legte sich die manikürte, mit einem Ring und ein Geschenkband. geschmückte Hand auf die Brust. „O, Ernest, welch eine Ehre“, hauchte sie. „Das muss ja etwas ganz besonderes sein.“

„In der Tat, meine Liebe. In der Tat. Das ist es.“

Der schmächtige Mann mit dem roten Haarkranz führte sie an der Hand den langen, mit einem dunkelblauen Läufer aus gestatten düsteren Korridor entlang. Er behielt seine Freundin im Auge, dessen sie sich bewusst war, spürte ihre Anspannung. 

Es waren in seinem Freundeskreis allerlei Gerüchte im Umlauf und einige seiner Bekannten hatten echt Probleme bekommen, die Herkunft ihrer Schätze nachzuweisen. Aber er, nein, er nicht. Davor hatte er keine Angst. Und sollte ihm die wunderschön anzusehende Person neben ihn doch tatsächlich gefährlich werden, nun, dann würde er seinen Anwalt bemühen, und am Ende würde sie bei ihrer Dienststelle, welche auch immer das sei, bestenfalls noch Büroklammern nach Farben sortieren können. Dessen war er sich sicher. Einem Ernest Watkins Junior bereitete man keine Probleme. 

Er ging zum letzten Zimmer auf der rechten Seite, wo er einen Schlüssel aus der Hosentasche holte, die Holztür auf schloss. Er war aufgeregt, doch seine Erregung hatte in der Furcht ihren Ursprung, dass auch sie letztlich die Herkunft seiner Schätze kritisch hinterfragen könnte, seinen Worten keinen Glaube schenken würde –  so wie die anderen Frauen vor ihr, die er als Mahnung, bloß nicht zu vertrauensselig zu sein, seit jeher in Erinnerung behielt. Doch sie war etwas besonderes für ihn. Sie war sein „Diamant in der Morgensonne“.

Wie er vor einem halben Jahr auf einer Party am Abend diese bildhübsche Frau mit den braunen schulterlangen Haaren, den türkis schimmernden Augen, in einem Traum von Abendkleid aus dunkelblauem Satin erblickte, war es zum Spott seiner Freunde um ihn geschehen. Ernest setzte sich neben sie an die Tresen, bestellte ihr einen Drink. Sie vermittelte ihm den Eindruck, ihre Freunde, die in Wahrheit ihre männlichen Kollegen beim FBI waren, hätten sie wieder mal links liegen lassen. Im Nu war sein Mitgefühl erweckt, er sonnte sich vor den Augen seiner gut betuchten Bekannten in der Rolle des einfühlsamen Frauenverstehers. Der Mann schenkte ihr gutgläubig sein Herz. Besser konnte es für sie gar nicht laufen.

Ernest Watkins Junior hatte sich einiges zuschulden kommenlassen, nur hatten seine Anwälte ihn jedes Mal allein durch seinen Reichtum, seinem exzellenten Prestige aus der Patsche helfen können – dieses eine Mal jedoch lag der Fall anders. Weit ernster. Seit einiger Zeit kursieren Gerüchte, Watkins habe sich eine neue Spielwiese ausgesucht. Nun war sie, die in Wahrheit Special-Agent Brooke Langton war, an der Reihe. Sie, als beste Ermittlerin, wurde zu diesem Zweck, diesem Mann mit den Waffen einer Frau das Handwerk zu legen, hierher nach San Diego versetzt.

Gegenwärtig stand sie neben Ernest und schauspielerte, was das Zeug hielt. 

Er öffnete die Tür nicht. Sie sah ihn fragend an. „Und nun?“

Aus seiner Hosentasche zog er ein Tuch, mit dem er ihr die Augen verband. 

„Was machst du denn da?“

„Es soll eine Überraschung für dich sein. Komm!“

Er ergriff ihre Hand, was ihr, wie jede seiner Berührungen Unbehagen bereitete. Es kostete sie unsägliche Überwindung, nicht das Gesicht zu verzeihen. Sie hatte Mühe, sich ihren Verdruss nicht anmerken zu lassen. Ihr geschultes Gehör registrierte jedes Geräusch. Das Öffnen der Tür, das Betätigen eines Schalters. Schwere Schritte. Er öffnete eine Schublade, schloss sie wieder. 

„Ernest, bitte!“

„Nur die Ruhe, meine Liebe.“ Er nahm ihr zögerlich die Binde ab, so, als haderte er eine Sekunde mit sich. „Das sind sie – meine Kunstschätze! Sieh sie dir an, Valerie! Sind sie nicht wunderschön?“

Das Licht schmerzte. Sie blinzelte, hielt sich die Hand vor Augen. Sie blickte sich um. Es war ein in dunkelroter und beiger Farbe gehaltener Raum mit extravaganter Einrichtung. Dann blickte sie geradeaus – und schnappte beim Anblick der Kostbarkeiten, deren einzelner Wert sich auf dem Schwarzmarkt sich gewiss auf eine sechs, bis achtstellige Summe belief, nach Luft. 

„Du liebe Zeit!“

Mit einem fanatischen Glitzern in den Augen ging er auf die drei Meter hohe Vitrine zu, in der hinter Glas eingeschlossen Kunstschätze des alten Ägypten. 

Blasiert lächelte er. „Na, das verschlägt dir die Sprache, was?“

Sie zeigte auf eine vergoldete, neunzig Zentimeter große Statuette einer Göttin mit ausgebreiteten Armen. „Ist das Selket?“

„Richtig, das ist sie. Du kennst dich gut aus.“

Sie lächelte gekünstelt. „Ich habe sie mal in einem Buch gesehen.“

„Ursprünglich ist sie eine Göttin, die der Mythologie nach die Fähigkeit hatte Reptilienstiche zu heilen. Willst du sie mal halten?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, zog sich Latexhandschuhe an, schloss die Vitrine auf und nahm sie heraus. „Vorsichtig! Bloß nicht fallen lassen.“

„Sie ist wunderschön. Und so schwer. Echt?“

Verdutzt sah er sie an. „Darüber weiß ich nichts.“

Er stellte sie zurück an ihren Platz. „Ich war überrascht, als ein Freund, den ich zum Dinner einlud, mir die einfach so in die Hand drückte.“

Sie nickte, eifrig darum bemüht die Fassade unbedarfter Gutgläubigkeit aufrecht zu halten. Sie zeigte auf ein weißes vierzig Zentimeter hohes Gefäß aus Alabaster. „Was ist denn das da?“

„Das ist ein Kanopengefäß aus dem Grab KV55, aus der Grabung von Carnavon und Carter, 1922 und 1923. Es soll Tutanchamun darstellen.“

Sie fuhr erschrocken zusammen. Das musste Schmuggelware sein, keine Frage. Der Kerl war ein Lügner, wie er im Bilderbuch stand. Die Gegebenheit, dass er nicht mal errötete, schob sie der Gegebenheit zu, dass das Flunkern, das Prahlen bei ihm auf der Tagesordnung war. 

Sie schaute sich den weiteren Inhalt der Vitrine an. Mit einem Mal ging sie bange einige Schritte zurück. „Die Uräusschlange da! Die sieht ja aus wie echt.“ Sie schmiegte sich angstvoll an ihn. „Diese Farben, das kräftige Blau, das intensive Rot. Und das Auge erst.“

„Beeindruckend, was? Die besteht aus Lapislazuli, Karneol, Gold und Feldspat. Sie war das Abzeichen aller Könige, sollte die Herrscher vor Bösen bewahren.“ Er holte aus einer Schublade einen Schreibblock mit seinen Notizen. „Hier steht, sie stammt aus dem mittleren Reich und gehörte einst, wenn mein Freund mal nicht mal wieder die Fakten vertauscht hat, Pharao Sesostris II. Das Teil gehörte entweder zu einer Krone oder einem anderen Kopfschmuck.“

Um ihn am Reden zu halten, ihre winzige Wanze im Inneren des Abendkleids zeichnete alles auf, entschloss sie sich mit gewaltigem emotionalem Kraftaufwand zu Schmeicheleien, was ihr weit schwerer fiel als ihre Schwindelei bislang. Er war ein Mensch, den sie im Grunde ihres Herzens zutiefst verabscheute. Ernest hatte sich in das von seinem Vater gemachte Nest in der Firma gesetzt, einer Investment-Gruppe, fuhr einzig sportliche Luxusschlitten, und gönnte sich eine Freundin nach der anderen. Bei ehrlicher Arbeit brauchte er sich bisher nie die Finger schmutzig zu machen. Unter normalen Umständen hätte sie ihn kaum eines Blickes gewürdigt. 

„Ich bin beeindruckt!“, hauchte sie. „Woher weißt du so viel darüber?“

Die Taktik funktionierte. Er strahlte selbstgefällig. „Es ist eine Leidenschaft, ein Hobby. Schon als Kind verschlang ich alles, was es über das alte Ägypten zu lesen gab.“ Er ging zur Bar. „Auch einen Scotch?“

Sie ließ sich in einen der Sessel nieder, fühlte sich wie erschlagen. Ihre Kollegen hatten wahrhaftig nicht übertrieben mit ihren Schilderungen. 

„Gerne. Hast du denn keine Angst vor Einbrechern?“

„Nein, nein. Ich habe kürzlich noch ein Vermögen für eine neue, moderne Alarmanlage ausgegeben.“ Er reichte ihr das Glas. „Hier. Richtig so?“

Sie kostete den Drink. „Perfekt.“

Er setzte sich neben sie auf die dunkelrote Couch. Die kräftigen Strahlen der Sonne erwärmten den düsteren Raum behaglich. Sie blickte zur Vitrine hinüber. Da war eine Lücke inmitten all der Artefakte. 

„Wartest du noch auf etwas?“

„In der Tat, obwohl ich nicht mehr daran glaube, dem überhaupt habhaft zu werden. Es ist mein sehnlichster Wunsch es zu besitzen, aber die ganzen Gerüchte, die mit dem Besitz des Nefer-Reliefs in Verbindung stehen, sind beängstigend.“

„Weshalb das?“

„Es liegt ein Fluch darauf.“

Ihr schöner Mund öffnete sich zu einem schallenden Lachen. „Das ist doch lächerlich! Ernest, ich bitte dich! Du bist doch so ein gescheiter Mann. Erzähle mir doch nicht, dass du an diesen Mumpitz glaubst!“ 

Sie trank einen großen Schluck, wobei sie ihn beobachtete. Sie hatte offenbar genau das Falsche gesagt. Er verschloss sich. Seine entspannte Körperhaltung versteifte sich, er biss mit düsterer Miene die Zähne zusammen. 

„Ernest, bitte entschuldige. Ich dachte nicht nach, ehe ich das sagte. Es war dumm von mir. Bitte, erzähle mir mehr davon.“

„Warum? Du lachst ja nur darüber. Du nimmst mich nicht ernst.“

„Das ist nicht wahr.“ Die Lage drohte zu kippen. „Ernest, ich entschuldige mich! Es war echt nicht so gemeint, wie es klang.“

Er musterte sie. Sie hatte sie ebenso reagiert, wie die anderen vor ihr. Wie weit konnte er gehen? Was durfte er sagen und was nicht?

Sie wagte den Schritt nach vorn. „Was hat es auf sich, mit diesem Fluch?“

Er starrte sie an. Schweigen lag im Raum. Sie fühlte sich unwohl unter seinem gnadenlosen Blick, mit dem er sie kritisch maß. Er begann, mit den Händen auf dem Rücken verschränkt, vor ihr auf und abzugehen. Nach und nach gewann er wieder Boden, fühlte sich in der Rolle des Besserwissers, des unfehlbaren Belehrendem immer behaglicher. 

Neferneferuaton tascherit war eine der sechs Töchter Echnatons. Sie war, der Legende nach zu urteilen eine boshafte kleine Prinzessin, was nicht zuletzt an ihrer Krankheit lag. Sie litt unter dem Marken-Syndrom, hatte oft schlimme Kopfschmerzen, die bei ihr Tobsuchtsanfälle nach sich zogen, sie verlor allgemein schnell die Beherrschung. Eines Tages, Echnaton gab bei einem Bildhauer ein Relief für Achet-aton, „Horizont des Aton“, in Auftrag, auf dem die gesamte Familie abgebildet sein sollte. Nefer war ungefähr zehn Jahre alt, ein Zappelphilipp, konnte kaum einen Moment still sitzen. Irgendwann bekam sie dann einen ihrer Wutausbrüche. Sie griff den Bildhauer an, nahm einen Hammer und zerstörte das Relief, auf dem ihr Antlitz zu erkennen war. Es brach in tausend Stücke. Niemand brachte es zustande sie zu beruhigen. Sie schrie, strampelte, hielt sich dabei immerzu den Kopf fest. Der Arzt wurde herbeigerufen, doch der war unauffindbar.“

Sie war aufrichtig schockiert. „Du liebe Zeit!“ 

„Die Prinzessin stieß, während sie das Stück Sandstein zu Boden schmetterte, einen bitterbösen Fluch aus. Jeder der in Besitz dieses Abbildes kam, sollte Aton mit seinen Strahlen dafür strafen, dass sie so sehr litt.“

„Die arme Kleine. Sie muss schreckliche Schmerzen gehabt haben.“

„Kann sein. Immerhin, wenn sie tatsächlich unter einer dieser Krankheiten litt, presste das wachsende Gehirn den Schädel in Breite und Länge, bei einem gesunden Menschen wächst der Schädel gleichzeitig mit dem Gehirn. Im Grab eines von Echnatons Töchtern wurden in einem Gefäß Reste von Mohn gefunden. Nach Echnatons Ableben hört der Handel mit dem gebräuchlichsten Rausch und Schmerzmitteln abrupt auf. Einige Wissenschaftler glauben aber auch, das die Deformation des Schädels lediglich eine Kunstrichtung jener Epoche gewesen sein könnte. Das Ei war das Sinnbild der Schöpfung. Nun, ich gehöre jedenfalls nicht zu denen.“ 

„Das ist ja wirklich sehr interessant.“

Er blieb hinter dem Schreibtisch am Fenster stehen, blickte sie aufmerksam an. „Auf jeden Fall traf dieser Fluch auf viele der bisherigen Besitzer einzelner Stücke des Nefer-Relief zu. Einige kamen bei mysteriösen Unfällen ums Leben, einer erkrankten von einem Tag auf den anderen an Blindheit, nachdem die ungewöhnlich aggressiven Strahlen der Sonne, obwohl es an dem Tag trüb und regnerisch war, die Netzhaut zerstörten. Wissenschaftlich gesehen gibt es bis heute keine Erklärung dafür. Viele blieben bis zu ihrem Tode blind, einige hatten nur noch eine Sehkraft von insgesamt zwanzig Prozent.“

„Der Besitz dieses Artefaktes scheint den Fluch auf sich zu ziehen, oder?“

„Das siehst du richtig. Darum wird der Besitz dessen auch ein Traum bleiben. Jedenfalls habe ich nicht vor, mein Augenlicht zu riskieren.“

Sie stellte das Glas ab, ging zu ihm. „Aber du musst doch zugeben, dass nur die Vorstellung, es zu besitzen, an sich schon einen Adrenalinschub auslöst. Es wäre doch zu schön, nicht wahr?“

Er schmunzelte. „Schön. Ja, sicherlich.“ 

Valerie stellte sich vor ihn, legte ihm ihre Arme um den Hals. Sie küsste ihn auf den vollen Mund. „Ernest, bitte. Ich würde es so gerne besitzen, das Relief. Bitte, ich möchte es so gerne in meinen Besitz bringen. Würdest du es für mich beschaffen? Du hast doch so viele Kontakte, hast du mir mal erzählt.“

Dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht. „Nein! Unmöglich!“

Sie kuschelte sich nun an ihn, umfasste sein Gesicht, küsste ihn ungestüm. 

„Tue es für mich! Du liebst mich doch, nicht wahr?“

Nun nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. „Valerie, ich liebe dich mehr, als du es dir vorstellen kannst, als ich es in den Worten fassen kann, aber der Gedanke, dass dir NeinNein etwas zustoßen könnte …Nein! Das ist für mich unerträglich. Vergiss das Relief, Valerie. Vergiss es ganz schnell.“

Er löste sich von ihr. Sie konnte an seiner Mimik erkennen, wie es im Gehirn dieses Mannes arbeitete. 

„Aber du brauchst doch nur ein paar ganz bestimmte Leute anrufen, um da heranzukommen, hast du mir mal erzählt, und arm bist du auch nicht. Du bist ein Mann von Welt, Ernest Watkins“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Mache doch mal was draus – für mich! Beweise mir deine Liebe! Zeige mir, was für ein  Mann du bist, was du alles so drauf hast.“

„Ich weiss, du willst es doch auch nur zu gerne in deinem Besitz haben, trotz all dem. Ich weiss es, es sehe es dir an. Ich kenne dich.“

„So, du kennst mich?“, schmunzelte er. 

„Besser sogar als du dich selbst, mein Guter.“ Sie schaute auf die Wanduhr. 

„O nein, ich habe einen Termin. Bitte, rufe mich an. Ich warte auf dich.“

„Das werde ich.“

Sie gönnte ihm noch einen koketten Augenaufschlag. „Versprochen?“

„Versprochen, Darling.“

In seinen Augen lag etwas, was sie als ehrliche Zuneigung wertete. Ihr drehte sich der Magen um. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Das machte die Sache noch komplizierter, als sie es ohnehin schon war. 

Eilig, bevor er ihre Regungen wahrnehmen konnte, verließ sie den Raum. Sie brauchte nicht zu lange zu warten, um seine Stimme fast eine halbe Minute später in den Telefonhörer bellen zu hören. Ihre Benommenheit verschwand so schnell wie sie kam – und machte Freude Platz. 

„Ja, ich habe einen Auftrag. Was? Ja, ich brauche Ihre besten Männer dafür. Landers. Und weiter? Wie heißt der? Lieven? Okay. Besorgen Sie das Nefer-Relief – und das so bald wie möglich! Was? Ja, ja, ich weiß davon, aber meine Freundin … Wie?“ Dann wurde er böse. „Ist mir doch egal! Beschaffen Sie es mir! Ja, Sie bekommen Ihr Geld!“

Sie strahlte freudig, wie sie die den langen dunklen Flur entlang zur Haustür lief. Sie flog geradezu die steile Treppe herunter in den Hof, wo ihr Leihwagen geparkt war. Sie fuhr flott mit vom Anwesen in DelMar, legte einige Meilen zurück, bevor sie in einen Feldweg einbog. 

Brooke griff zum abhörsicheren Autotelefon. In ihr knisterte die Anspannung, indessen sie mit einem ihrer langen künstlichen Fingernägel eine Nummer wählte. „Habt ihr alles?“ Sie lächelte beim Vernehmen der positiven Antwort über das ganze Gesicht. „Wunderbar! Konntet ihr von seinem Adressbuch irgendwas … Wunderbar! Endlich mal eine gute Nachricht. Ich melde mich wieder.“

Auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums schminkte sich in aller Ruhe ab; erlöste sich von der Perücke und den zu brennen begonnenen Kontaktlinsen. Die Fingernägel wanderten zurück in eine Schachtel. Als Nächstes griff sie sich in das Innere ihrer Bluse, um sich von den Wanzen zu befreien. Der nächste Blick in den Spiegel zeigte ihr wieder ihr wahres Ich. Ja, so konnte sie einige Minuten später vor ihre vierzehnjährige Tochter Cynthia treten, um sie mit Not und Mühe aus dem Internetcafé lotsen, in das sie wegen der lauten Rockmusik nur widerwillig trat. 

Sie brauchte nicht zu lange zu suchen. Das Mädchen saß kichernd mit einem Jungen ihres Alters in der Ecke vor einem der Computer bei einem Glas Cola. Aus der Ferne konnte Brooke erkennen, dass das auf dem Bildschirm nicht nach Lernstoff aussah, sondern viel eher wie Gewalt verherrlichendes Computerspiel. Wut stieg in ihr hoch. Cynthia hatte sie also wieder mal angelogen. Die nächste Arbeit in Mathematik würde sie gewiss in den Stand setzten, was ihre Versetzung ernsthaft gefährdete.

Sie ging energisch zu ihr, tickte ihr auf die Schulter. „Komm jetzt! Wir müssen los. Beeilung!“

Sie musste wegen der ohrenbetäubend lauten Rockmusik brüllen. Cynthia verdrehte die Augen, küsste ihrem Freund, einem Punker, auf die pickelige Wange. „Tut mir leid, Scott.“

„Schade. Wann sehen wir uns wieder?“

„Morgen in der Schule.“

„Und sonst?“

Sie zuckte ahnungslos die Achseln. 

„Komm jetzt! Bewege endlich deinen Hintern her!“, rief ihre Mutter ihr ungeduldig zu, die finster drein blickend am Ausgang stand. „Ich habe nicht ewig Zeit.“

„Ich komme ja schon.“

Die schulterte ihren Rucksack und trottete hinter ihrer Mutter zum Wagen, setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie sprach kein Wort, vor allem weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. 

Brooke fädelte sich in den Verkehr auf den Interstate Highway fünf ein. „Ich kann dir nur raten, dein Betragen zu bessern, ansonsten werde ich dich im Boot-Camp anmelden.

„Nein!“ Cynthia starrte sie schockiert an. „Mom! Das kannst du mir nicht antun! Ein paar Freunde von mir waren da. Es ist schrecklich dort.“

„Ein Grund mehr für dich, in Zukunft hart an dir zu arbeiten.“

„Das würde Daddy nie zulassen!“, rief sie aufgebracht aus. „Niemals!“

„Das werden wir ja noch sehen, nachdem ich mit ihm über deine Schulnoten gesprochen habe. Heute Morgen hat dein Lehrer angerufen.“

Sie ließ sich in die Lehne zurückfallen. „Hier ist sowieso alles doof. Die Schule, die Lehrer, alles. Nur dein jetziger Freund, der ist toll. Er versteht mich wenigstens. Und wann gehen wir zurück nach New York?“

„Darüber haben wir doch schon gesprochen. Sobald hier alles erledigt ist. Und versuche gar nicht erst, einen gegen den anderen auszuspielen. Denke nicht mal im Traum daran, das rate ich dir. Ich kenne dich.“ 

„Du mich kennen? Du kennst mich überhaupt nicht, Mom! Du weißt weder, welche Rockgruppe ich mag, noch welches T-Shirt ich am liebsten trage. Du gönnst mir aber auch nicht die geringste Freude! Bei Daddy gefällt es mir besser als bei dir und Ken. Daddy und Phyllis sind viel freundlicher zu mir als du.“

„Wahrscheinlich, weil du denen das liebe Mädchen vorspielst, ihn um den Finger wickelst und ihm ordentlich auf der Nase herumtanzen kannst. Bei mir kommst du damit nicht durch.“

„Du bist ekelhaft.“

Nun war Brooke die Gekränkte. „Toll! Ich bin ekelhaft, nur weil ich das Beste für dich will, und nicht möchte, dass aus dir nicht eine dieser verlotterten Gestalten wird, mit denen du vorhin deine Zeit vergeudet hast. Schöne Freunde hast du – Freunde, die dich vom Lernen abhalten.“

Cynthia seufzte. Schon wieder diese Leier. Die hing ihr ebenso zum Hals raus, wie diese ständigen Vorhaltungen; dabei wusste sie doch genauso gut selbst, dass es für ihre Zukunft nicht zum Besten stand, wenn sie sich nicht bald am Riemen riss. Sie wollte sich ja auch bemühen, ja, sie wollte es ernsthaft, doch die Versuchung sich auf diese Art bei den Jugendlichen ihrer Schule zu integrieren, war nicht minder groß. 

Vor mehr als einem Jahr, als sie bei ihrer, von ihrem Vater kürzlich geschiedenen Mutter noch in der 45. Straße East wohnten, hielt sie sich nach Schulschluss, statt in der nahen Bibliothek zu lernen, wie sie es versprach, im Ausgang zu bekommen, mit ihren Freunden im Bryant Park herum, bis dieser am Abend geschlossen wurde. In einigen Kaufhäusern verübte sie, um sich bei einer Gang zu etablieren, Diebstähle, wofür sie sich letztlich vor einem knochenharten Richter verantworten musste, der sie zu hundert Stunden Sozialarbeit verdonnerte. Sie hatte sich seither geschworen, nie mehr an solche Dummheiten auch nur zu denken. 

Brooke reichte ihr, vor einer Ampel stehend ein Taschentuch. „Wische deinen Mund ab! Du siehst aus wie ein Kind, dass Erwachsene spielen will.“ Sie sah genau hin. „Moment! Diese Farbe kommt mir bekannt vor.“ Ihre Stimme wurde schrill. „Das ist ja meiner.“ Ihre Tochter zuckte nur gleichgültig die Achseln. „Du bist ohne meine Erlaubnis an meine Sachen gegangen. Das hat Folgen, das sage ich dir.“

Cynthia blickte ihre Mutter grimmig von der Seite an und schwieg. 

Brooke konzentrierte sich auf den dichten Verkehr, hing anderen Gedanken nach. Zwar liebte sie ihre Tochter, doch ihr war auch bewusst, dass in ihr zu viel der Rigorosität ihres Vaters wie auch der Gefühlsarmut ihrer Mutter steckte. Umso erleichterter war sie, dass ihr jetziger Lebensgefährte Kenneth Smith, erstaunlich gut mit dem Kind zurecht kam, und, im Gegensatz zu ihr, Zugang zu ihrem Seelenleben fand. 

Während ihres Auftrages in San Diego durften sie und ihre Tochter bei ihm wohnen, worüber sie mehr als dankbar war, zumal zwischen eine noch zarte Liebesbeziehung erst ihren Anfang nahm. Es schien, als kämen sie beide seit ihrer ersten Begegnung in New York, in der FBI-Zentrale in Queens, wo er eine Stellung als Abteilungsleiter bekleidete, sich jeden Tag ein Stückchen näher. Ihre Wege kreuzten sich immer häufiger, schließlich kamen sie sich nach Dienstschluss persönlich näher, zumal er diese charakterlich komplizierte, bildschöne Frau schlichtweg umwerfend fand; auch andersherum hätte Brooke den stattlichen Mann mit den breiten Schultern und dunkelbraunen Haaren nicht von der Bettkante geschubst.

Sie parkte auf dem Garagenhof, neben einem modernen Gebäude aus rotem Backstein und an der Seite, wo das Treppenhaus sich befand, kunstvollen Elementen aus gläsernen bunten Mosaiken.

„Hast du deine Hausaufgaben fertig?“

Sie sprach befehlshaberisch mit ihrer Tochter, die, wie sie meinte, keinen anderen Ton verstand, geschweige davon, dass sie sie respektierte.

„Zur Hälfte.“

„Dann mache dich an die Arbeit! Ich muss nochmal kurz zu einer Besprechung und dann werde ich deine Aufgaben kontrollieren.“

„Das ist nicht nötig, Mom.“

„Wie sehr das nötig ist, hat mir heute Morgen dein Lehrer bestätigt. Du wärst respektlos und faul und du kleidest dich nicht der Schulordnung entsprechend, viel zu aufreizend. Du hast vier Fünfen, junge Dame.“

Stöhnend stieg das Mädchen aus, da erschien Ken auch schon in der Haustür. Die gepeinigte Mimik des Teenagers sagte ihm alles, wie sie ohne ein Wort an ihm vorbeirauschte, stinksauer die Treppe hoch stampfte und oben ihre Tür zu schlug. 

Brooke blieb müde im Wagen sitzen, kurbelte das Fenster herunter. Sie brauchte Luft. Viel Luft. Sie rieb sich die Augen.

Er ging besorgt auf sie zu, kniete sich neben dem Wagen. „Hallo, Liebes.“

„Ken“, hauchte sie müde. „Wie schön dich zu sehen.“

„Was war denn jetzt schon wieder zwischen euch los?“

„Das Übliche, würde ich sagen. Ich bin heilfroh, wenn dieser Auftrag bald abgeschlossen ist. Ich sage dir, lange kann ich dieses Schauspiel nicht mehr durchhalten. Jedes Mal, wenn dieser Typ mich berührte, wurde es mir anders. Es war ekelhaft. Und dann noch Cynthias’ Allüren.“

Die Vorstellung, ein anderer Mann würde die Frau seines Lebens berühren, seine Frau, versetzte ihn in Aufruhr. Seine Hand streichelte ihr Schulter, dann neigte er sich zu ihr herüber, um sie zu küssen. Sie erwiderte hungrig nach ihm den Kuss.

„Du, ich liebe dich.“

Er brachte ihr Herz dazu, sich zu erwärmen, die Eisschichten drum herum zum Schmelzen zu bringen. Sie schenkte ihm ein seltenes Lächeln. Es war schön anzusehen. Lieblich und so ganz und gar nicht hartherzig.

„Ich liebe dich auch, Ken.“ 

Sie schloss genüsslich die Augen, beugte sich zu ihm herüber. Ihr Piepser schlug an. Sie schickte einen Fluch zum Himmel. „Ich schwöre dir, eines Tages werfe ich das verdammte Ding aus dem Fenster.“ 

„Tu es doch.“

„Ich schwöre dir, ich tue es tatsächlich.“ Sie startete den Wagen. „Tut mir leid, aber ich muss los, sonst ist Glendale ungenießbar, sodass man mit ihm kaum ein vernünftiges Wort mit ihm wechseln kann. Du kennst ihn.“

Er winkte burschikos ab. „Ach, Paul soll sich mal nicht so anstellen! Immerhin hat er die ganze Operation in Gang gebracht und dich zum Schnüffeln verdonnert, was eigentlich gar nicht deine Aufgabe ist.“

„Ich denke, da steckt noch einiges mehr hinter, Ken.“

„Und wenn schon, setze dich durch bei ihm. Du, machen wir beide einen schönen Abend?“

„Aber gerne. Stelle schon mal die Flasche Wein kühl.“

„Wird gemacht. Dann erzähle ich dir auch, wie es heute so lief.“ 

Da er sich mit einem eigenen Sicherheitsdienst selbstständig machen wollte, fasste er den Ausstieg beim FBI ins Auge. Heute Morgen hatte er deshalb bei seinem Vorgesetzten vorgesprochen.

Sie rollte rückwärts, doch bremste mit einem Mal ab. „Ach, Ken, bitte, sprich bei Cynthia ein Machtwort! Sie benimmt sich echt unmöglich und kontrolliere bitte ihre Hausaufgaben.“

„Das Kind hat den falschen Umgang, das ist das einzige Problem. Ich komme gut mit ihr zurecht, aber mir scheint, wir müssen dennoch in Zukunft andere Methoden anwenden.“ Sie lenkte den Wagen auf die Straße. „Brooke?“ Er blickte sie an. Es war einer dieser Blicke, die ihr einen eisigen Strahl den Rücken herunter jagte. „Deine blöde Geheimnistuerei nervt allmählich. Sage mir endlich, was bei dir Sache ist. Sogar deine Tochter merkt, dass du einiges verbirgst. Vor uns beiden.“

„Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Ich muss los.“

Nein! Darüber wollte sie nicht reden. Absolut nicht – und schon Recht nicht mit ihm. Mit niemandem wollte sie das. Dieser Bereich ihrer schmerzenden Seele blieb beiden versagt. Das, und mehr ging nur sie etwas an. 

Brooke gab Gas, fuhr die Straße hinab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie erinnerte sich wie sooft an ihre beste Freundin, mit der sie ihre Schulzeit in der St. Raphaela School, einem Internat für höhere Tochter in Augusta, im Staat Maine eine kurze Zeit lang hatte teilen dürfen.

Keine der anderen Mädchen war so vertrauenswürdig, so freundlich zu ihr, wie sie es gewesen war, die ihre intimsten Gedanken, ihr dunkelsten Geheimnisse erspüren konnte. Mit ihr konnte sie über alles reden, was sie bewegte, all ihren Kummer konnte sie ihr anvertrauen, in der Gewissheit, sie würde niemals ihr Vertrauen missbrauchen, oder gar hinter ihrem Rücken über sie lachen wie die anderen dummen Gänse, und am Ende hatte sie auch alle ihre kleinen Geheimnisse mit ins Grab genommen. 

Brooke hatte ihren tragischen Tod bis heute nicht verwinden können. 

Melanie hatte einen festen Platz in ihrem Herzen und sie fand, die Zeit sei reif, um ihren Tod zu sühnen. Es war etwas, was sie tun musste, ehe sie ihr Glück an Ken Seite genießen durfte. Wie Blei lag es ihr auf der Seele. 

Selbst wenn ihre Aktionen mit dem Ehrenkodex, nicht selbst mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, partout nicht vereinbar war, es war ihr gleichgültig. Sie war ohnehin entschlossen nach diesem Projekt den Dienst zu quittieren. Sie wünschte sich ein ruhiges Leben als Ehefrau und Mutter zu führen. Aufregung und Nervenkitzel hatte sie in ihrem Leben mehr gehabt als es ihr lieb war. Genug war genug. 

Sie näherte sich dem Treffpunkt, doch bevor sie ausstieg, zog sie aus ihrer Brieftasche ein kleines gelbliches Foto, strich sanft darüber.

„Deine Mörderin wird dafür bezahlen, das verspreche ich dir“, sprach sie, wobei sich ein böswilliges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Und es wird schon bald so weit sein. Sehr bald.“ 

Sie stieg entschlossen aus und ging, mittlerweile wieder in guter Laune, auf das düstere Fabrikgelände mit der angrenzenden Lagerhalle zu. 

***

Hastig packte Lisa Everett Rösner ihre Reisetasche. Sie war froh, dank ihrer Freundin Kim für eine Weile den Rückzug in die Abgeschiedenheit einer Jagdhütte anzutreten, um mit ihren quälenden Schuldgefühlen und den grauenhaften Erinnerungen vergangener Zeit allein sein zu können. 

Sie zog den Reißverschluss zu und trat ans Fenster. Lisa blickte hinaus in den schönen warmen Sommertag. Sie sah in den runden Innenhof der Villa aus cremefarbenen Sandstein. Ihr zweisitziger Mercedes wartete unten im Hof auf sie. Es war ein Backsteinbau mit viel Glas und einem weitläufigen Garten hinten; damals das beste Anwesen weit und breit im vornehmen Gaslamp Quarter, was für Geld zu bekommen war. Ein Haus, welches sich Lisa seit sie ein Kind war, immer gewünscht hatte. 

Einige Haarsträhnen fielen ihr ins faltige Gesicht. Sie band sich geschickt die goldblonden langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, ehe sie noch einen prüfenden Blick durch das Zimmer schweifen lassen wollte, bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte. 

Sie holte betroffen tief Luft. Die Fotos. Sie hatte vergessen sie wegzuräumen, zurück in den Karton zu legen. Sie schob sie zusammen und bemühte sich dabei, den Blick von den schwarz-weißen Fotografien aus glücklichen, unbeschwerten Zeiten ihrer Jugend, die durcheinander auf dem Bett lagen, abzuwenden. Ohne es zu wollen nahm ihre Hand eines der Fotos. 

Es war auf dem Schulball in den frühen 60er Jahren aufgenommen worden und zeigten eine pausbäckige Wendy Conway neben Melanie stehen, die entgeistert in die Kamera starrte. Wobei wurden sie erwischt? Wer hatte den Schnappschuss gemacht? Es musste einer der Jungen von der St. Gabriel School gewesen sein, überlegte sie. Dann drehte sie sich nach rechts zum Schreibtisch. Darauf lag noch aufgeschlagen ihr Tagebuch. Auf etlichen Seiten hatte sie vergeblich ersucht ihr Gewissen zu erleichtern. 

Sie riss die oberste Schublade auf, fuhr mit der Hand tief hinein, um hinten auf einen Punkt zu drücken, der den doppelten Boden sich anheben ließ. Sie entnahm ihn, legte ihr Tagebuch aufgebracht hinein, und knallte die Lade wieder zu. Weg. Bloß weg damit. 

Es war der einzige Makel ihrer ansonsten so glücklichen wie unbeschwerten Jugend, dessen Existenz sie verwünschte. Lisa wusste, sie trug schwere Schuld auf ihren Schultern. Eine moralische Schuld. 

Sie lehnte sich gegen das Fenster und schloss die brennenden Augen. 

Sie sah Melanie vor sich. Lebendig und fröhlich. Melanie lachte sie, Lisa, an. Ihr schulterlangen lockigen braunen Haare hingen über ihre Schultern, in ihren ebenfalls braunen Augen funkelte der Schalk, und um die kleine Stupsnase herum zeigten sich ein paar kleine Sommersprossen. Die Mundwinkel hatten sich zu einem angedeuteten Lächeln nach oben gezogen.

Ja, sie war etwas ganz Besonderes, und das ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie hatte ein Herz aus Gold, einen wunderbaren Humor. Ihr Lachen würde sie nie vergessen. Ein offenes, perlendes Lachen, welches einem auf der Seele tanzte. Sie würde sie nie vergessen. Die gute, liebe Melanie. Sie könnte heute noch leben, wenn sie, Lisa, nicht – Sie schluchzte qualvoll auf, sodass es in ihrer Brust schmerzte. Ihr Gesicht glühte. Tränen liefen über ihre Wangen. Diese verdammten Schuldgefühle. Sie waren alle wieder da – und es fühlte sich noch genauso schlimm wie damals an, es tat genauso weh, als sie ihr Gemüt letztlich bis hin zum totalen Zusammenbruch malträtierten.

Schluss. Aus, Feierabend. Sie ertrug es nicht mehr. Sie wollte aufbrechen. Sofort. Sich vom Fenster abwenden. Die Bilder in ihrem Kopf jedoch fanden kein Ende. 

Lisa sah sich selbst noch einmal, wie sie benommen von starken Beruhigungsmitteln, neben ihrer Mutter bei der Trauerfeier ganz vorne auf der ersten Kirchenbank saß. Trotz der Ferien waren fast alle Schüler gekommen und auch viele der Lehrer. Selbst die Direktorin erwies Melanie die letzte Ehre. Melanies’ Eltern saßen weinend auf der anderen, gegenüberliegenden Seite in der Kapelle. Einige Bänke hinter ihnen saß Sarah, Melanies große Schwester, mit ihrer Familie. Ihr war der Zorn auf ihre Eltern anzusehen, die sie nicht einmal eines einzigen Blickes bedachte. Manchmal drang von weiter her das Flüstern eine der Frauen zu ihr. „Wie konnte das nur passieren? Wie kam es nur dazu?“ Lisa ballte die Hände zu Fäusten. Hätte sie die geistigen und körperlichen Kräfte aufbringen können, sie hätte Melanies’ Eltern auf der Stelle ihre ganze Wut ins Gesicht gebrüllt. Ihnen gesagt, dass sie ausschließlich aus Angst vor ihnen diesen Fehler beging, und nun war sie nicht mehr am Leben. Ihretwegen. 

Melanie lag direkt vor aufgebahrt, in einem weißen Sarg und hielt eine Lilie in der Hand. Sie sah so wunderbar friedlich aus. So glücklich. Wo war sie jetzt? Wo befand sich ihre Seele, fragte Lisa sich. Es musste schön dort sein, weil sie lächelte. Es sah aus, als würde sie träumen. Ja, sie würde bestimmt gleich die Augen aufschlagen, sie anlächeln und sagen: „Hey, was ist los? Wollen wir nicht mal wieder ins Kino gehen?“ Lisa starrte sie beschwörend an. In Gedanken flehte sie sie an, wach zu werden, diesem Irrsinn hier, dem schlechten Scherz ein Ende zu bereiten. Jetzt. Gleich. Sofort. Aber sie tat es nicht. Melanie war tot. Tot! 

„Und daran bin ich schuld! Ich! Ich! Ich!“, rief Lisa gegenwärtig unter Tränen aus, schlug mit ihren Fäusten gegen den Fensterrahmen. 

Der nächste Eindruck war der, dass der Priester die Bibel zu schlug, und schwere traurige Orgelmusik einsetzte. Zwei Männer traten aus dem Hintergrund an den Sarg und schlossen ihn. Langsam und behutsam wurde es für alle Zeit dunkel um Melanie.

Jetzt wusste Lisa, niemals mehr würde sie ihr glockenreines Lachen hören können, nie mehr konnte sie den Arm um sie legen, ihr beteuern, dass alles gut werden würde, und niemals mehr würde Melanies’ wohlwollend blickendes Augenpaar forschend, lächelnd auf ihr ruhen.

Auch um Lisa wurde es dunkel. Sie fiel in Ohnmacht.

Stimmen drangen dann von weit her zu ihr. Sie lag auf etwas hartem. Ihr Kopf tat weh. Ihre Augenlider flatterten. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie. „Da. Sie kommt zu sich“, sagte eine Frau. „Die Ärmste! Es war alles zu viel für sie“, hörte sie eine andere Frau sagen. „Sie hat ihre beste Freundin verloren. Das muss schrecklich sein.“ Eine andere, diesmal männliche Stimme sprach von weit her: „Lassen wir sie eine Weile hier liegen, damit sie sich erholen kann. Das arme kleine Ding.“

Jemand legte ihr ein eiskaltes Tuch auf die Stirn. Sie schaute sich um. Anscheinend hatte man sie in ein Nebenzimmer getragen, wo sie auf einer alten Couch lag. Es war unangenehm kühl dort. Es roch nach Weihrauch.

Ein Geräusch ließ Lisa zusammen zucken. Die Gegenwart holte sie mit aller Gewalt ein. Unten wurde die Haustür aufgeschlossen.

„Mom! Bist du da?“

Verflucht, dachte sie. Sie hatte ihre Tochter nicht erwartet. Eigentlich hätte sie längst fort sein wollen. Rasch schob sie die Fotos unter die Bettdecke, ergriff die Tasche und trat mit einem aufgesetzten, gezwungen wirkenden Lächeln aus dem Zimmer ins Treppenhaus, kam ihr entgegen. 

„Ach, da bist du ja. Hallo, Mom.“

„Hallo, Schatz.“ 

Sharon kam ihr entgegen, um ihr die Tasche abzunehmen, doch das wollte sie nicht, drehte den Kopf weg, stattdessen begrüßte sie ihre Tochter mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Lisa stieg die Stufen herunter. Auf den fragenden Blick hin sagte sie: „Ich muss für einige Zeit allein sein.“ 

Sharon war die Situation nicht geheuer. In einer solch ernsthaften Stimmung, mit zittriger Stimme sprechend, kannte sie ihre heitere, dominante Mutter nicht. Es versetzte sie in Ängstlichkeit. Ehe sie sie weiterhin mit quälenden Fragen bombardieren konnte, fragen konnte, fiel Lisa ihr ins Wort. „Ich habe deinem Vater ein Brief geschrieben, liegt in der Küche.“

Sie konnte nicht anders, als ihre Mutter verwundert anzustarren. Anstatt Designer Klamotten trug sie sportliche Freizeitkleidung, sogar das Make-up hatte sie auf ein Minimum reduziert. Bis auf ihre Uhr und einen Ring hatte sie keinen Schmuck. Normalerweise, so wusste sie, behängte sich ihre Mutter meistens wie ein Weihnachtsbaum. 

„Du bist so anders in letzter Zeit. Was ist los? Jetzt sage nicht wieder „nichts“, das glaube ich dir nämlich nicht. Bist du etwa krank?“

Ihr energisches „Nein.“ ließ keine Fragen mehr zu. „Übrigens, ehe ich's vergesse, ich habe dem Personal freigegeben.“

„Kein Thema. Ich komme auch gut ohne aus.“ 

Lisa hielt inne, stellte die Tasche am Fuße der Treppe ab.

„Daddy müsste jeden Augenblick nach hause kommen. Er hat mich vorhin auf Handy angerufen und gesagt, dass er gleich hier ist.“

Sie lachte affektiert. „Wie nett! Und ich dachte, du möchtest deine alte Mutter mal wieder sehen.“

„Du und alt! Mom, ich bitte dich! Du bist gerade mal zweiundfünfzig, aber du siehst nicht älter aus als fünfunddreißig.“

„O, danke! Ich fühle mich geschmeichelt. Fitnesscenter und Kosmetiksalon sei Dank.“ Sie sah sich ihre Tochter genau an. „Sei ehrlich, wie läuft es bei dir? Lebst du denn noch bei deinem Freund, diesem Stuart?“

„Nein, schon lange nicht mehr. Karen und ich teilen uns ihr Apartment.“

„Na, da bin ich erleichtert! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Bei Karen bist du jedenfalls besser aufgehoben.“ Sie legte ihr die Hand auf die Schulter. „Du warst unglücklich mit ihm. Ich habe es dir sofort angesehen.“ Lisa umfasste behutsam das Gesicht ihrer Tochter. „Sharon, bitte, sieh mich an.“ Sie gehorchte. „Du verheimlichst mir doch nichts, oder?“

„Was meinst du?“

„Kannst du mir mal sagen, weshalb du bei diesen Temperaturen ein Halstuch trägst?“ Lisa zog Sharon das Tuch vom Hals, ehe sie reagieren konnte. Ihr Mutterherz krampfte sich zusammen. 

„Dieses Schwein!“

„Das ist alles meine Schuld gewesen, Mom. Ich habe ihn provoziert. So schlimm war es nicht, wie du denkst. Wirklich nicht.“

„Ach, erzähl mir doch nichts! Männer wie Stuart, Kerle, die Frauen schlagen, werden es immer und immer wieder tun. Sie können gar nicht anders, gleichgültig wie oft sie Besserung geloben. Du hast keine Schuld an all dem. Rede dir so einen Schwachsinn nicht ein! Niemals!“ Sie warf einen Blick zur Uhr. „Hör zu, in zwei Tagen, bin ich zurück. Spätestens. Dann setzen wir uns zusammen und reden – von Frau zu Frau.“

„Einverstanden.“ 

Lisa sah, welche Melancholie in Sharons’ Blick lag. Es tat ihr weh, sie in diesem elenden Zustand zu sehen. Ihre Sharon war nicht mehr sie selbst, sondern ein verängstigtes, ein in sich unsicheres, über nervöses Wrack. Ihre, mit den Schultern nach vorne geneigte, anstatt kerzengerader aufrechte Körperhaltung, und auch die Art wie sie sprach, leise und demütig anstatt vorlaut wie altklug, ließ sie das Ausmaß des zerrütteten Selbstwertgefühls erkennen. Von der Selbstachtung ganz zu schweigen.

Lisa umarmte sie noch ein letztes Mal, ehe sie Sharon auf die rechte und linke Wange küsste. „Tut mir leid, ich muss los.“ Entschlossen öffnete sie die Haustür. Robert könnte jeden Moment zurück sein. Sie wollte ihm nicht begegnen. „Ich kann nicht mehr warten. Sag Daddy, er soll den Brief lesen.“ Sie schmiegte sie noch ein letztes Mal an sich, küsste sie. „Mache dir bitte keine Sorgen um mich, Schätzchen. Alles wird gut. Du wirst sehen.“

Dann setzte sich Lisa, ohne noch einen einzigen Blick zurückzuwerfen in ihren Wagen und raste davon.

Kaum war sie, nicht mal eine halbe Minute fort, da fuhr Roberts’ dunkelblauer BMW aus der entgegengesetzten Richtung kommend auf den mit Kies bedeckten Hof. Sharon öffnete ihm nervös die Wagentür. „Daddy, Mom ist gerade erst weggefahren. In diese Richtung.“

Er winkte ihr dankbar zu und folgte seiner Ehefrau mit quietschenden Reifen, versuchte sie zum Anhalten zu bewegen, sogar zu nötigen so weit der Verkehr es zuließ, musste sich jedoch nach einigen Minuten geschlagen geben, und ergebnislos zurückkehren.

Wie Robert Rösner zurückkehrte, vor der Villa aus dem Wagen stieg, sah er viel älter aus, als er es mit seinen vierundfünfzig Jahren war. Seit einiger Zeit kämpfte er mit überflüssigen Pfunden. Zeit für Tennis ließ ihn sein aufreibender Job als Manager im Vorstand des Versicherungskonzerns, dessen Inhaber sein Schwiegervater, Lisas’ Vater war, kaum noch zu.

„Tut mir leid, Ich habe sie verloren.“ Niedergeschlagen ließ Sharon die Schultern hängen. Er legte den Arm um sie. „Du siehst müde aus.“

„Mir geht's gut. Mom hat dir einen Brief geschrieben. Liegt in der Küche.“

Mit schweren Schritten betrat er nach ihr die Villa. Er stellte die Aktentasche im Flur ab und ging direkt in die mit viel weißer und gelber Farbe gestrichenen Küche. Er las Lisas’ Brief durch, ließ sich währenddessen auf einen der Stühle plumpsen. Er wiegte ablehnend den Kopf. „Dieser Brief ist gar nicht ihre Art. Was ist denn nur mit ihr los?“

In diesem Moment betrat Marietta Pedroz, die Haushaltshilfe, eine gebürtige Mexikanerin das Haus. Sie war eine fleißige Frau, trödelte nicht herum, und war überaus diskret. Mit einem Nicken begrüßte sie die beiden. 

Robert kam zu Sache. „Wissen Sie, was mit meiner Frau los ist?“

Sie band sich die Schürze um. „Ja. Verändert in den letzten Wochen. Einige Male … gnädige Frau einkaufen … kam gehetzt wieder. Oft roten Kopf gehabt und aus der Puste. Ich sie gefragt mit Sorge, was sie hat, aber sie sagte bloß „nichts“. Sie rannte in ihr Zimmer, befahl mir vorher, ich holen Rotwein aus Keller. Schloss sich ein in Zimmer, lange Zeit. Den Wagen musste Tony in Garage fahren. Viel Alkohol.“

Schatten überzogen sein Gesicht. „Dabei verträgt sie gar keinen Alkohol. Sehr merkwürdig. Wie lange ging das schon so?“ 

Marietta zuckte die Achseln. „Seit Wochen.“

Er verlor die Fassung, schrie die Frau an. „Verdammt nochmal! Warum, Marietta erfahre ich das erst jetzt?“

„Sie fast nie da. Wann sagen?“ Selbst zufrieden, als sei damit alles erklärt, verließ die Angestellte die Küche. „Sie mich anschreien. Nicht gut.“

„Großartig! Toll! Ganz toll! Jetzt bin ich also wieder mal schuld, wenn alles aus dem Ruder läuft!“, rief er verärgert seiner Hilflosigkeit wegen aus, beruhigte sich aber beim Anblick seiner ungewohnt ernsthaften Tochter rasch. „Entschuldige, ich wollte es nicht an dir auslassen.“

Sie winkte ab, stand auf, und konnte dabei widerwillig nicht anders, sie wie ihre schmerzenden Glieder reckte, die Stuart mit seinen Fäusten in erbarmungslosen Wut bearbeitet hatte, als aufzustöhnen. 

„Du siehst angeschlagen aus. Was soll das Halstuch bei dieser Wärme?“

Er nahm es ihr ab. Sie kannte seinen Zorn und wagte es deshalb nicht, sich gegen ihn aufzulehnen. Auch wenn die Würgemale verblasst waren, die Abdrücke der Finger waren noch immer zu erkennen. 

„Das war meine Schuld. Ich habe die Strafe verdient, weil ich frech war.“

„Was redest du für einen Unfug!“, fuhr er sie an, und konnte nicht anders, als sie entsetzt anzusehen. In einer derartigen Verfassung kannte er seine aufmüpfige, rebellische Tochter nicht. „Er hat zugeschlagen, er hat sich provozieren lassen; gleichgültig, was du gesagt oder getan haben solltest. Er allein trägt die Verantwortung dafür – aber nicht du!“ Robert lief unstet in der Küche auf und ab. „Was ist denn los? Meine Frau ist nicht sie selbst und meine Tochter wird von einem jähzornigen Monster fast umgebracht.“ 

Sie schmunzelte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Daddy.“

„Aber beinahe.“ Er breitete die Arme aus. „Ach, komm her.“ Robert drückte sie mit all seiner Vaterliebe an sich, strich ihr über ihren Schopf. „Es tut mir ja so leid, dass ich deine Mutter und dich vernachlässigt habe. Mein Job frisst mich auf, die Probleme im Büro nehmen kein Ende. Mir scheint, es wird Zeit, dass ich endlich tätig werde – zum Wohle der Familie.“

***

Laute Musik dröhnte aus den Boxen. Das Shooting für einen Versandhauskatalog lief auf vollen Touren. Stuart Lieven gab sein Bestes um eines der bildhübschen Mädchen, dass sich auf einem Hocker räkelte, zu heißen Posen zu animieren. Nicht zu Unrecht hatte er sich in den letzten Jahren einen exzellenten Ruf in der Branche der Modefotografen erarbeitet.

Da einer der Frauen vergaß die Tür des Studios hinter sich zu schließen, gelang einer unbekannten Frau heimlich der Zutritt. Mit einem Mal hielt eine Blondine in hautengen Jeans und einer noch engeren Bluse vor Stuarts’ Kamera erstaunt inne, starrte die Unbekannte stumm an. 

Erbost hob er den Kopf. „He! Was soll denn das? Hier bin ich. Konzentriere dich gefälligst!“ Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf eine vornehm gekleidete Frau. Er drehte sich wütend um. „Sie? Was wollen Sie denn schon wieder? Sie stören. Merken Sie das nicht?“

Der Zauber seines wunderbaren Augenblicks der künstlerischen Eingebung war jäh verflogen; dafür hätte er die Besucherin am liebsten erwürgt. Solch wundervolle Momente waren in den letzten Wochen selten geworden und zudem stand er unter Zeitdruck, weil die Tage Mahnungen in seinem Briefkasten flatterten. 

Dazu kam, dass seine seit Tagen schwelende bodenlose Wut seiner verflossenen Freundin Sharon wegen bereitete ihm Magenschmerzen. Sie war zur Gefahr geworden, in dem sie hinter ihm herum schnüffelte, wie ihm aus dem Munde einer Freundin, die begierig in sein Bett krabbelte, zu Ohren kam. 

Er stellte die Musik ab. „So, das war's! Feierabend! Wir sehen uns morgen wieder, in neuer Frische.“

Der Reihe nach verließen die Mädchen das Studio. Erst in diesem Moment würdigte er die gut aussehenden Frau mittleren Alters eines Blickes. 

„So leid es mir tut, ich habe zu arbeiten. Sagen Sie, was Sie von mir wollen, und dann gehen Sie!“

„Nun mal nicht so voreilig, ja. Sind Sie an dem Angebot interessiert?“

„Angebot?“ 

Sie holte aus ihrer Tasche einen Umschlag. „Es geht um einen interessanten und großen Auftrag. Es steht alles darin, was Sie wissen müssen.“ 

Stuart war auf der Hut, vermutete er doch eine Falle. Das Milieu, indem er sich in aller Heimlichkeit bewegte, befand sich wegen einiger Freunde, die durch verdeckte Ermittlern aufgeflogen waren, in heller Aufregung.

Die Frau hielt es ihm ihn. Schnurstracks ging er zu Tür. „Geben Sie sich keine Mühe. Meine kriminelle Jugend ist Geschichte. Und jetzt raus!“

Sie blieb unbeeindruckt wie angewurzelt auf der Stelle stehen. „Haben Sie nicht vergessen, mir etwas zu geben? Denken Sie mal an Ihre Schulden. Dieses Studio hier muss Unsummen verschlingen.“

Er zog eine Grimasse. „Warten Sie!“

Stuart verschwand mit sich und seinem schlechten Gewissen, seinen Skrupeln kämpfend in sein Schlafzimmer, wo er aus dem untersten Fach des Nachtschränkchens einen Umschlag hervorholte. Er blickte ihn mit sich hadernd an, drehte ihn in seinen Händen mehrmals herum. Sollte er es allen Ernstes tun; ihr den heiklen Inhalt einfach so aushändigen?

Es bereute, was er mit Sharon veranstaltet hatte. Das mit den K.o.-Tropfen war absolut nicht in Ordnung gewesen. Sie war völlig weggetreten, ließ seine kleinen Spielchen, die ihr mit Sicherheit Schmerzen bereiten mussten, teilnahmslos über sich ergehen. Es hatte ihm daher noch nicht mal richtig Freude bereitet, obgleich er letztendlich durchweg die Kontrolle über sich verlor. Es machte ihm viel mehr Spaß, wenn sie sich mit Händen und Füssen gegen ihn zur Wehr setzte – bevor die Kamera zum Einsatz kam. 

„Wo bleiben Sie denn? Ich habe nicht ewig Zeit.“ Stuart trat zu ihr. Zögerlich reichte er ihr den großen Umschlag. „Was haben Sie denn? Gewissensbisse? Ist die Kleine das denn wert?“

„Das geht Sie gar nichts an.“

Sie zog die Abzüge kurz heraus, um sie mit einem tiefen Seufzen der Befriedigung zurückgleiten zu lassen. „Gute Arbeit.“

Sie übergab ihm einen Umschlag. „Es ist eine Anzahlung. Das beste Stück vom Kuchen gibt es, wenn Sie und Glenn den Auftrag zu meiner Zufriedenheit ausgeführt haben.“

„Glenn?“ Stuart taumelte betroffen zurück. „Er … Er ist frei? Glenn raus aus dem Knast?“

„Er wurde die Tage auf Bewährung entlassen. Ohne seine fachkundige Hilfe ist dieser Auftrag für Sie nicht zu bewältigen. Sie brauchen ihn, um das Nefer-Relief zu beschaffen.“ Sie erfasste den Ärmel seines Hemdes. Er blickte auf eine grazile, gepflegte Hand mit langen rot lackierten Fingernägeln. „Bitte, mein Freund darf nicht wissen, dass ich Sie darum bat.“

„Das Nefer-Relief? Sind Sie denn noch zu retten? Haben Sie denn nie etwas von dem Fluch gehört?“

Sie lachte amüsiert auf. „Fluch? Dass ich nicht lache! Lächerlich!“ Er sah sie kritisch an. „Bitte, mein Freund ist ein leidenschaftlicher Sammler, besitzt beinahe was Echnaton betrifft – bis auf dieses eine Stück. Bitte, tun Sie mir diesen Gefallen.“

„Nur des Geldes wegen.“

„Schön. Dann kommen Sie bitte zum vereinbarten Treffpunkt und pünktlich! Glenn freut sich darauf, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

Stuart schnaubte ärgerlich. „Aber auch nur er.“ 

Sie verließ ohne ein weiteres Wort sein Studio. Er blickte ihr nach. Warum hatte sie ihn die ganze Zeit so merkwürdig angestarrt? Grübelnd nahm er seine Digitalkamera vom Stativ, um sie an den Computer anzuschließen. Er führte die Handgriffe monoton aus, sie waren Routine. 

Im Badezimmer rieb er eine Stunde später seine Narbe, ein roter Streifen, der von der rechten Schläfe bis hinunter zu seinem markanten breiten Kinn sich zog, mit der Salbe ein, die ihm der Arzt verordnete. Er lachte bitter auf. Wie so viele andere Ärzte auch, die er von frühester Jugend an voller Hoffnung besuchte, versprach auch der ihm, diese würden nach der Laserbehandlung kaum noch zu sehen sein. Welch eine Illusion!

Er war mit einer missgebildeten rechten Gesichtshälfte auf die Welt gekommen, verlebte seine Kindheit überwiegend im Waisenhaus. Von seinen Eltern wusste er nichts, legte auch keinen Wert darauf, über sie etwas zu erfahren; schließlich hatten sie ihn weg geben, und bis zum heutigen Tage nichts von sich hören lassen. Sie wollten, wegen seines Gesichts, wie er verbittert meinte, nichts von ihm wissen, also scherte er sich nicht um sie. Er mochte nicht mehr zählen, wie viele Ehepaare ihn zunächst interessiert ansahen, um dann teils angewidert, teils erschrocken vor ihm zurückwichen. Er war und blieb ein Aussätziger; gehänselt von Kindern, die kaum älter waren als er selbst. Stuart lernte schnell, die Faust als Ventil für die Frustration einzusetzen. 

Eines Tages geschah dann ein Wunder.