Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Deborah führt ein glückliches Leben als liebevolle Mutter und Ehefrau, lediglich das merkwürdige, sogar abweisende Verhalten ihrer Schwiegermutter Angela gegenüber ihrer Person gibt ihr Rätsel auf. Aufgrund ihrer medialen Fähigkeiten beginnt Deborah über Angelas Person in aller Heimlichkeit zu recherchieren. Eines Morgens aber ist Deborah spurlos verschwunden. Jede noch so winzige Spur ihrer Existenz führt trotz aller verzweifelten Bemühungen ihrer traumatisierten wie trauernden Angehörigen ins Nichts. Viele Jahre später wird Deborahs Tochter Grace, die als Modedesignerin arbeitet, Opfer eines paranormalen Geschehens auf dem Anwesen Emery Hall, welches sie panisch fliehen lässt. Doch dann geraten sie selbst und ihre Mitmenschen stetig mehr in den Fokus des Bösen. Wird es Grace gelingen, die Geschichte, um ihre Mutter aufzuklären? Und es stellt sich auch die Frage: Lebt Deborah noch?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sylvia McKaylander
Deborahs Geheimnis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 Sylvia McKaylander
Herstellung und Verlag: BoD –Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783837026108
Nachdenklich nahm Grace, als sie sich während ihrer Pause vor der Nähmaschine sitzend unbeobachtet fühlte, einen Brief aus der Tasche.
Sie wiegte ablehnend den Kopf und konnte nicht anders, als das schneeweiße Kuvert beklommen anzustarren. Ihr fehlte der Mut ihn zu öffnen. Sie drehte ihn mehrmals in ihren Händen, die nun deutlich zitterten – genauso wie bei den letzten Malen zuvor.
Auch dieser Umschlag trug bis auf den Poststempel Londons keinen Hinweis auf den Absender und ihre bis ins Detail korrekte Anschrift wurde mit einer Schreibmaschine getippt. In England kannte sie keine Menschenseele, sie war noch nie in Europa, aber irgendjemand dort kannte sie – und das erschreckend gut.
Sarah Finnley, eine hagere extravagante Erscheinung, die Inhaberin eine der edelsten Boutiquen der Stadt, trat freudestrahlend mit einem Hochzeitskleid überm Arm an sie heran.
„Das Kleid ist wunderbar geworden, Grace. Gute Arbeit.“
„Danke.“
Prompt ließ sie den Brief in die Umhängetasche zurückfallen und erhob sich von dem Stuhl. Stöhnend versuchte ihren schmerzenden Rücken gerade und in die Horizontale zu biegen.
„Nun musst du es nur noch nach Emery Hall bringen, nach Galena. Das dürfte doch kein Problem für dich darstellen, oder?“
Emery Hall. Du liebe Zeit.
Grace spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sarah erstaunte ihre Reaktion, dennoch tat sie so, als bemerke sie dies gar nicht.
„Nein, natürlich nicht.“
„Gut. Der Auftraggeber bestand ausdrücklich darauf, dass du dieses Kleid wieder herrichtest. Nicht ich, nicht Jenna und nicht Gina – nur du. Es sollte für dich also eine Ehre sein, zusammen mit der künftigen Braut die letzte Anprobe zu absolvieren.“
Die Designerin legte das Kleid vor ihre Nase auf den Arbeitstisch, anstatt es samt des Bügels auf den Ständer mit den erledigten Aufträgen zu hängen. Grace machte sich auf der Stelle daran, es zusammenzulegen.
„Grace, ist alles okay mit dir?“
Mit abweisender Miene zog Grace einen der Kleidersäcke unter dem Tisch hervor. Über ihr Privatleben sprach sie grundsätzlich nicht.
„Ja, alles bestens.“
„Wirklich?“
„Ja.“
Ihre Chefin zog eine Grimasse. Sie schätze es gar nicht, wenn sich ihre beste Näherin so zickig und zugeknöpft gab, zumal sie sie sonst als einen Ausbund an Freundlichkeit ganz anders kannte. Zahllose Überstunden hatten in den letzten Wochen ihren Tribut gefordert. Grace war erschöpft und in gereizter Stimmung.
„Es ist Freitagnachmittag.“
Sarah riss die zu stark gezupften Augenbrauen in die Höhe. „Na, und?“
„Ich werde in die Hauptverkehrszeit geraten.“
„Es ist ein Grund für dich, nicht zu trödeln. Wer nicht willig ist, mehr als andere zu leisten, der kommt nie nach oben. Merk dir das endlich mal, Kindchen. Wir sehen uns am Montag.“
Sarah warf den Kopf in den Nacken und stolzierte wie ein Pfau in ihr Heiligtum. Ihr Büro.
Graces Kolleginnen, Jenna und Gina, warfen ihr einen mitleidigen Blick zu, woraufhin sie bloß die Achseln zucken konnte. Grace zwang sich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie glitt mit den Fingern über die aufwendige Verarbeitung.
Es war eines jener hochgeschlossenen cremefarbenen Kleider, wie sie im 18. Jahrhundert getragen wurden. Es war aus Seide, an der Brust mit weißer Spitze besetzt. Die Ärmel gingen bis zum Ellenbogen. Es hatte ein enges Mieder, der knöchellange Rock war rundum mit Volants versehen.
Behutsam, und mit routinierten Handgriffen zog Grace einen Kleidersack mit dem Emblem der Boutique darüber, bevor sie sich ihre Stofftasche mit Arbeitsmaterialien über die freie Schulter schwang, und mit dem Kleid über den anderen Unterarm für das Wochenende winkend verabschiedete.
Aufatmend trat sie hinaus auf die North Michigan Avenue.
Es war ein wunderbarer sonniger Tag, wenn auch noch ziemlich kühl für Anfang März. Hier und da hatte man am Straßenrand die Überreste des Schneesturms letzte Woche zu Häufchen aufgetürmt.
Sie genoss jeden Sonnenstrahl, der den Weg zwischen den Hochhäusern hindurch zu ihr fand, nur leider konnte sie wegen des Verkehrslärms, allem voran dem Quietschen der Hochbahn das erste zaghafte Zwitschern der Vögel kaum hören. Der Schnee der letzten Woche lag hier und da zu einem Berg zusammen gefegt am Straßenrand.
Emery Hall. Sie befürchtete, nunmehr von Unbehagen ergriffen, nach den Recherchen der in Briefen enthaltenen stichhaltigen Informationen, denen sie von Neugier angetrieben, nachgegangen war, dieses altehrwürdige, sagenumwobene Landgut nicht vorbehaltlos betreten zu können.
Nicht das sie als pragmatisch veranlagter, logisch denkender Mensch, für den sie sich hielt, an die Macht von Flüchen und oder gar an Spukgeschichten glaubte, aber es war letzten Endes doch etwas völlig anders als selbst einen Fuß in dieses Haus zu setzen.
Deshalb entschloss sich Grace, ihre Arbeit rasch und ohne weitere destruktive Grübeleien hinter sich zu bringen, und verfiel auf den Weg zum Parkhaus, wo ihr hellblauer Mini-Cooper geparkt war, in einen Laufschritt.
Wegen des dichten Verkehrs erreichte Grace Galena, ein historisches Städtchen nördlich von Illinois, an einem Seitenarm des Mississippi gelegen, erst am späteren Nachmittag. Verkrampft, und nach vorne geneigt hinterm Steuer sitzend fuhr sie die Main Street herunter, und jubelte auf, wie sie in den Waldweg einbog, der von der Park Avenue aus nach einigen Meilen schräg in eine Allee von kahlen Eichen führte.
Es verblüffte Grace, einige Meter vor ihr ein geöffnetes, zweiflügeliges, schmiede eisernes vier Meter hohes Tor mit den Buchstaben EH zu passieren, ehe sie in den runden Hof eines zweigeschossigen, im Tudorstil erbauten Hauses aus grauem Stein mit Seitenflügeln fuhr, die sich rechts wie links vom Haupthaus abspreizten.
Sie verdrängte das innere Frösteln, und nahm ihre Tasche in die eine Hand, und den Kleidersack behutsam in die andere.
„Reiß dich gefälligst zusammen, Grace“, sprach sie energisch zu sich. „Erledige einfach deine Arbeit und dann nichts wie weg hier.“
Sie bestieg die steile Treppe, die vor einer schwarz gestrichenen Haustür endete, und streckte die Hand aus, um den Löwenkopf ähnlichen Türklopfer zu betätigen, wie ihr ein achtzigjähriger, kahlköpfiger Butler in die Tür öffnete.
„Miss Grace Paxton sein, richtig?“
„Ja.“
„Bitte, treten Sie ein.“ Er trat zur Seite, um ihr Einlass zu gewähren. „Miss Tracey Cartwright erwartet Sie bereits. Sie sind spät.“
Sie starrte ihn entgeistert an. Zorn breitete sich in ihr aus. Sie reckte ihr spitzes Kinn vor und erwiderte, nicht minder anmaßend: „Schneller ging es nicht. Dieser Auftrag kam kurzfristig und dann noch als Eilauftrag rein.“
Der Diener hustete verlegen und führte sie in die Eingangshalle mit einer beeindruckend hohen Decke, die kunstvolle Schnitzereien zeigte. Es roch nach Möbelpolitur und scharfen Reinigungsmitteln.
„Mr. Robbins wird Sie sogleich zur gnädigen Frau hinauf führen.“
„Ist gut. Danke.“
Der Butler tuschelte mit einer älteren Frau mit vergrämten Gesicht in dunkelblauer Dienstkleidung, gestärkter weißer Schürze und Häubchen, die im nächsten Augenblick zu ihr trat. „Ich führe Sie jetzt herauf.“
Sie lächelte breit. „Aber gerne doch.“
Die Frau grunzte verächtlich, ehe verzierte sie die mit Schnitzereien, und mit einem dunkelroten Läufer ausgelegte Holztreppe hinauf ins zweite Geschoss des Westflügels ging, und Grace kaum noch Beachtung schenkte.
Die konnte nicht anders, die bleigefassten Fenstern mit dem Buntglas zu bestaunen. Einige Meter über ihrem Kopf hing ein zentnerschwerer Kronleuchter. Die Frau bog nach rechts in eine lange Galerie ab. Sie hatte Mühe mit ihr Schritt zu halten. Überall sah sie antike Kunstschätze, an den Wänden hingen Gemälde von Landschaften mit wuchtigen verzierten Goldrahmen, von denen eines finsterer war als das andere. Die verschnörkelten Möbelstücke aus dunklem Holz waren allesamt im viktorianischen Stil. Sie zählte etliche Ecken und Nischen in den breiten Korridoren, die scheinbar ins Nichts führten, und wo bisher wohl kaum ein Lichtstrahl hinlangte.
So unvermittelt, dass Grace, ganz in Gedanken versunken, ihr beinahe hinten reingelaufen wäre, blieb die vor einer der Zimmertüren stehen, und klopfte an. Auf ein leises kaum hörbares „Herein“ huschte die Angestellte ins Zimmer und kündigte geziert Grace’ Kommen an.
„Das Brautkleid!“ Sie schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. „Die Anprobe! Natürlich! Du meine Güte, den Termin habe ich total verschwitzt. Sie soll kommen.“
Tracey erhob sich auf der Stelle, um Grace zur Begrüßung die Hand zu reichen, aber vorher wies sie die Bedienstete barsch an, das Zimmer zu verlassen, die sich mit einem Knicks geräuschlos zurückzog.
„Machen Sie sich nichts aus der, Grace. Die ist immer so. Wahrscheinlich geht die sogar zum Lachen in den Keller.“
Sie war überrascht, einer zierlichen Frau Anfang dreißig mit blonden langen Engelslocken, vielen kleinen Sommersprossen um die Nase herum, und einer hellen, angenehmen Stimme gegenüberzustehen. Im Geheimen hatte sie eine versnobte Lady mit grauem Haarknoten erwartet.
Tracys’ Lächeln war erfrischend und warmherzig, ihr Händedruck kräftig, wie sie sich Grace in aller Form vorstellte.
„Der gute Charles hat mir vor Ihnen und ihren Nähkünsten erzählt.“
„Wahrscheinlich hat er maßlos übertrieben.“
Grace öffnete den Reißverschluss des Sacks und holte das Kleid hervor. „Wenn Sie das Kleid nun bitte anprobieren würden …“
Die blauen Augen weiteten sich überrascht und sie nahm es ihr freudestrahlend aus den Händen. „Fantastisch! Es sieht ja aus wie neu! Grace, Sie haben ein Wunder vollbracht! Warten Sie, ich probiere es eben mal an.“
Sie huschte durch die Verbindungstür in das Zimmer nebenan, während Grace ihre Nähutensilien aus ihrer Tasche holte.
Oberflächlich blickte sie sich in dem Zimmer mit den wertvollen Möbelstücken um. Die Bewohnerin hatte in jedem Winkel ihre Zeichen gesetzt. Die Sitzfläche des kunstvollen Stuhles mit der hohen Rückenlehne war mit Gobelin überzogen und Ablage zweckentfremdet worden, selbst vor dem nicht minder wertvolleren Schreibtisch hatte sie nicht Halt gemacht.
Viele der alteingesessenen Familien der High Society hielten Tracey Cartwright für eine gerissene Mitgiftjägerin, die Ethan geschwind um den manikürten Finger wickelte, wusste Grace aus der Klatschspalte einer Zeitung. Diese Frau wurde sogar von einigen, offenbar neidischen Berufskollegen frei heraus für unwürdig gehalten den guten Namen Emery in Ehren zu halten, und das obschon sie einen fabelhaften, und vor allem untadeligen Ruf als Journalistin genoss. Niemand scherte sich darum, dass auch sie einer guten, sprich vermögenden Familie entstammte, und renommierte Privatschulen und Elite-Universitäten besuchte. Dieses Frauenzimmer, so hieß es weiter, sei einzig und allein erpicht auf das Vermögen, welches einer der Ahnen, ein Reeder im Jahr 1520 in die Familie brachte, der einem englischen Adelsgeschlecht entstammte. Charles Emery, sein Nachfahre, hatte den Reichtum lediglich durch kluge Investitionen vermehren, und das Image durch Wohltätigkeits Dienste ausschmücken können.
„Grace!"
Erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte gedankenverlorenen in eine dunkle Ecke des Raumes gestarrt. „Was? O, Entschuldigung.“ Sie raffte die Schultern. „Sorry, ich war in Gedanken.“
Eitel drehte sich die künftige Braut vor dem ovalen Spiegel nach rechts und links. Sie strahlte übers ganze Gesicht, war ganz aus dem Häuschen vor Freude.
„Das Kleid ist so schön geworden. Sehe ich nicht großartig aus?“
Darauf reagierte sie nicht. „Bitte bleiben Sie jetzt genauso stehen. Ich muss doch noch einiges ausbessern.“
Im Scherz salutierte Tracey. „Zu Befehl.“
Nicht mal darauf reagierte Grace, sondern machte sich schweigsam an die Arbeit. Wenn man dieser Tracey eines zugute halten konnte, meinte sie widerwillig anerkennend, dann, dass sie gut mitarbeitete. Sie kamen zügig voran.
Es klopfte an der Tür. „O, nein! Grace, bitte öffnen Sie für mich“, japste sie. „Wenn er mich jetzt so sieht ,,,“
Sie raffte das Kleid und lief auf Zehenspitzen ins Zimmer nebenan, versteckte sich hinter der Tür. Kopfschüttelnd über so viel Aberglauben kam sie der Bitte nach.
Vor ihr stand ein Mann von durchschnittlicher Größe. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte kurze hellbraune wellige Haare und braune, unschuldig drein blickende fast runde Augen. Seine Gesichtszüge waren ihrer Ansicht nach zu weich um männlich zu wirken. Sie verliehen ihm einen kindlichen Eindruck.
Grace verlor die Geduld. „Ja, bitte?“
Er lächelte sie einfältig an, reichte ihr die Hand, die sie nur zögernd wie ergriff. Sein Händedruck war überraschend kräftig. „Ich bin Ethan. Freut mich, Sie nach langer Zeit wiederzusehen, Grace. Wie weit seid ihr? Kann ich kurz mal eben mit Tracey reden?“
Sie zuckte die Achseln. „Meinetwegen. Ich gehe dann mal so lange aus dem Zimmer. Wir sind noch nicht ganz fertig.“
„Nein!“, rief Tracey von hinten. „Bleiben Sie doch ruhig hier. Es dauert nicht lange. Meine Güte, sind Sie aber formell.“
Grace entging Tracys’ spöttisches Grinsen keineswegs, deshalb ging sie gar nicht erst darauf ein, sondern zog sich stillschweigend in eine Ecke des Raumes zurück, und packte einiges zurück in ihre Tasche. Sie zwang sich trotz Wissbegier nicht hinzuhören, was ihr misslang, doch zumindest wahrte sie der streng anerzogenen Höflichkeit wegen den Schein.
„Was gibt es so wichtiges?“ Ihr Kopf lugte seitlich hervor. „Hat Charles sich inzwischen wieder etwas beruhigt?“
Er versuchte vergeblich einen Blick über die Trennwand auf seine künftige Gemahlin mitsamt des Kleides zu erhaschen, doch sie war so flink, dass sie immerzu seinen Blicken zu entweichen verstand.
„Das hat er, ja. Vater sah wieder ganz gut und vor allem gesund aus, als ich ihn vorhin in der Bibliothek zurückließ.“
Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die kleinen Löckchen ins Gesicht flogen. „Ich begreife nicht, warum sich der gute Charles immer gleich so aufregen muss, und das mit seinem kranken Herzen. Das tut ihm gar nicht gut. Ekelhaft, dieser Wankelmut.“
„Ich begreife es ja selbst nicht. Er beharrt darauf, lediglich das Erdgeschoss umbauen zu lassen, dabei gibt doch so viele herrliche Möglichkeiten, gerade das Obergeschoss wieder in Schuss zu bringen, allein schon wegen des grandiosen Ausblicks.“
Grace beobachtete ihn. Irgendetwas in Ethans’ Blick, etwas, was ihr verriet, dass er weit mehr wusste als das, was er seiner Verlobten gegenüber wahrscheinlich je über die Lippen bringen würde.
Er blickte auf seine Armbanduhr. „Du liebe Zeit, so spät schon. Ich muss unbedingt los. Ich habe noch einen Termin in der Stadt und danach muss ich zur Probe für das Konzert nächste Woche. Kann spät werden.“
Er war leidenschaftlicher Berufsmusiker beim Chicago Symphony Orchestra, wusste Grace. Er spielte Trompete und Klarinette. Im vergangenen Sommer hatte sie, Grace, eingefleischter Klassik-Fan wie auch ihr Freund, ein Konzert im Highland Park besucht, und war begeistert.
„Mache dir um mich mal keine Sorgen, Schatz. Geh nur.“
Winkend ging er in Grübeleien versunken aus dem Raum. Tracey trat erst lange, nachdem seine Schritte im Flur verklungen waren, zu Grace ins Zimmer. Prompt setzte die schweigsam ihre Arbeit fort.
„Ich bin gleich fertig mit dem Kleid. Es sind nur noch ein paar Handgriffe.“
Sie gähnte. „Gut. Kommt mir sehr gelegen. Es gibt ja noch so viel vorzubereiten. Wenn ich wenigstens in der Nacht richtig zur Ruhe käme …“
Grace hatte Mühe, dass einsetzende Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. „Wie meinen Sie das?“
„Oben im Ostflügel. Da ist irgendwas.“ Schlagartig verstummte sie, winkte ab. „Ach, ich bin wohl doch nur übernervös wegen der Hochzeit. Da spielt die Fantasie schon mal verrückt.“
Ächzend richtete Grace sich mit schmerzendem Rücken auf.
„So, fertig. Gefällt es Ihnen?“
Tracey drehte sich vor dem Spiegel in alle Richtungen.
„Es ist wunderschön. Danke.“
Eilig warf Grace alles in ihre Tasche, die sie, heilfroh, verschwinden zu können, unter den Arm klemmte. „Nichts zu danken, ich tue nur meinen Job.“ Sie streckte die Hand zur Türklinke aus, winkte ihr zum Abschied. „Alles Gute für die Zukunft.“
Mit weit ausholenden Schritten lief sie die Galerie entlang in Richtung Treppe. Schnell raus hier, dachte Grace hastig. Sie meinte, in diesem alten Gemäuer mit einem Mal keine Luft mehr zu bekommen.
Eine der Türen links von ihr öffnete sich. Charles Emery trat aus einem der Zimmer. Der 86-jährige Mann mit dem weißen Haarkranz am Hinterkopf und den regen blaugrauen Augen war der Inbegriff des typisch-englischen Gentleman. Seine Füße steckten in karierten Pantoffeln und er trug zu der dunklen Hose ein weißes Hemd mit einer dunkelroten Weste.
Er war der beste Freund ihres verstorbenen Großvaters und der Mentor ihres Vaters, erinnerte Grace sich. Er besaß lange Zeit als Professor für Rechtswissenschaften einen Lehrstuhl an einer Universität in Oregon, ehe er vor anderthalb Jahren hierher zurückkehrte.
„Grace! Ich dachte mir doch, dass wir Besuch haben. Wie schön Sie mal zu sehen. Wie geht es Ihnen?“
„Guten Tag, Prof. Emery. Danke, gut.“
Er lächelte verschmitzt. „Schön. Grüßen Sie ihren Vater von mir und richten Sie ihm aus, dass es mich freuen würde, etwas von ihm zu hören. Ich habe die Diskussionen mit ihm in den letzten Monaten vermisst. Selbst wenn er Bundesrichter ist, so lernt man doch nie aus. Ich beteilige mich immer noch gerne an interessanten Wortgefechten.“
„Das werde ich gerne tun.“
Emery lief neben ihr her den Korridor entlang zur Treppe. Sie jedoch verlangsamte ihren Schritt und blieb vor einem der mit Öl gemalten Porträts letztlich nachdenklich stehen.
„Ich habe da eine Frage, Prof. Emery.“
Er blickte sie über den Rand der Brille hinweg eindringlich an. „Ja?“
„Das hier sind ihre Ahnen, richtig?"
„In der Tat. Es waren Menschen, auf die ich zu Recht stolz sein kann. So weit ich weiß geht der Stammbaum sogar bis ins 14. Jahrhundert zurück. Es gab Seeleute unter ihnen. Kapitäne, Admirale. Ehrfurcht gebietende Persönlichkeiten waren das. Allesamt. Ohne jede Furcht trotzten sie der aufgewühlten See im wilden Gefecht mit ausländischen Piraten."
„Interessant. Bei den Porträts stehen bei fast allen die Namen darunter, nur bei dieser Frau da nicht.“
Charles verzog das Gesicht. „Verdammt! Ausgerechnet dieses Bild da hätte längst beim Restaurator sein müssen.“
Er nahm die Brille ab, rieb sich mit kummervoller Miene die Augen. Es behagte ihm offenbar gar nicht, mit welcher Aufmerksamkeit Grace ausgerechnet dieses Bildnis betrachtete.
„Grace, bitte glauben Sie mir, es ist besser für Sie, Sie würden Ihre Interessen anderweitig …“ Sie entgegnete forsch seinen Blick, nicht bereit, sich abweisen zu lassen. Er räusperte sich. „Diese Frau, deren Namen auszusprechen mir der Anstand wegen der mit ihr verbundenen Schmach verbietet, brachte Unglück über Emery Hall, über die Familie grundsätzlich. Es ist eine äußerst betrübliche Geschichte.“
Seine Miene hatte was Abweisendes an sich. Für Charles war das Thema schlagartig zu Ende. Aus den Augenwinkeln heraus beobachte sie ihn, während er Treppe neben ihr hinunter zur Haustür lief. Was auch immer es auch war, es schien ihn zu quälen.
Rasch verabschiedete Grace sich und lief zu ihrem Auto.
Die Dämmerung begann einzusetzen. Es war kühl, der Wind frischte unangenehm auf. Dicke Regenwolken hatten sich vor die milchige Sonne geschoben.
Aufatmend setzte Grace sich in ihren Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ihre Hand zitterte. Ihr waren seltsame Ähnlichkeiten mit der Dame auf dem Bild und ihrer Großmutter aufgefallen.
Da gab es zu einem die schwarzen Knopfaugen mit dem kalten Blick, die hartherzige reizlose Mimik, und der kräftige, beinahe schon maskulin wirkende Unterkiefer. War das nur Zufall? Wie konnte das sein, wo doch ihre Großmutter väterlicherseits mit den Emerys in keinerlei Beziehung stand, und sie eine geborene Davenport war? Gibt es zwischen den Frauen irgendwelche Parallelen und wenn ja, wie sahen diese aus?
Doch da war noch etwas anderes, was ihr Misstrauen erregte. Seine Erregung wegen des Restaurators kam ihr irgendwie falsch vor, seine Worte unaufrichtig. Warum? Weswegen hatte sie es gar nicht erst erblicken dürfen? Ihr gab sein Verhalten Rätsel auf.
Grace fühlte sich unwohl. Sie glaubte, beobachtet zu werden. Schnell fuhr sie vom Hof. Sie wollte rasch fort und dem Gefühl der zunehmenden Beklemmung entfliehen. Ungeachtet dessen fasste sie den Entschluss, den offen Fragen mitsamt den Widersprüchlichkeiten auf die Spur zu kommen – einer unguten Vorahnung zum Trotz.
***
Voller Vorfreude auf das Rendezvous mit seiner Freundin lief Ross Paxton mit einer teuren Flasche Rotwein in der Hand quer über den Parkplatz zu seinem Wagen. Er hoffte nur inständig, dieser edle Tropfen würde Gnade vor ihren Augen finden; sie galt als kritische Weinkennerin. Normalerweise hätte er einer seiner Hausangestellten diese Aufgabe übertragen.
Ein Mann im schwarzen Mantel stand nahe an seinem Wagen und blickte unverwandt in seine Richtung. Wachsam näherte Ross sich ihm. Durch seinen Beruf lebte er nicht ungefährlich, jedoch verabscheute er seine Neun-Millimeter-Pistole, weshalb er sie gegenwärtig auch nicht bei sich trug.
Bedacht näherte Ross sich seinem Wagen, schloss, die Tür auf, während er den Typen Mitte der fünfzig im Auge behielt. Der Mann ging auf ihn zu.
„Mr. Paxton? Euer Ehren?“
„Wer sind Sie?“
Er wirkte bei näherem Hinsehen verhärmt, ganz so als habe er die Hölle auf Erden durchlebt, dennoch machte er einen soliden, gepflegten Eindruck.
„Keine Panik, Sir. Ich trete in friedlicher Absicht an Sie heran. Ich bin Howard Winters.“
Ross Miene hellte sich auf. Natürlich. Er erkannte Deborahs’ Exmann.
Kurz angebunden erzählte er ihm, dass er vorgestern aus der Haft entlassen worden war, nachdem er fünfzehn Jahre wegen Totschlag und bewaffneten Raubes abgesessen hatte.
„Es hat mich gefreut, von Ihnen zu hören, Mr. Winters. Wenn Sie mir etwas sagen wollen, dann kommen Sie bitte zur Sache.“
Sein abschätzender Blick streifte Ross vom Scheitel bis zur Sohle und sein faltiges Gesicht mit der breiten Narbe an der Schläfe brachte eine unverhohlene Verachtung zum Ausdruck, was allerdings keinen Eindruck auf ihn machte. Der Richter war einiges gewohnt; da stand er zweifelsohne drüber.
Deborah hatte nicht übertrieben, als sie ihn als überheblich beschrieb, fand Howard, und es war ihm schlichtweg unbegreiflich, wie sie es jemals mit einem solchen Menschen aushielt. Er wusste weit mehr von ihr, von ihrer miserablen Ehe mit Paxton, als es ihm eigentlich lieb sein konnte.
Winters trat an ihn heran. „Euer Ehren, ich werde in Kürze nach Neuseeland übersiedeln, dort habe ich einen Job bekommen. Ich breche hier, in den Staaten, alle Zelte ab. Aber bevor ich abreise, möchte ich meine Exfrau noch einmal wiedersehen, und mich von ihr verabschieden. Das Problem ist, ich versuche die ganze Zeit vergeblich sie zu erreichen. Wie geht es ihr? Was ist aus ihr geworden?“
Sarkastisch lachte Ross auf. „Das wüsste ich auch gerne.“
„Was heißt das? Was ist passiert?“
„Sie hat mich von einem Tag auf den anderen verlassen, meine Tochter und mich. Das ist passiert.“
Seine Irritation war nicht gespielt. „Das verstehe ich nicht.“
„Was, bitteschön, ist denn daran nicht zu verstehen?“, erwiderte Ross ungehalten. Dieses Thema war ein rotes Tuch für ihn. „Seit vierzehn Jahren ist Deborah spurlos verschwunden. Kein Mensch weiß, ob sie lebt oder tot ist. Ich habe die besten Detektive beauftragt und die haben quasi jeden Stein umgedreht. Ich habe alles nur Erdenkliche getan, um sie ausfindig zu machen. Sämtliche Spuren führten ins nichts.“
„Seit vierzehn Jahren, sagen Sie?“ Er überlegte. „Sie hat mich noch besucht im Gefängnis. Sie wirkte bekümmert, wenn nicht sogar zu sagen verzweifelt.“
„Ach, nein?“, höhnte Ross. „Welch eine Überraschung! Bei Ihnen hat sie sich also das Herzchen ausgeschüttet? Ich habe mich schon gefragt, an wessen Schulter sie sich wohl ausgeheult hat.“
Winters biss die Zähne zusammen, trat mit zornig funkelnden Augen auf ihn zu. Bei seinen fast zwei Meter Körpergröße überragte er Ross, der gerade mal ein Meter sechsundsiebzig maß.
„Nicht einen Schritt weiter, Winters! Zu Ihrer Information: Es ist eine Straftat, einen Richter zu bedrohen.“
Der reagierte mit einem schrägen Grinsen darauf. Hatte er nicht eben ein leichtes ängstliches Beben in der Stimme des Richters vernommen?
„Keine Sorge, ich werde Ihnen Ihr hübsches Designer Jäckchen schon nicht verunstalten.“ Seine grau blauen Augen fixierten unnachgiebig die seinen. „Deborah ist eine wundervolle Mutter; sie würde niemals, hören Sie, niemals aus freien Stücken ihr Kind im Stich lassen. Die Kleine war ihre emotionale Stütze. Ihre einzige übrigens. Ja, sie war verändert, und bei weitem nicht mehr die Frau, die ich kannte, und in die ich mich verliebte. Sie war ein ängstliches Nervenbündel. Ein übernervöses Frack, wenn Sie es so nennen wollen. Und sie erzählte mir auch davon, dass sie sei beruflich an etwas ganz Heikles dran war. Sie hatte Angst.“
„Angst? Wovor denn?“
„Sie sollten besser fragen, vor wem.“
Ross lachte rau auf. „Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Winters. Kommen Sie mir doch nicht mit diesem abgedroschenen Böse-Schwiegermutter-Schwachsinn.“
„Nein, nein, nein!“, fiel der ihm ungehobelt ins Wort. Howards rundes Gesicht färbte sich rot. „Verdammt, Sie haben doch keine Ahnung, Mann! Nicht den blassesten Schimmer haben Sie! Machen Sie doch endlich die Augen auf, Richter!“ Der sah ihn verständnislos an. „Ich habe nicht das geringste Interesse daran, Ihnen einen Bären aufzubinden. Ich habe genug damit zu tun, mein eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen. Nein, das, wovon ich rede, geht weit darüber hinaus, sehr weit – und es übersteigt ihre Vorstellungskraft. Deborah konnte zuletzt mit keiner Menschenseele darüber reden. Sie war allein – damit und mit ihrer Furcht.“
Ross war es anzusehen, dass es in seinem Hirn zu arbeiten begann. Der Mann beschloss, dem Ganzen noch einen drauf zu setzen. „Deborah hat Sie geliebt, Ross. Von ganzem Herzen hat sie Gracie und Sie geliebt, aber sie hatte auch die Nase voll davon zu streiten, und fruchtlose Debatten zu führen, um Ihnen die Augen zu öffnen.“ Seine Stimme senkte sich. „Und die Wurzel allen Übels, Paxton, die sollten Sie zuerst einmal bei Ihrer Frau Mutter suchen.“
„Was sagen Sie da?“
„Sie haben mich schon verstanden."
Mit diesen Worten entfernte sich Winters, der meinte, er habe genug gesagt. Nach einigen Metern wandte Howard sich jedoch ein weiteres Mal zu ihm um. Ross stand benommen mit der Flasche in der Hand grübelnd, an seinem Wagen. Offenbar versuchte er seine Worte abzuwägen.
„Verdammt, Sie müssten Deborah doch kennen. Sie ist doch ihre Frau.“
Ross erstarrte. Der indirekte Vorwurf, mit trauriger, schwerer Stimme vorgetragen, traf ihn mit voller Wucht. Er sah Winters, der zu Fuß schwerfällig wie auch leicht humpelnd über Parkplatz lief, mit sorgenvoller Miene nach, und setzte sich in den Wagen.
Seine gute Laune war verflogen. Er lehnte sich mit einem Seufzen zurück und schloss die Augen. Deborah. Er dachte mit Wehmut an die bildschöne Frau zurück; an die wundervolle Zeit mit ihr, die unbeschwerten Stunden des Beisammenseins.
Damals verdiente er sich nach seinem Abschluss in Harvard in New York, an der Upper West Side als Staatsanwalt seine Sporen, als er dieser bildschönen Frau mit der geheimnisvollen Ausstrahlung zum ersten Mal im Korridor begegnete. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als Ross ihr zur Hilfe eilte, wie ihre einige ihrer Papiere zu Boden flatterten. Sie bedankte sich etliche Male bei ihm und lächelte ihn offenherzig an. Dieses warme Lächeln. Es hatte ihn umgehauen. Immer wenn es Ross von da an gelang, der Hektik eine Zeit lang zu entkommen, trafen sie sich im Morningside Park, wo sie an schönen Tagen ihre Mittagspause zu verbringen pflegte. Er entsann sich an die gemeinsamen unbeschwerten Stunden im Central Park, als sie eine Schneeballschlacht veranstalteten. Es schien ihm, es sei erst gestern gewesen. Sie war so fröhlich. So unbeschwert. Ross lächelte. Es war die schönste Zeit seines Lebens – nicht zuletzt, weil seine Mutter dort keinen Einfluss auf ihn nahm.
Nachdenklich fuhr er nach Hause, zu seiner abgelegenen Farm bei Traverse City, wo er abgesehen von Carlotta, der betagten farbigen Haushaltshilfe, der ehemaligen Nanny seiner Tochter niemanden antraf. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Post, die er flüchtig durch sah und dann gleichgültig auf den Tisch fallen ließ. Im Kamin loderte behaglich knisternd ein Feuer. Er setzte sich mit einem Glas Brandy in seinen Sessel, starrte finster in die Flammen. Sein Blick schweifte ab nach oben und fiel auf Deborahs Porträt auf dem Kaminsims.
Sie war hochgewachsen, hatte eine makellose Haut. Lange, glatte lange braune Haare. Ja, er hatte diese Frau geliebt, mehr als er je einen Menschen außer Grace, seiner Tochter, hätte lieben können. Sie fehlte ihm mehr, als er es in Worten auszudrücken vermochte.
Winters Worte hallten in seinem Kopf wider. Unrecht hatte der Mann nicht, musste er sich widerwillig eingestehen. Angela war in der Tat ein Mensch, der nicht einfach zu handhaben war; selbst sein verstorbener Vater hatte zuweilen seine liebe Not mit ihr. Ross überkamen wieder die vertrauten Selbstvorwürfe, gefolgt von Schuldgefühlen, die ihn aufstöhnen ließen. Er war sich darüber im Klaren, das er einen nicht als gering einzuschätzenden Anteil daran hatte, dass ihre Ehe in Trümmern lag, war er doch ausschließlich mit seiner Karriere beschäftigt gewesen, mehr im Gerichtssaal als zu Hause. Folglich hatte Angela leichtes Spiel und William waren wegen seiner Herzkrankheit Grenzen gesetzt. Howard Winters war glaubwürdig. Seine Aussagen hatten in ihm ernsthafte Zweifel in Bezug auf den wahren Charakter seiner Mutter wachgerufen. Doch waren diese berechtigt?
***
Deborah warf sich im Bett von einer Seite auf die andere. Ihr Mund formte lautlose Worte der Panik. Sie fühlte die Todesangst auf eine Art und Weise, als sei diese real. Lebensbedrohend real.
Der Boden war steinhart. Unter ihren Händen fühlte sie vage so etwas wie Erdklumpen. Es roch nach Schnee und Wald. Ein warmes Rinnsal lief ihre schmerzende Schläfe hinab. Es war Blut. Sie wusste es. Der Kopf tat ihr weh. Nein. Ihr ganzer Körper schmerzte. Was war geschehen? Diese Frage kreiste in ihrem Kopf. Ihre Hände, die Finger und die Füße fühlten sich von Minute zu Minute tauber an, doch nicht nur der Kälte wegen, und sie war müde. Entsetzlich müde.
„Ob sie tot ist?“
Wem gehörte diese unwirsche dunkle Stimme? Sie hatte sie nie zuvor vernommen. Daran würde sie sich erinnern. Sie zwang sich ihre träger werdenden Gedankengänge nicht zum Stillstand kommenzulassen, denn dann… Panik stieg in ihr auf. Nein, sie wollte nicht sterben, sie konnte doch ihr Kind nicht im Stich lassen. Nein. Nur das nicht.
„Wenn nicht, dann erledigen die Tiere des Waldes schon noch den Rest! Lass uns gehen. Hier, im Dickicht findet sie so schnell kein Mensch. Nein, lass die Finger von ihr. Heutzutage kann man mit der Kriminaltechnik weit mehr feststellen, als es uns lieb sein kann.“
„Ich ziehe ihr wohl besser doch noch eines über. Sicher ist sicher.“
„Bist du verrückt?", keifte die Alte. „Sie ist doch schon halb tot. Sieh sie dir doch an!“
Ihr Innerstes erstarrte. Die barsche Stimme gehörte Angela. Ihrer Schwiegermutter. Die schnalzte mit der Zunge. „Los, komm jetzt!“
Angela ließ keine Gefühlsregungen erkennen. Keinerlei Skrupel. Sie hörte sein Seufzen. Dann Schritte, die sich von ihr entfernten. War die Gefahr vorüber? Konnte sie sich entspannen? Ein ganz kleines bisschen nur? Nein. Sie wagte es nicht einmal zu atmen. Sie spürte Blicke auf sich ruhen. Sie durfte sich nicht bewegen, nicht mal den kleinen Finger einen Millimeter nach rechts schieben, sonst … Die Augen hielt sie geschlossen, stellte sich trotz vor des Todesangst klopfenden Herzens reglos. Entdeckte er auch nur das leiseste Lebenszeichen an ihr, er würde auf der Stelle die Hand mit dem Schürhaken zum allerletzten, sie tötenden Schlag auf den Schädel erheben.
Endlich. Schwere Schritte knisterten im Dickicht. Er schien sich von ihr abzuwenden. Oder? Nein. Jemand zog ihr brutal den Ehering vom Finger.
Innerlich schrie es in ihr auf. Ihre Ehe war zwar mies, aber sie liebte Ross. Sie liebte ihr Kind. Was geschah hier mit ihr?
„Da hättest du aber wirklich eher drauf kommen müssen“, keifte Angela.
„Besser spät als nie.“
„Immerhin trägst du Handschuhe.“
Aus den Augenwinkeln konnte sie durch einen rötlichen Sschleier erkennen, wie ein Gesicht sich zu ihr herab neigte. Sie roch widerlich scharfen Atem. Ein Gemisch aus Alkohol und Gallensäften.
In der nächsten Sekunde erschallte ihr Schrei im nächtlichen Wald.
Außer Atem setzte sie sich im Bett auf. Ihr Nachthemd war klatschnass. Es war nacht dunkel und still im Haus. Ihr war nicht bewusst, dass sie laut aufgeschrien hatte. Sie presste sich die Hand an die Schläfe. Dieser spitze, scharfe Schmerz. Sie fühlte ihn, als sei er noch immer gegenwärtig.
Energisch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, zog sich den Morgenrock an, und griff zu ihrem Stock, ohne den sie kaum einen Schritt zu tun wagte. Die Beine sackten ihr an schlechten Tagen weg wie Streichhölzer. Unbemerkt schlich sie in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu gönnen. Sie fühlte sich ausgemergelt, war fix und fertig mit den Nerven. Dieses Mal war der Albtraum so schlimm wie seit Jahren nicht mehr.
Sie wurde von dem Hund eines Spaziergängers im Inneren des Waldes aufgefunden und stundenlang operiert. Sie hatte einen schweren Schädelbruch erlitten und Hirnblutungen, die ein mehrmonatiges Koma nach sich zogen, wurde ihr von den Ärzten auf ihr hartnäckigen Fragen hin erläutert.
Mit eisernem Willen hatte sie wochenlang um ihr Leben gekämpft; und die Ärzte eines Besseren belehrt, die ihr keine Überlebenschance mehr gaben. Eines Tages, wie sie einsam im Bett lag, fiel ihr aus heiterem Himmel der Name Friedrich Suttermann ein. Er lebte in Aachen, Nordrhein-Westfalen, in Deutschland. Ihr Vater, von der sie nicht selten träumte, erwähnte diesen Namen im Zusammenhang mit irgendwelchen Streitereien. Immerhin, es war ein Anhaltspunkt, wo sie sich doch noch nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Ein Pfleger half ihr, Suttermann ausfindig zu machen, und zu kontaktieren. Auf der Stelle erklärte der sich bereit, für seine einzige noch übrig gebliebene Verwandte zu sorgen, selbst wenn die beträchtlichen Kosten der Behandlung als auch der Therapie von einer Stiftung übernommen werden mussten, so auch der Krankentransport. Friedrich, inzwischen ein pensionierter Realschullehrer für Deutsch und Mathematik, erledigte für sie alle notwendigen Behördengänge, zumal er über Kontakte verfügte. Der deutsche Name Alexandra Meinert wurde ihr aufgezwungen, dennoch war sie insgeheim heilfroh darüber, verhieß er doch zumindest Sicherheit für sie. Auf dieser Weise war es Angela unmöglich sie aufzuspüren. Sie konnte endlich aufatmen.
Für drei Monate, bis sich ihr Allgemeinzustand besserte, wurde sie in einer speziellen Einrichtung untergebracht, wo sie Tricks und Kniffe lernte, um allein im Leben zurechtzukommen. Mittlerweile ging sie stundenweise an drei Tagen die Woche einem geringfügigen Nebenerwerb nach in einer kleinen Bibliothek nach. Das kleine Zimmer war ihr nicht nur der hohen Mieten wegen eine Zuflucht, wenn mal nicht so rasch mit ihrer Genesung klappen wollte, wie sie sich das eigentlich erhoffte.
Sie lächelte grimmig, wie sie das leere Glas zurück in die Spüle stellte.
Lautlos huschte sie zurück in ihr Zimmer. Sie legte sich ins Bett und wartete auf den Schlaf, der sich nicht einstellen wollte. Sie griff nach ihrem Kalender, der auf dem Nachtschränkchen lag. Bei dem Blick auf das Datum atmete sie scharf ein. Nein, sie konnte es nicht mehr länger vor sich herschieben. Das hatte sie jahrelang getan – nun war Schluss damit. Endgültig. Sie schloss die Augen, und versuchte sich innerlich zu sammeln, und begann sich energisch sich auf ihr Ziel zu konzentrieren. Der Trancezustand ließ, da sie inzwischen darin geübt war, nicht lange auf sich warten. Sie kniff die Augen zusammen.
Ja, da war es wieder. Dieses Licht. Ganz weit hinten. Die Frau im langen schwarzen viktorianischen Trauergewand stand am Ende eines Tunnels. Sie streckte die Arme hilfe flehend nach ihr aus. Sie verspürte eine tiefe Traurigkeit, gefolgt von einer ungeheuren Wut, die sie, Deborah, nach Luft schnappen ließ. Plötzlich blickte sie in die hasserfüllte Visage der Frau. Das nächste Bild zeigte die Frau, wieder am Ende eines Korridors stehen. Sie fühlte ihre Ungeduld, als wäre es die ihre. Sie schaute sie erwartungsvoll an.
Das Bild vor ihrem geistigen Auge wurde darauf stetig blasser, bis es letztlich erlosch. Sie riss die Augen auf, versuchte sich zu beruhigen, sodass sich die Anzahl ihrer Herzschläge normalisierte. Was zurück blieb war die Gewissheit, dass es sich hierbei um das obere Stockwerk des Ostflügel eines Anwesens in Illinois, in den USA, ihrer Heimat, handelte. Es betraf Emery Hall. Sie wusste instinktiv, dass etwas Furchtbares geschehen würde, wenn sich nicht bald jemand mit ihren Fähigkeiten dieses Problems annahm. Der zeitweiligen Bösartigkeit dieser Lady wegen sorgte sie sich um die Sicherheit der Bewohner. Was konnte sie außer Beschwichtigungsversuche unternehmen und wie lange würde das möglich sein, bevor …?
Sie schaltete die Nachttischlampe ein und überlegte, ob sie eine Schlaftablette nehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen, und knipste die Lampe entschlossen wieder aus. Sie musste an die warnenden Worte ihrer damaligen Freundin, der Psychologin Anne Baxter denken, aus ihrer gemeinsamen Zeit in der WG in den Morningside Heights, in New York. Das mit ihrem Gedächtnis war wie ein Puzzlespiel. Gut die Hälfte hatte sie inzwischen beisammen, aber konnte sie den Fragmenten über den Weg trauen? Führten die Bilder in ihrem Kopf sie vielleicht letzten Endes in die Irre?
„Du musst lernen, dich gegen gewisse Einflüsse abzuschotten, dich energetisch zu schützen, sonst wirst du am Ende durchdrehen. Glaube mir, du wärst echt nicht die Erste, die wegen dieser Fähigkeiten am Ende in der Gummizelle landet.“
Diese Worte hatte sich in ihr wie ein Mahnmal eingenistet. Anne, die einst für die ASPR, der American Society for Psychical Research arbeitete, war sie die einzige Person, auf die sie ihrer Begabung wegen voll und ganz ihr Vertrauen setzen konnte, bei dem was sie beabsichtigte. An dieser Person biss man sich im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne aus. Sie hatte Anne im Institut kennengelernt, während sie, allerlei, auch neurologische Tests über sich ergehen ließ – mit erstaunlichem Resultat. Fortan stand ihr die Frau mit Rat und Tat zur Seite, wofür sie ihr, einst zutiefst verunsichert, wie sie damit umgehen sollte, überaus dankbar war. Sie hatte sie erst kürzlich mit der Bitte um ein baldiges Treffen per E-Mail kontaktiert.
Sie schlug die Bettdecke zur Seite und ging zum Fenster. Sie blickte auf den Adalbertsteinweg hinab und wunderte sich über den regen Betrieb zu dieser späten Stunde. Es war nach Mitternacht.
Zufällig fuhr sie sich mit der Hand über ihren Bauch. Dass sie Mutter war, erfuhr sie durch das Vorhandensein einer Kaiserschnittnarbe, woraufhin sie im Internet herumstöberte, und allerhand über die Wettbewerbe herausfand, die Grace mit ihren Modekollektionen im Rahmen ihrer Ausbildung zur Modedesignerin hatte gewinnen können. Seither begann sie voller Stolz rege Muttergefühle zu hegen, dennoch musste sie sich auch der Angst stellen, ihre Tochter würde mit ihr nichts zu tun haben wollen., weil ihre Großmutter ihr ebenso wie ihrem Vater das Blaue vom Himmel vorlog, und auch das Hirn ihrer Tochter mit haarsträubenden Lügen gefüllt hatte. Warum denn wohl sonst hatte keiner, nicht einmal jemand aus der Familie gezielt, nach dem Unfall nach ihr gesucht?
Einen tiefschürfenden, ihre Gedankengänge beherrschender Hass, mithin der Antrieb all ihrer Vorhaben seit dem Anschlag auf ihr Leben breitete sich in ihr aus. Für die Aussicht, es noch einmal mit der Alten aufzunehmen, der von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ja, dafür hat sich der qualvolle Kampf zurück ins Leben gelohnt. Wenn sie nur an ihre Tochter dachte … Ja, sie war wild entschlossen, es bis zum letzten Atemzug mit allem aufzunehmen, was sich ihr auf den Weg zu diesem Ziel entgegen stellte.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, biss die Zähne fest zusammen.
„Und dann, Angela, dann gnade dir Gott.“
***
Grace lief außer Atem quer durch die Halle ihres Elternhauses den schmalen Flur herunter, an deren Ende eine Tür rechts ins Esszimmer führte. Ihr Vater und ihre Großmutter speisten bereits zu Abend.
„Dad! Grandma! Tut mir leid, ich habe mich verspätet.“
Er begrüßte sie hocherfreut auf der Stelle mit einer Umarmung. „Gracie! Wie schön, dass du es geschafft hast. Um diese Zeit ist der Verkehr wirklich grauenvoll.“
Angela maß ihre Enkeltochter mit einem eisigen Blick, worauf sie sich prompt genötigt fühlte, ihrer Grandma einen schmatzend einen feuchten Kuss auf die kühle, faltige Wange zu drücken.
Sie nahm durstig einen Schluck Saft zu sich. „Du kommst eine gute Viertelstunde zu spät, mein Kind. Ich habe dich zur Pünktlichkeit erzogen. Wenn man bedenkt, welche teuren Schulen du -“
„Mutter! Es ist gut jetzt, ja! Wir wissen doch, welchen hohen Stellenwert eine aristokratische Erziehung in deinen Augen hat. Zum Glück sind diese Zeiten vorüber.“
Angela kaute genüsslich an einem Stück Kalbfleisch, als Grace, die um sie herum zu ihrem Stuhl lief, prompt in den Augen der alten Frau den größten Fauxpas in Sachen damenhaften Benehmens beging. Da sie müde war und an Rückenschmerzen litt, ließ sie sich stöhnend auf den Stuhl fallen.
„Grace! Setzt sich so vielleicht eine wohl gesittete junge Dame hin, die du sein willst.“
Ross hatte genug. „Mutter, hör auf! Du siehst doch, dass sie erschöpft ist.“
„Das hindert sie noch lange nicht daran -“
Grace fing rein zufällig den vernichtenden Blick ihres Vaters auf, der ihre Oma zum Schweigen brachte, nur leider währte der nicht lange.
Angela wiegte den Kopf. „Und wie du wieder mal gekleidet bist! Wie ein Zigeuner! Schämst du dich denn gar nicht, so herumzulaufen?“
Perplex sah sie an sich herunter, ehe sie sie mit großen runden Augen ansah. „Wieso denn, Grandma?“
Sie trug zu einem weißen T-Shirt, welches ihre Problemzonen am Bauch umspielte, einen knöchellangen bunten Patchwork-Rock, und sandfarbene Sandalen. Grace hatte sich vor Jahren schon damit abgefunden, ein vollschlankes, eins zweiundsechzig großes Energiebündel mit vor Lebensfreude funkelnden braunen Augen, und braunen Lockenkopf zu bleiben.
Sie zuckte die Achseln. „Ich mag es, Grandma. Und ich bin stolz auf das, was ich geschaffen habe. Meine nagelneue Frühjahrskollektion.“
„Sehr schön, Grace, sieht schick aus, Grace. Locker leicht, frühlingshaft.“
Sie strahlte. „Wunderbar, Dad. Genauso soll es ja auch wirken.“
„Zu deiner Information, Mutter, sie ist hier zu Hause. Selbst wenn sie mit einem Kartoffelsack herumlaufen würde, sie hat das Recht sich so zu kleiden, wie sie es will, ja, also hör auf! Höre endlich auf damit, sie anzugreifen. Wir möchten gerne in Frieden zu Ende speisen, ja.“
Fortan herrschte Schweigen. Wahrscheinlich hatte er eine harte Woche bei Gericht, vermutete Grace, und doch konnte sie nicht anders, als ihn diskret zu mustern. Solange sie denken konnte, hatte er, ganz gleich um was es ging, zu keiner Zeit für sie Partei ergriffen. Sie musste von klein auf lernen, für sich zu reden, für sich zu kämpfen, und ihr Großvater war da genauso eingestellt. Was hatte es mit diesem Wandel auf sich? Er hatte auch noch nie in dieser Weise seine eigene Mutter so grob angefahren wie vorhin. Nein, daran würde sie sich doch erinnern. Irgendwas war bei den beiden, glaubte sie. Was war denn in der Zwischenzeit vorgefallen?
Grace strahlte von innen heraus. Es war seit vielen Jahren das erste Anzeichen einer Annäherung seinerseits. Carlotta, eine korpulente Afroamerikanerin rauschte ins Zimmer, und begann ihren Schützling mit den unterschiedlichsten Speisen zu bedienen, was Grace sich, abgearbeitet wie sie war, nur zu gerne gefallen ließ. Jede Bewegung, sei sie noch sie klein, bereitete ihr Schmerzen in allen Gelenken.
„Ihr glaubt ja gar nicht, wie froh ich bin, dass ich es doch noch geschafft habe, hierherzukommen. Diese Woche war eine einzige Katastrophe. Nichts als Hetze, unser Auftragsbuch ist übervoll, und dann kam da auch noch in der letzten Minute, ein Eilauftrag der Familie Emery rein. Ein uraltes Hochzeitskleid und ich, ausgerechnet ich, musste zur Anprobe nach Galena fahren.“
Angela lachte höhnisch auf. „Diese Hochzeit! Die ganze Stadt spricht seit Wochen von nichts anderem mehr. Ethan, dieser Waschlappen ist doch nur ein Werkzeug für diese Frau. Ausgerechnet eine Journalistin!“
Sie blickte ihre Großmutter irritiert an. Nun, als sie etwas im Magen hatte, ging es ihr besser. „Das verstehe ich nicht, Grandma. Ich meine, was hast du gegen Journalisten? Das sollen doch recht gescheite, possierliche Lebewesen sein.“
Ross lachte erheitert kurz auf, ehe er seine Mutter ins Fadenkreuz der Kritik nahm.
„Du kennst diese Tracey doch noch nicht einmal, Mutter. Tu mir einen Gefallen, ja, und verschone mich mit Klatschgeschichten.“
Angela schwieg. Es war ihr anzusehen, dass sie vor Wut fast überkochte.
„Du musstest nach Galena fahren, Grace?“ Sie nickte. „Es wundert mich, warum nicht einer von Charles' Angestellten das Kleid abgeholt hat.“
Sie kicherte. „Ist doch logisch, Dad, die zahlen zu gut. Immer wenn die Finley es mit solch vermögenden Leuten zu tun hat, erscheinen bei ihr auf der Stelle klack-klack-klack die Dollarzeichen in den Augen, und die preist jeden Extraservice vollmundig an. Pflege für das hochheilige Image.“
Er wiegte ablehnend den Kopf, ging jedoch nicht weiter darauf ein.
Grace aß mit Appetit und solcherart, als hätte sie seit Tagen keine anständige Mahlzeit in den Bauch bekommen. Ihr Vater konnte nicht anders, als sie sich mit zunehmender Besorgnis genau anzusehen. Ihre Hände zitterten und sie ausgemergelt aus. Schmerzen standen ihr im Gesicht geschrieben.
Er beobachtete diese Entwicklung seit Monaten und vertrat mehr und mehr die Ansicht, diese Designerin beutete sie, nicht zuletzt aus Eifersucht ihres Könnens wegen, gnadenlos aus. Darüber hinaus hatte er erfahren, dass sich seine Tochter nebenher noch auf den Schritt in die Selbstständigkeit vorbereitete. Er fragte sich nicht ohne Neugier, wie ihr Leben wohl im einzelnen Aussehen mochte.
Geschwind hatte Grace das Essen vollständig vertilgt und schaufelte nun den köstlichen Schokoladenpudding in sich rein, während sie ihm wortgetreu Charles Emerys’ Worte ausrichtete. „Wie ich nebenher mitbekommen habe, planen die den Ostflügel zu renovieren, eine Wohnung daraus zu machen.“
Angelas griesgrämiger Antlitz wies jäh eine anormale Blässe auf, was ihrem Sohn nicht verborgen blieb.
„Ist alles in Ordnung mit dir, Mutter? Wenn du dich nicht wohlfühlst, dann sollte ich vielleicht doch besser den Arzt -“
„Nein!“, rief sie aus. „Nein, so schlimm ist es nicht. Wirklich nicht.“