Weihnachten bei Tante Wanda - Sylvia McKaylander - E-Book

Weihnachten bei Tante Wanda E-Book

Sylvia McKaylander

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Beschreibung

Zutiefst aufgewühlt, nachdem die verwaiste Alyssa das Tagebuch ihrer Mutter entdeckt hat, macht sie sich auf den Weg zu ihrer Tante Wanda, um dort auf viele brennende Fragen Antworten zu finden. Das herzkranke Mädchen setzt alles daran, Licht in das Dunkel der damaligen Ereignisse bei der mit ihrem Leben überforderten wie schroffen Farmerin zu bringen. Es ahnt nicht, in welche unheilvollen Verstrickungen sie dadurch geraten wird.

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Seitenzahl: 202

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Weihnachten bei Tante Wanda

Weihnachten bei Tante WandaTEIL EINSTEIL ZWEITEIL DREIÜber die AutorinImpressum

Weihnachten bei Tante Wanda

Sylvia McKaylander

Weihnachten bei Tante Wanda

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Sylvia McKaylander

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783744894623

Für alle tapferen Seelen, die nach außen hin- wie allgemein erwartet – schweigend wie angepasst ihr Leben als Pflegende bzw. Betreuende an der Seite kranker Angehöriger führen, doch in Wahrheit in ihrem Inneren hinter den Hausmauern unter ihren Lebensumständen resigniert vor sich hin leiden. 

Möge von nun an in Euren schmerzenden Herzen das Licht der Hoffnung

auf bessere Zeiten aufflackern - und niemals  erlöschen! 

TEIL EINS

Mit zunehmender Verzweiflung blickte Alyssa am Küchenfenster stehend auf die verlassene Straße herab. Sie schaute nach rechts, dann nach links. Das schummerige Licht der Laterne reichte nur wenige Meter. 

Wo blieb Sam so lange? Nein. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Bekümmert begab sie sich zurück ins Wohnzimmer, wo sie nach zwei weiteren Stunden intensiven Lernens mit dem Gefühl, auf die letzte Prüfung vor den Ferien bestens vorbereitet zu sein, mit müden Augen das Lehrbuch zuschlug. Es war ihr erstes Jahr am College und sie studierte mit großer Leidenschaft Literatur und Kunst, und da vornehmlich die alten Meister. Ihr knurrender Magen führte sie zurück in die Küche, direkt zum Kühlschrank. Neben einem halbtrockenen Stück Gouda-Käse fand sie eine angebrochene Packung Schinkenwurst und ein halb volles Glas Gurken, die sie prompt verspeiste. Irritiert betrachtete sie das halb leere Innere. Nicht mal eingekauft hatte er wie sonst üblich in der Mittagspause. Eigenartig. Sam wirkte in den letzten Wochen angespannt und nervös, wo er sonst die Ruhe in Person war. Die Zeiger der Wanduhr bewegten sich auf die zehn zu. Es war Zeit für sie, ins Bett zu gehen.

An Schlaf jedoch war nicht zu denken. In ihrem Kopf spielten sich grässliche Szenen ab, und als sie mit einem Aufschrei schweißgebadet erwachte, hatte sie alle Mühe sich zu vergewissern, zuhause in ihrem Bett, und in Sicherheit zu sein. Sie lauschte angestrengt. Bis auf den lauten Fernseher der achtzigjährigen Mrs. Bergheim von nebenan war es still in dem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus.

Da. Die Haustür fiel ins Schloss. Sie konnte es deutlich hören. Jemand stieg die Stufen hoch. War es Sam? 

Sie sprang mit klopfendem Herzen aus dem Bett, lief in den Flur. Sie stellte sich an die Wohnungstür gelehnt auf die Zehenspitzen, um mit ihren gerade mal ein vierundsechzig durch den Spion blicken zu können. Enttäuscht sackten ihre schmächtigen Schultern herunter. Nein. Er war es nicht, sondern nur der Typ aus der Etage über ihr. Inzwischen war es ein Uhr zwanzig. Das Telefon. Sie hatte den Anrufbeantworter nicht abgehört. Was war, wenn dem einzigsten Menschen, der ihr nach dem Unfalltod ihres Vaters, der sie zur Vollwaise werden ließ, noch blieb, etwas passiert war? O, nein. Nicht dran denken. Bloß nicht. 

Energisch schüttelte sie diesen beängstigenden Gedanken ab, und drückte mit zittrigen Finger auf die Abruftaste. Es waren keine Nachrichten drauf. Frierend kehrt sie sich zurück in ihr warmes Bett. Bisher hatte Sam immer, wenn er für Mr. Spencer, dem betagten Geschäftsführer des Auktionshauses, Überstunden leisten musste, eben schnell zum Telefonhörer gegriffen, um ihr Bescheid zu sagen. Sie selbst konnte den kauzigen Mr. Spencer von Anfang an nicht leiden, nicht zuletzt deshalb, weil er ihren Sam völlig für sich vereinnahmte. Ihrer Meinung nach war ihr Ziehvater zu gutmütig, um dem strikt einen Riegel vorzuschieben, abgesehen davon war er auf diesen Job angewiesen. Von seiner hingebungsvollen Berufung als renommierter Kunstexperte für Museen allein konnten sie beide längst nicht mehr leben.

Mittendrin in diesen finsteren Grübeleien schlummerte sie ein.

„Guten Morgen, Engelchen. Sieben Uhr. Aufstehen!“

Die Rollläden wurden schwungvoll hochgezogen. Ein Sonnenstrahl fiel grell auf ihr Gesicht. Dann begriff sie - und riss die braunen Augen auf. „Sam!“ Er trug den linken Arm in der Schlinge und auf seiner Schläfe klebte ein großes weißes Pflaster. Seine Gesichtsfarbe war von erschreckender Blässe. 

„Was ist denn mit dir passiert?“

Er wich ihren Blicken aus, winkte ab. „Halb so schlimm. Du kennst mich, und meine zwei linken Füße, wenn ich übermüdet bin. Ich hatte es mal wieder etwas zu eilig, das ist alles. Los jetzt! Raus aus den Federn.“

Es sollte eher lustig klingen, locker und unbeschwert, doch es klang eher wie eine Anweisung. Er wirkte angespannt. Die Ernsthaftigkeit ließ seine sonst weiche Stimme rau klingen. Alyssa bekam es langsam mit der Angst zutun. Es war demnach also wirklich etwas nicht in Ordnung. Oder?

Gähnend lief sie durch den Flur ins Badezimmer am anderen Ende. Im vorbeigehen sah sie seine hochgewachsene hagere Gestalt in der Küche mit düsterer Miene mit routinierten Griffen das Frühstück zubereiten.

Sam verheimlicht mir etwas, dachte sie, als sie die Badezimmertür hinter sich schloss. Als wenn sie genau nicht wüsste, dass er bereits einige Male in Bezug auf Kunstfälschungen mit dem FBI zusammengearbeitet hatte. Aber das jetzt mit seinem Arm … Dieses Mal schien die Sache heikler zu sein als sonst. Teils ärgerlich und teils auch besorgt sah Alyssa ihr Spiegelbild an, als sie mit der Bürste durch ihre schulterlange braune Lockenmähne ging. Sie war vor zwei Wochen achtzehn Jahre alt geworden, und zudem noch mit einer Recht passablen Intelligenz ausgestattet. Verdammt. Sie brauchte nur eins und eins zusammenzuzählen, um auch halbwegs zu erahnen, was Sache war. Sie kannte ihren Ziehvater, vielmehr seinen eisernen Willen zu gut. Wenn Sam über etwas nicht reden wollte, dann redete er nicht. Punkt.

Unterdessen tischte Sam das Frühstück auf, heute mit Brötchen. Sam stöhnte, verzog das Gesicht unter Schmerzen. Er musste Alyssa die Wahrheit sagen. Je eher desto besser. Er begann sich die Worte zu überlegen, um ihr die Lage möglichst behutsam zu schildern, ohne sie in Schrecken zu versetzen. Nein, sie brauchte nicht zu wissen, dass er vor dem Sturz an der Treppe definitiv eine Hand auf seinem Rücken gespürt hatte; genauso wenig brauchte sie zu erfahren, dass er mit grauenvollen Schmerzen in der Notaufnahme aus tiefer Bewusstlosigkeit erwachte, von wo er, kaum das die Behandlung abgeschlossen war, Reißaus genommen hatte, um möglichst rasch zu ihr nachhause zu kommen. „Sam? Was ist mit dir?“

Er blickte auf. Alyssa stand angezogen in der Tür und sah ihn an. „Gar nichts, Engelchen. Lass uns frühstücken, der Kaffee wird sonst kalt.“

Sie setzte sich auf den Stuhl, goss sich Kaffee ein. „Tut dein Arm weh?“

Er winkte ab, setzte sich ihr gegenüber an den wackligen Tisch. „Ich hätte dich gestern Abend zwischendurch kurz anrufen müssen, aber wir waren voll im Stress. Es kam ein Auftrag in letzter Minute rein, eine Insolvenz. Du kennst ja Mr. Spencer und kannst dir vorstellen, wie zappelig der alte Mann in solchen Fällen dann immer ist. Ich konnte ihn nicht damit allein lassen. Entschuldige, bitte.“

„Schon gut.“

Sam sah sie treuherzig an. „Lange schafft der gute Mr. Spencer das alles nicht mehr allein, er braucht Hilfe. Seine drei Kinder wollen das kleine Auktionshaus nicht weiter führen, und seine Frau starb vor zwei Jahren. Um nicht zu vereinsamen, macht er beruflich einfach so weiter wie bislang. Auf Dauer ist es, so wie es jetzt ist, keine Lösung.“ Sie seufzte resigniert. „Ist das der einzige Grund? Bist du an einer heißen Sache dran und ich darf nichts erfahren? Ich bin kein Kind mehr, Sam.“

Er biss die Zähne aufeinander, dann sagte er mit gepresster Stimme: „Ich sage dir nur eines, Alyssa: Du kannst heilfroh sein, dass du darüber nichts weißt. So, und jetzt wechseln wir das Thema, ja.“ Er legte seine schmale lange Hand auf ihre. „Keine Sorge, es ist nur ein Schlüsselbeinbruch und eine Gehirnerschütterung. In ein paar Wochen ist das Ganze vergessen, und es geht mir momentan ja auch soweit ganz gut. So, und jetzt erzähl mir von deiner letzten Prüfung. Was hast du für ein Gefühl?“

Ihr Ziehvater hatte diesen ihm ganz eigenen, typischen unerbittlichen Blick drauf. Sie kannte diesen „Bloß keine weiteren Fragen-Blick“ nur zu gut.

Die Tage bis zum Sonntag verliefen ereignislos. Zuerst besuchen beide wie gewohnt die Messe ihrer Glaubensgemeinschaft, ehe sie in ihrem Lieblingsrestaurant zu Mittag speisten, und sich danach in guter Laune mit ein paar Bekannten im Central Park zum Schachspiel trafen. Obwohl es noch eine Woche bis Weihnachten war, wurde es unerwartet noch einmal mild und sonnig. Alyssa fiel, während sie auf einer Bank in der Sonne sitzend angestrengt über ihren nächsten Schachzug grübelnd auf ihren Spieleinsatz wartete, ein Junge in schwarzer Kleidung auf. Er hatte einen schwarzen schulterlangen Lockenkopf und dunkle Augen. Nervös stieg er, indes er sie und Sam nicht eine Sekunde aus den Augen ließ, von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm anzusehen, dass er lieber ganz woanders wäre, und offensichtlich haderte er damit, auf der Stelle das Weite zu suchen oder die Observierung fortzusetzen. Sie schätzte ihn zwischen siebzehn und neunzehn Jahren. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen und ihn unverblümt nach dem Grund seiner Verfolgung zu fragen, verwarf diesen Gedanken jedoch, als sie bemerkte, dass auch Sam ihn gesehen hatte. Mit zusammengekniffenen Augen und ernster Miene fixierte er den jungen Mann, bevor er sich, wie es seinem abgeklärten Wesen entsprach, von den Freunden mit dem Versprechen verabschiedete, diese Partie in Kürze für sich zu entscheiden, und mit Alyssa an der Hand einen zügigen Marsch über mehrere Seitenstraßen, quer durch die Häuserschluchten antrat.

Nach einigen Minuten lehnten sie sich atemlos an eine Hausmauer, da sahen sie den Typen im Laufschritt und sich zu allen Seiten nach ihnen umschauen, keuchend an ihnen vorbeilaufen.

„Sam, wer war das?“

Er sah beunruhigend ernst aus. „Keine Ahnung. Komm, lass uns nachhause gehen. Das Wetter schlägt um. Sieh dir mal den Himmel an. Es wird heute Abend noch ungemütlich, schätze ich mal.“

Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Das schnelle Laufen hatte ihrem schwachen Herzen zugesetzt. Der eisige Wind hatte empfindlich aufgefrischt und dicke dunkle Wolken zogen auf. Sie kamen auf dem Heimweg an einem weihnachtlich geschmückten Geschäft für Geschenkartikel in der Davidson Street vorbei, der Alyssa mit seinen Auslagen in Verzückung geraten ließ. Sie drückte sich am Schaufenster fast die se platt. „Was ist? Gefällt dir da irgendwas Bestimmtes?“ Sie zeigte auf eine Schneekugel mit einem wunderschönen Engel darin. „Dann lass uns mal reingehen. Vielleicht gibt es drinnen noch viel schöneres zu bewundern.“

Es war in dem Geschäft heimelig warm und roch nach Zimt. Staunend betrachtete sie die glitzernden Weihnachtsengelchen, Schneekugel und Christbaumschmuck in allen möglichen Farben in den Regalen. Wunderbar handbemalte Figuren in verschiedenen Größen lenken ihre Aufmerksamkeit von Sam ab, der sich im hinteren Teil des Geschäftes umschaute. Sie betrachtete eine der Spieluhren, die aus schwerem Porzellan gefertigt worden war, und eine Ballerina zeigte, die sich zu einer Melodie von Mozart im Kreis drehte, als Sams‘ erregte Stimme zu ihr drang. „Ich frage Sie noch einmal, Mr. Mahony, woher haben Sie den Monet?“

Alyssa zuckte zusammen. So unwirsch und mit schneidender Stimme sprechend kannte sie Sam nicht. Er musste demnach sehr aufgebracht sein. „Wenn ich es Ihnen doch sage, Mister, ich weiß es nicht. Meine Frau hat dieses Bild auf einer Party bei einer ihrer wohlhabenden Freundinnen erworben, und sie ist jetzt nicht da.“

Sam fragte, wie viel seine Gattin für das Bild bezahlt habe. Alyssa, tat so, als würde sie die schönen Dinge betrachten, stattdessen hörte sie genau hin. „Das weiß ich doch nicht. Sie hat ihr eigenes Konto und auch ihren eigenen Verdienst. Was sie mit ihrem Geld macht, ist allein ihre Sache.“

„Wann kann ich Ihre Frau Gemahlin telefonisch erreichen?“ Der glatzköpfige Mann zögerte. „Hören Sie, das ist wichtig. Ich muss wissen, mit wem ihre Gattin in Kontakt steht. Ich brauche die Namen.“

Die braunen Augen weiteten sich bange. „Mister, ich verstehe das alles nicht. Warum denn diese Aufregung? Was ist eigentlich mit dem schönen Bild da oben nicht in Ordnung?“ Mit seinem Kennerblick deutete Sam mit dem Finger auf die Farbverläufe, genauer auf den Übergang von hellem Blauton am Himmel zum deutlich dunkleren Wasser. „Beim Original schwimmen auch auf dem Meer neun Boote, hier sind es sechs. Die Anzahl der Wolken ist nicht stimmig. Die Frau Rechts hält beim Original einen eher rötlichen Schirm in der Hand, dieser hier ist blau. Spaziergang über die Felsen heißt es übrigens.“

„Eine Fälschung?“ Bleich sackte Mahony auf den Hocker hinter den Tresen zusammen. „Sind Sie sicher?“

„Richten Sie Ihrer Frau aus, ich werde sie gleich morgen Früh anrufen. Keine Sorge, ich brauche nur ein paar Informationen von ihr. Sie hat nichts zu befürchten - sofern sie aufrichtig ist, versteht sich.“

„Meine Frau ist die Ehrlichkeit in Person.“

Sam übergab ihm seine Visitenkarte. „Na, wunderbar.“

Milder gestimmt trat er an Alyssas‘ Seite. „Na, hast du was gefunden?“ Sie zeigte ihm eine Schneekugel mit einem Engel im rosafarbenen Kleid darin. Schützend hatte er die Flügel über einen Jungen ausgebreitet, der gefährlich nahe am Abgrund Blumen pflückte. Ohne ein Wort ging Sam damit zur Kasse und kaufe sie ihr. Sie strahlte, als er ihr die Tüte in die Hand drückte. „Danke“, hauchte sie, zutiefst bewegt. Zu mehr fehlten ihr schlichtweg die Worte. Sam drückte das schmächtige Mädchen innig an sich. Inniger als sonst. Den Heimweg lang schwieg er, und nebenher sah sich auch Alyssa einige Male zu allen Seiten um, doch der Typ war und blieb verschwunden.

Sams‘ Laune war bedenklich abgerutscht. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, wohl wissend, dass er zu weit vorgeprescht war. Seine plumpe Vorgehensweise hatte den Ladenbesitzer sicherlich in Schrecken versetzt. Er trug eine enorme Verantwortung dem Mädchen gegenüber, dass wir eine Tochter für ihn war. Die warnenden Worte des FBI-Agenten verfolgen ihn mittlerweile im Schlaf. „Passen Sie ja auf, dass Ihnen niemand auf dem Nachhauseweg folgt“, hatte der ihm eingeschärft. „Geben Sie sich in Gegenwart Ihres Chefs wortkarg – und keine Silbe über Ihr Privatleben.“ Sam hatte darauf stöhnend den Kopf gewiegt. Als wenn er, ein introvertierter Einzelgänger von Kindesbeinen an, das wohl jemals täte.

Er verfluchte den Tag, an dem ihm im Auktionshaus einige Fälschungen unter die Augen gekommen waren. Sein Sinn nach Gerechtigkeit ließ ihn hitzig jede Vorsicht bei weiteren Recherchen aus den Augen verlieren. Jede Fälschung war für ihn ein Schandfleck, welchen es erbarmungslos auszumerzen galt. Seine Nachforschungen ergaben, dass das Original einen geschätzten Wert von über sechsunddreißig Millionen Dollar hatte.

Den Rest des Sonntages verbrachte Alyssa damit, sich auf die letzte Woche am College vorzubereiten, während Sam in seinem Zimmer seine Recherchen im Internet fortsetzte. Er hatte Angst. Diese Leute waren gefährlich. Sein Schlüsselbeinbruch sprach für sich. Ihm waren die Hände gebunden, er hatte dem FBI eine definitive Zusage gegeben. Nun, zum Glück blieben ihm noch ein paar Tage Zeit eine Lösung zu finden, aber dann …

Es klopfte an der Zimmertür. „Ja, komm ruhig herein, Schätzchen“, rief er und drückte auf eine Taste. Der Bildschirm wurde schwarz. Sie trat ein, stellte eine dampfende Tasse Tee auf seinen Tisch. „Ich habe mir auch eine Tasse gemacht. Vorsicht, heiß.“

„Danke. Lieb von dir.“

Sie trug ihren kuscheligen Hausanzug, lehnte sich gegen eine Kommode. „Du bist beruflich in ein Wespennest gestoßen - und du hast Geheimnisse vor mir. Das ärgert mich. Und dann noch das mit deinem Arm … Das war kein Unfall. Richtig?“

Er reagierte bestürzt. „Woher … Wie kommst du darauf?“

„Mache mir doch nichts vor.“ Sie sah ihn verletzt an. „Warum sagst du mir nicht einfach die Wahrheit? Sam, du forderst von mir immer ein, ich soll aufrichtig sein - jetzt sei du bitte auch aufrichtig zu mir.“

„Nein, Alyssa. Nein. Tut mir leid, ich kann es dir nicht sagen.“ 

„Warum nicht?“

Er schwieg. Ratlos, welche Antwort er geben konnte - und durfte. „Warum nicht?“

„Alyssa, bitte! Wenn ich es verantworten könnte, es dir zu sagen, dann hätte ich es längst getan. So gut müsstest du mich doch eigentlich kennen, oder etwa nicht?“

Ärgerlich verließ sie schweigend das Zimmer. Kummervoll trat Sam an eine Kommode und zog die Schublade auf. Er griff tief hinein - und ertastete aufatmend die Schatulle weit hinten. Gott sei Dank. Sie war noch immer dort, wo Tom sie einst in Sicherheit wähnte. Der Zeitpunkt, von dem Sam hoffte, er würde niemals eintreten, war gekommen. Er fühlte sich an den Willen seines besten Freundes und Alyssas’ Vater gebunden. In seinem Nachlassdokument stand eindeutig, dass Sam, sofern der die Meinung vertrat, das Mädchen sei zwischenzeitlich reif dafür, sie diese Schatulle ausgehändigt bekam. Verdammt. Es würde ihr Leben verändern. Nichts würde für Alyssa danach wieder so sein wie vorher - dabei war Alyssa so glücklich.

„O, Tom", hauchte er verzweifelt. „Was würdest du tun an meiner Stelle?“

***

Sam saß im Wohnzimmer auf dem Sofa mit dem Rücken zur geschlossenen Wohnzimmertür und telefonierte, als Alyssa vom College heimkehrte. Sie schälte sich im Flur stehend aus der dicken Winterjacke, befreite sich vom Schal und den Handschuhen. Sie war im Begriff sich auf dem Stuhl sitzend von den Schneestiefeln zu befreien, als Sams‘ zornige Stimme in ihre Ohren drang.

„Nein, Wanda! Nun hör mir doch endlich mal zu!“, regte er sich auf. „Du hast auch eine Pflicht - als einzige Verwandte! Ja, du! Meine Lebensführung steht nicht zur Debatte. Nein! Verschone mich mit deinen Vorurteilen! Du kannst mich gar nicht beleidigen. Du nicht. Was? Ha! Das ist nicht lache! Bei mir wusste dein Bruder sein Kind immerhin in Sicherheit. Du dagegen hättest das Mädchen als billige Arbeitskraft für deine Farm benutzt. Gibt es doch wenigstens zu.“

Der scharfe Klang seiner Stimme alarmierte ihre Sinne. Nein. Sie wollte nicht lauschen, doch sich von der Stelle bewegen konnte sie sich ebenso wenig. Ihre schweren Beine fühlten sich an wie am Boden festgenagelt.

„Für mich war es damals auch nicht leicht, von einem Tag auf den anderen Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Alyssa und ich kannten uns seit ihrem vierten Lebensjahr - du bist eine Fremde für sie.“ Er lachte. „Gegen dich aufgehetzt? Mach dich doch nicht lächerlich! Das Mädchen ist klug und charakterfest – sie lässt sich nicht aufhetzen, steht zu ihrer Meinung. Dank meiner Erziehung. Auch wenn du es nicht hören möchtest, der gute Tom hatte verdammt gute Gründe, genau dass zu tun, was er tat – nämlich Alyssa von dir fernzuhalten. Im Gegensatz zu dir habe ich bereitwillig für das Kind mein Leben geändert, und mit Freuden Vaterpflichten übernommen“, regte er sich auf. Sie hörte ihn schwer seufzen, bevor er sachlich weiter sprach. „Jetzt bist endlich mal du an der Reihe, dich um deine Nichte zu kümmern. Nein, Alyssa kann nicht allein bleiben. Warum? Weil sie schwer herzkrank ist, deshalb! Was? Nein! Wanda, glaubst du im Ernst, ich würde ausgerechnet dich darum bitten, wenn mir eine andere Wahl bliebe? Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Das Fest der Liebe - und Liebe, Wanda, dass bist du deiner Nichte schuldig - das und noch viel mehr! Was? Das fragst du noch? Über das, was du getan hast!“

So verärgert hatte sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Was war denn nur los? Eilig zog sie sich in Zimmer zurück, wo sie ihre Tasche auf den Stuhl stellte, und ihre Unterlagen auf dem Tisch ausbreitete. Es machte keinen Sinn, Sam in dieser Verfassung zu einer Erklärung zu bewegen. Was hatte ihre Tante denn so schlimmes getan, fragte sie sich. Sie wühlte in ihrem Gedächtnis, doch die Erinnerungen an die Erzählungen ihres Vaters über seine Heimatstadt in Iowa waren nur noch lückenhaft vorhanden. 

Die Stimmung beim Abendessen eine Stunde später ließ zu wünschen übrig. Sam schwieg mit verbissener Miene, stocherte mit der Gabel im Essen herum und sie selbst hing gedanklich dem schwierigen Lernstoff der heutigen Vorlesung nach. 

Am nächsten Morgen, als sie wie gewohnt nach dem Schrillen des Weckers Sams‘ Namen rief, erhielt sie darauf keine Antwort. Sie hielt den Atem an. Ihr wurde es schlagartig anders. Sie rieb sich gähnend die Augen und schlug die Bettdecke zur Seite. „Sam?“ Furcht packte sie. „Sam, wo bist du? Sam!“

Sie lief mit wachsender Panik in jeden der vier Räume, schließlich blieb sie ratlos im Flur stehen. Sie glaubte geträumt zu haben, dass er an ihrem Bett stand, oder strich seine Hand tatsächlich kaum wahrnehmbar über ihr Haar? Ach, was. Es war bloß ein Traum. Oder etwa nicht?

Zögernd betrat sie die Küche. Auf dem Küchentisch lag neben einen handschriftlichen Brief die dunkelbraune Schatulle aus Leder. Alyssa zitterte am ganzen Körper, wie sie das vollgeschriebene Blatt Papier in die Hand nahm. Sie ließ sich benommen auf den Küchenstuhl fallen. Sie begann, ihn zu lesen. Ganz langsam und Wort für Wort. 

Meine liebe Alyssa!

Es fällt mir unsäglich schwer, diesen Brief zu schreiben, aber es bleibt mir keine andere Wahl, als diesen Schritt zu gehen, denn sonst bringe ich Dich in ernsthafte Gefahr. Bitte gehe nicht zur Polizei, denn das hat schon so seine Richtigkeit. Auch das mit dem Zugticket. Deine Tante Wanda habe ich telefonisch informiert über Dein Kommen. Ja, ich weiß, Du magst sie nicht, aber bitte glaube mir, ich genauso wenig, doch dort weiß ich Dich in Sicherheit und kann so mit ruhigem Gewissen meiner Pflicht nachgehen. Ich hoffe, Dir nach meiner baldigen Heimkehr alles erklären zu können. Versuche es von der positiven Seite aus zu sehen. Mir fällt es andere als leicht, Dich, ausgerechnet über die Festtage in der Obhut dieser Person zu wissen. Mein Schatz, ich flehe Dich an, reise, sobald Du Deine Verpflichtungen hinter Dir hast, noch am selben Tag mit dem Zug nach Des Moines. Deine Tante bewirtschaftet eine Farm bei Jamison, am Highway 89 gelegen.

Alyssa, Du bist achtzehn Jahre alt – und reif genug es zu erfahren. Dein Vater Tom hat den Kontakt zu Wanda und Keith abgebrochen, das war sieben Monate vor Deiner Geburt. Ich gehe davon aus, dass Du klug genug bist, Dir aus all dem Deinen eigenen Reim zu machen. Denke immer daran: ganz gleich, wie Wanda sich verhält, diese Frau hat kein reines Gewissen – und sie ist Dir, liebe Alyssa, einiges schuldig – und damit meine ich nicht nur die Wahrheit. 

Bitte sei tapfer. Auch das geht vorbei. Ich habe Dich lieb.

Sam.

„Das kann nicht wahr sein“, wisperte sie. Nebenher blickte sie auf die Uhr und sprang erschrocken auf. Sie hätte schon längst auf den Weg sein müssen. Der Inhalt des Kästchens interessierte sie zwar brennend, aber das musste bis zum Abend warten. Überhastet kleidete Alyssa sich an und verließ das Apartment ohne Frühstück. Sie kaufte sich eine halbe mit Salat und Tomaten belegte Brötchenhälfte einige Straßen weiter, die sie unterwegs im Laufschritt verschlang. Sie entschuldigte ihre Verspätung mit einem Arztbesuch. So schlecht wie sie des Schrecks wegen Sam aussah war es ohnehin glaubwürdig; sein Verschwinden hatte ihr mehr als einen gehörigen Schrecken versetzt; er zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Zwar gelang es ihr im Laufe der nächsten Stunden, während des Unterrichts halbwegs ihre seelische Balance wieder zu finden, doch sie fühlte sich, als würde sie neben sich stehen. Im Chemieunterricht an der Seite ihres Partners James hätte sie aus Unachtsamkeit beinahe ein Reagenzglas mit einer gefährlichen blauen Flüssigkeit umgestoßen, hätte sie nicht schnell genug reagiert. „Mensch, nun pass doch auf!“, fuhr er sie an. „Ich habe keine Lust, mir deinetwegen eine schlechte Note einzuhandeln", zischte er. „Reiß dich gefälligst zusammen, ja.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie presste sich die Hand auf den Mund und schluchzte so laut auf, dass sich ihre Mitschüler zu ihr umdrehten. Hastig zog sie sich den Kittel aus und schleuderte ihm das blaue Teil voller Wut mitten ins Gesicht, ehe sie aus dem Raum lief. Wenige Augenblicke später stieß Margaret, ihre Freundin zu ihr. Alyssa wusch sich in der Toilette das bleiche Gesicht. „Aha, dachte ich mir, dass ich dich hier finde. Das dieser Typ auch so ein Blödmann ist.“

„Sein Ruf als verzogener Flegel wird ihm wahrhaft gerecht - und seine reichen Freunde sind genauso.“

„Ach, nimm es nicht so tragisch. Ihr beide kommt ohnehin aus zwei unterschiedlichen Welten. Was ist denn mit dir los?“

„Nichts. Es ist gar nichts, alles in Ordnung.“

Sie wollte an Margaret vorbei huschen, doch die stellte sich ihr in den Weg. „Und warum läufst du dann herum wie ein Trauerkloß? Ist was mit Sam?“

Energisch verneinte sie. Mehrmals hatte ihr Ziehvater ihr eingeschärft, darüber kein Wort zu verlieren. Sie lächelte ihre Freundin an. „Komm. Die letzten Tage werden wir beide auch noch hinter uns bringen.“

Die Freundin legte ihr mit einem breiten Lächeln den Arm um die Schulter. „Genauso will ich dich hören, liebste Freundin. Also auf in den Kampf!“

Wie Alyssa am Nachmittag den Schlüssel im Schloss umdrehte, trat sie in eine ernüchternd leere Wohnung. Es kam ihr kein Sam entgegen, um zur Begrüßung die Arme liebevoll um sie zu legen. Ächzend legte sie ihre Wintersachen ab. Es fühlte sich entsetzlich an, so allein zu sein. Entschieden, sich davon nicht runterziehen zu lassen, lenkte sie sich mit Lernen ab. Am Abend machte sie es sich im Schlafanzug auf dem Bett bequem. Neben ihr auf der Nachtkonsole stand eine dampfende Tasse Tee. Sie nahm Sams‘ Brief zur Hand und las ihn. Noch hatte sie es nicht fertig gebracht, die Schatulle zu öffnen.

Nach und nach tauchten Bilder der Erinnerung in ihrem Kopf auf. Tränen begannen, ihr aus ihren brennenden Augen heraus die Wange herunter zu laufen.

Sie sah sich am offenen Grabmal ihres Vaters stehen. Sie war zwölf Jahre alt und wich angstvoll nicht eine Sekunde von Sams’ Seite, hielt seine Hand krampfhaft fest. Von dem Moment an, als sie erst in das runde miesepetrige Gesicht ihrer Tante, und dann in die schwarzen funkelnden Knopfaugen geblickt hatte, mochte sie diese Frau nicht. Wanda selbst warf dem Kind, während sie nach außen hin andächtig den salbungsvollen Worten des Priesters lauschte, teils forschende, teils aber auch abschätzige Blicke zu. Langsam verblassten die Bilder vor Alyssas’ geistigem Auge.