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Die pubertierende Samantha wächst bei ihrem Großvater auf und gerät an die falschen Freunde. Durch tragische Umstände wird das Mädchen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Als Samantha auf Bewährung entlassen wird, setzt sie alles daran, ihre Unschuld zu beweisen. Dabei unterstützt sie sowohl ihr Bewährungshelfer als auch ihr pflegebedürftiger Großvater. Sie muss sich noch mit der feindseligen Pflegekraft Gerda Loft auseinandersetzen, um ihr bizarres Verhalten zu erklären.
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Seitenzahl: 273
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Sylvia McKaylander
Samanthas Entscheidung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.dnb.de abrufbar.
©2019 Sylvia McKaylander
Herstellung und Verlag: BoD–Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783744829373
Samantha drehte sich auf ihrer knochenharten Pritsche ihrer Gefängniszelle seufzend auf die andere Seite, als von einer Wärterin scheppernd die Zellentür geöffnet wurde.
„Du kannst gehen, Peters. Dein Bewährungshelfer hat es geschafft, den Staatsanwalt zu überzeugen!“, polterte die los. „Fange schon mal an dich zu verabschieden. Rufe, wenn du soweit bist.“
Die Wärterin ging. Sam setzte sich irritiert auf, fuhr sich mit den Händen durchs Strubbelige braune lange Haar. „Ich glaube es nicht. Er hat es geschafft.“ Freude, unermessliche Freude ließ sie schrill auflachen. „Mr. Davis hat es wirklich geschafft. Ich bin frei!“
Ihre Zellengenossin Rosie Dunbar saß im Schneidersitz auf der Liege, lächelte sie an. „Ja, es ist wahr, Schätzchen! Komm, jetzt hebe den Hintern hoch, und mach, dass du verschwindest! Im Gegensatz zu mir bist du nämlich wirklich unschuldig.“ Sie erhob sich, reckte Ihren hageren Körper. „Ich habe nie an der Unschuld gezweifelt, das weißt du.“ Rosie blickte sie ernst von der Seite an. „Bist du immer noch fest dazu entschlossen?“
„Das bin ich.“ Sie senkte beschämt den Kopf. „Meine Großeltern haben so viel für mich auf sich genommen und ich war damals so fies zu ihnen. Ich schäme mich dafür.“
„Hey, sei nicht so streng zu dir! Du warst ein Kind und du hast viel zu viel mitgemacht.“
„Ich fühle mich irgendwie immer noch wie ein Kind.“
„Du bist unsicher, mehr nicht. Ich kenne keinen, der keine Angst vor der Freiheit da draußen hat.“
„Ich muss mein Leben in die richtigen Bahnen lenken, einen geregelten Tagesablauf haben. Ich möchte das College besuchen, Architektur studieren, aber da ich vorbestraft bin … Mr. Davis sagte zwar, er setzt sich dafür ein, dass ich es trotzdem kann, aber ...na ja, ich weiß nicht.“
„Hey, du musst an dich glauben, an deinen Erfolg, daran das du es schaffst.“
„Du hast Recht. Woher nimmst du deinen Optimismus?“
Rosie umfasste Sams Schultern. „Du wirst deinen Weg gehen, da bin ich sicher. Du hast die Zeit hier sinnvoll verbracht, hast dich weitergebildet, das ist mehr als die anderen hier von sich sagen können. Du kannst was! Vergiss das nicht!“ Rosie stellte sich mit durchdringen Blicken der Zuneigung vor ihr. „Der hilflose unschuldige Ausdruck ist einer ernsthaften erwachsenen Visage gewichen. Das Kind ist hier, in diesem verfluchten Loch, gestorben.“ Sie küsste ihre Freundin auf Stirn, Nase und Wangen. „Ich wünsche dir viel Erfolg und alles Gute!“ Sie legte ihr die von Küchenarbeit geschundenen Hände auf die schmächtigen Schultern. „Machs gut, pass auf dich auf, und lass dich nicht unterkriegen! Was die anderen können, kannst du schon längst!“
Die Antwort war eine innige Umarmung, ehe ihre Freundin sich von einem Gefühlsausbruch überfallen abwandte, sich mit dem Gesicht zur betonierten vollgekritzelten Wand stellte. „Sam, bitte geh jetzt! Ich möchte dich nie wiedersehen! Nie! Hörst du? Nie!“ Rosie schniefte. „Du darfst nicht mehr an mich denken! Ich flehe dich an, behalte mich in Erinnerung, wie du mich kanntest. Versprich es!“
Sam stellte mit Schrecken fest, wie sehr ihr mit einem Mal das wahre Alter von vierundfünfzig Jahren anzusehen war. Die Frau glich einem Gerippe. „Wieso sagst du das? Bist du etwa -"
„Frag nicht! Versprich es mir einfach!“, fuhr sie sie verzweifelt an. „Du musst es mir versprechen, ehe lasse ich dich nicht gehen, hörst du?“ Sie drehte sich abrupt um, sie zwang sie konsequent ihr in die durchdringenden blaugrauen Augen zu sehen. „Samantha, wenn du jetzt gehst, möchte ich, dass du dein Leben lebst, ohne zurückzublicken, ohne ein einziges Mal an mich, alte Schachtel zu denken. Ich möchte mir keine Sorgen um dich, da draußen machen müssen.“
Sie würgte den Kloß runter. „Ich verspreche es.“
„Ach komm her, Schätzchen.“
Sie breitete unerwartet erneut die Arme aus, drückte Sam an sich, gab ihr innige Küsse, bevor sie sich wieder zur Wand umdrehte. Der blumige Geruch Ihres Parfums drang ihr in die Nase, das herzergreifende Schluchzen krampfte ihr Herz zusammen, sie wollte die Frau am liebsten ein weiteres Mal an sich schmiegen, doch, als hätte sie ihre Gedanken erahnt, sagte die flüsternd, aber nicht weniger heftig: „Geh jetzt! Ich möchte dich nicht mehr sehen. Mach schon! Geh! Geh!“
„Leb wohl.“
Mit eiserner Disziplin zwang sich Sam, ohne zurückzublicken, die Zelle zu verlassen. Sie ging neben der Wärterin gedankenversunken den unheimlichen Gang entlang. Warum verlangte Rosie das nur von mir? Trotzdem, vergessen kann ich sie nicht, niemals, dafür hat sie zu viel für mich getan. Ich werde sie besuchen, wenn ich alle meine Ziele erreicht habe - ob sie es wünschte oder nicht!
Sam wurde zu einem kleinen Raum gebracht, wo auf einem kleinen Tisch ihre persönliche Habe in blauen Plastiktüten auf dem kleinen Holztisch liegen sah. Sie stopfte eilig alles in Ihren schwarzen Rucksack, befreite sich hastig von dem Overall um wohlig den weichen Jeansstoff auf Ihrer Haut zu fühlen. Die Zeit ließ den Geruch von Jasmin in ihrem rosa Pulli nur noch schwach wahrnehmbar sein. Der Anblick Ihres Spiegelbildes, der ihr mit aller Deutlichkeit Ihren desolaten Zustand offenbarte, ließ sie den Vorsatz fassen sich ein neues Image zuzulegen, auch um einen Schlussstrich zu ziehen. Wenige Minuten darauf im Büro unterschrieb sie die Entlassungspapiere. Die Wärterin von vorhin ging ihr voraus bis zur Hofeinfahrt, wo sie ohne ein persönliches Wort an Sam zu richten umdrehte und dem Pförtner einen mehr als nachlässigen Wink gab, der sich nur sehr gemächlich dazu anschickte, seufzend die neueste Ausgabe des Playboys zur Seite zu legen, und den Schalter umzulegen, der das Tor mit einem Summton öffnete. Samantha ging durch den schmalen Spalt aufatmend in die Freiheit. Sie war frei! Endlich frei!
***
„Ein bisschen hoch Ihr Blutdruck, Mr. Peters. Ist heute was Besonderes?“
Conrad Peters rutschte in seinem alten beigen Ohrensessel von einer Pobacke auf die andere, während seine Altenpflegerin und Krankenschwester Gerda Loft die Manschette vom Blutdruckmessen von seinem Arm schob, ihn fragend musterte.
„Meine Enkelin müsste jeden Augenblick hier eintreffen.“
Sie sah den alten Mann entrüstet an. „Ja, um alles in der Welt, warum haben Sie das denn nicht eher gesagt! Ich hätte dann doch einen Apfelkuchen gebacken.“
„Ach, ich hab’s eben vergessen.“
Sie blitzte ihn wütend an, stemmte die Hände in die rundliche Taille. „Das glaube nicht; soviel wie Sie mir von Ihrer tollen Enkelin erzählt haben… Also, für so dumm müssen Sie mich mal nicht halten, Mr. Peters!“
Er hob verteidigend die Arme. „Ja, jetzt seien Sie doch nicht gleich beleidigt! Ihren köstlichen Apfelkuchen können Sie immer noch für uns backen. Also ich freue mich schon darauf“, versuchte er sich einzuschmeicheln. „Und meine Sam auch.“
Loft zog sich murrend in den dunklen Teil des kleinen Lesezimmers zurück, wo sie auf einen ovalen Tisch unter anderem auch ein Blutzuckermessgerät parat gelegt hatte. Die Wände waren mit teils farbigen und schwarz-weißen Familienfotos aus glücklichen Zeiten übersät. Vor Conrad stand ein mit diversen Zeitungen überhäuft in runder Tisch, gegenüber seines Sessels stand derselbe seiner verblichenen Frau. Der romantische Ausblick aus dem Fenster ließ ihn die sich allmählich herbstliche verfärbende Pryor Road überblicken.
Der fünfundsiebzig jährige Mann fieberte Sams Ankunft entgegen, auch um die nervige Pflegerin endlich loszuwerden. Heute nervte die ihn ganz besonders mit Ihrer Gelassenheit die an Überheblichkeit grenzte, nicht mal seine derben Sticheleien fanden Gehör.
Während die Loft nebenher die Familienbilder, auf dem Sims des offenen Kamins stehend, betrachtete fügt er stolz hinzu: „Das Mädchen mit den braunen Haaren ist Samantha. Mit zwei Jahren, mit vier, dann mit sechs und mit acht Jahren als Siegerin bei einem Lesewettbewerb in der Schule. Der Mann auf dem anderen Foto, das daneben, der sie umarmt ist mein Sohn mit seiner Frau Kate im Hintergrund. Sams Eltern“ er seufzte schwermütig. „Mein Matthew. Er fehlt mir so. Gott hat ihn selig.“
„Ein hübsches Kind, Ihre Enkeltochter“, stellte sie feinsinnig lächelnd fest.
„Ein liebes noch dazu, dazu noch sehr intelligent. Das hat sie von meinem Sohn.“
Die Frau sah sich das Porträt der schüchtern lächelnden 6-jährigen Samantha lange an. Etwas zu lange, nach Conrads Scharfsinn. Warum tat sie das jetzt? Das Foto hing seit einer Ewigkeit da. Nur weil sie weiß, dass Sam heute heimkommt? Komisch. Er studierte Ihre bewegte Mimik, das Nagen an der Unterlippe, die vom angestrengten Denken gefaltete flache Stirn.
„Kennen Sie meine Samantha?“
„Nein.“
„Es schien mir so. Bitte beeilen Sie sich ein bisschen, Mrs. Loft.“
„Wir wollen mal nicht so ungeduldig sein, hm.“
„Hey, ich bin nicht einer von Ihren Tattergreisen, also behandeln Sie mich nicht so!“
Sie stand mit Ihrem dickleibigen Körper so, dass Conrad nicht sehen konnte, was sie im hinteren Teil trieb, ehe sie sich ihm erneut zuwandte, um ihm die Medikamente für die nächsten Tage eingeteilt in eine Box in die Hand zu drücken, die er auf die Kommode zu seiner linken ablegte, ohne, misstrauisch wie er war, den Blick von ihr abzuwenden. Sie pickte ihm in den Finger, um den Blutzuckerwert festzustellen. Er zuckte zusammen.
„Na, na, na! Sind Sie aber zimperlich heute!“
„Und Sie grob!“
„Wir wollen mal nicht so empfindlich sein, hm!“
„Nun hören Sie doch mit Ihrem Verhätscheln auf, verflucht noch mal! Mir tun schon die Ohren weh davon.“
Loft zeigte sich unbeeindruckt. „Wo war Ihre Enkelin denn so lange?“
„Im Gefängnis - zu Unrecht! Meine Sam könnte keiner Fliege was zuleide tun - sie wurde das Opfer einer ganz miesen Intrige, viele Zeugen waren untergetaucht, die anderen logen bei der Vorverhandlung, nur man konnte diese infamen Lügen nicht nachweisen. Der Pflichtverteidiger war eine Niete, aber wir waren mittellos, konnten ihr keine bessere Verteidigung bieten.“
„So, so.“
Gerda ging mit vor Wut zusammengebissenen Zähnen in die Küche. Sie schaute im Mülleimer nach, um sich zu vergewissern, dass das Essen auf Rädern, dass ihm täglich zugeteilt wird, gegessen wurde. Wenn er als Folge seiner Depressionen unter Appetitlosigkeit litt, aß er meist viel zu wenig. So ein Mist! Warum musste denn diese verfluchte Göre ausgerechnet jetzt nach Hause kommen?, ärgerte Gerda sich. Sie würde jedes Tun, jedes Wort sorgsam abwägen müssen.
Neugierig schaute sie aus dem Fenster. Es war ein ruhige, gepflegte Straße in dem vorwiegend ältere Menschen wohnten. Es ging in diesem Viertel von Billings bedächtig, für die jungen Leute langweilig zu. Die Menschen klatschten gern über den Gartenzaun hinweg und trafen sich, wenn es ihm gut ging, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst in der Stammkneipe.
Gerda zog im nächsten Augenblick ruckartig den Kopf zurück. Ein Taxi bog in die schmale mit hübschen kleinen Einfamilienhäusern aus rotem Backstein gesäumte Straße ein, hielt direkt vor dem Haus. Sam stieg sich umsehend aus, betrachtete flüchtig den Lofts schwarzen Renault. Samantha wiegte über den katastrophalen Zustand des Hauses den Kopf. Nicht zu fassen, dass die Haushaltshilfe sich nur um das Hausinnere kümmerte. Sie wollte, dass ihr Elternhaus so gepflegt und blühend im Sonnenschein erstrahlte wie an glücklichen. Kindertagen…....
Sam drückte stürmisch den Klingelknopf. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Conrads Stöhnen, der Klappern der Krücken. Seine von Arthrose steifen Gelenke ließen ihn schwerfällig gehen, was ihn, ungeduldig wie er war, in Rage brachte. Gerda öffnete die Haustür, beäugte die erwachsene Sam von oben bis unten forschend. Ja, sie war es. Zweifellos!
Großvater und Enkeltochter fielen sich in die Arme, begrüßten sich so herzlich, dass der Frau Tränen brennend in die Augen stiegen. Nach fünf Minuten wurde es ihr zu bunt. Sie räusperte sich. „Ich gehe dann jetzt besser. Auf mich warten noch einige Patienten.“
Er stellte ihr die Loft flüchtig vor. „Sie kommt zweimal in der Woche und guckt nach, ob meine dritten alle noch alle drin sind.“
Die zog eine Grimasse. „Sehr ulkig! Ha, ha, ha!“
Sam lachte schallend. Sie reichte der Frau begrüßend die Hand, die ihr die ihre zögernd entgegen streckte, lasch den Druck erwiderte. Der durchdringende Blick jagte Sam einen eisigen Schauer den Rücken runter. Sie wusste selbst nicht, warum.
Loft verabschiedete sich hastig. Conrad ergriff ihre Hand. „So, und wir beide machen uns einen schönen Abend. Du hast mir bestimmt viel zu erzählen.“
Sie blickte der Frau nach, die hastig das Haus verließ. Ihr war diese Person nicht geheuer. Sie strahlte etwas Böses… etwas undefinierbares aus; etwas, wovor ihre Intuition ihr riet, auf der Hut zu sein. Oder bilde ich mir das nur ein, fragte sie sich.
***
Samantha verließ am frühen Morgen das Haus für eine Joggingrunde durch den Park. Conrad schlief noch tief und fest. Sie hatte sich regelmäßiges Laufen angewöhnt, um eitel wie sie war die Figur zu halten. Am Gürtel trug sie Ihren Walkman, der sie mit Ihren Lieblingssongs während der mehrere Meilen große Runde durch den Park bei Laune hielt.
Sie traf überraschend ihre ehemalige Freundin Angie Wyatt, ein Mitglied der alten Clique wieder. Die traute Ihren Augen nicht, Sam wiederzusehen. Sie blieb abrupt stehen, starrte sie mit Ihren strahlend blauen Augen an. „Samantha Peters?“
Sie kam bejahend nickend auf sie zu. „Hi, Angie! Wie geht’s? Schön, dich mal wiederzusehen.“
„Gut.“ Die hatte es sehr eilig weiterzukommen. „Ich muss jetzt weiter.“
„Hey, Warte mal!“ Sie holte Angie mühelos ein. Sie musterte ihre ehemalige Freundin kritisch und entschied sich dafür, es zu wagen. „Du hast im Einkaufscenter gesehen, wie Harriet die Klamotten in meine Tasche gesteckt hat, du warst dabei, und du hast, bevor das mit Nora passierte ist noch ausführlich mit Harriet geredet. Worüber?“
„Was erwartest du? Das ist zu lange her, dass weiß ich doch jetzt nicht mehr.“
„Hast du noch Kontakt zur Clique? Harriet Michaels, Willie Beaman, Cliff Culver, Marcia McDermott und -“
„Nein, habe ich nicht!“, fiel die Sam erbost ins Wort. „Will ich auch nicht mehr. Lass mich bloß mit denen in Ruhe!“
„Hey, warum regst du dich denn so künstlich auf?“
„Ich mag es nicht an früher erinnert zu werden. Wofür soll das gut sein, dass alles wieder aufzuwühlen? Wozu?“
„Wenn ich damit meine Unschuld beweisen kann.“
„Du! Du! Du! Immer nur du! Hast du noch nicht an jemand anderen als an dich gedacht!“
„Du bist unfair, Angie.“
Angie stellte sich vor ihr, stieß ihr ihren üblen Atem heiß ins Gesicht. „Nein! Nein, du bist unfair! Du hast keine Vorstellung von dem, was damals in uns, in jedem Mitglied der Clique vorgegangen ist.“
„Vielleicht, deswegen kann ich mit Sicherheit sagen, dass jeder im Zeugenstand in der Vorverhandlung gelogen hat, um sich selbst zu schützen. Was Ihr mir damit angetan habt, war Euch doch scheiß egal.“ Sam schrie jetzt. „Jetzt komm du mir nicht mit Egoismus.“
„Wir hatten alle was zu verlieren, einen guten Ruf, wir standen alle kurz vorm Berufsleben“
„Das hatte ich auch, ich habe meine Kindheit, meine Jugend im Knast, in dieser Hölle verloren.“
„Du hättest ja nicht zu stehlen brauchen.“
Sam verpasste ihr eine schallende Ohrfeige, sodass Angie schrill aufheulte.
„Hau ab, ehe mich vergesse!“, schleuderte sie ihr entgegen.
Einige Jogger drehten sich zu ihnen um. Angie versuchte sich zu mäßigen. Sie konnte Sam nicht in die Augen blicken. „Das ist alles vorbei, seit drei Jahren schon, seit dieser verdammten Party habe ich keinen von unserer alte Clique mehr gesehen.“
„Halt den Mund!“
Sam ließ es gut sein und joggte weiter. Bei Angie erreichte sie gar nichts. Sie wusste, sie hatte eventuell einen Stein ins Rollen gebracht, der sich im schlimmsten Fall in ein Gebirgsmassiv verwandeln konnte, sie überrollen konnte. Sie machte sich keinerlei Illusionen darüber, dass Angie sofort sich ans Telefon mit einer vagen Vorahnung auf den Lippen an ihre alten Freunde gewandt stürzen würde. Ob Sam wollte oder nicht, sie konnte nicht mehr zurück. Ärgerlich war sie über die Lügerei, diese Falschheit. Soviel also zum Thema gute alte Freunde, dachte sie verbittert.
Wenige Minuten später in der modernen Küche breitete Sam sich zur Erfrischung mit einem Standmixer eine Bananenmilch zu indessen sie Grandpa das von vorhin erzählte. Er saß in seinem schäbigen dunkelblauen Bademantel am Küchentisch und beschmierte sich seine Schnitte Brot heute besonders dick mit Diätmarmelade.
„Du, tu mal nicht so viel darauf. Das Zeug hat sonst eine durchschlagende Wirkung.“
„Ich habe aber Hunger.“
„Trotzdem.“ Sie setzte sich an den Küchentisch und wies ihn auf dahin hin, was hinten klein geschrieben auf dem Glas stand. „Hier steht’s. Dieses Nahrungsmittel wirkt bei übermäßigem Verzehr stark abführend.“
„Danke für die Warnung, aber was meinst du mit durchschlagender Wirkung?“
„Ganz einfach, kommt oben rein und schlägt ganz fix bis unten durch. Dann musst du im Schweinsgalopp irgendwohin, mal ganz abgesehen davon das dein Magen ohne Ende poltert.“
Er guckte bedröppelt. „Oha.“
Mit einem Löffel schaufelte er die Erdbeerkonfitüre prompt ins Glas zurück, sodass nur noch eine dünne Schicht auf der Schnitte lag. Wie er aufblickte war die Miene seiner Enkelin ernst geworden. Conrad legte tröstend seine Hand auf ihre. „Sam, du musst nach vorne schauen! Vergiss doch diese Angie und die anderen alten Freunde, auf die kannst du doch eh gut verzichten, und wie ich dich kenne, findest du schnell neue Freunde.“
„Ja, klar, die alle, wenn die erfahren, dass ich im Knast war, ganz flott war die Biege machen.“
„Vergiss eines nicht: du warst unschuldig im Knast.“
„Klar, aber das kümmert die nicht. Knast ist nun mal Knast.“ Sie sah auf die Uhr trank hastig Bananenmilch leer. „Ich muss mich fertig machen. Mr. Davis hasst Unpünktlichkeit.“
„Wie ist er so?“
„Nett, hat mir sogar den Job in dem Imbiss besorgt, solange bis ein College mich endlich aufnimmt. Ich kann morgen schon da anfangen.“
„Das ist ja auch schließlich sein Job dir zu helfen“, sprach er missmutig.
„Was hast du?“
„Ich glaube auch an deine Unschuld, habe ich immer getan, das weißt du, aber warum musst du diesen Fremden da reinziehen?“
„Weil er durch seinen Beruf ganz einfach mehr Kontakte mit Einfluss hat als ich.“ Sie steckte sich den letzten Bissen Brötchen in den Mund, stand auf um zu gehen. „Logisch, oder?“
„Samantha!“ Sie blieb erschrocken von der Schärfe der Stimme in der Tür stehen. „Bist du wirklich entschlossen, das ganze noch mal neue aufzurollen? Was ich davon halte, weißt du.“
Conrad stand diesbezüglich ganz auf Abwehr. Conrad sah starrsinnig keinen Sinn darin. Warum die alten Wunden wieder aufreißen; und wenn die damals nicht die Wahrheit gesagt haben, warum sollten die es denn heute tun?
„Meine Unschuld muss sich beweisen lassen. Ich weiß, ich schaffe das!“
„Aber ohne mich!“ Sein Kinn schob sich eigensinnig nach vorn, sein Blick war zu Ihrer Betroffenheit unerbittlich. „Du wirst das allein durchziehen müssen.“
***
Perry Davis Büro war in einem alten Gebäude in Downtown untergebracht. Sam drückte mit vor Aufregung nassen Händen die Türklinke runter und trat in ein großes, helles und freundliches Foyer. Sie war noch nie da gewesen, seine bisherigen Besuche fanden im Gefängnis statt. Nach der Anmeldung setzte sie sich dicht an das auf sie beruhigend wirkende Aquarium. Von der Sekretärin wurde ihr eine Tasse Tee angeboten, ihr aufrichtiges Lächeln und ein Schulterklopfen gaben ihr Mut.
Nach wenigen Minuten öffnete sich schwungvoll die Tür zu Sams rechten. Hinter einem Jungen, der nach dem Aussehen zu urteilen sechzehn Jahre alt, und an etlichen Stellen gepierct war, stand ein mittelgroßer gut aussehender untersetzter Mann Anfang der vierzig, der mit erhobenem Zeigefinger konsequent auf ihn einredete. „…. Und dass wir beide uns verstehen, das Piercing muss weg, so nimmt sich mit Sicherheit kein Chef, außerdem ist das ungesund.“
„Das ist mein Körper und meine Sache, was ich damit mache!“
„Irrtum!“, herrschte er ihn scharf mit funkelnden grauen Augen an. „Entweder du fügst dich, Junge, oder du fliegst aus diesem Programm raus und landest wieder im Knast. Was ist dir lieber?“
„Ja, ist ja gut“, brummte der, und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang.
„Wir sehen uns, nächste Woche gleiche Zeit. Wenn du nicht erscheinen solltest, telefoniere ich mit dem Staatsanwalt. Ist das klar? Wurde das verstanden?“
Der Junge nickte betreten und zog die Tür hinter sich zu. Alle Anwesenden glaubten ein unschönes Schimpfwort seinem Munde leise gehört zu haben. Kopfschüttelnd über dieses Benehmen des Bengels goss er sich ihr den Rücken zugewandt eine Tasse dampfenden Kaffee ein.
„Unglaublich, man sollte eigentlich meinen die Leute wären dankbar für diese Chance!“, fluchte er leise gegenüber seiner Sekretärin. Die wies ihn auf Sams Anwesenheit hin, was ihn sich beinahe verschlucken ließ. Er hustete. „O, ich bitte um Entschuldigung! Ich hatte Sie nicht gesehen.“
„Schon okay.“
„Kommen Sie, Miss Peters.“
„Perry, Moment! Du musst um zehn im Gericht sein. Die Akte liegt auf Deinem Schreibtisch.“
Er schaute auf die Uhr. Es war viertel vor zehn. „Ach ja, stimmt, das hätte ich fast vergessen.“
„Dafür hast du ja mich.“
„Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.“
Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag und trillerte: „So ist es.“
Perry setzte sich hinter seinen Schreibtisch, forderte Sam auf die Tür zu schließen. In jeder Ecke des kleinen überfüllten Büros stand ein etwa ein Meter hoher Stapel Akten. Sein wuchtiger Schreibtisch war überfüllt mit Aktenordnern, Formularen er ließ sich in seinen Stuhl fallen, schlug die Akte auf, las hier und da rein, blätterte darin herum. Seine hohe Stirn mit den braunen Strähnen, die locker darüber fielen, hatte sich in Falten gelegt. „Ich sage es Ihnen ganz offen: beim Studieren Ihres Falles haben sich so viele Ungereimtheiten ergeben, dass Sie auf der Stelle rehabilitiert werden müssten. Es gab etliche Verfahrensfehler, Ihr Pflichtverteidiger war ein Anfänger, und eine Niete, der altersschwache Richter kurz vor der Pensionierung.“ Er räusperte sich. „Von einer fairen Verhandlung zu sprechen wage ich in Hinblick auf Harriet Michaels Staatsanwalt als Vertretung der Anklage gar nicht erst. Abgesehen davon hätten Sie als wenigstens als vermindert schuldfähig auf Bewährung freikommen müssen. Sie waren zum Tatzeitpunkt durch den Tod der Eltern schwer traumatisiert. Ich verstehe einfach nicht, warum die Staatsanwaltschaft kein psychologisches Gutachten erstellen ließ, jedenfalls finde ich es nicht.“
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. „Was werden Sie tun, um meine Unschuld zu beweisen?“
Davis Kopf fuhr ruckartig nach oben, seine braunen Augen starrten sie ungläubig an. „Wie bitte?“
Sie entgegnete seinem Blick. „Ich bin unschuldig! Das muss zu beweisen sein!“
Sie hielt noch immer seinem harten Blick stand, sodass er einsehen musste, dass es keinen Sinn machte es ihr auszureden. Sein Herz begann für Sam, die in seinen Augen das Opfer des Justizirrtums war, höher zu schlagen. Mit Erstaunen ertappte er sich dabei, ein verbotenes Gefühl der Zuneigung zu finden. Davis wusste, er musste sich am Riemen reißen, seine Sympathie in Zaum halten. „Na ja, ich kenne einige Leute, habe Kontakte, aber …“
Er blickte in ihre ihn fixierenden, stechend dreinblickenden Augen, dass die Kleine da vor ihm wusste, was sie wollte imponierte ihn. Sie machte auf ihn einen konsequenten Eindruck im Gegensatz zu den meisten seiner Klienten, die sich mit Ihrem Schicksal abgefunden haben, ob schuldig oder nicht stand infrage, waren zumeist passiv. Aber Sam war anders, erfrischend anders. ihr jugendlicher Elan zusammen mit unerschütterlicher Willenskraft war ein unwiderstehlicher Cocktail für seine Hormone. Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Na gut, ich werde sehen was ich für Sie tun kann. Aber ich warne Sie, ohne neue Beweise gibt es kein Wiederaufnahmeverfahren.“
„Ich werde Beweise beschaffen.“
„Die Bewährungsauflagen sind Ihnen bekannt?“
„Sie haben mich ja schon bei Ihrem ersten Besuch belehrt. Keine Angst, ich werde aufpassen! Lieber sterbe ich, als das ich noch mal in den Knast gehe. Ich gebe lieber aufs College.“
Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich werde sehen, was ich beim Direktor persönlich für Sie tun kann. Die erste Absage vom Sekretariat war wegen der Vorstrafe lachhaft.“
Er sah ihr beeindruckt bei Verlassen des Büros nach, ehe er wohl zum hundertsten Male nach der Akte Peters griff, anstatt sich um den nächsten Fall zu kümmern, der in einer Stunde anstand. Er las die Berichte doppelt, wiegte zweiflerisch den Kopf. So etwas hat er in seiner langjährigen Laufbahn nie zu Augen bekommen. Er grübelte, wer ihm behilflich sein konnte, und griff engagiert zum Telefonhörer. Da musste doch was zu machen sein, dachte er energisch.
***
Der erste Arbeitstag im Imbiss war wegen des Ungewohnten derart anstrengend gewesen, dass Sam sich es am späten Abend in der Badewanne bequem machte. Die Badezimmertür war angelehnt. Fichtennadelduft stieg mit entspannender Wirkung in ihre Nase. Sie war allein in den unheimlichen alten Haus. Ihr Großvater war beim Skat mit seinen gleichaltrigen Kumpels. Einmal die Woche trafen sich seine Freunde in der Stammkneipe wenige Meilen entfernt, was er sich trotz der schmerzenden Bewegungen nie entgehen ließ, um seine inneren Tapeten aufzuhellen.
Sie spielte gedankenversunken mit Schaum, schmiedete Pläne, was sie zuerst bis zuletzt tun wollte.
Etwas knackte. Sam lauschte. Das Haus hatte in Ihrer Kindheit bereits wegen der Geräusche eine beängstigende Wirkung auf sie. Knack. Jemand war auf etwas getreten. Sam stand atemlos im Bad, wagte es nicht zu atmen. Es hörte sich so nah an. Jemand musste außer ihr im Haus sein. Da kam nur die Loft in frage, aber um diese Zeit? 20.50 Uhr. Komisch.
Hastig stieg sie aus der Wanne, rubbelte sich ab, und ging im Bademantel auf Zehenspitzen nachsehen. Sie griff nach der im Putzschrank stehenden Taschenlampe, stieg in dünnen Söckchen die Marmortreppe runter. Sie leuchtete den Flur aus. Die Tür zum Dachboden rechts von ihr stand weit auf, dabei hätte sie schwören können, diese wenige Minuten zuvor eigenhändig geschlossen zu haben. Sie leuchtete die Treppe bis zur geschlossenen Tür oben aus. Nichts. Sie verschloss die wieder.
„Hallo! Ich weiß, dass Sie da sind!“, rief sie schallend in den Flur.
Keine Antwort.
„Melden Sie sich! Sofort!“
Schweigen. Sam schüttelte über sich selbst den Kopf, schob die Halluzination, denn mehr schien es nicht gewesen zu sein, auf Übermüdung zurück und schaltete überall Licht an. Sie ging zuerst links in die Küche, dann in Conrads kleines Lesezimmer. Nichts fehlte. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zum gegenüber liegenden Gästezimmer, dann an der von ihr selbst abgeschlossene Kellertür vorbei ins große Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses, von wo man über die Terrasse in den von Unkraut überwucherten Garten gelangen konnte. Ein kalter Luftzug schlug ihr entgegen. Die Terrassentür stand weit offen. Plötzlich schrie Sam schrill auf. Eine kleine Person lief geduckt quer durch den Garten, sprang gelenkig überm gerade mal einen halben Meter hohen Lattenzaun, flüchtete die Seitenstraße runter. Knallend schlug sie die Tür zu, verriegelte sie.
„Samantha!“
Sie schrie erneut auf, drehte sich um. Es war Conrad. Sie schien ihm direkt mit der Taschenlampe ins faltige Gesicht. Sachte schob er ihre Hand zur Seite, sie schaltete die Lampe aus. „Was ist passiert? Ich komme wieder und alles ist hell erleuchtet.“ Nachdem sie es ihm pustend erzählt hatte, umarmte er mitfühlend seine Enkelin. „Wie du zitterst! Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.“
„Unsinn!“ Sie zwang sich zum Lächeln. „Und wie war’s bei dir?“
Er winkte ab. „Ach, ich habe es mit Moglern zu tun.“ Er merkte, dass sie sich allmählich fing. „Du, ich habe da etwas, was dir mehr helfen wird als mir.“ Auf Ihren irritieren Blick hin lachte er. „Jetzt guck mal nicht so wie ein Kuckuck aus der Schublade! Komm!“
Er führte sie in den Keller, in einen zwanzig Quadratmeter großen Raum. Ihr Mund blieb offen stehen wie sie die Computeranlage betrachtete. Drucker, und sogar ein guter Scanner. „Der ist für dich! So gut wie neu, den habe ich nur ein paar Mal benutzt. Du darfst ihn in Deinem Zimmer aufstellen, natürlich unter der Voraussetzung, dass ich hin und wieder auch mal im Internet mit netten Damen chatten kann. Einen Telefonanschluss hast du also schon.“
Sam fehlten die Worte. „Opa, das ist -“
„Unglaublich! Sag’s ruhig!“, lachte er. „Ich habe einen Computerkursus besucht, Abendschule, du weißt schon. Die Loft denkt nämlich, ich wäre so senil.“ Er zeigte pfeifend ein Vögelchen, seine Mimik ließ seine Enkelin auflachen. „Die meint echt, ich blicke gar nicht mehr durch, und ich lasse die auch in dem Glauben. Der Computer wird dir sicherlich helfen, bei dem was du so vorhast.“ Er drückte ihre Hand ungewohnt kräftig. „Versteh mich jetzt bloß nicht falsch, ich halte es nicht für gut was du planst, aber ich denke, beruflich wirst du einen Computer dringend brauchen.“
Sie schlang ihre Arme beglückt um seine schlanke Taille. „Grandpa, du bist ein Schatz!“
Schmunzelnd drückte er sie bewegt an sich. „Ich weiß, mein Liebling. Ich weiß.“
***
Gerda Loft saß in ihrer kleinen schäbigen Wohnung vor dem Fernseher. Es lief alter Liebesfilm in schwarz-weiß. Sie strickte sie nebenbei einen luftigen Pulli in hellblau mit weiß schick gemustert, doch geistig war sie bei Samanthas Person. Sie war sauer. Warum musste die, um alles in der Welt denn ausgerechnet jetzt auftauchen, wo sie alles schon so schön in Gedanken von vorne bis hinten und von hinten bis vorne so oft durchgespielt hatte? Die andere Frage war, war Sam in der Lage, ihre Pläne ernsthaft zu durchkreuzen?
Der Film wurde für einen Werbeblock unterbrochen. Sie ging zum Telefon und rief einen Freund an. Wenn einer wusste, was zu tun war, dann er. Hoffentlich war er zu Hause. Er musste da sein!
„Ja?“, meldete sich schroff eine Männerstimme
„Ich bin’s. Ich brauche deine Hilfe.“
„Du klingst ängstlich, Darling. Was ist denn passiert?“
Sie klärte ihn kurz auf. „Also, was rätst du mir?“
„Teuflisch aufpassen und ruhig zu bleiben. Warte ab, wie die Dinge sich entwickeln.“
„Das wird harte Arbeit. Die Kleine ist nicht dumm.“
„Du machst das schon.“
Stimmengewirr, Gekicher war im Hintergrund zu hören. Jeder Ihrer Muskeln begann sich anzuspannen. „Du bist nicht allein. Wer ist sie?“
„Spielt das eine Rolle?“ Er lachte sarkastisch. „Was erwartest du denn von mir, hä? Ich bin ein Mann, kein Mönch.“
Sie biss die Zähne zusammen. Dass er es wagte, sie, Gerda mit irgendeiner Hure zu betrügen! Nicht zu fassen! Niemand hatte sie bisher ungestraft gedemütigt, niemand!
Sie nahm sich fest vor, sich dafür zu rächen, bitter zu rächen, doch alles zu seiner Zeit. „Wann können wir uns für eine Besprechung treffen?“
„Hey, du musst die Nerven behalten!“, fuhr er sie an. „Willst du uns alles verderben?“
„Ich muss doch wissen, was ich dabei zu beachten habe, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.“
„Soweit ist es noch lange nicht!“, sprach er herablassend. „Ruf an, wenn’s brennt.“
Er legte auf. Die Knochen in Gerdas geballter Faust knackten. Mit einem schaurigen Grinsen auf dem Gesicht nickte sie ihrem Plan, der sich Stück für Stück in Ihrem Kopf zusammensetzte, zu.
„Ich kriege dich! Ich weiß auch schon genau, wie.“
***
Samantha saß mit Ihrer Gitarre auf der Eckbank in der Küche, auf dem Küchentisch lagen Notenblätter. Die Leidenschaft zur Musik hatte sie wieder nach langer Zeit gepackt. Sie spielte Songs an, trainierte ihre helle glasklare Stimme, was Conrads Augen erfreut blitzen ließ. Er saß im Wohnzimmer zwei Zimmer weiter, hatte berührt die Zeitung niedergelegt, lauschte Ihrem Gesang. Das stürmische Läuten an der Tür schreckte beide auf. Zügig öffnete Sam der Loft die Tür, die etwas zu nahe und mit einem groteskem Blick an ihr vorbei huschte. Absicht?
„Lassen Sie sich nicht stören“, zwitscherte die fröhlich. „Sie haben bestimmt viel zu tun.“
Gerda ging in die Küche und öffnete den Küchenschrank. Sie zeigte sich von Sams Gesang entzückt. Dem Anschein nach schien diese unscheinbare Person doch ein warmherziges Wesen zu haben Oder nur Fassade, fragte sie sich, indes sie die Frau diskret im Auge behielt. Der Figur nach zu urteilen hätte sie der Einbrecher ohne weiteres sein können.
„Sie haben ja eine tolle Stimme! So ein Talent habe ich leider nicht.“
Sam stellte die Gitarre auf den Boden neben sich. „Ich hoffe, dass die anderen das auch so sehen.“
„Das werden sie bestimmt, wenn sie ihre Stimme hören! Da bin ich sicher.“ Sie zauderte, ehe sie Ihr von dem Einbruch erzählte. „Das seltsame ist, es wurde nichts gestohlen, nur die Tür zum Dachboden stand offen. Bitte lassen Sie nie Fenster oder Türen offen stehen.“
Loft nickte nur, blickte ihr direkt in die Augen. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich passe auf.“
„Gut. Können Sie mir bitte erklären, wie das mit den Tabletten, mit der Dosierung geht? Wenn Sie mal aus irgendeinem Grund nicht kommen können, muss ich doch wissen, wie das geht.“
Gerdas Lächeln rutschte ab, ihre Nervosität stieg an. Sams Beobachtung jeder Ihrer heute ungewohnt schnellen Handbewegungen ließ Gerdas Herz wild klopfen, was sich verstärke, als Sam sich schräg dicht neben sie stellte. Die Frau atmete kurz und stoßweise, sah sie mit einem verklärten Blick argwöhnisch an. Ihre roten glühenden Wangen zeigten Verdruss an.
Sam wunderte sich. „Was haben Sie denn? Als Enkelin ist es mein gutes Recht, darüber informiert zu sein. Das ist Ihre Arbeit und ich möchte ihnen nichts wegnehmen.“
„Meinetwegen, aber ich halte das nicht für gut.“ Ihre Stimme bebte leicht. „Die Namen der Medikamente sind für Laien wie Sie irreführend.“ Sie öffnete eine Schachtel und zeigte Sam eine kleine weiße runde Tablette. „Die sind gegen Bluthochdruck.“ Sie öffnete dann eine andere Tablettenpackung, drückte zwei längliche grüne Kapseln aus der Folie. „Die regulieren den Blutzucker.“
Loft diktierte die genauen Dosierungen, die sie sich notierte. Hinten im Küchenschrank sah sie eine weiße lange Schachtel. „Das ist ein Schmerzmittel wegen sein Rheuma, wenn es unerträglich wird. Sind Sie jetzt zufrieden?“, wollte Gerda spitz erfahren.
Sie fragte sie unbeeindruckt von der Feindseligkeit, die ihr offen entgegenschlug, nach der medizinischen Betreuung Ihres Großvaters aus, notierte sich Name und Adresse, auch die private von diesem Dr. Martell. „Warum sind Sie denn so zugeknöpft?“
Mit zitternder Hand verteilte sie die Pillen für mehrere Tage in eine Box. „Ich mag nunmal keine Einmischung in mein Fachgebiet, deswegen. Davon verstehen Sie nichts. Ihr Großvater ist so eingestellt, dass nur eine präzise Dosierung sein Gesundheitszustand sicherstellt. Eine mehr davon, eine weniger hier, was ja durchaus passieren kann, wenn Anfänger wie Sie das in die Hand nehmen, hätte eine verheerende Auswirkung.“
„Ist das wirklich der einzige Grund?“
„Welchen Grund sollte es sonst geben?“
„Das frage ich Sie.“
Die kleinen blau grauen Pupillen weiteten sich, sie baute sich bedrohlich vor ihr auf. „Ihr Ton gefällt mir nicht, mein Kind.“
„Mich Ihrer ebenso wenig, Mrs. Loft!“, sprach Sam mit einem Selbstbewusstsein, dass sie selbst überraschte. „Was haben Sie eigentlich zu verbergen?“
Die spielte die Beleidigte, schüttelte heftig den Kopf. „Wie kommen Sie darauf? Ich möchte nur gutes für Ihren Großvater, damit Sie beide noch lange zusammen sein können. Ihr Misstrauen ist ja sehr beleidigend.“ Gerda zwang sich zu einer bizarren Miene, die wohl sowas wie ein Lächeln sein sollte. „Ihr Großvater wartet auf mich. Haben Sie denn noch irgendwelche Fragen?“
„Für den Augenblick nicht, danke.“ Sam sah ihr nach. „Übrigens, ich werde Ihnen zukünftig ganz genau über die Schulter gucken, dass das klar ist!“, rief sie. „Und die Bezeichnung Kind verbitte ich mir gefälligst!“
Die Loft widmete sich Ihrer Arbeit, sie schien es nicht gehört zu haben, indessen Sam die Notizen durchging. Sie traute es sich ohne weiteres zu Ihrem Großvater mit diesen Medikamenten korrekt zu versorgen, wollte sich wegen der Richtigkeit aber nochmal vergewissern, eventuell bei irgendeinem Arzt oder im Drugstore nachfragen. Das Klingeln des Telefons riss sie aus den Gedanken. Es war Mr. Davis. Die vorhin noch angelehnte Tür zu Conrads Zimmer stand nun etwas weiter auf.
„Ich wollte Sie fragen, ob es Ihnen recht ist, wenn ich Ihren Fall mit einem Kollegen bespreche? Einem sehr guten Freund von mir. Wer weiß, vielleicht kann er ja doch was für Sie tun.“
„Gern. Ja, ist mir recht. Aber was hat Sie zu dieser Meinungsänderung bewegt?“
Er hustete. „Sagen wir es mal so, Ihr Fall interessiert mich. Wie war Ihr erster Tag?“
„Hart und anstrengend, aber besser als nichts. Ist ja nur eine Übergangslösung.“