London, Pop und frühe Liebe - Tiny Stricker - E-Book

London, Pop und frühe Liebe E-Book

Tiny Stricker

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine deutsch-britische »Affäre« vor dem aufregenden Hintergrund der Swinging Sixties steht im Zentrum dieses Buchs. Es geht um Teenager-Gefühle, -Sehnsüchte und -Missverständnisse in einer Handlung, die zwischen Deutschland und England hin und her pendelt, während an beiden Schauplätzen, wenn auch auf verschiedene Weise, der Pop seinen Siegeszug vollführt. Rasch verändern sich die Einstellungen der jungen Leute, und Tiny Stricker zeigt die Konflikte, die sich daraus ergeben, aber mehr noch die Euphorie, das Glückserlebnis und die Aufbruchstimmung dieser Jahre. Natürlich spielen auch einige Popsongs und die Empfindungen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Bereits in Büchern wie »Soultime«, »Trip Generation« und »Unterwegs nach Essaouira« hat Tiny Stricker authentisch das Lebensgefühl der Zeit um 1968 zum Ausdruck gebracht. »London, Pop und frühe Liebe« ist der direkte Vorläufer dazu.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tiny Stricker

London, Pop und frühe Liebe

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 12

Außer der Reihe 52

Tiny Stricker

LONDON, POP UND FRÜHE LIEBE

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 12

Außer der Reihe 52

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2022

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: lunamarina (Shutterstock)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 299 7

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 300 0

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 805 0

1

 

 

 

Der Skikurs in Österreich, von einigen auch andeutungsvoll »Skilager« genannt, durchaus ein gewisses Ereignis, stand bevor, etliche, die Sportler der Klasse, fieberten ihm geradezu entgegen, und die Eltern erwähnten ihn mindestens ebenso oft wie die Schüler. Mich allerdings erfüllte die Aussicht, eine Woche lang dem Sportlehrer, der mir nicht sonderlich wohlgesonnen war, als Alleinherrscher in einer unbekannten, schwer zugänglichen Gegend ausgeliefert zu sein, mit nicht geringem Unbehagen.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich an einem Sonntag in L. beim Bus einfand: In straff gespannten Skihosen, die einem einen unnatürlichen, steifen Gang gaben, klobigen Stiefeln, wie immer zu groß gekauft, und mit einer lächerlichen Mütze auf dem Kopf, die ich, obwohl es noch gar nicht notwendig war, schon zur Vollendung des Bilds aufgesetzt hatte. Ich musste aufpassen, dass ich nicht stolperte, und so tun, als ob ich sehr nachdenklich einherginge. Andere, wie befürchtet, waren glänzender Stimmung. Zwei oder drei hatten nagelneue Messerschnittfrisuren vom Samstag, die die Geschwindigkeit auf den Skiern vermutlich noch steigern würden. Der Sportlehrer selbst, im modischen, eng sitzenden Dress, gab sich arg leutselig und redete bereits scherzhaft von einem Abfahrtsrennen am Ende, das allen als höchste Belohnung winken sollte.

Eher sorgenvoll warf ich meine Skier, die ich bisher nur an einem unscheinbaren heimischen Hügel erprobt hatte, zu den anderen im Gepäckraum und setzte mich weit hinten im Bus zu Meyer, der mit seiner gewohnten Abwesenheit dasaß und vielleicht aus Protest Cordsamthosen anhatte, die er auch später »am Hang« (was der Sportlehrer ungefähr wie »am Gerät« aussprach) tragen sollte. Er zog sich dadurch den exklusiven Hass des Pädagogen zu, der längere Zeit beim »Antreten« nahezu fassungslos auf diese Hosen und die nur schwer in die Bindung passenden »Desert Boots« starrte. Natürlich konnte Meyer Cordsamt und Clarks, frühe Insignien des Intellektuellen, nicht einfach ablegen, es wäre eine Selbstaufgabe gewesen, was aber der Pädagoge nicht verstand.

Die Fahrt mit dem Bus über die Autobahn dauerte lange, und ich entsinne mich, dass Kurti, im Mittelgang hin- und herlaufend und heftig gestikulierend, eine Art Neusprache entwickelte, indem er an bestimmte Wörter die Endung »Steiner« oder »Steiner Jakob« anhängte und eine starke Urwüchsigkeit dazu ausstrahlte, die wahrscheinlich ein Vorzeichen der heraufkommenden Bergwelt war. Eine Vorhut von Heimschülern ging bereits wie bei einem interessanten Spiel darauf ein, d. h., es löste einen Tanz mit verschiedenen Figuren aus, weil jeder auf seine Art die neue Redeweise »auslebte«: Dux, zappelnd oder kunstvoll taumelnd wie immer, kühn »Schnaps Saufensteiner« rufend, Hans Hoffmann mit wegwerfender Lässigkeit, ja schon gravitätisch, als ob das alles längst bekannt sei.

Möglicherweise war Meyers Verhalten zu dem der anderen reziprok (unwillkürlich gebrauche ich bereits Wörter, die er auch gebrauchen würde). Er hielt einen Band Sigmund Freud vor sich hin, gänzlich unberührt von dem Treiben rings um ihn, und später dachte ich, dass er mit all seinen Büchern und Platten nur einen Schutzwall um sich aufrichtete, einen Hauch von Intimsphäre erzeugte, die in der lauten Welt des Schülerheims fast unmöglich war. Uns verband damals hauptsächlich die Musik, die Vorliebe für entlegenen Jazz vor allem, Namen, die nur die Eingeweihten kannten, was ebenfalls eine Insel war. Jetzt hatte er sich zunehmend der Psychologie zugewandt, die für uns noch etwas von einer Geheimwissenschaft hatte, aber auch eine schöne Innerlichkeit versprach, die man brauchte. Vielleicht las er im Bus »Die Traumdeutung« oder das magischere »Totem und Tabu«, ich weiß es nicht mehr. Auf Fragen oder Bemerkungen reagierte er zunächst kaum, aber wenn er auftaute, hatte er selbst den Duktus von Freud, benutzte ein abgeklärtes, akademisches Deutsch (das übrigens in merkwürdigem Gegensatz zu seinen sinkenden Schulnoten stand). Auch über aufkeimende Sexualphänomene sprach er in dieser zurückgenommenen, rein analytischen Art, was wiederum einen Kontrapunkt zum wilden Geschrei der anderen bildete.

 

Bei der Ankunft ereignete sich etwa Folgendes: Ich blickte aus dem Busfenster und sah Edwin Pfab und Sepp Kuffer daherkommen, zwei aus der anderen Klasse, die vor uns da gewesen war und gleich den Bus übernehmen sollte. Der Erstere wurde seiner internen Bedeutung gemäß nur »Pfab« genannt, und Kuffer trug den Beinamen »Rubber«, weil er von einem US-Army-Versand einen zerknautschten Sommer- oder Tropenhut bestellt hatte, den er auch jetzt trotz Schnee-Umgebung als Erkennungszeichen aufhatte (man muss hinzufügen, dass diese Namensgebung zeitgleich mit der LP »Rubber Soul« erfolgte). Die beiden hatten sich gerade gewaltsam aus der Umarmung von zwei Mädchen mit langen, wuscheligen Haaren und zerdrückten Pullis gelöst, offenbar von einer fremden Schulklasse, die ebenfalls im Aufbruch war. Pfab hielt lose eine Gitarre in der Hand, und Kuffer oder »Rubber« hatte tatsächlich ein Banjo umhängen, und jetzt postierten sie sich am Eingang der Herberge, wie um ein Abschiedslied zu spielen.

Ich holte also die silbrig glänzende Trompete, die ich seit einiger Zeit besaß und die bisher schläfrig, in blauen Samt gebettet, in einem schwarzen Köfferchen bei mir geruht hatte, heraus und rannte, Meyer und seine Ausführungen über Freud hinter mir lassend, zu den Musikerfreunden hinüber. »Den Blues«, befahl der Pfab, und schon zelebrierten wir den St. Louis. Es war in diesem Moment, vor dieser kahlen, hochragenden Hauswand wirklich genau, wie ein Blues sein sollte, niedergeschlagen, aber auch breit und aufheulend laut, ein echter Straßenblues. Wir schafften gut die ersten zwölf Takte und wollten eben wie auf einer schnurgeraden Fahrbahn wenden, als plötzlich der Herbergswirt mit rotem Gesicht neben mir auftauchte, nach der Trompete schnappte und sie mir mitten in einem melodischen Ausruf, eigentlich gerade im Ansatz zu einer intuitiven Improvisation von den Lippen riss, während der andere, der Sportlehrer, schon zu seiner unnötigen Verstärkung heraneilte. Der Wirt verschwand, ohne ein Wort zu sagen, weil jeder Kommentar nur seine Großtat gemindert hätte, mit dem Instrument in seinem Bau, und wir standen mit zerrissenem Blues, ohnmächtig, der allgemeinen Schande preisgegeben, da. Ich vergaß, zu sagen, dass inzwischen ein weiterer Bus herangeglitten war, der die fremde Mädchenklasse mit einer anderen austauschen sollte, sodass insgesamt vier Klassen, darunter zwei volle Mädchenabteilungen, Zeugen dieses entwürdigenden Schauspiels wurden. Mir blieb nichts anderes übrig, als ohne Instrument dem Wirt nachzulaufen, wodurch ich mich wenigstens den Blicken, dem allseitigen Auf-mich-Starren entzog. Eine Zeit lang irrte ich in dem dunklen Labyrinth der Herberge, die ich auf diese Weise erstmals kennenlernte, umher, ohne den Gesuchten zu finden, dann musste ich wieder hinaus, um meine Skier und das Gepäck zu holen, das jemand achtlos in den Straßenschnee geworfen hatte. Zurück in der Herberge traf ich auf den Sportlehrer, der zu überlegen war, um auf den Vorfall einzugehen, aber ein stilles Leuchten im Gesicht trug, das ich als Bewunderung für den Wirt, den er »Heimleiter« nannte, deutete, und mich schließlich auf ein Büro hinwies und meinte, dass ich mich »dort melden« sollte.

Tatsächlich saß in dem Raum, der völlig holzgetäfelt war und der Kommandobrücke eines alten Schiffes ähnelte, hinter einem breiten Schreibtisch, immer noch triumphierend, der Herbergswirt. Ich verbrachte ungefähr dreißig Minuten bettelnd, quengelnd, mitleiderregend, in diesem Raum, während der Wirt nur dahockte und in Abständen und mit immer größerem Grinsen »Nein« sagte. Meine Trompete hatte er wie eine Trophäe auf einem der oberen Regale ausgestellt. Als auch mein Gelöbnis, nur noch mit Dämpfer oder »Stopfer« und zu einer genehmigten Zeit spielen zu wollen, nichts fruchtete, gab ich es auf und verzog mich auf das »Zimmer«, wo sich die anderen schon häuslich niedergelassen hatten.

Ich war in aufgelöstem Zustand, und als Meyer an mir vorbei hinunter zum Ausgang lief und etwas von »Stadt« murmelte, ging ich mit.

 

Wir zogen durch die Stadt, die zu unserer Verwunderung und Erleichterung existierte. Obwohl winterlich und wenig gastfreundlich, gefiel sie uns besser als die Herberge, die Meyer schon unabsichtlich »das Heim« nannte. An der Peripherie, in der Nähe von einem Fluchttor, das in die verwitterte und verschneite Landschaft hinausführte, fanden wir schließlich eine blau erleuchtete Bar, offenbar ganz leer und anspruchslos genug, um uns aufzunehmen. Wirklich war, als wir eintraten, nur eine Bedienung anwesend, die, was Gedankenverlorenheit anbetraf, Meyer in nichts nachstand. Die Bar selbst war auf eine etwas simple Art hauptsächlich durch einen blauen, gefältelten Stoff kenntlich, mit dem die Wände wie bei einem Kinosaal oder Etui ausgeschlagen waren. Sie bestand auch aus zwei Teilen, der eigentlichen, anscheinend für erwachsene Stammgäste reservierten Bar bei der Tür mit Theke und Hockern und, durch einen Treppenabsatz getrennt, einer Art Café für alle, in das wir hinabstiegen. Genau am Absatz, am Schnittpunkt der Welten also, befand sich die Jukebox.

Wir bestellten Cinzano, den wir uns langsam einflößten. Eine eigenartige Spannung lagerte über dem Lokal, und man wurde das Gefühl nicht los, dass es lediglich eine Vorhalle war, die Bedienung nur eine vorgeschobene Figur, und dass hinter der stoffbespannten Wand eine tiefere, interessantere Bar wartete, was aber vielleicht an unserem Alter lag. Jedenfalls schlenderte Meyer irgendwann mit einer gewissen Grazie, die der lange Lauf durch den leeren Raum erforderte, zu der Jukebox hinüber. Er beugte sich über sie, man sah ihm förmlich den Kummer über die schlechten Titel an, und warf ein. »Ray Charles«, sagte er zurückkommend und leicht entschuldigend, während hinter ihm schon das Jukebox-Ritual ablief, d. h., eine Art automatischer Diener hochschoss, die Platte ergriff, sie kurz der Welt zeigte und dann sie sich selbst überließ, indem er sie auflegte. Wahrscheinlich lag in der Unaufhaltsamkeit dieses Rituals sogar ein besonderer Reiz, man wusste, dass die Platte jetzt nicht mehr zu stoppen war, auch nicht die Lustempfindung, eigentlich man selbst.

Die Platte fiel mit leichtem Scheppern auf den Teller, und fast gleichzeitig stürzte sich Ray Charles auf das Klavier, hämmerte »What I’d say« in die Tasten. Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, aber die Bedienung schaute beim Einsetzen des Stücks deutlich weg, zumindest sah es so aus, sie schien damit auszudrücken, dass sie uns doch nur als Schüler betrachtete, obwohl wir uns in der Fremde und im Halblicht des Lokals einen anderen Anschein gaben. Es führte aber nur dazu, dass wir das Stück gleich erneut »drückten«, anschließend mehrmals, abwechselnd Meyer und ich, nur einmal als Gegensatz Petula Clark. Allmählich fingen wir an, den Song überhaupt zu erfassen. Wir bestellten weitere Cinzanos …

Ich hätte sagen sollen, dass Meyer, was seinen Musikgeschmack anbelangte, bisher nie unter Bebop gegangen war. Obwohl er ein absolut statischer Typ war, ja sich mit seiner ganzen Statik gegen den Song stemmen musste, fing er plötzlich an zu zucken. Dieser Ray Charles war eine Überraschung, eine erste Ausnahme, offensichtlich stand ein musikalischer Umbruch bevor …

Das Lokal blieb weiterhin leer, was für uns sehr erfreulich war. Erst als zwei Gebirgsjäger wie zu unserem Austausch eintrafen, verließen wir es. Draußen wieder die Stadt, der Skiort, aber wir hatten den Song schon verinnerlicht, hatten diese fließende Geschmeidigkeit und das fetzige Gebaren, das man uns nicht so leicht nehmen konnte.