Lügen - Elke Naters - E-Book

Lügen E-Book

Elke Naters

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Beschreibung

Be lügt immer. Be ist ein Miststück, findet Augusta, die Erzählerin in Elke Naters' zweitem Roman Lügen . Aber weil Be gleichzeitig ihre beste Freundin ist, und eine treue noch dazu, sieht sie ihr das nach. Be hat einen Mann, den besten, findet Augusta, die keinen hat, aber Be behandelt ihn schlecht und verläßt ihn, weil sie das einfache Glück nicht erträgt. Be hat schöne lange schwarze Haare, die sie abschneidet und blond färbt, um anschließend mit einer dunkelhaarigen Langhaarperücke herumzulaufen. Das sei subversiv, und jede Frau sollte einmal im Leben blond sein, sagt sie. Be nimmt nicht anderes wahr als sich selbst und natürlich Männer. Dann verliebt sich Be in eine Frau. Augusta stellt fest, »daß Be sich kein Stück verändert hat. Daß sie noch immer das gleiche Miststück ist, das sie schon immer war. Daß Be sich nie verändern wird, egal, was passiert. Ob sie es mit Männern oder Frauen, Hühnern oder Pferden treibt, völlig egal.« Augusta wird in den Strudel der Ereignisse hineingezogen, so wenig sie das will, und muß dabei feststellen, daß sie sich verliebt hat. Was Der Spiegel über Elke Naters' Debütroman schrieb - »bösartig zart, wunderbar eigen und unprätentiös« - gilt auch für den neuen Roman, in dem sie den genau und sehr komisch beobachteten alltäglichen Freuden und Leiden des Lebens wieder ganz neue Seiten abgewonnen hat.  

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Seitenzahl: 230

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Elke Naters

Lügen

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Elke Naters

> Über dieses Buch

> Impressum

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Inhaltsverzeichnis

1 Lügen2 Wurst3 Blut4 Strom5 Durst6 rot7 Angst8 Bier9 Sex10 Edelstoff11 tot12 peinlich13 Wut14 banal15 Spaß
zurück

1Lügen

Der Mond scheint mir ins Gesicht. Hell wie eine Lampe. Ich höre Geschrei und stehe auf und sehe unten auf der Straße Be stehen und herumschreien. Sie trägt einen gelben Mantel, den ich noch nie an ihr gesehen habe. Sie steht unter der Straßenlaterne, die sie beleuchtet wie ein Scheinwerfer, und schreit und rennt wie irre hin und her. Das Wasser spritzt aus den Pfützen. Die Straße ist nass und spiegelt das Licht wider. Das Mondlicht und das der Straßenlaterne. Das sieht aus wie ein Film. Wie Singing in the rain, wo Fred Astaire durch die Pfützen tanzt. Sie ist alleine. Ich kann nicht verstehen, was sie schreit. Ich ziehe die Vorhänge zu und lege mich wieder ins Bett und schlafe weiter.

 

Am Morgen wache ich auf, und ich weiß nicht, ob ich das mit Be auf der Straße wirklich gesehen oder geträumt habe. Ich wähle ihre Nummer, um zu sehen, ob sie zu Hause ist. Wenn sie rangeht, lege ich auf.

Nach langem Klingeln geht Karl ans Telefon. Er klingt müde, und ich lege auf. Es ist neun Uhr morgens, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn aufgeweckt habe. Vielleicht hat er die ganze Nacht mit Be gestritten. Vielleicht ist Be weg. Abgehauen. Wie damals. Als ihr Vater sie geschlagen hatte, ins Gesicht. Da kam sie in die Schule und sagte, ich geh nicht mehr nach Hause. Nie mehr. Fünfzehn waren wir da, glaube ich.

Wir standen auf dem Schulhof und überlegten, wo Be bleiben kann. Sie ist dann mit zu Rudi gegangen. Rudi hatte nur eine Mutter, und der war alles egal, was Rudi machte. Be blieb dort eine Woche lang. Ihre Eltern sind fast durchgedreht. Ihre Mutter saß einen ganzen Nachmittag lang heulend auf unserem Sofa, bis mein Vater sie nach Hause gefahren hat. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil sie so verzweifelt war. Ich habe dann gesagt, ich wüsste nur, dass es Be gut geht. Mehr nicht. Alle haben auf mich eingeredet, ich sollte ihnen alles sagen, was ich wüsste. Be würde auch nicht bestraft werden. Im Gegenteil. Ihre Eltern wären überglücklich, wenn sie zurückkäme.

 

Ich fand nach drei Tagen, dass es genug war, und habe das zu Be gesagt. Wie verzweifelt ihre Eltern wären. Be hat nur gegrinst und gesagt, das täte ihnen ganz gut. Da wüssten die endlich, was sie an ihr hätten, und würden nicht mehr so mit ihr umspringen, und sie wüsste immer noch nicht, ob sie jemals zurückgehen würde in ihr asoziales Elternhaus. Be hat keine Geschwister. Be ist ein Einzelkind, und ihre Eltern haben sie immer verwöhnt. Das hatten sie davon.

Wir mussten uns absprechen und dichthalten und hatten wieder einmal den ganzen Ärger und die ganze Arbeit zu leisten, für Be.

Während Be sich von Rudi entjungfern ließ und danach noch hochnäsiger und unerträglicher war als vorher. Viel später stellte sich heraus, dass Be das alles nur aus genau diesem Grund gemacht hatte. Es war nicht die Ohrfeige, sondern Rudi war der Grund, dass Be abgehauen war von zu Hause. Sie wollte sich wichtigtun vor ihm und wusste, dass seiner Mutter alles egal war, und hatte genau darauf gehofft, dass er sie mit zu sich nehmen würde.

Wir alle, außer Be, hatten Ärger bekommen wegen ihrem Wegbleiben. Die Eltern und auch die Lehrer nahmen natürlich zu Recht an, dass wir wussten, wo Be war, und weil wir sie einerseits beruhigen und andererseits dichthalten mussten, bekamen wir mächtig Ärger. Aber wir hielten durch. Für Be und für die Sache. Vor allem.

Nach einer Woche waren wir uns einig, dass Bes Eltern genug bestraft waren, und sagten Be, dass sie wieder zurückgehen sollte.

Be beschimpfte uns als Schlappschwänze und als Kinder, die nichts begriffen hätten, keine Ahnung hätten wir, worum es im Leben ginge. Weil sie sich auf uns nicht verlassen könne, ginge sie zurück, aber nur, um ihre Sachen zu holen und auszuziehen.

Be sprach darauf einige Tage nicht mehr mit uns. Stand mit wichtigem und ernstem Gesicht herum, und wenn sie jemand ansprach, schaute sie ihn mitleidig an. Be war ein anderer Mensch geworden. Erwachsen.

Das hat sie nicht lange durchgehalten, und ausgezogen ist sie natürlich auch nicht.

Dann kam sie mit der Geschichte von ihrer Entjungferung, und alle Mädchen wollten staunend alles von ihr wissen. Der Rudi hat so getan, als würde er Be nicht kennen, und Be hat so getan, als ob das ganz normal wäre. Darüber hat sie nie gesprochen. Auch später nicht.

 

Genau genommen hat Be sich wenig verändert seitdem, und deshalb denke ich mir, dass sie einen Streit angefangen hat, einen sinnlosen, und Karl dermaßen provoziert, dass er sich zu etwas hat hinreißen lassen, das ihr einen Grund gab, ihre Sachen zu packen und abzuhauen und ihm, Karl, auch noch die Schuld dafür zu geben. Dazu ist Be in der Lage. Genau so könnte es gewesen sein.

Wenn es wirklich so gewesen ist, dann hätte sie die Kinder auch zurückgelassen, weil sie ja alleine auf der Straße stand und herumgeschrien hat, und außerdem war es spät. Für Kinder viel zu spät, und Be würde nie im Leben abhauen und ihre Kinder zurücklassen, und sie würde nie ihre Kinder mitten in der Nacht aus dem Bett reißen, um sie mitzunehmen, und sie würde auch nicht vor ihnen rumschreien und die Nerven verlieren. So weit hat sie sich immer im Griff.

 

Be sollte froh sein, dass sie einen wie den Karl hat, aber sie jammert immer nur über Karl, dass er nicht kochen kann und dass sie keine gemeinsamen Themen haben, über die sie sich unterhalten können. Damit meint Be Themen wie Mode oder Männer. Darüber unterhalten wir uns nämlich und noch so Diverses, mehr Zwischenmenschliches, über Leute, die wir kennen, und gemeinsame Freunde.

Karl kann jedes Auto reparieren. Karl kann überhaupt alles reparieren. Außerdem interessiert sich Karl für Bes Kinder und für Be. Warum soll der auch noch kochen können?

Karl kümmert sich um Be und um die Kinder, um die Wohnung und den Abwasch, er bringt sogar Geld nach Hause, obwohl er die meiste Zeit mit den Kindern verbringt. Da ist es doch das Mindeste, wenn Be das Kochen übernimmt. Karl kümmert sich sogar um die Wäsche. Die Wahrheit ist, dass Be auch nicht kochen kann. Noch weniger als Karl. Sie versucht es nicht einmal, und das ist auch gut so.

Wenn Karl nicht wäre, würde Be in einem Müllhaufen wohnen, und die Kinder hätte die Fürsorge geholt und in ein Heim gesteckt. Das will sie bloß nicht wahrhaben.

Die denkt im Ernst, Karl würde ihr das Leben erschweren und sie in ihrer Persönlichkeit behindern. Was sie damit meint, ist, dass sie nicht jederzeit mit jedem ins Bett gehen kann.

 

Es ist nur so, dass Be, wenn sie jemanden wie den Karl hat, der sich um alles kümmert, dazu neigt, sich um gar nichts mehr zu kümmern.

Aber wenn Karl weg wäre, dann würde Be wieder alles tun, was sie jetzt nicht tut, weil Karl da ist und es macht, und was sie früher auch alles getan hat für ihre Kinder und nur für ihre Kinder, als es Karl noch nicht gab.

Wenn man das so sieht, dann scheint es, als wäre es ein bequemes Leben, und das Leben, das Be mit Karl hat, ist ein überaus bequemes, ihrer Entwicklung und Lebenshaltung nicht förderlich. Sogar im Gegenteil. Es hindert sie, ihre guten Eigenschaften zu entwickeln, und bestärkt sie darin, ihre schlechten Seiten auszuleben.

Das kann sie gar nicht anders. Da hat sie keine Wahl, das sucht sie sich nicht aus.

Weil sie jetzt aber auch nicht glücklich ist, nach etwas anderem sucht und in ihren schlechten Eigenschaften gefördert wird und ihre guten unterdrückt werden, liegt der Gedanke nahe, dass sie ihre Situation ändern muss und Karl verlassen, weil das nicht das richtige Leben für sie ist, so ein vollkommenes. Eher ein verkommenes.

Das heißt, Be muss Karl verlassen und sich wieder alleine um die Kinder und alles kümmern und sich so richtig anstrengen und fett leiden und sich aus dem Sumpf wieder hochstrampeln, bis sie so weit ist zu erkennen, was so ein Leben wert ist, das sie mit Karl hatte, und was sie an einem wie dem Karl hat.

Das wird sie dann irgendwann begreifen, und dann wird sie nach einem wie dem Karl suchen und wird ihn nicht finden. Dann wird es ihr wie mir gehen.

 

Den ganzen Tag höre ich nichts von Be oder von Karl. Nicht einmal die Kinder sind zu hören.

Ich koche einen Milchreis für die Kinder und bringe ihn hinunter.

 

Be wohnt unter mir. Früher habe ich in Bes Wohnung gewohnt, die kalt und dunkel ist, dann ist im dritten Stock eine Frau gestorben, und ich bin hinaufgezogen in die helle warme Wohnung und habe Be meine alte Wohnung gegeben.

Die war gerade wieder schwanger und hatte keine Wohnung, weil sie sich von dem Vater des Kindes, mit dem sie gerade schwanger war, getrennt und bei dem Vater des anderen Kindes, von dem sie bereits getrennt war, gewohnt hatte. Was nicht gut ging.

Damals war sie glücklich über diese Wohnung, und heute macht sie mir Vorwürfe, dass ich sie in ihrem Zustand mit dem Kind in die kalte dunkle Wohnung habe ziehen lassen und selber in die viel schönere, wärmere und hellere Wohnung gezogen bin, die eigentlich ihr zugestanden hätte, weil ich ja schon eine Wohnung hatte.

So was sagt die im Ernst. Dabei soll sie froh sein, dass sie in einer Parterrewohnung wohnt. Da muss sie die Kinder nicht die vielen Treppen hinaufschleppen und keine Angst haben, dass ihr ein Kind oder beide aus dem Fenster fallen. Was im dritten Stock, wo ich wohne, nicht unbedenklich ist.

Deshalb sind wir wahrscheinlich immer in meiner Wohnung, weil es da wärmer ist und heller und sowieso schöner. Be bringt auch nie die Kinder mit, wenn sie mich besucht. Die lässt sie immer unten bei Karl.

Weil sie immer kommt, wenn sie genug hat von den Kindern und von Karl.

 

Es macht keiner auf. Ich glaube, leise Stimmen hinter der Tür zu hören. Aber ich bin mir nicht sicher.

 

Früher hat Be oft die Tür nicht aufgemacht, obwohl sie zu Hause war. Das haben wir auch zusammen gemacht. Wenn Britta mich besuchen kam. Ich hatte nichts gegen Britta. Ich mochte sie auch nicht besonders, aber sie tat mir leid. Weil sie eine durchgedrehte Mutter hatte. Deshalb war Britta auch nicht ganz normal.

Manchmal lief sie wochenlang in denselben Kleidern rum. Die rochen dann schon, und keiner wollte ihr zu nahe kommen. Mir tat das leid. Deshalb habe ich nie etwas gesagt. Be war da knallhart. Hau ab, du stinkst, sagte sie, wenn Britta in ihre Nähe kam, und: geh nach Hause und wasch dich und zieh dir was Sauberes an, bevor du mich ansprichst.

Das ist ziemlich gemein, aber Britta hat immer so getan, als hätte sie das gar nicht gehört. Die hatte eine Haut wie ein Elefant. So dick und so schmutzig.

Wenn Britta mich besuchen kam, wenn Be bei mir war, schauten wir durch das Badezimmerfenster auf sie hinunter, wie sie vor der Tür stand und wartete und dann die Straße hinunterschlich. Einmal hat Be ihr sogar auf den Kopf gespuckt.

Britta ging immer ganz langsam. Ich habe die nie rennen sehen oder wenigstens schnell gehen. Dabei schaute sie immer auf den Boden, und die Schultern hatte sie bis zu den Ohren hochgezogen. Deshalb konnte sie uns auch nie sehen, wie wir oben aus dem Badezimmerfenster heraushingen und Be ihr auf den Kopf spuckte. Britta sah nie nach oben. Die machte nie eine Bewegung zu viel, und sie schaute immer auf den Boden, auch wenn sie mit einem sprach.

Die konnte einem wirklich leidtun. Aber Be hatte kein Mitleid. Nicht mit Britta. Be hatte mit anderen Dingen Mitleid, die ich nicht verstehe.

Be sagt immer, Menschen, die nichts aus sich und ihrem Leben machen, verdienen kein Mitleid. Damit würde man ihnen nicht helfen. Im Gegenteil. Solchen Menschen gehöre ordentlich in den Arsch getreten, damit der Leidensdruck groß genug wird, dass sie endlich etwas ändern. Dass sie so sind, wie sie sind, so erbärmlich und jämmerlich oder was auch immer, hängt nur damit zusammen, dass ihr Leidensdruck noch nicht groß genug ist. Solange einer zwei Arme hat und zwei Beine und alles, was man sonst zum Leben braucht, kann er was aus seinem Leben machen.

Das sind ekelhaft reaktionäre Sprüche, aber Be glaubt im Ernst daran, und ich glaube, sie glaubt deshalb daran, weil sie nur was aus ihrem Leben macht, wenn der Leidensdruck groß genug ist.

Darauf ist sie stolz. Wenn es ihr richtig dreckig geht, dann glänzt die nur so vor Stolz, was sie alles aushält.

 

Einmal hat Be auch mir nicht die Tür aufgemacht. Da bin ich mir ganz sicher. Auch wenn sie es bis heute abstreitet. Da stand nämlich Jos Fahrrad vor ihrer Tür. Jo hieß Johannes und war in mich verliebt und ich in ihn, weiter waren wir noch nicht gekommen. Mir ist damals ganz schwach geworden, als ich sein Fahrrad vor Bes Haus stehen sah. Richtig weiche Knie habe ich bekommen. Erst wollte ich wieder umdrehen, aber dann dachte ich, dass das falsch und feige wäre. Ich wollte wissen, was los war, und Be zur Rede stellen. Deshalb klingelte ich, und keiner machte auf. Im Garten hörte ich Stimmen und Wasserspritzen. Ich war mir sicher, dass jemand zu Hause war, deshalb klingelte ich lange und immer wieder. Dabei sah ich hinauf, ob Be sich hinter einem der Fenster versteckte. Dann wurde es ganz leise.

Nichts war mehr zu hören, und nach einiger Zeit kam Bes Mutter und sagte, Be sei nicht zu Hause. Ich hatte nach der ganzen Klingelei keinen Mut und keine Kraft mehr, ihr zu sagen, dass sie mich nicht für blöde verkaufen kann. Das Fahrrad und die Stimmen, und ich bin nach Hause gegangen. Ich wollte auch gar nicht mehr wissen, ob Jo bei Be war und was die da machten. Aus Jo und mir ist dann auch nichts geworden, aber das lag nicht an Be.

Be hatte ein schlechtes Gewissen. Das habe ich gemerkt. Deshalb habe ich sie nicht darauf angesprochen. Ich wollte das nicht mehr wissen. Erst viel später habe ich sie danach gefragt, und da konnte sie sich sofort daran erinnern. Obwohl das Jahre zurücklag, wusste sie sofort, worum es ging. Das spricht dafür, dass sie damals zu Hause war mit Jo und mich nicht hereingelassen hat. Wenn sie nicht da gewesen wäre, könnte sie gar nicht wissen, wovon ich spreche. Sie hat es trotzdem immer abgestritten und wird ihre guten Gründe dafür haben. Ich habe ihr diese Lügerei nie verziehen.

 

Das fällt mir alles wieder ein, als ich mit dem Milchreis vor der verschlossenen Tür stehe. Ich gehe wieder hinauf und esse vor lauter Wut auf Be den ganzen Milchreis auf.

 

Be lügt eigentlich fast immer. Aber nicht so, wie andere Leute lügen. Be hat eine andere Auffassung von der Wahrheit. Ihre Realität ist eine andere. Be dreht sich die Welt so lange im Kopf herum, bis sie ihr passt. Bis sie hineinpasst in ihren Kopf. Deshalb kann man auch nicht von Lügen sprechen. Be glaubt an alles, was sie sagt. Was für uns eine offensichtliche Lüge ist, ist für Be die Wahrheit.

Wie damals, als Be mit Margot verkracht war. Margot war meine beste Freundin, neben Be. Be konnte Margot nie besonders leiden, ich glaube auch, weil sie eifersüchtig war auf Margot. Dann waren sie auf einmal richtig zerstritten, und Be sagte, Margot hätte ihr Unrecht getan und Peter, in den Be damals verliebt war, gemeine Lügen über Be erzählt, und der würde sie jetzt nicht einmal mit dem Arsch anschauen.

Weil das gemein und niederträchtig ist, habe ich darauf nicht mehr mit Margot gesprochen und mich nicht mehr mit ihr verabredet. Ich musste deshalb jeden Tag den langen langweiligen Schulweg alleine laufen. Hinter Margot her oder vor ihr weg. Margot wohnte nämlich nur zwei Häuser weiter, weshalb wir immer zusammen in die Schule liefen und auch sonst viel zusammen machten. Be wohnte ganz woanders. Deshalb sahen wir uns selten, meistens nur in der Schule, und nach der Schule war mir langweilig, weil ich Margot nicht sehen konnte.

Das habe ich alles für Be getan. Und dann habe ich sie getroffen. An einem Sonntag im Café. Saßen Be mit ihrem Vater und Margot und haben Eis gegessen und herumgealbert. Ich bin vor Schreck fast tot umgefallen. Das habe ich nicht glauben können. Ich habe ein halbes Jahr nicht mehr mit Be gesprochen und bin wieder mit Margot in die Schule gelaufen und zurück, und nachmittags kam sie zu mir oder ich zu ihr.

Margot war mir nicht mehr böse. Be hatte gelogen. Es war so, dass Peter tatsächlich nichts von Be wissen wollte, weil er sie noch nie gemocht hatte, und Be hatte ihn mit Margot herumstehen sehen, und da hatte sie sich das ausgedacht. Sie hatte selber daran geglaubt und es mir erzählt und bald wieder vergessen, weil sie sich inzwischen in Ralf verliebt hatte. Margots Bruder, der war zwei Jahre älter und trug echte Jeans.

Be hatte sich damals nichts dabei gedacht, als sie mir das über Margot erzählt hatte. Das weiß ich inzwischen, weil ich sie kenne, und Be wäre viel zu dumm und zu faul zum Denken für solche Intrigen.

Manchmal erzählt sie auch vorsätzlich die Unwahrheit. So wie mit Jo. Aber das macht sie selten, und man merkt sofort, dass sie lügt. Weil das so offensichtlich ist, sage ich auch selten etwas, wenn Be lügt. Richtig lügt, weil ich weiß, wie unangenehm ihr das ist, die Unwahrheit zu sagen.

Obwohl das, was Be erzählt, selten der Realität entspricht, ist sie ein durch und durch ehrlicher und wahrheitsliebender Mensch. So widersprüchlich das klingt.

Diese Geschichte mit Margot und Peter. Das war keine Lüge. Be hat gesehen, wie Margot mit Peter herumstand, und vielleicht hat sie ihm etwas ins Ohr geflüstert, oder sie haben gelacht und in Bes Richtung geschaut. Das ist, was tatsächlich stattgefunden hat. Be hat das dann in ihrem Kopf rumgedreht, und was dabei herauskam, war, dass Margot Peter Gemeinheiten über Be erzählt und das der Grund ist, dass Peter nichts von Be wissen will. Das war für Be genauso real wie das, was sie gesehen hat. Nie im Leben wäre sie darauf gekommen, dass sie eine Lüge erzählt.

Be belügt sich also ständig selber. Weil Be ausschließlich mit sich beschäftigt ist, käme es ihr gar nicht in den Sinn, andere zu belügen, weil ihre Wahrnehmung gar nicht so weit reicht.

Das ist keine Entschuldigung, sondern nur eine Erklärung, die zeigen soll, dass bei Be die Dinge anders liegen, als sie den Anschein haben.

 

Am Abend ist immer noch nichts zu hören. Ich rufe ein paar Mal an, aber keiner geht ans Telefon.

Spätnachts höre ich laute Schritte und Kinderstimmen im Treppenhaus. Ich liege schon im Bett und kann nicht schlafen, weil mir so viel im Kopf herumgeht. Nicht nur Be, darüber möchte ich nicht mehr nachdenken. Diesmal mache ich mir zur Abwechslung einmal Gedanken über mein eigenes Leben.

Wenn ich mir mein Leben so anschaue, bin ich sogar recht zufrieden mit mir. Ich habe es soweit im Griff. Es fällt mir nicht ständig aus der Hand. Wie Be.

Ich will aufstehen und nachsehen, ob Be zurück ist mit den Kindern, aber dann sage ich mir, dass mir das jetzt endgültig egal sein soll. Dann nehme ich mir noch ein paar Dinge vor für die Zukunft und schlafe ein.

 

Ich habe einen grässlichen Traum, in dem ich mit einer fetten fiesen Lesbe auf einer Schaukel Sex habe. Ich habe mich dazu überreden lassen und bin so entsetzt über mich selber, dass ich aufwache und saufroh bin, nur geträumt zu haben.

Es ist ganz leise im Haus und auf der Straße. Das ist ungewöhnlich, weil sonst immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, Autos fahren. Ich liege lange still im Bett, und es ist wirklich kein Laut zu hören. Nicht einmal das Ticken einer Uhr oder ein tropfender Wasserhahn oder ein gurgelndes Heizungsrohr oder sonst was, das man eigentlich immer hört. Da ist nichts. Es ist vier Uhr fünfunddreißig. Um vier Uhr achtundvierzig fährt endlich ein Auto vorbei, und dann ist es wieder still.

Ich liege in meinem Bett. Eine Gruft. Lebendig begraben, denke ich mir. Es kommt mir so unwirklich vor. Wie ein Traum. Ob das der Traum ist, und das, von dem ich glaubte, dass es der Traum war, ist wahr. Die fette Lesbe.

Ich hatte mich nur deshalb überreden lassen, weil ich nichts gegen Sex mit Frauen habe. Um das zu beweisen, habe ich es mit der fetten Lesbe getan.

 

Ich stehe auf und rufe Be an. Weil ich auf einmal das Gefühl habe, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Es geht niemand ans Telefon.

Ich mache alle Lichter an und das Radio. Mit einem Buch lege ich mich ins Bett und lese, obwohl ich das gar nicht kann, weil ständig das Radio spricht und ich mich nicht auf das Geschriebene konzentrieren kann. Auch nicht auf das Radio. In meinem Kopf geht alles durcheinander. Irgendwann muss ich dann eingeschlafen sein.

Ich wache auf, und das Radio plärrt, und alle Lichter brennen. Vor dem Haus steht die Müllabfuhr und macht einen Höllenlärm. Davon bin ich aufgewacht. Ich bin der Müllabfuhr dankbar, dass sie da ist und so einen Krach macht. Lieber ein Leben in ständigem Lärm und Krach als ein Leben in ewiger Stille, denke ich.

Ich stehe auf, obwohl es noch nicht einmal sieben ist. Ich ziehe mich an und gehe hinaus auf die Straße. Kaufe Milch und Semmeln und eine Zeitung. Alles ist so wie immer. Nichts hat sich verändert. Der Himmel ist blau. Die Sonne ist noch nicht über den Häusern, aber es verspricht, ein glänzender Tag zu werden.

Obwohl sich nichts verändert hat, fühle ich mich anders. So, als hätte ich etwas hinter mir gelassen und würde neu beginnen. So ähnlich, als wäre ich umgezogen. Nicht nur in eine neue Wohnung, sondern richtig, in eine neue Stadt, sogar in ein anderes Land. Mich durchströmt eine Euphorie, die ich nur kenne, wenn ich verliebt bin oder etwas ganz Besonderes passiert. Ich schiebe diese Euphorie auf das Wetter. Den blauen Himmel nach der grausigen Nacht.

Beim Hinaufgehen bleibe ich vor Bes Haustür stehen und lausche, aber es ist nichts zu hören. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen und klingle, aber es bleibt still, und keiner öffnet.

 

Am späten Nachmittag sehe ich Karl auf der Straße. Weil ich nichts mit mir anzufangen weiß, stehe ich am Fenster und schaue auf die Straße. Das mache ich manchmal so. Die Sonne ist schon hinter den Häusern verschwunden, aber es ist noch mild, das sehe ich daran, dass die Leute mit offenen Mänteln herumlaufen. Manche haben nicht einmal eine Jacke an und einer sogar nur ein T-Shirt. Wäre es Sommer, würden die Leute dicke Jacken tragen, aber weil es Herbst ist und für diese Jahreszeit ungewöhnlich mild, sind die Menschen leicht bekleidet, als wäre es Sommer oder zumindest Frühling. Wenn es in der kalten Jahreszeit diese plötzlichen warmen Tage gibt, drehen alle durch.

Ich sehe Karl aus dem Zeitungsladen herauskommen, auf der anderen Straßenseite. Er trägt eine dicke Jacke und eine Wollmütze. Er liest in einer Zeitung und bleibt stehen, um weiterzulesen. Mitten auf der Straße, als würde etwas besonders Wichtiges darin stehen. Ich bin erleichtert, ihn zu sehen.

Dass Karl da drüben auf der Straße steht und in der Zeitung liest, hat so etwas beruhigend Reales. Besonders, weil er in der Zeitung liest.

Ich mache das Fenster auf und lehne mich hinaus, um ihn zu rufen. In dem Moment fährt ein Laster vorbei und hält vor dem Zeitungsladen, direkt da, wo Karl steht. Ich kann Karl nicht mehr sehen. Ich rufe ihn, aber er kann mich logisch auch nicht sehen. Irgendwann fährt der Laster wieder weiter, und Karl ist weg.

Ich gehe hinunter auf die Straße, da merke ich, dass ich Hausschuhe anhabe, also gehe ich wieder hoch, um mich anzuziehen.

 

Dann kaufe ich mir eine Zeitung und suche die Straße ab, ob ich Karl doch noch finde, aber der ist weg. Oben lese ich die ganze Zeitung durch, um herauszufinden, was Karl daran so interessiert haben könnte. Obwohl das völliger Quatsch ist, hoffe ich, dass da in der Zeitung etwas drinstehen könnte über Be und die Kinder. Ich lese sogar die Todesanzeigen durch. Ich lese die Stellenangebote, die Wohnungsanzeigen, alles, weil ich hoffe, endlich etwas erfahren zu können. Vielleicht sucht Karl eine Wohnung. Vielleicht ist Be solange ausgezogen, bis er eine neue Wohnung gefunden hat.

Obwohl im Fernsehen nichts kommt und ich auch nichts lesen kann, weil mein Kopf so voll ist und ich auch müde bin, schiebe ich das Schlafengehen hinaus. Ich will nicht wieder so eine Nacht erleben. Ich lasse das Licht an und schaue auf ein Buch, bis ich einschlafe. Aber ich schlafe nicht ein. Auf einmal bin ich wieder hellwach. Ich gehe in der Wohnung umher. Taue meinen Kühlschrank ab. Mache noch haufenweise anderes nützliches Zeug, bis die Nacht endlich vorbei ist, und als es dämmert, lege ich mich ins Bett und schlafe. Fest und traumlos in den Tag hinein.

Ich wache auf, da wird es schon wieder dunkel. Zu spät, um Be zu suchen.

 

Karl macht mir die Tür auf. Er sagt, Be ist mit den Kindern aufs Land gefahren. Zu einer Freundin. Er wundert sich, dass sie mir das nicht gesagt hat. Ich frage, ob sonst alles in Ordnung ist, ich hätte ihn gestern auf der Straße gesehen, Zeitung lesen. Er sagt, alles sei bestens, er müsse sich eine Arbeit suchen. Die Zeit nutzen, solange Be mit den Kindern weg ist. Um Geld zu verdienen, damit sie im Winter gemeinsam verreisen können. Irgendwohin, wo es warm ist.

Ich sage ihm, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Er lacht mich aus, und ich komme mir noch blöder vor. Ich erzähle ihm, was ich nachts gesehen habe. Be auf der Straße, schreiend. Karl sagt, da wäre nichts gewesen, das muss ich geträumt haben.

Das glaube ich langsam selber, aber es fällt mir schwer. So deutlich steht das vor meinen Augen. Be in dem gelben Mantel und das Licht in den Pfützen.

 

Be ist wieder zurück. Ich frage sie, was in der Nacht los war, als sie schreiend durch die Pfützen lief. Wie Fred Astaire in Singing in the rain. Ich sage, dass ich mir Sorgen um sie gemacht habe.

Be sagt, ich sehe so aus, als ob ich Ruhe und Schlaf bräuchte. Ich würde ihr einen überspannten Eindruck machen. Karl hätte schon so was angedeutet. Ich sollte aufs Land fahren. Sie hätte sich wunderbar erholt in der Ruhe dort draußen und der frischen Luft. Lange Spaziergänge und früh schlafen. Das würde mir auch guttun.

Und außerdem war das Gene Kelly, der in Singing in the rain durch die Pfützen tanzt.