Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist - Elke Naters - E-Book

Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist E-Book

Elke Naters

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Beschreibung

Der Tod ist nicht vorgesehen in ihrem gemeinsamen Leben. Krankheit auch nicht, davor würde sie ihre Liebe schon schützen. Und der Glaube an das Gute. Doch dann stirbt Sven Lager plötzlich im Frühjahr 2021. Wie überlebt man so etwas? Elke Naters findet für das Unfassbare eine Sprache und lernt den größten Schmerz zu akzeptieren. Es ging alles sehr schnell. Sie hatten andere Pläne, und ans Sterben hat Sven Lager bis zu seinem Tod nicht gedacht. Fast dreißig Jahre haben Elke Naters und er ein ungewöhnliches und eigenwilliges Leben geführt, eines, das frei war von gesellschaftlichen Konventionen und voller Abenteuer und Überraschungen. Ob in Kapstadt, in Bangkok oder in Berlin – sie hatten mal mehr und oft weniger Geld, große Ideale und engagierten sich politisch und sozial, wo immer sie sich gerade aufhielten. Der Tod ihres Mannes hat alle Bereiche ihres Lebens zutiefst erschüttert. Hier erzählt Elke Naters, welche Kraft sie aus ihrer großen inneren Freiheit schöpfen kann und warum es selbst nach der schlimmsten Katastrophe einen Weg nach vorne gibt. Ihre Beziehung zu Sven hört durch dessen Tod nicht auf, sondern hilft ihr, auch rückblickend, sich und sie beide besser zu verstehen. Ein versöhnliches Buch, das Hoffnung gibt.

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Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist

Elke Naters, Jahrgang 1963, machte zunächst eine Schneiderlehre und studierte Kunst und Fotografie in Berlin, ehe sie mit ihrem Debütroman Königinnen (1998) einen großen Erfolg landete. Ihre Romane wurden in mehrere Sprechen übersetzt. Mit ihrem Partner Sven Lager hat sie Romane und Sachbücher geschrieben und auf drei verschiedenen Kontinenten ihre beiden Kinder großgezogen. Zuletzt lebten und schrieben sie in Berlin und haben Paare in ihrer »School of Love Berlin« beraten. Sven Lager ist Mitte April 2021 plötzlich verstorben, seitdem führt Elke Naters die Paarberatungen allein weiter.

Der Tod ist nicht vorgesehen in ihrem gemeinsamen Leben. Krankheit auch nicht, davor würde sie ihre Liebe schon schützen. Und der Glaube an das Gute. Doch dann stirbt Sven Lager plötzlich im Frühjahr 2021. Wie überlebt man so etwas? Elke Naters findet für das Unfassbare eine Sprache und lernt den größten Schmerz zu akzeptieren.

Es ging alles sehr schnell. Sie hatten andere Pläne, und ans Sterben hat Sven Lager bis zu seinem Tod nicht gedacht. Fast dreißig Jahre haben Elke Naters und er ein ungewöhnliches und eigenwilliges Leben geführt, eines, das frei war von gesellschaftlichen Konventionen und voller Abenteuer und Überraschungen. Ob in Kapstadt, in Bangkok oder in Berlin – sie hatten mal mehr und oft weniger Geld, große Ideale und engagierten sich politisch und sozial, wo immer sie sich gerade aufhielten. Der Tod ihres Mannes hat alle Bereiche ihres Lebens zutiefst erschüttert. Hier erzählt Elke Naters, welche Kraft sie aus ihrer großen inneren Freiheit schöpfen kann und warum es selbst nach der schlimmsten Katastrophe einen Weg nach vorne gibt. Ihre Beziehung zu Sven hört durch dessen Tod nicht auf, sondern hilft ihr, auch rückblickend, sich und sie beide besser zu verstehen. Ein versöhnliches Buch, das Hoffnung gibt.

Elke Naters

Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist

Über das Leben, die Liebe und das Sterben

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-3155-3

 

© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

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Widmung

Für Sven, Anton und Luzie

   

»Hier ist Otto«, hast du gesagt, als du mich zum ersten Mal angerufen hast. Eine Woche nach unserem ersten Treffen, das eigentlich unser zweites war.

»Wer ist Otto?«, habe ich gefragt, und du hast gelacht. Ich weiß bis heute nicht, warum du dich mit Otto gemeldet hast, und du konntest es mir auch nicht erklären. Otto nannten dich nur deine Schwestern. Oottoo in dem schönen schwedischen Singsang, der das erste und das zweite O betont. Für alle anderen warst du Sven. Auch für mich und die Kinder. Nie habe ich dich Otto genannt, obwohl du dich so vorgestellt hast. Sven war dein zweiter Name, den du zu deinem ersten gemacht hast. Otto Sven Lager.

Du hast mit Otto immer das dicke Kind verbunden, das du nie warst. Du warst groß. Sehr groß und sehr stark. Schon als Kind. Du hast einen Jungen, der dir deine Schaufel wegnehmen wollte, mit einer einzigen Bewegung an das andere Ende des Sandkastens geschleudert. Darauf hat deine Mutter dir verboten, dich zu wehren. Sie hatte Angst, du könntest die anderen Kinder aus Versehen umbringen, mit deiner ungeheuren Kraft. Ein Herkuleskind.

Ich habe oft gedacht, vielleicht hatte der Krebs nur eine Chance, weil du zu nett warst und dich nicht gegen ihn wehren konntest. Weil du gar nicht wusstest, wie man das macht. Das hast du nie gelernt. Wir haben noch darüber gescherzt, als die Ärzte sagten, das seien die größten Lymphome, die sie je gesehen hätten. Und später, als sie sich im Rückenmark ausgebreitet hatten, sagten sie das wieder.

Mr. Larger nannten sie dich in Südafrika. Das warst du. Larger than life.

Ich bin auch groß. »Zu groß für eine Frau«, sagte die Einwiegerin bei Bernbacher Eiernudeln, wo ich einen Sommer lang Nudelpakete wog, und zeigte mit dem Finger auf mich. »Die findet nie einen Mann.«

Komisch, dass ich an die immer wieder dachte. Der hätte ich dich gerne vorgestellt. »Ha, siehst du! Den Mann hier habe ich gefunden.« Oder noch besser: »Er hat mich gefunden. Ich musste gar nichts dafür tun. Der ist nicht nur groß, sondern auch noch schön und lustig und der beste Mann der Welt!«

Du warst so lustig. Dein Humor hat uns oft erleichtert, wenn wir uns festgebissen hatten. Wenn es zu blöd und zu ernst wurde. Ich liebte es, wenn du Witze über mich gemacht hast. Wenn du mich nicht zu ernst genommen hast, wenn ich selbst zu ernst war.

Du hattest mich und meine Freundin, deren Auto du dir ausgeliehen hattest, ins Myśliwska eingeladen. Mich hast du eine Stunde früher bestellt. Aber ich kam eine halbe Stunde zu spät, obwohl ich die Pünktliche war. Später sollte ich an deiner Unpünktlichkeit verzweifeln und mich ihr schließlich anpassen. Aus Lager und Naters wurden die Laters, weil wir immer zu spät waren.

Du saßest in deiner Lederjacke mit dem Fellkragen am Tresen und hast eine Suppe gelöffelt. Ich hatte deinen Plan durchschaut und boykottiert. Warum eigentlich? Wahrscheinlich wollte ich dich dafür bestrafen, weil du in der Nacht, in der wir uns kennengelernt haben, deine Ex-Freundin nach Hause gefahren hast.

Du hast die Frau deines Lebens kennengelernt und hast sie einfach in der Bar zurückgelassen, um deine schlecht gelaunte Ex-Freundin nach Hause zu fahren. Du hattest nicht einmal meine Telefonnummer. Und ich dachte mir: Schade, wirklich schade, und hab nicht weiter an dich gedacht. Erst später habe ich verstanden, dass das die erste White Flag war. Du warst einfach über die Maßen loyal und anständig.

Du hast mir später gesagt, du wusstest:»Es ist getan! Die Frau ist gefunden.« Das beeindruckt mich immer noch. Diese Sicherheit, die du hattest, wenn du etwas wolltest. Keine Zweifel, dass dir jemand widerstehen könnte. Und ich dachte immer nur, der ist zu gut, um wahr zu sein.

Ein paar Tage später waren wir im Kumpelnest. Wir haben Wodka Lime getrunken. Du hattest den grünen Pullover an, unter dem sich deine schöne Brust abzeichnete. An dem Abend haben wir miteinander getanzt und uns zum ersten Mal geküsst. Das einzige Mal, dass wir zusammen tanzen konnten. Tanzen ging gar nicht. Du hast dich immer doppelt so schnell bewegt wie ich.

Ich wohnte damals alleine in einer Dreizimmerwohnung mit Kohleöfen und ohne fließend Warmwasser. Eigentlich war das Walters Wohnung, den du nie kennengelernt hast, weil er zwei Monate zuvor beim Kohlenschleppen an einem Herzinfarkt gestorben war. Walter war mein erster Toter.

Ich kam nach Hause, um ihn zum Einkaufen abzuholen, und fand ihn tot, mit einem weißen Tuch bedeckt, auf dem Treppenabsatz des dritten Stocks. Der junge Notarzt, der über eine Stunde versucht hatte, ihn wiederzubeleben, sah erschöpft und verzweifelt aus. Walter lag schon zu lange da, bis ihn jemand gerufen hatte.

Ich habe mir oft gedacht, die Leute aus dem zweiten oder dritten Stock müssen doch gehört haben, wie er mit den Kohlen auf den Stufen zusammengebrochen ist. Das muss doch einen Höllenkrach gemacht haben. Fünfundzwanzig Kilo Kohlen in jeder Hand und Walters achtundsiebzig Kilo dazu.

Walter war tot. Mit vierunddreißig Jahren im Treppenhaus gestorben. Erst neulich sprach ich mit Ulrich, seinem besten Freund darüber, und er sagte, dass Walter dieses Treppenhaus hasste und gesagt hätte, dass er dort bestimmt einmal sterben würde. Das wusste ich nicht. In meiner Erinnerung war das ein ganz normales Treppenhaus. Nicht einmal besonders heruntergekommen. Ich habe schon Scheußlichere gesehen. Aber wenn man jede Woche fünfzig Kilo in den vierten Stock schleppen muss, denkt man wahrscheinlich anders darüber.

Seitdem mir nach deinem Tod das Treppensteigen zu schaffen macht, entwickle ich auch eine immer größer werdende Abneigung gegen unser Treppenhaus mit den steilen Treppen und dem abgelaufenen Sisal. Jemand sagte, dass Umzugsleute diese Sisalteppiche hassen, weil sie das Treppensteigen so viel beschwerlicher machen. Der Sisal verstärkt die Schwerkraft. Bei jedem Schritt saugt er meinen Fuß fest und gibt ihn nur unter großem Kraftaufwand wieder frei.

Wahrscheinlich hatte Walter eine Vorahnung. Ob du auch diese Vorahnung hattest, als du mir versichert hast, dass du nicht sterben wirst? Bevor ich überhaupt an Tod dachte, hast du schon davon gesprochen und dann nie wieder, als er immer näher kam.

Der schöne Walter wurde abtransportiert, in eine Kühlhalle gebracht und aufgeschnitten, um die Todesursache herauszufinden. Er hatte eine Ausbuchtung der Aorta, in der sich ein Blutgerinnsel festgesetzt hatte.

Es kam mir gar nicht in den Sinn, das Laken aufzudecken und ihn anzusehen. Der Mensch, der Freund, war für immer unter diesem Todeslaken verschwunden. Ich hätte über diesen weißen Haufen steigen müssen, um in die Wohnung zu gelangen. Das habe ich nicht über mich gebracht. Stattdessen saß ich eine Weile weinend bei Peschkes im zweiten Stock in der Küche. Ein altes Berliner Ehepaar. Wir hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen, und jetzt teilten wir wortlos diesen intimen Moment.

Ich lief zurück zu dem Mann, bei dem ich die Nacht verbracht hatte, und bat ihn, über die Leiche zu steigen, in meine Wohnung zu gehen und mein Adressbuch zu holen, damit ich Walters Freunde von seinem Tod benachrichtigen konnte.

Das war 1993. Im Waschsalon auf der Wilmersdorfer Straße habe ich einmal einen Mann mit einem Mobiltelefon gesehen, das so groß war wie eine Schreibmaschine. Schon praktisch, habe ich damals gedacht, wenn man ein Telefon mitnehmen kann, aber das wird sich kaum durchsetzen, wer will schon so einen Klotz mit sich herumschleppen?

Der Mann tat, worum ich ihn bat, gab mir mein Notizbuch, und ich wohnte dann erst einmal bei ihm, weil ich nicht in der verlassenen Wohnung schlafen wollte. Das brachte uns näher, als mir lieb war, und ich fühlte mich ihm verpflichtet, weil er so gut zu mir war.

Als ich ein paar Tage später in die Wohnung kam, standen dort noch Walters Frühstücksteller und seine halb ausgetrunkene Kaffeetasse. An den schönen Körper, in den er so viel Mühe investiert hatte, musste ich oft denken. Walter ging ständig ins Fitnessstudio, während ich faul zu Hause rumlag. Er hat mit unendlicher Mühe sein Abitur nachgeholt, jahrelang studiert und sich zuletzt mit einer wissenschaftlichen Arbeit herumgequält. Weniger als sein Tod entsetzte mich, dass all diese Mühe komplett umsonst war. Es nützte ihm jetzt alles nichts mehr. Der schöne Körper verrottete in einem Sarg unter der Erde. Was für eine maßlose Verschwendung.

Walter, der besessen von der Angst war, an Aids zu sterben, starb an einem Herzinfarkt. Gefühlt alle paar Wochen hockte er vor dem Telefon auf dem Boden (weil die Telefonschnur zu kurz war, mussten wir immer auf dem Boden sitzend telefonieren), den Hörer ans Ohr gepresst und wartete auf sein Todesurteil aka das Ergebnis des Aidstests. Negativ. Die Erleichterung, dem Tod wieder von der Schippe gesprungen zu sein. Die Angst war real in dieser Zeit. Aber vielleicht war diese übertriebene Angst nur eine Vorahnung seines frühen Todes. Vielleicht war es aber auch gar nicht der Tod, den er so fürchtete, sondern vielmehr den Verfall seines schönen Körpers. Er hatte mit vierunddreißig schon Angst vor dem Alter. Das ist ihm erspart geblieben. Walter bleibt in unserer Erinnerung für immer vierunddreißig, während ich schon fast sechzig bin. Dabei war ich fünf Jahre jünger als er. Der Verfall seines Körpers, den er so mühsam aufgebaut hatte, beschäftigte ihn, der ein schmächtiger kränkelnder Junge war, mehr als alles.

Er erzählte mir kurz vor seinem Tod, dass er sich von einem Freund Tarotkarten hatte legen lassen, und dachte: Nur nicht der Turm, nur nicht der Turm! Und dann kam der Turm. Ich hatte zu der Zeit keine Ahnung, wovon er sprach, und dachte mir, wie kann man nur so Angst vor einer Karte haben, bis ich sie dann sah. Ein furchterregendes Bild von einem steinernen Turm vor einem schwarzen Himmel auf spitzen Felsen, in den ein Blitz einschlägt. Das Dach brennt, Flammen züngeln aus den Fenstern, und zwei Menschen stürzen kopfüber ins schwarze Nichts. Als ich Jahre später Tarotkarten geschenkt bekam, sortierte ich als Erstes die Turmkarte aus.

Walter ließ sich die Karten legen, nachdem er eines Nachmittags an seinem Schreibtisch gesessen und plötzlich diesen unerträglichen Schmerz in der Brust gespürt hatte. Er musste sich aufs Bett legen und war der festen Meinung, seine »letzte Stunde hätte geschlagen«. Seine Worte. Das war eine Woche, bevor seine letzte Stunde tatsächlich schlug. Der Arzt vermutete, dass das ein erster Infarkt war, bei dem sich das Blutgerinnsel geformt hatte, das dann bei der Anstrengung des Kohlenschleppens zum Tod führte.

Mit Walters Tod wurde mein Grundvertrauen ins Leben erschüttert. Er starb im Oktober, und im Dezember hast du zum ersten Mal meine Wohnung betreten und sofort die kaputte Glühbirne im Flur ausgewechselt, damit ich nachts nicht im Dunkeln den Schlüssel ins Schloss fummeln musste. Es kam seitdem nicht mehr oft vor, dass ich alleine nach Hause ging.

Du kamst in die Wohnung eines Toten, von dem du nichts wusstest, und dachtest, dass es meine Wohnung, meine Möbel, meine Bücher wären, während es für mich immer Walters Wohnung war, in der ich ein Zimmer bewohnte. Dann wurde es unsere Wohnung.

Du hattest ein WG-Zimmer in Neukölln, in dem ich nur einmal übernachtete. Das Klo lag direkt neben dem Zimmer, und als du morgens pinkeln gingst, ließest du den Wasserhahn laufen, damit ich dich nicht hörte. Kurz darauf zogst du in die Wohnung in der Bergmannstraße, bei der man in der Küche stand, wenn man hereinkam. Ich mochte diese kleine Wohnung, auch wenn es im Sommer nach vergorenem Gemüse aus den Tonnen im Hinterhof stank.

Es war Winter. Wir lagen viel im Bett, aßen Biryani, das du vom Inder gegenüber holtest, tranken Bier, rauchten und guckten manchmal Filme auf meinem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, der sich neben dem Bett auf einem Stuhl befand. Du gingst gelegentlich ins Kino, um Filme vorzuführen. An unserem ersten Silvester standen wir um Mitternacht kurz auf, lehnten uns nackt aus dem Fenster, um das Feuerwerk zu sehen, und legten uns wieder ins Bett. Um zwei Uhr morgens zogen wir uns an und fuhren ins Myśliwska,um unsere Freunde zu treffen.

Ich stand an meinem hohen Arbeitstisch und bereitete meine Abschlussarbeit vor. Wenn ich aufblickte, sah ich dich durch die offenen Türen an Walters schönem Küchentisch sitzen, im warmen Schein der Lampe in dein Notizbuch schreibend, während ich meine Fotos sortierte, und spürte ein großes Glück, weil deine ins Schreiben versunkene Anwesenheit im anderen Zimmer mich tief mit dir verbunden fühlen ließ. Ich spürte eine alles umfassende Sicherheit und Ruhe und wusste in diesem Moment: Das ist perfekt. Du bist perfekt für mich.

An manchen Abenden besuchte ich dich im Kino. Ich saß mit dir in dem winzigen Vorführraum mit den rasselnden Projektoren und bewunderte dich, wie du lässig die schweren Filmrollen herumwuchtetest und die Filme zusammenklebtest. Wenn ich im Kinosaal saß, kamst du kurz vor der Vorführung herein, in deiner dunkelblauen Seemannshose mit dem weiten Bein und dem geknöpften Hosenlatz, hast an einem Knopf an der Wand gedreht, um die Lautstärke einzustellen, und mir zugelächelt. Wie oft saß ich später im Kino und ärgerte mich über den lauten Ton, und nie kam ein Filmvorführer in den Saal, um die Lautstärke einzustellen. Ich habe außer dir auch nie jemanden getroffen, der diese Hosen trug.

Vielleicht kamst du auch nur in den Saal, weil ich dort saß, weil du mich sehen wolltest und wusstest, wie aufgeregt ich war, dich zu sehen, und am liebsten mit dem Finger auf dich gezeigt hätte und in den Saal gerufen: »Das ist mein Mann, dieser große, schöne, unfassbar lässige Typ ist meiner. Für immer!«

Das wusste ich damals noch nicht. Aber wir wussten beide, dass wir nicht mehr weitersuchen mussten, dass wir angekommen waren, denn auch darin waren wir uns einig, dass wir einen Menschen für ein ganzes Leben wollten und nicht weniger. Wir waren so verliebt. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, und das ist auch so geblieben.

Es gab kein Zögern und kein Zweifeln. Erst als ich schwanger wurde. Einmal trafen wir eine Kommilitonin auf der Wilmersdorfer Straße. Ich verbarg meinen Bauch vor ihr und verschwieg, dass ich schwanger war.

Auch als mein Bauch immer dicker wurde, schliefen wir immer noch zu zweit in Walters schmalem Eisenbett. Du hast fast jeden Tag Thunfischsteaks für uns gebraten, die wir halb­roh mit Sojasauce und Wasabi gegessen haben.

Anton wurde in der Thrasoltstraße geboren, wo es nur einen Kaltwasserhahn gab, der in der Küche aus der Wand kam, und einen großen kupfernen Wasserkessel im Badezimmer, den man mit Holz und Kohle befeuern musste, um warmes Wasser zu haben. Die Kohlen hast du jetzt vom Keller in den vierten Stock geschleppt. Ich heizte die Öfen an und hielt sie am Laufen. Ein Mann vor dir hatte sich in mich verliebt, als ich mit großen Arbeitshandschuhen Kohlen nachlegte.

Exakt in dem Moment, als du nachts um halb eins von deiner Arbeit als Filmvorführer zur Tür hereinkamst, spürte ich die erste Wehe. Ich ging ins Badezimmer und heizte den Ofen an. Du riefst die Hebamme an, die erst drei Stunden später ans Telefon ging.

Unsere Kinder wurden zu Hause geboren, und du bist zu Hause gestorben. Wir waren uns einig, dass Geburt und Tod nicht in so abscheulichen Orten wie Krankenhäusern stattfinden dürfen. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass du zu Hause sterben konntest.

Undenkbar, wenn es weit weg von mir an diesem unmenschlichen Ort geschehen wäre. Man hätte dich weggebracht; und ich hätte dich nicht mehr sehen und mir die Zeit nehmen können, die ich für den Abschied brauchte.

   

Sterben stand nicht auf unserem Plan, aber sie haben dich viel zu kaputt zurückgebracht und in den vierten Stock geschleppt, weil du deine Beine nicht mehr bewegen konntest. Deine wunderbaren starken Beine! Mit denen du so gerne gelaufen bist.

Es war so unspektakulär. Auch wenn ich bis zuletzt nicht an deinen Tod gedacht habe, war ich vorbereitet. Als ich mit Natascha am Tag vor deinem Tod gefacetimet habe, damit sie mir von Südafrika aus half, dir einen Tropf zu legen, weil du nicht mehr trinken konntest, sagte sie: »Elke, he looks like he is dying.«

Sie sagte später, ich hätte sie daraufhin angeschrien: »He is not fucking dying!«

Natascha ist seit über zwanzig Jahren Ärztin. Sie weiß, wie Menschen aussehen, die sterben. Und ich wusste es eigentlich auch. Ich habe es an meinem Vater gesehen. Die Schwestern haben es mir erklärt. Ich habe Artikel dazu gelesen. Deine Nägel waren dunkel wie bei einem Sterbenden. Schon als du nach Hause kamst, aber ich habe es ignoriert. Ich musste mich irren, weil du kamst ja nicht nach Hause, um zu sterben, sondern um wieder zu leben!

Während du im Krankenhaus lagst, bin ich jeden Morgen mit Herzrasen aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, weil ich rasende Angst um dich hatte. Luzie gab mir den Rat, aufzustehen und rauszugehen, was ich gemacht habe. Bei jedem Wetter bin ich in die Dunkelheit hinaus und gelaufen, bis es hell wurde. Das wurden meine täglichen Gebetsrunden. Ich habe mir vorgestellt, wie du neben mir läufst, und gehofft, dass dich das magisch heilen wird. Wir schaffen das! Wenn wir nicht, wer dann? Das war gar keine Frage.

Ich habe Tolstoi gehört in dieser Zeit. Erst Anna Karenina, dann Krieg und Frieden. Als Hörbuch auf meinen langen Spaziergängen. Das hat mich getröstet und tief berührt. Es gibt die Szene in Krieg und Frieden, in der Natasha von der Veränderung des verwundeten Fürst Andrej spricht. Daran musste ich denken, als du nach Hause gekommen bist. Du hattest genau diese Entrücktheit, als wärst du bereits in einer anderen Welt. Aber ich habe es nicht gewagt, weiter zu denken. Ich dachte, ich muss mich irren, weil du mir von Anfang an versprochen hast, dass du nicht sterben wirst.

Wir sprachen vor langer Zeit einmal darüber, wie sehr wir uns manchmal wünschten, wie etwas zu sein hatte, dass wir gar nicht merkten, wie es wirklich war. Wie diese Grillbrote in einem Farmstall in Südafrika. Wir hatten uns so darauf gefreut, wir hatten erwartet, die besten braai broodjies (sprich: braai broikies) unseres Lebens zu essen. Erst zehn Minuten später, als wir im Auto saßen und eine Weile gefahren waren, haben wir zugegeben, dass die Brote scheußlich geschmeckt hatten.

So war das mit meinem Gefühl, dass du am Sterben warst. Hätte ich das gewusst, hättest du es zugegeben, hätten wir beide es als unausweichliche Möglichkeit in Betracht gezogen, dann hätten wir uns darüber unterhalten können. Das würde ich mir im Nachhinein wünschen. Und vielleicht wäre der Tod gar nicht eingetreten, wenn wir ihn anerkannt und nicht ignoriert hätten.

Da ist es wieder, das magische Denken. Als könnte ich irgendetwas dadurch verändern.

Ich habe bis heute kein Testament gemacht (es gibt auch nichts zu vererben) oder eine Lebensversicherung abgeschlossen, weil ich denke, wenn ich das Schlimmste anerkenne, hole ich es in mein Leben, und wir werden sterben. Hätten wir eine Lebensversicherung abgeschlossen, hätten wir sie sicherlich schon längst verkauft, als wir kein Geld hatten. Wir beide hatten Lebensversicherungen von unseren Eltern, die wir verkauft haben. Wir glaubten nicht an Versicherungen. Was sollte uns schon passieren? Und egal, was passieren würde, für uns wäre schon irgendwie gesorgt.

Wie viel Geld wäre ein Trost gewesen? Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Würde viel Geld deinen Verlust leichter machen? Ich würde eine Wohnung kaufen von diesem Geld. Ein Zuhause. Ich suche nach einer Heimat. Ich denke, es ist ein Ort, aber es ist nur die Hoffnung, dich an diesem Ort zu finden. Ein Ort, der mir ein Gefühl des Ankommens und Aufgehobenseins vermittelt, wie nur du es tun könntest.

Wir haben an vielen unterschiedlichen Orten auf der ganzen Welt gelebt. Wir sind alle zwei bis drei Jahre umgezogen. Wir konnten jeden Ort zu unserer Heimat machen. Unsere Familie, die es jetzt in dieser Form nicht mehr gibt, war unsere Heimat. An eine andere Heimat kann ich mich nicht erinnern. Es war für mich schon immer die Familie.

Das Leben vor dir spielt keine Rolle mehr. Ich musste mich davon verabschieden, als Anton geboren wurde. Jetzt muss ich mich von unserem Leben verabschieden. Geht das? Will ich das? Dieser Gedanke löst Panik bei mir aus, weil damit noch so viel mehr stirbt, und gleichzeitig weiß ich, dass ich anders nicht weitergehen kann.

Auch wenn es unsere Vergangenheit als Familie nicht mehr gibt, die kleinen Kinder groß geworden sind und ein eigenes Leben führen, war unser gemeinsames Leben eine Weiterführung unserer Vergangenheit, und damit blieb sie erhalten, die Familie nur in einer anderen Form. Mit dir gemeinsam blieb sie lebendig, wir führten weiterhin unser Leben, das es seit deinem Tod nicht mehr gibt und nie mehr geben wird.

Jetzt gibt es nur noch mein Leben und ganz vielleicht ein Leben mit einem anderen Menschen. Ein neues unser Leben, für das ich nicht bereit bin und vielleicht nie sein werde. Auch das darf sein. Meine Aufgabe ist es, all diese Tatsachen und Möglichkeiten zu akzeptieren.

   

Ein Freund hatte uns von der großen, billigen Wohnung in Schöneberg erzählt, die frei geworden war. Wir haben uns beworben und sie bekommen. Weil du dort angerufen und die Sachbearbeiterin mit deiner Herzlichkeit und schönen Stimme verzaubert hast. Das konntest du.

Hundertachtzig Quadratmeter, vier Zimmer, Kachelöfen, in einem heruntergekommenen herrschaftlichen Altbau. Wir kratzten die Raufaser von den vier Meter hohen Wänden und rissen den Holzverschlag ab, den der Vormieter ins Berliner Zimmer gebaut hatte. Die Handwerker, die vor uns in der Wohnung waren, hatten alle schönen alten Türklinken abmontiert und gestohlen. Sogar die Muscheln in der großen Schiebetür.

Anton konnte mit seinem Bobbycar durch die Wohnung fahren. Luzie wurde dort gezeugt und geboren. Ich brachte sie auf allen vieren auf dem Holzparkett vor dem eigentlichen Geburtsbett zur Welt. Jetzt hatten wir auch noch eine Tochter und waren eine Familie und nicht nur ein Paar mit Kind.