Luka und das Lebensfeuer - Salman Rushdie - E-Book
SONDERANGEBOT

Luka und das Lebensfeuer E-Book

Salman Rushdie

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

Alles beginnt mit einem Zirkusbesuch: Aus Tierliebe verflucht der zwölfjährige Luka den grausamen Zirkusdirektor Captain Aag. In derselben Nacht bricht im Zirkus ein Brand aus, und die Tiere wagen den Aufstand. Zwei von ihnen – Hund, der Bär, ein begnadeter Tänzer, und Bär, der Hund, ein begabter Sänger – nehmen Zuflucht bei Luka. Sie werden seine besten Freunde.

Doch Aag schwört Rache. Bald nach dem Brand fällt Raschid in einen tiefen Schlaf und wacht nicht mehr auf. Nur wenn Luka das große Lebensfeuer holt und es seinem Vater verabreicht, kann er ihn retten ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Salman Rushdie

Luka unddas Lebensfeuer

Roman

Aus dem Englischen vonBernhard Robben

SALMAN RUSHDIE, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Preise, er wurde u. a. als der beste aller Booker-Preisträger ausgezeichnet, und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2008 schlug ihn die Queen zum Ritter. Zuletzt erschien sein Roman »Golden House«.

»Der große Phantast Salman Rushdie in Höchstform!« Cosmopolitan

Außerdem von Salman Rushdie lieferbar:

Grimus, Roman Mitternachtskinder, Roman Das Lächeln des Jaguars, EineReisedurch Nicaragua Die Satanischen Verse, Roman Harum und das Meer der Geschichten, Roman Heimatländer der Phantasie, Essays und Kritiken Osten, Westen, Kurzgeschichten Des Mauren letzter Seufzer, Roman Der Boden unter ihren Füßen, Roman Wut, Roman Shalimar der Narr, Roman Joseph Anton, Die Autobiografie Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, Roman Golden House, Roman

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Luka and the Fire of Life« bei Jonathan Cape, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage 2017 Copyright © 2010 by Salman Rushdie Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Umschlag: any.way Grafik Partner, Hamburg Coverfoto: Penguin Verlag, München Redaktion: Judith Schwab Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-21897-3V001

www.penguin-verlag.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Copyright1 - Schreckliches geschah in jener schönen, sternenhellen Nacht2 - Nobodaddy3 - Das linke Ufer des Zeitflusses4 - Die Insultana von Ott5 - Der Weg zu den drei feurigen Doughnuts6 - Ins Herz der Magie7 - Das Lebensfeuer8 - Wettlauf gegen die ZeitGlossar

M agische Länder, wohin der Blick fällt,I nnen, außen, in der Unterwelt.L egenden von Märchenreichen, ungezählt,A lle Geschichten aber machen klar:N ur durch Liebe wird der Zauber wahr.

· 1 ·

Schreckliches geschah in jener schönen,sternenhellen Nacht

Es war einmal im Lande Alifbay in der Stadt Kahani, da lebte ein Junge namens Luka, der hatte zwei Haustiere, einen Bären namens Hund und einen Hund namens Bär, weshalb jedes Mal, wenn er «Hund!» rief, der Bär gutmütig zu ihm gewackelt kam, und wenn er «Bär!» rief, sprang ihm der Hund entgegen und wedelte mit dem Schwanz. Hund, der braune Bär, konnte manchmal ein bisschen barsch und bärbeißig sein, doch war er ein toller Tänzer, der sich gern auf die Hinterbeine stellte, um mit Grazie und Anmut einen Walzer zu tanzen, eine Polka oder Rumba, den Watusi oder Twist, aber auch Tänze, die von nicht ganz so weit herkamen, den gestampften Bhangra, den gewirbelten Ghumar (für den er einen weiten, mit Pailletten besetzten Rock anzog), den berühmten Kriegertanz Spaw oder den Thang-ta, den Pfauentanz aus dem Süden. Bär der Hund war ein schokoladenbrauner Labrador, ein sanftmütiger, freundlicher Hund, wenn auch leicht aufbrausend und manchmal zu nervös. Er konnte überhaupt nicht tanzen und hatte, wie man so sagt, vier linke Füße, doch besaß er wie zum Ausgleich für diese Ungelenkigkeit die Gabe des absoluten Gehörs, weshalb er lauthals Lieder schmettern und ohne einen schiefen Ton die Melodien der bekanntesten Songs jaulen konnte. Bär der Hund und Hund der Bär waren für Luka schon bald mehr als nur Haustiere. Sie wurden zu seinen engsten Verbündeten und treuesten Beschützern, ja, sie passten so gut auf ihn auf, dass kein Mensch auch nur im Traum daran dachte, ihm Ärger zu machen, wenn sie in seiner Nähe waren, nicht einmal sein fieser Klassenkamerad Rattenschiet, der nur selten etwas Gutes im Schilde führte.

Wie aber kam es, dass Luka solch ungewöhnliche Gefährten fand? Nun, er war zwölf Jahre alt, als eines schönen Tages ein Zirkus in die Stadt zog, und zwar nicht irgendein Zirkus, sondern der GroRiFe, der Große Ring des Feuers höchstselbst, der gefeiertste Zirkus von ganz Alifbay mit seiner «berühmten, sagenhaften Feuerillusion». Deshalb war Luka ja auch so bitter enttäuscht, als ihm sein Vater, der Geschichtenerzähler Raschid Khalifa, sagte, sie würden nicht zur Vorstellung gehen. «Bei diesem Zirkus sind sie nicht nett zu den Tieren», erklärte Raschid. «Der GroRiFe mag seine Glanzzeiten gehabt haben, seither aber ist er tief gesunken.» Die Löwin habe Zahnfäule, erzählte Raschid seinem Sohn, das Tigerweibchen sei blind, die Elefanten seien hungrig, und auch dem Rest der Menagerie gehe es hundsmiserabel. Der Direktor des Großen Rings des Feuers sei der mächtige, furchterregende Captain Aag, den man auch den Flammengroßmeister nannte. Die Tiere fürchteten sich so sehr vor dem Knall seiner Peitsche, dass sie alle – die Löwin mit den Zahnschmerzen, die blinde Tigerin und die mageren Elefanten – immer wieder durch Reifen sprangen, sich tot stellten und Dickhäuterpyramiden bauten, weil sie Angst hatten, Aag könnte wütend werden, war er doch ein Mann, den man schnell wütend machen, aber nur selten zum Lachen bringen konnte. Und selbst die Löwin traute sich nicht zuzubeißen, wenn er ihr seinen Zigarre rauchenden Kopf ins klaffende Maul steckte, weil sie fürchtete, der Kopf könnte noch in ihrem Bauch beschließen, sie aufzufressen.

Raschid, der wie gewöhnlich ein grellbuntes Buschhemd (heute war es zinnoberrot) und dazu seinen geliebten, reichlich ramponierten Panamahut trug, holte Luka von der Schule ab und hörte sich auf dem Heimweg an, was es zu erzählen gab. Luka hatte vergessen, wie die Südspitze von Südamerika heißt, und sie im Erdkundetest «Hawaii» genannt. Dafür hatte er in der Geschichtsprüfung den Namen des ersten Präsidenten seines Landes gewusst und ihn richtig buchstabiert. Im Sport wurde er von Rattenschiet mit dem Hockeyschläger am Kopf getroffen, aber Luka hatte zwei Tore geschossen und die gegnerische Mannschaft besiegt. Außerdem hatte er endlich gelernt, mit den Fingern zu schnipsen, dass es richtig schön knallte. Also hatte der Tag seine guten wie schlechten Seiten gehabt und war bislang gar nicht mal übel gewesen, allerdings sollte er noch zu einem wirklich bedeutsamen Tag werden, denn in diesem Moment sahen sie den Zirkus zum Ufer des mächtigen Silsila ziehen, wo das große Zelt aufgebaut werden sollte. Der Silsila war ein breiter, träger, ekliger Fluss, der mit seinem schlammigen Wasser nahe an ihrem Haus vorbei und durch die ganze Stadt floss. Der Anblick der griesgrämigen Kakadus in ihren Käfigen und der traurigen Dromedare, die sich grunzend über die Straße schoben, rührte Lukas selbstloses junges Herz. Am allertraurigsten aber fand er den Anblick eines Käfigs mit einem hundeelendigen Hund und einem bekümmerten Bären, die beide jammervoll in die Gegend starrten. Den Schluss des Zugs bildete Captain Aag mit fiesen, schwarzen Piratenaugen und wildem Barbarenbart. Urplötzlich wurde Luka wütend (dabei war er ein Junge, der selten wütend wurde, aber schnell zum Lachen gebracht werden konnte). Als der Flammengroßmeister auf einer Höhe mit Luka war, schrie der Junge aus Leibeskräften: «Mögen deine Tiere dir nicht länger gehorchen und die Feuerringe dein blödes Zelt verbrennen!»

Ein unerklärlicher Zufall wollte es jedoch, dass der Augenblick, in dem Luka wütend aufschrie, einer jener seltenen Momente war, in dem sämtliche Geräusche der Welt zugleich verstummen, kein Auto mehr hupt, kein Motorrad mehr knattert, das Kreischen der Vögel in den Bäumen stockt und jedermann zu reden aufhört. In diese magische Stille hinein tönte Lukas Stimme so laut und deutlich wie Kanonendonner, und seine Worte schwollen an, bis der ganze Himmel voll davon war und sie vielleicht sogar den Weg bis zum unsichtbaren Palast der Schicksalsgöttinnen fanden, die manchen Menschen zufolge die Welt regieren. Captain Aag zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen, starrte Luka direkt in die Augen und musterte ihn mit solch brennendem Hass, dass es den Jungen fast von den Füßen gerissen hätte. Gleich darauf machte die Welt jedoch wieder ihren gewohnten Lärm, der Zirkus zog weiter, und Luka ging mit Raschid zum Abendbrot nach Hause. Lukas Worte aber hingen noch in der Luft und taten weiter ihr geheimes Werk.

An jenem Abend meldeten die Fernsehnachrichten, es sei im GroRiFe zu einem erstaunlichen Vorfall gekommen: Sämtliche Tiere hatten sich geweigert, im Zirkus aufzutreten. Zur Verblüffung der Clowns wie auch der Besucher hatten sich die Tiere in einem rappelvollen Zelt mit beispiellosem Trotz gegen ihren Direktor aufgelehnt. Der Flammengroßmeister stand inmitten der drei großen Feuerringe, bellte Befehle und ließ die Peitsche knallen, doch als er die Tiere langsam und entschlossen, wie eine Armee im Gleichschritt, auf sich zukommen sah und merkte, dass sie sich aus allen Richtungen näherten, um einen tierischen Ring der Wut um ihn zu schließen, da gingen die Nerven mit ihm durch; wimmernd sank er auf die Knie und bettelte um sein Leben. Das Publikum buhte ihn aus und warf Obst und Kissen in die Arena, dann härtere Sachen, Steine zum Beispiel, Walnüsse und Telefonbücher. Aag wandte sich ab und trat die Flucht an. Die Tiere öffneten eine Gasse, um ihn durchzulassen, und weinend wie ein Baby rannte er davon.

Das war der erste erstaunliche Vorfall; der zweite fand noch in derselben Nacht, wenn auch etwas später, statt. Gegen Mitternacht gab es ein Geräusch, ein Geräusch wie das Rauschen und Rascheln von einer Milliarde Herbstblätter, gar von einer Milliarde Milliarde Blätter, ein Geräusch, das sich vom Zirkuszelt am Ufer des Silsila bis zu Lukas Schlafzimmer ausbreitete und ihn weckte. Als er aus dem Fenster blickte, sah er, dass das Zelt auf dem Feld am Silsila in Flammen stand. Die großen Feuerringe brannten lichterloh, und das war keine Illusion.

Lukas Fluch hatte funktioniert.

Zum dritten erstaunlichen Vorfall kam es am nächsten Morgen. Ein Hund mit einer Marke um den Hals, auf der Bär stand, und ein Bär mit der Marke Hund klingelten an Lukas Tür – erst später sollte sich Luka fragen, wie sie eigentlich den Weg zu ihm gefunden hatten –, und Hund der Bär wirbelte und walzte vor Freude, während Bär der Hund ein Liedchen jaulte, bei dem es jedermann in den Füßen juckte. Luka, sein Vater Raschid Khalifa, seine Mutter Soraya und sein älterer Bruder Harun liefen zur Haustür, während Miss Oneeta, die über ihnen wohnte, von ihrer Veranda herabrief «Passt auf! Wenn Tiere singen und tanzen, dann ist bestimmt Zauberei im Spiel!» Soraya Khalifa lachte nur. «Die Tiere feiern ihre Freiheit», antwortete sie. Raschid jedoch setzte eine ernste Miene auf und erzählte seiner Frau von Lukas Fluch. «Mir scheint», meinte er, «wenn hier einer gezaubert hat, dann ist das unser junger Luka gewesen, und diese guten Tiere sind gekommen, um sich bei ihm dafür zu bedanken.»

Die übrigen Zirkustiere flohen in die Wildnis und wurden nie mehr gesehen, Hund und Bär aber waren gekommen, um zu bleiben. Sie hatten sich sogar etwas zum Futtern mitgebracht. Der Bär hatte einen Eimer Fische dabei, und der Hund trug ein Mäntelchen mit den Innentaschen voller Knochen. «Warum nicht?», rief Raschid Khalifa fröhlich. «Beim Geschichtenerzählen könnte ich gut ein bisschen Hilfe gebrauchen. Geht doch nichts über eine Tanzliednummer mit Hund und Bär, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln.» Und so war es abgemacht. Das letzte Wort behielt jedoch Lukas Bruder Harun. «Ich wusste, dass das bald passiert», sagte er an diesem Abend zu Luka. «Du hast das Alter erreicht, in dem man in unserer Familie die Grenze zur magischen Welt überquert. Jetzt bist also du mit einem Abenteuer an der Reihe – ja, endlich ist es so weit. Allem Anschein nach hast du nämlich gerade etwas in Bewegung gesetzt. Aber sei vorsichtig. Ein Fluch ist eine gefährliche Macht. Ich habe es nie geschafft, etwas so, na ja, etwas so Dunkles zuwege zu bringen.»

Mein eigenes Abenteuer, dachte Luka erstaunt, und sein großer Bruder lächelte, weil er nur zu gut Lukas geheime Eifersucht kannte, die eigentlich überhaupt nicht geheim war. Als Harun so alt gewesen war wie Luka, war er zum zweiten Erdenmond gereist, hatte sich mit Fischen, die in Reimen redeten, sowie mit einem Gärtner aus Lotuswurzeln angefreundet und dabei geholfen, den bösen Kultmeister Khattam-Shud zu stürzen, der das Meer der Geschichten vergiften wollte. Lukas bislang größtes Abenteuer hatte hingegen während der Großen Spielplatzkriege in der Schule stattgefunden, als er mit seiner Bande, dem Intergalaktischen Pinguin-Team, einen legendären Sieg über die von seinem gehassten Rivalen Adi Rattenschiet, alias Roter Hintern, angeführte Armee Seiner Kaiserlichen Hoheit davontrug, ein Sieg, bei dem Juckpulver und ein tollkühner Luftangriff mit Papierflugzeugen eine entscheidende Rolle spielten. Wie gut hatte es doch getan, Rattenschiet in den Spielplatzteich springen zu sehen, weil es ihn am ganzen Körper so unerträglich juckte, doch wusste Luka, dass er im Vergleich zu Haruns Taten bislang nur wenig erlebt hatte. Harun seinerseits kannte Lukas Sehnsucht nach einem echten Abenteuer, am besten einem, in dem fantastische Kreaturen, Reisen zu anderen Planeten (zumindest aber ein paar Satelliten) und Vzszes, also Vorgänge zu-schwierig-zum-Erklären, vorkamen. Bis heute aber hatte er stets versucht, Lukas Sehnsucht zu dämpfen. «Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst», hatte er ihn ermahnt, woraufhin Luka nur erwiderte: «Ehrlich gesagt, das ist ja wohl mit Abstand das Blödeste, was ich je von dir gehört habe.»

Normalerweise stritten sich die Brüder Harun und Luka allerdings selten; sie kamen sogar ungewöhnlich gut miteinander aus. Der Abstand von achtzehn Jahren war wie eine breite Kluft, in der sie viele jener Probleme verschwinden lassen konnten, zu denen es sonst manchmal zwischen Brüdern kommt, all die kleinen Verärgerungen, die dazu führen, dass der ältere Bruder den Kopf des kleineren schon mal unabsichtlich gegen eine Steinmauer haut oder aus Versehen ein Kissen auf sein schlafendes Gesicht presst, dass der jüngere Bruder auf die Idee kommt, die Schuhe des großen mit süßlichem, klebrigem Mango-Pickle zu füllen oder seine neue Freundin mit dem Namen einer Verflossenen anzureden, dann aber so zu tun, als hätte man sich nur versprochen. Nichts davon. Stattdessen brachte Harun seinem jüngeren Bruder allerhand Nützliches bei, zum Beispiel Kickboxen oder die Kricketregeln, oder er erklärte ihm, welche Musik cool war und welche nicht. Luka bewunderte seinen älteren Bruder ganz ungeniert und fand, er sah wie ein großer Bär aus – eigentlich sogar ein bisschen wie Hund der Bär –, oder auch wie ein gemütlicher, stoppeliger Berg mit einem breiten Grinsen oben am Gipfel.

Zum ersten Mal hatte Luka schon bei seiner Geburt für Erstaunen gesorgt, denn sein Bruder war bereits achtzehn Jahre alt, als seine Mutter Soraya mit einundvierzig Jahren einen zweiten prächtigen Jungen gebar. Ihr Mann Raschid suchte verblüfft nach Worten und fand deshalb, wie so oft, viel zu viele. Auf der Wöchnerinnenstation hob er seinen neugeborenen Sohn aus dem Bettchen, wiegte ihn sanft in den Armen und überschüttete ihn mit unsinnigen Fragen. «Wer hätte das gedacht? Wo kommst du nur her, kleiner Mann? Und wie hast du zu uns gefunden? Also, was sagst du dazu? Wie heißt du überhaupt? Und was willst du mal werden? Was wünschst du dir vom Leben?» Und auch für Soraya hatte er eine Frage. «Unglaublich», staunte er und schüttelte sein zur Glatze neigendes Haupt. «Aber sag mir, was hat so ein Wunder in unserem Alter bloß zu bedeuten?» Als Luka zur Welt kam, war Raschid nämlich bereits fünfzig Jahre alt, doch hörte er sich in diesem Augenblick wie jeder x-beliebige junge, grünschnäbelige Vater an, der kopflos und auch ein bisschen beklommen neuer Verantwortung entgegenblickt.

Soraya nahm ihm das Baby ab und beruhigte den frischgebackenen Vater. «Er heißt Luka», sagte sie, «und dieses Wunder bedeutet, dass wir einen Jungen zur Welt gebracht haben, der offenbar die Zeit zurückdrehen kann, denn er lässt sie in die umgekehrte Richtung fließen und macht uns wieder jung.»

Soraya wusste, wovon sie redete, denn während Luka älter wurde, schienen seine Eltern tatsächlich jünger zu werden. Als Baby Luka beispielsweise zum ersten Mal aufrecht saß, konnten seine Eltern keinen Augenblick länger stillsitzen. Als er zu krabbeln begann, hüpften sie herum wie zappelige Kaninchen. Als er laufen konnte, machten sie vor Freude Luftsprünge. Und als er zu reden begann, nun, da hätte man meinen können, der legendäre Sturzbach der Worte selbst sprudele aus Raschids Mund und der Mann würde nie mehr aufhören, sich über die großartigen Leistungen seines Sohnes zu verbreiten.

Der Sturzbach der Worte rauscht übrigens aus dem Meer der Geschichten hinab in den See der Weisheit, dessen Wasser, vom Anbeginn aller Tage erhellt, im Zeitfluss entspringt. Der See der Weisheit liegt, wie allgemein bekannt, im Schatten der Wissensberge, auf deren höchstem Gipfel das Lebensfeuer brennt. Diese wichtigen Informationen über die Geographie der magischen Welt – ja, deren bloßes Vorhandensein – waren jahrtausendelang von rätselhaften, vermummten Spielverderbern geheim gehalten worden, die sich selbst Aalim nannten, die Gelehrten, doch mittlerweile war das Geheimnis längst gelüftet, denn kein Geringerer als Raschid Khalifa hatte in vielen berühmten Geschichten der Öffentlichkeit davon erzählt. So wusste jedermann in Kahani sehr wohl, dass es parallel zu unserer Welt eine Welt der Magie gab und dass sich ihr nicht nur die Weiße und Schwarze Magie verdankten, sondern auch Träume, Albträume, Märchen, Fabeln, Lügen, Drachen, Feen, blaubärtige Dschinns, mechanische Vögel, die Gedanken lesen konnten, vergrabene Schätze, Musik, Geschichten, Hoffnungen, Ängste, die Gabe ewigen Lebens, der Engel des Todes, der Engel der Liebe, Pausen, Witze, gute Ideen, dämliche Ideen und jedes Happy End – wie überhaupt beinahe alles, was auch nur halbwegs interessant war. Die Aalim, die Wissen für etwas hielten, was ihnen allein gehörte und viel zu kostbar war, um es mit irgendjemandem zu teilen, konnten Raschid Khalifa jedenfalls nicht leiden, weil er die Katze aus dem Sack gelassen hatte.

Doch noch ist nicht der richtige Moment gekommen – auch wenn er noch kommen wird –, um über Katzen zu reden. Erst einmal muss von dem Schrecklichen berichtet werden, das in jener sternenhellen Nacht geschah.

Luka war Linkshänder, fand jedoch, dass mit ihm nichts verkehrt war, dafür aber so einiges mit dem Rest der Welt. Türknäufe wurden falsch herum gedreht, Gitarren falsch herum bespannt, Schrauben beharrten darauf, im Uhrzeigersinn eingeschraubt zu werden, und in den meisten Sprachen verlief die Schrift umständlich von links nach rechts, nur eine ausgenommen, die er einmal hatte lernen wollen, doch ausgerechnet daran war er seltsamerweise gescheitert. Töpferscheiben drehten sich in die falsche Richtung, Derwische könnten schneller wirbeln, wirbelten sie andersherum, und wie viel besser und vernünftiger wäre die Welt, dachte Luka, wenn die Sonne im Westen auf- und im Osten unterginge. Träumte er von einem Leben in dieser verkehrten Dimension, vom Leben auf dem alternativen Linkshänderplaneten Falschherum, auf dem er selbst normal und nichts Besonderes wäre, wurde Luka manchmal traurig. Wie die meisten Menschen war sein Bruder Harun Rechtshänder, und deshalb schien ihm vieles leichter zu fallen, was Luka einfach unfair fand. Soraya meinte, er solle den Kopf deshalb nicht hängenlassen. «Du bist ein Kind mit vielen Begabungen», sagte sie, «und vielleicht hast du ja recht, wenn du glaubst, dass der rechte Weg linksherum führt und dass wir Rechtshänder gar nicht recht haben, sondern falschliegen. Mögen deine Hände dich führen, wohin sie wollen. Lass sie nur nicht untätig sein. Geh linksherum, wann immer du willst, aber trödle nicht, bleib nicht links liegen.»

Nachdem der Fluch, den Luka gegen den Zirkus der Großen Feuerringe ausgestoßen hatte, auf solch spektakuläre Weise in Erfüllung gegangen war, raunte Harun seinem kleinen Bruder oft mit Gruselstimme zu, Lukas Linkshändigkeit lasse bestimmt auf dunkle, in ihm wogende Kräfte schließen. «Pass bloß auf», unkte er, «dass du nicht den Weg linker Hand gehst.» Der Weg linker Hand führte offenbar zur Schwarzen Magie, doch da Luka nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er sich – selbst wenn er es gewollt hätte – für diesen Weg entscheiden sollte, hielt er die Warnung seines Bruders für eine jener Bemerkungen, mit denen Harun ihn manchmal ärgerte, weil er einfach nicht kapierte, dass Luka es nicht mochte, wenn man ihn foppte.

Vielleicht wuchs Luka deshalb mit so großer Faszination und einem gewissen Einfühlungsvermögen für fremde Wirklichkeiten auf, weil er von einer Linker-Hand-Dimension träumte, weil sein Vater von Beruf Geschichtenerzähler war oder weil sein Bruder ein großes Abenteuer erlebt hatte, vielleicht gab es aber auch gar keinen bestimmten Grund außer dem, dass er eben so war, wie er war. Wenn er in der Schule im Theater auftrat und einen Buckligen spielte, einen Kaiser, eine Frau oder einen Gott, wusste er dermaßen zu überzeugen, dass alle, die ihn sahen, glaubten, dem Jungen sei vorübergehend ein Buckel gewachsen, er habe einen Thron bestiegen, das Geschlecht gewechselt oder sei zum Gott geworden. Und wenn er zeichnete und malte, erwachten die Geschichten seines Vaters zu wundersamem, phantasmagorischem, herrlich buntem Leben: die Geschichte von den elefantenköpfigen Gedächtnisvögeln etwa, die sich an alles je Geschehene erinnern konnten, oder die Geschichte von den Krankfischen im Zeitfluss, jene vom Land der Verlorenen Kindheit oder die von dem Ort-an-dem-niemand-wohnte. Dafür aber war er in Mathematik und Chemie nicht besonders toll. Seiner Mutter, die wie ein Engel singen konnte, ansonsten aber eher ein praktisch veranlagter, vernünftig denkender Mensch war, gefiel das nicht, doch sein Vater war begeistert, denn Raschid Khalifa fand Mathematik mindestens ebenso mysteriös wie Chinesisch, nur doppelt so uninteressant, und war als Junge durch die Chemieprüfung gefallen, weil er konzentrierte Schwefelsäure über seine Prüfungsaufgaben gekippt hatte und deshalb eine Arbeit mit lauter Löchern einreichen musste.

Für Luka war es ein Glück, dass er zu einer Zeit lebte, in der es eine schier unendliche Zahl von parallelen Realitäten als Spielzeug zu kaufen gab. Wie alle seine Freunde wuchs er damit auf, Flotten außerirdischer Raketen zu zerstören, hatte sich als kleiner Klempner auf eine Reise durch viele prallbunte, brennende, quirlige und vertrackte Levels begeben, um eine zimperliche Prinzessin aus dem Schloss eines Ungeheuers zu befreien, und sich in einen schallschnellen Igel verwandelt, in einen Straßenkämpfer, einen Rockstar oder mit Kapuzenmantel seine Stellung behauptet, während eine dämonische Gestalt mit Stummelhörnern und rotschwarzem Gesicht um ihn herumsprang und mit einem doppelendigen Laserschwert nach seinem Kopf schlug. Wie alle seine Freunde war er imaginären Gemeinschaften im Internet beigetreten, Elektro-Klubs, in denen er zum Beispiel die Identität eines Intergalaktischen Pinguins angenommen hatte, benannt nach einem Mitglied der Beatles, und später die eines vollkommen frei erfundenen, fliegenden Wesens, dessen Größe, Haarfarbe und sogar Geschlecht er sich aussuchen und nach Belieben ändern konnte. Wie alle seine Freunde besaß Luka eine breite Auswahl hosentaschengroßer Schachteln mit alternativen Wirklichkeiten und verbrachte einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Freizeit damit, die eigene Welt zu verlassen, um die prächtigen, farbenfrohen, faszinierenden und mit Musik untermalten Universen dieser Box zu betreten, Universen, in denen der Tod nur vorläufig blieb (bis man so viele Fehler beging, dass er endgültig wurde) und ein Leben etwas war, das man gewinnen oder ansparen konnte oder das einem wundersamerweise gewährt wurde, weil man den richtigen Pilz gegessen hatte, mit dem Kopf an den richtigen Stein gestoßen oder mitten durch einen magischen Wasserfall gelaufen war; und man konnte so viele Leben sammeln, wie es das Glück und die eigene Geschicklichkeit zuließen. Lukas kostbarster Besitz stand in seinem Zimmer neben einem kleinen Fernseher, die magischste aller Konsolen, jene, die ihm die buntesten, komplexesten Reisen in den Anderraum, die Anderzeit gewährte, in ein Reich vieler Leben und bloß zeitweiliger Tode: seine neue Muu. Und so wie Luka sich auf dem Schulhof in den mächtigen General Luka verwandelte, den Bezwinger der Armee Seiner Kaiserlichen Hoheit, Kommandant der gefürchteten LAF, der Luka Air Force aus lauter mit Juckpulverbomben beladenen Papierflugzeugen, so fühlte sich Luka, wenn er die Welt von Mathematik und Chemie hinter sich ließ, um das Reich seiner Muu zu betreten, zu Hause, wenn auch in völlig anderer Weise zu Hause, als er sich in seinem Zuhause zu Hause fühlte, und er wurde, zumindest in den eigenen Augen, zu Super-Luka, dem Großmeister aller Games.

Wieder einmal war es sein Vater Raschid Khalifa, der Luka beim Spielen unterstützte und ihm bei seinen Abenteuern mit lachhaftem Ungeschick zu helfen versuchte. Soraya gab sich naserümpfend unbeeindruckt, misstraute als Frau mit gesundem Menschenverstand der neuen Technologie und fürchtete, die diversen Zauberboxen könnten unsichtbare Wellen und Strahlen verströmen, die den Verstand ihres geliebten Sohnes verbrutzelten. Raschid tat ihre Bedenken leichthin ab, was Sorayas Sorgen nur noch vermehrte. «Keine Wellen! Keine Strahlen!», rief Raschid. «Sieh doch nur, wie gut sich seine Hand-Augen-Koordination entwickelt und wie er Probleme bewältigen lernt, Rätsel löst, Hindernisse überwindet und beim Aufstieg durch die verschiedenen Schwierigkeitslevels unglaubliche Fähigkeiten erwirbt.»

«Das sind nutzlose Fähigkeiten», gab Soraya zurück. «In der realen Welt gibt es keine Level, bloß Schwierigkeiten. Wenn er in seinen Spielen einen unbedachten Fehler macht, bekommt er eine neue Chance. Macht er aber in seinem Chemietest einen unbedachten Fehler, werden ihm Punkte abgezogen. Das Leben ist härter als jedes Videospiel. Das muss er begreifen lernen – und du übrigens auch.»

Raschid gab sich nicht geschlagen. «Sieh doch nur, wie flink er die Finger bewegt», sagte er. «In diesen Welten behindert es ihn gar nicht, dass er Linkshänder ist. Schon unglaublich, aber den Joystick bedient er mit beiden Händen fast gleich geschickt.» Soraya schnaubte genervt. «Hast du dir mal seine Handschrift angesehen?», fragte sie. «Werden ihm Igel und Klempner dabei auch helfen? Werden ihn Wii und PeEsPe durch die Schule bringen? Allein diese Namen! Dieses Gewiesel und Gepiesel! Klingt doch nach Klo!» Raschid lächelte nachsichtig. «Genau genommen heißen sie Konsolen, und man spielt sie mit Controllern», begann er, aber Soraya winkte ab und machte auf dem Absatz kehrt. «Komm mir bloß nicht auf diese Tour», sagte sie in ihrem vornehmsten Ton. «Sonst verliere ich noch meine Kontrolle und ihr eure Controller.»

Raschid Khalifa fand es nicht weiter überraschend, dass er an der Muu nicht zu gebrauchen war. Sein Leben lang hatte man ihn für seine flinke Zunge gerühmt, doch war er mit den Händen, ehrlich gesagt, schon immer ziemlich ungeschickt gewesen, diesen ungelenken, plumpen, butterfingrigen Dingern, denen alles zu entgleiten schien. Im Laufe ihrer zweiundsechzig Jahre hatten sie zahllose Sachen fallen lassen und noch mehr zerbrochen, und was sie nicht fallen lassen oder zerbrechen konnten, hatten sie verpfuscht und alles verschmiert, was er schrieb. Kurz und gut, er besaß einfach kein Händchen für irgendwas. Wenn Raschid einen Nagel in die Wand hauen wollte, kam ihm immer ein Finger in die Quere, und tat er sich weh, führte er sich wie ein Baby auf. Wenn Raschid seiner Frau anbot, ihr zur Hand zu gehen, bat sie ihn – meist ein wenig schnippisch –, bloß lieber keine Hand zu rühren.

Allerdings konnte sich Luka an eine Zeit erinnern, in der die Hände seines Vaters durchaus zum Leben erwacht waren.

Das stimmte, denn Luka war erst wenige Jahre alt gewesen, als die Hände seines Vaters oft recht behände wurden und regelrecht einen eigenen Willen entwickelten. Sie hatten sogar eigene Namen: Da gab es Niemand (die rechte Hand) und Unfug (die linke). Meist gehorchten sie und taten, was sie tun sollten, fuchtelten zum Beispiel in der Luft herum, wenn Raschid im Gespräch etwas deutlich machen wollte (er redete gern und viel), oder schoben ihm in regelmäßigen Abständen die Gabel in den Mund (er aß gern und viel). Sie waren sogar bereit, jenen Körperteil zu waschen, den Raschid nur Pe-O-Pe-O nannte, und das fand Luka wirklich sehr anständig von ihnen. Wie er allerdings bald feststellen musste, entwickelten sie oft auch einen kitzligen Eigensinn, vor allem wenn Luka in Reichweite war. Dann fing die rechte Hand seines Vaters manchmal an, ihn zu kitzeln, bis Luka flehte: «Aufhören, bitte aufhören!», doch sein Vater erwiderte: «Aber das bin nicht ich. Niemand kitzelt dich»; wenn aber auch noch die linke Hand mitmachte und Luka vor Lachen brüllend protestierte: «Aber du bist das, du kitzelst mich», antwortete sein Vater: «Weißt du was? Das ist Unfug.»

In letzter Zeit waren Raschids Hände jedoch langsamer geworden und schienen wieder nichts als Hände zu sein. Übrigens wurde der Rest von Raschid auch immer langsamer. Er ging langsamer als zuvor (obwohl er noch nie schnell zu Fuß gewesen war), aß langsamer (wenn auch nicht viel weniger) und, was am schlimmsten war, er redete sogar deutlich langsamer (dabei hatte er immer sehr, sehr schnell geredet). Außerdem dauerte es in letzter Zeit immer länger, bis er einmal lächelte, und manchmal glaubte Luka, dass auch die Gedanken im Kopf seines Vaters langsamer geworden waren. Selbst die Geschichten, die er erzählte, schienen sich langsamer als früher zu entwickeln, und das war schlecht fürs Geschäft. «Wenn er in diesem Tempo langsamer wird», erkannte Luka erschrocken, «dann kommt er bald völlig zum Stillstand.» Er fand die Vorstellung eines vollends reglosen Vaters – mitten im Satz erstarrt, mitten in der Bewegung, mitten im Schritt, an Ort und Stelle – entsetzlich, doch würde es wohl dazu kommen, wenn nicht bald etwas passierte, das Raschid Khalifa wieder auf Touren brachte. Also begann Luka sich zu fragen, wie man einen Vater beschleunigte; wo war der Schalter, mit dem man den abnehmenden Zoom wieder heranholte? Noch ehe er aber das Problem lösen konnte, geschah das Schreckliche in jener schönen, sternenhellen Nacht.

Einen Monat und einen Tag nach der Ankunft von Hund dem Bär und Bär dem Hund im Hause Khalifa hing der Himmel, der sich über der Stadt Kahani, dem Fluss Silsila und dem Meer jenseits davon wölbte, so wundersam voller Sterne, war gar so sternenhell, dass selbst die Wehmutsfische aus den Tiefen des Wassers an die Oberfläche kamen, überrascht nach oben sahen und ganz gegen ihren Willen zu lächeln begannen (und wer je einen lächelnden, überrascht dreinschauenden Wehmutsfisch gesehen hat, der weiß, was für ein unschöner Anblick das ist). Einem Zauber gleich funkelte der breite Streifen der Galaxie am klaren Nachthimmel und erinnerte jedermann daran, wie es in der guten alten Zeit gewesen war, ehe die Menschen die Luft verschmutzt hatten und den Himmel vor ihren Blicken verbargen. In der Stadt sah man wegen des Smogs die Milchstraße mittlerweile so selten, dass ihre Bewohner sich nun von Haus zu Haus zuriefen, um alle auf die Straße zu locken und gemeinsam nach oben zu schauen. Und sie strömten nach draußen und standen da, das Kinn in die Luft gereckt, als bäte die gesamte Nachbarschaft darum, einmal kräftig durchgekitzelt zu werden; Luka dachte kurz daran, sich zum Chefkitzler zu ernennen, besann sich dann aber eines Besseren.

Die Sterne schienen zu tanzen und sich in großen, komplizierten Kreisen zu drehen, wie Frauen auf einer Hochzeit, Frauen in ihren besten Kleidern, die weiß, grün und rot funkelten, weil sie mit lauter Diamanten, Smaragden und Rubinen bestickt waren, Frauen, die am Himmel tanzten, über und über mit feurigen Juwelen behängt. Und der Tanz der Sterne spiegelte sich im Tanz auf den Straßen der Stadt, denn mit Tamburinen und Trommeln kamen die Bewohner hervor und feierten, als hätte jemand Geburtstag. Bär und Hund feierten ebenfalls, jaulten und hüpften im Kreis herum, und Harun, Luka, Soraya und ihre Nachbarin, Miss Oneeta, tanzten mit. Nur Raschid hielt sich zurück. Er saß auf der Veranda, schaute zu, und niemand, nicht einmal Luka, konnte ihn dazu überreden, das Tanzbein zu schwingen. «Ich fühle mich so schwer», klagte er. «Meine Beine kommen mir wie Kohlensäcke vor und die Arme wie Holzklötze. Ich glaube, um mich herum hat die Schwerkraft zugenommen, denn ich werde zu Boden gedrückt.» Soraya meinte, er sei einfach nur ein Faulpelz, und nach einer Weile ließ auch Luka ihn sitzen und rannte hinaus zu dem funkelnden Fest unter den Sternen, während sein Vater eine Banane von dem Büschel aß, das er einem fahrenden Händler abgekauft hatte.

Die große Himmelsschau ging bis spät in die Nacht, und solange sie währte, schien sie ein Omen für etwas Gutes zu sein, für den Beginn einer unverhofft schönen Zeit. Luka sollte jedoch bald begreifen, dass sie nichts dergleichen war. Vielmehr schien sie eine Art Abschied gewesen zu sein, ein letztes Hurra, denn in dieser Nacht sank Raschid Khalifa, der legendäre Geschichtenerzähler von Kahani, in einen tiefen Schlaf, mit lächelndem Gesicht, einer Banane in der Hand und einem Glitzern auf den Brauen, ohne am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Er schlief einfach weiter, schnarchte leise vor sich hin, immer noch ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Er verschlief den ganzen Vormittag, dann den ganzen Nachmittag, dann wieder die ganze Nacht; und so ging es weiter, Vormittag um Vormittag, Nachmittag um Nachmittag, Nacht um Nacht.

Niemand vermochte ihn zu wecken.

Anfangs dachte Soraya, er sei nur übermüdet, und ermahnte jedermann, leise zu sein, um ihn nicht zu stören. Bald aber begann sie sich Sorgen zu machen und versuchte selbst, ihn zu wecken. Erst redete sie sanft auf ihn ein und murmelte Worte der Liebe. Dann strich sie ihm über die Brauen, küsste seine Wangen und sang ihm ein Liedchen vor. Schließlich verlor sie die Geduld, kitzelte ihn an den Fußsohlen, rüttelte ihn heftig an den Schultern und brüllte ihm, als ihr nichts weiter einfiel, aus Leibeskräften ins Ohr. Er brummte bloß ein zustimmendes «Mmmmh», und das Lächeln wurde ein wenig breiter, aber wach wurde er nicht.

Soraya setzte sich neben seinem Bett auf den Boden und vergrub den Kopf in den Händen. «Was soll ich nur tun?», klagte sie. «Er ist schon immer ein Träumer gewesen, aber jetzt hat er sich auf und davon gemacht und beschlossen, dass ihm seine Träume lieber sind als ich.»

Bald bekamen die Zeitungen Wind von Raschids Zustand, und auf der Suche nach einer Story schlichen und schleimten sich Journalisten durch Khalifas Nachbarschaft. Soraya verscheuchte die Fotografen, aber die Story wurde trotzdem geschrieben. Kein Blabla mehr für den Schah von Blah, trompeteten die Schlagzeilen ein wenig grausam. Er schläft wie Schneewittchen, nur nicht so schön.

Als Luka seine Mutter weinen und den Vater im Großen Schlaf versunken sah, war ihm, als ginge die Welt unter, zumindest ein großer Teil der ihm bekannten Welt. Sein Leben lang hatte er versucht, sich frühmorgens ins Schlafzimmer seiner Eltern zu schleichen und sie zu überraschen, bevor sie aufwachten, doch waren sie jedes Mal wach geworden, ehe er ihr Bett erreichte. Jetzt aber wachte Raschid nicht mehr auf, und Soraya war untröstlich. Wäre dies doch nur ein Spiel, dachte Luka manchmal, wäre es doch nicht die Wirklichkeit, sondern eine andere, fiktive Version der Realität, damit er auf Exit klicken und ins richtige Leben zurückkehren konnte. Doch es gab keinen Exit-Button. Er war zu Hause, auch wenn sein Zuhause plötzlich zu einem seltsam fremden und furchteinflößenden Ort geworden war, einem Ort ohne Lachen und, das war das Schlimmste, ohne Raschid. Es kam ihm vor, als ob etwas Unmögliches möglich, etwas Undenkbares denkbar geworden war, und dieses Schreckliche wollte Luka nicht einmal beim Namen nennen.

Als die Ärzte kamen, ging Soraya mit ihnen in das Zimmer, in dem Raschid schlief, und schloss die Tür. Harun durfte mit hinein, Luka aber musste bei Miss Oneeta bleiben, und das hasste er, weil sie ihn mit Süßigkeiten vollstopfte und seinen Kopf so fest an ihren Busen drückte, dass er sich darin verlor wie ein Reisender in einem unbekannten Tal, das nach billigem Parfüm roch. Ein wenig später kam Harun, um nach ihm zu sehen. «Sie wissen nicht, was mit ihm ist», erzählte er Luka «Er schläft einfach nur, doch sie können keinen Grund dafür finden. Also haben sie ihm einen Tropf gelegt, weil er nichts isst und trinkt, der Körper aber Nahrung braucht. Wenn er allerdings nicht wieder aufwacht …»

«Er wacht schon wieder auf!», rief Luka. «Er wird jeden Moment wieder wach!»

«Aber wenn er nicht wieder aufwacht», fuhr Harun fort, und Luka fiel auf, dass Harun die Hände zu harten Fäusten geballt hatte, ja, selbst in seiner Stimme schwang eine geballte Härte mit, «dann verkümmern die Muskeln und auch der ganze Körper, und dann …»

«Nichts ‹und dann›», unterbrach ihn Luka wütend. «Er ruht sich bloß aus, das ist alles. Er wurde immer langsamer, hat sich bedrückt gefühlt und braucht jetzt ein bisschen Ruhe. Ein Leben lang hat er sich um uns gekümmert, da musst du doch zugeben, dass er ein Recht darauf hat, sich eine kleine Pause zu gönnen, nicht wahr, Tante Oneeta?»

«Ja, Luka», erwiderte Miss Oneeta. «Bestimmt ist es, wie du sagst, mein Liebling, da bin ich mir fast sicher.» Doch dabei rollte ihr eine Träne über die Wange.

Dann wurde alles noch schlimmer.

An jenem Abend lag Luka wach im Bett und war zu verängstigt und unglücklich, um schlafen zu können. Bär der Hund lag am Fußende und jaulte und knurrte in seinem Hundetraum; Hund der Bär lag reglos auf seiner Strohmatte. Nur Luka war hellwach. Der Nachthimmel vor dem Fenster war nicht mehr klar, sondern von tiefhängenden Wolken bedeckt, so als runzelte er die Stirn, und in der Ferne grollte Donner, wie das zornige Brummen eines aufgebrachten Riesen. Plötzlich hörte Luka in der Nähe Flügel schlagen, und er sprang aus dem Bett, rannte ans Fenster, steckte den Kopf nach draußen und reckte den Hals, um in den Himmel hinaufzusehen.