Luthers Reformation - Harald Ihmig - E-Book

Luthers Reformation E-Book

Harald Ihmig

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Beschreibung

Die Reformation, "Deutschlands revolutionäre Vergangenheit" (K. Marx) hat Einstellungen und Verhältnisse über Jahrhunderte geprägt. Ihr Kern ist die Entdeckung einer bis ins Innerste reichenden Befreiung, " die allle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde." Martin Luther hat es gewagt, "die Gewissen gewiss zu machen im Glauben" und der Freiheit eies Christenmenschen in Beruf, Kirche, Staat und Wirtschaft Gestalt zu geben. Er hat das mittelalterliche System der Papstkirche, das sich die Angst der Menschen um ihr Seelenheit zunutzte machte, aus den Angeln gehoben. Er hat sih jedoch auch in folgenreiche Widersprüche mit autoritären Ordnungsstrukturen verstrickt. Harald Ihmig, em. Professor für Theologie an der Ev. Hochschule in Hamburg, stellt an aufschlussreichen Quellentexten und in kritischer Analyse Luthers Lehre in sein Leben, sein Leben in die Konflikte seiner Zeit und den reformatorischen Umbruch in die Spannung zwischen christlichem Ursprung und unserer Existenz in einer markwirtschaftlichen Gesellschaft. Luther wird nicht glorifiziert und abgeurteitl, seine Reformation wird in ihrer Widersprüchlichkeit transparent gemacht. Auch seine Gewaltesxzesse gegen Abweichende, Bauern, Täufer und Juden, werden in ihre religiösen Hintergründe hinein verfolgt. Luther hat sich früh und wenig beachtet der Kommerzialisierung des Lebens widersetzt. Das könnte zukunftsweisend sein für eine Abkehr von dern Götzenr seiner und unserer Zeit, von Geld, Geltung und Gewalt, und für eine Hinkehr zur Freigebigkeit der Liebe, als Zusage und Zuwendung.

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Meinen Studentinnen und Studenten

Inhalt

Vorwort

Quellentexte 0: Luthers Kindheit

Quellentexte I: Die Klosterzeit

Kapitel I: Luthers Grunderfahrung

Was bewegt Luther, ins Kloster zu gehen?

Versagen der mittelalterlichen Heilsmittel

Luthers Anfechtungen (Krisen)

Der reformatorische Durchbruch: Gerechtigkeit Gottes, Gesetz & Evangelium, gerecht und Sünder zugleich, bleibende Anfechtung

Anfragen

Anhang: Orientierungsdaten

Quellentexte IIa: Konzeption von christlicher Freiheit

Quellentexte IIb: Auffassung von Beruf und Arbeit

Kapitel II: Konzeption von christlicher Freiheit

Kontext

Freheit und Dienstbarkeit

Befreiung wovon?

Befreiung wodurch?

Befreiung wozu?

Mönchtum, Almosen, Bettel, Beruf, Arbeit

Fragwürdiges in der Konzeption

Quellentexte III: Das Werk Christi

Kapitel III: Luthers Auffassung vom Heil

Der Mensch vor Gott, dem Richter

Rechtfertigung des Sünders

Sündenvergebung als Nichtanrechnung

Zurechnung der Gerechtigkeit Christi

Das Heil als innere Gegenwart Christi

Heil als Heilung

Sühnopfertod und stellv. Strafleiden

Heil durch Sieg über die Todesmächte

Luthers Deutung des Todes Jesu

Gottes Zorn – real oder Projektion?

Quellentexte IV: Luthers Reformation der Kirche

Kapitel IV: Grundsätze und Problematik

Eigenart des Ansatzes

Der Angriff auf Messe und Priestertum

Konturen der Anfänge: Bibelübersetzung, Vollmacht der Laien, Reformation durch das Wort allein, Freiheit der Auseinandersetzung, Inkonsequenzen

Widersprüche bei der Verwirklichung: Pfarrherrliche Reglementierung. Verfolgung der Täufer

Quellentexte V: Luthers politische Konzeption

Kapitel V: Luthers politische Konzeption

Von weltlicher Obrigkeit

Luthers Stellungnahme im Bauernkrieg

Weiterentwicklung des Widerstandsrechts

Luther wider die Türken

Luther über die Juden

Kapitel VI: Kommerzialisierung des Lebens

Luthers Frontstellung

Werterwerb oder Liebe

Wucher oder Leben gratis

System der Interessen und Verkrümmung

Vorwort

"Glaube nicht, die Sache des Evangeliums könne ohne Lärm, Ärgernis und Aufruhr getrieben werden".

Die Reformation, "Deutschlands revolutionäre Vergangenheit" (K. Marx), hat der ev. Kirche bis heute geltende Leitlinien gesetzt, sie hat Einstellungen und Verhältnisse über Jahrhunderte geprägt. Luther selbst ist allerdings nicht unschuldig daran, dass andersartige Ordnungsvorstellungen oft wirksamer geworden sind als ihr Kern: die bis in Innerste reichende Erfahrung einer Befreiung, "die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde". Auf diesen Kern konzentriert, habe ich in dem folgenden Text seine Lehren in sein Leben, sein Leben in die Konflikte seiner Zeit und den reformatorischen Umbruch in die Spannung zwischen christlichem Ursprung und unserer Existenz in einer markwirtschaftlich- kapitalistisch bestimmten Gesellschaft gestellt.

Der Text ist als Nachschrift zu Luther-Seminaren entstanden. Es soll einen eigenen Einblick in Luthers Werden, Wirken und seine Sprache geben und durchgehend zu einer Auseinandersetzung reizen. Deshalb habe ich Luthers Theologie und Entscheidungen dicht an ausgesuchten Quellentexten entwickelt, die nicht umfassend sein konnten, wohl aber knapp und treffend sein sollten.

Luther soll nicht glorifiziert und nicht abgeurteilt werden; er soll als ein Mensch erkennbar werden, der, was er lehrte, selbst durchlebt und durchlitten hatte und "immer tiefer hineingraben musste"; der einen mutigen und problematischen Weg nach außen gegangen ist, der Freiheit eines Christenmenschen in Beruf, Kirche, Wirtschaft und Staat Gestalt zu geben; der ein Maß gesetzt hat und an dem man sich reiben kann. Problematische Züge werden bis in die theologische Grundposition hin verfolgt, nicht verschwiegen werden die Gewaltexzesse gegen revoltierende Bauern, die abweichenden Täufer und die Juden.

Ich habe die Fülle des Stoffes auf 6 Themenschwerpunkte konzentriert1 Die Originalzitate gehen jeweils voran.

I. Luthers Grunderfahrung.

Kindheit und Klosterzeit

II. Luthers Botschaft

Das Befreiungsmodell und seine sozialen Folgen

III. Luthers Auffassung vom Heil

IV. Luthers Reformation der Kirche

Grundsätze und Problematik ihrer Verwirklichung

V. Luthers politische Konzeption

Zwei Reiche, Bauernkrieg, Widerstandsrecht, Stellungnahme zu Türken und Juden

VI. Luther gegen die Kommerzialisierung des Lebens

Da ich in jedem Abschnitt Darstellung, Analyse und Kritik verbinde, habe ich auf eine abschießende Zusammenfassung verzichtet.

1 Für eine Ergänzung dieser Auswahl durch eine detaillierte Bibliographie verweise ich auf das vorzügliche, dreibändige Werk von Martin Brecht, 21981 ff.

Abkürzungen: WA=Weimarer Lutherausgabe, Tr= Tischreden, Br=Briefwechsel.

ü=übersetzt (aus dem Lateinischen); akt.=sprachlich aktualisiert

Quellentexte 02: Luthers Kindheit

1. Eltern

1.1. Ich bin ein Bauernsohn. Mein Urgroßvater, Großvater, Vater sind rechte Bauern gewesen. Ich hätte eigentlich ... ein Vorsteher, ein Schultheiß und was sie sonst im Dorf haben, irgendein oberster Knecht über die andern werden müssen. Danach ist mein Vater nach Mansfeld gezogen und dort ein Berghäuer geworden. Dorther bin ich. Dass ich aber Bakkalaureus und Magister wurde, dann das braune Barett ablegte, andern überließ und Mönch wurde, habe ich damit nicht große Schande angerichtet, was meinen Vater bitter verdross -, und dass ich dann trotzdem dem Papst in die Haare geriet und er mir wiederum, dass ich eine entlaufene Nonne zum Weib nahm, - wer hat das in den Sternen gelesen? Wer hätte mir das vorausgesagt?

TR 5,6250, 1530-35

1.2. Mein Vater ist in seiner Jugend ein armer Häuer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken heimgetragen. So haben sie uns erzogen. Sie haben harte Mühsal ausgestanden, wie sie die Welt heute nicht mehr ertragen würde.

TR 3,2888a, Jan.1533

1.3. Meine Eltern haben mich in strengster Ordnung gehalten, bis zur Verschüchterung. Meine Mutter stäupte mich um einer einzigen Nuss willen, bis Blut floss. Und durch diese harte Zucht trieben sie mich schließlich ins Kloster; wiewohl sie es herzlich gut gemeint haben, wurde ich dadurch nur verschüchtert. Sie vermochten keine Unterschiede zu machen zwischen Anlage und Strafen, wie diese abzumessen seien. Man muss so strafen, dass der Apfel bei der Rute sei. Denn es ist schlimm, wenn Kinder und Schüler das Zutrauen zu Eltern und Lehrern verlieren.

TR 3,3566A, März/Mai 1537

1.4. Man soll die Kinder nicht zu hart stäupen. Mein Vater stäupte mich einmal so sehr, dass ich vor ihm floh und dass ihm bange war, bis er mich wieder zu sich gewöhnt hatte

TR2,1559, Mai 1532

1.5. Wenn eine Mutter einmal mit der Rute kommt, so ist’s so scharf, dass es alle Wohltat wegnimmt .

WA 25,460,1528

1.6. Mein Vater war einmal zu Mansfeld todkrank, und da der Pfarrer zu ihm kam und ihn vermahnte, dass er der Geistlichkeit etwas bescheiden sollte, da antwortete er aus einfältigem Herzen: Ich habe viel Kinder, denen will ich’s lassen, die bedürfen’s besser.

WA 47, 379, 1537/40

1.7. Sollte ich noch einmal in meines Vaters Haus kommen, so würde mich vieles anders anschauen als einst. Das Beste, dass aus meines Vaters Gut geraten ist, ist, dass er mich erzogen hat.

TR 2,2756 A, 1532

1.8. Denn Gott hat mich also gesetzt, dass ich meiner Mutter Liedlein singen muss: Mir und dir ist niemand hold, das ist unser beider Schuld.

WA 38,338,1535

1.9. Von Kindheit an war ich falsch instruiert worden, so dass ich vor Schrecken erblassen musste, wenn ich den Namen Christus auch nur hörte. Ich war überzeugt, dass er ein Richter sei.

WA 40,1,298, 1525

1.10 Aber Traurigkeit ist uns angeboren…

TR 2,2342h, Dez.1531

2. Schule

2.1. Vorzeiten ward die Jugend allzu hart erzogen, dass man sie in der Schule Märtyrer geheißen hat.

TR 6,7032, 1539

2.2. Es ist ein übles Ding, wenn Kinder und Schüler das Vertrauen zu Eltern und Lehrern verlieren. So gab es zum Beispiel stupide Schulmeister, die durch ihre Schroffheit viele treffliche Anlagen verdarben.

TR 3,3566 A, März/Mai 1537

2.3. Manche Präzeptoren sind so grausam wie die Henker. So wurde ich einmal vor Mittag fünfzehnmal geschlagen, ohne jede Schuld, denn ich sollte deklinieren und konjugieren und hatte es (doch noch) nicht gelernt.

TR 5,5571, Frühj. 1543

2.4. Es könnte sein, dass die Gemüter durch die ständigen Drohungen und die Grausamkeit der Lehrer, mit der sie damals zu wüten pflegten, eingeschüchtert waren und durch einen plötzlichen Schrecken leicht in Angst versetzt wurden.

WA 44,548,1554

2.5. Als ich in Erfurt ein junger Magister war, wo ich durch die Anfechtung der Traurigkeiten immer traurig einherging, widmete, ich mich darum sehr der Lektüre der Bibel.

TR 3,3593,1537

3. Konflikt mit dem Vater

3.1. Er begann die Geschichte zu erzählen, wie er das Gelübde abgelegt hatte, nachdem er nämlich zuvor knapp vierzehn Tage unterwegs gewesen war. Bei Stotternheim nicht weit von Erfurt, sei er durch einen Blitz derart erschreckt worden, dass er in seiner Angst ausgerufen habe: Hilf du, Sankt Anna, ich will ein Mönch werden! Nachher reute mich das Gelübde, und viele rieten mir ab. Ich aber beharrte dabei und am Tage vor Alexius lud ich die besten Freunde zum Abschied ein, damit sie mich am nächsten Tag ins Kloster geleiteten. Als sie mich aber zurückhalten wollten, sagte ich: Heute seht ihr mich zum letzten Mal. Da gaben sie mir unter Tränen das Geleit. Auch mein Vater war sehr zornig über das Gelübde, doch ich beharrte bei meinem Entschluss. Niemals dachte ich das Kloster zu verlassen. Ich war der Welt ganz abgestorben.

TR 4,4707, 1539

3.2. Als ich ein Mönch wurde, da wollte mein Vater toll werden. Er war ganz unzufrieden und wollte mir's nicht gestatten; gleichwohl wollt ich es mit seinem Wissen und Willen tun. Als ich's ihm schrieb, antwortete er mir schriftlich wieder und nannte mich "Du". Vorher redete er mich mit "Ihr " an, weil ich Magister war; nun sagte er mir alle Gunst und väterlichen Willen ab. Da kam eine Pestilenz, so dass ihm zwei Söhne starben, und er erhielt Botschaft, ich sollte auch gestorben sein... Danach hielten und trieben sie meinen Vater an, er sollte auch etwas Heiliges zu seiner Ehre opfern, dass ich in den heiligen Orden träte und ein Mönch würde. Der Vater hatte viel Bedenken, er wollte nicht, bis er überredet ward, und ergab sich dann schließlich darein mit unwilligem, traurigem Willen.

Val. Bavarus, Rapsodiae ex ore D.M.Lutheri, 1549, Bd. II,752

3.3. Als ich meine erste Messe halten sollte, da schickte mein Vater 20 Gulden in die Küche und kam mit 20 Personen, die er freihielt.

TR 2,1558, 1532

3.4. Er wurde Mönch ganz gegen den Willen des Vaters, der auch, als er die Primiz feierte und den Vater fragte, warum er über seinen Schritt erzürnt sei, ihm bei Tisch die Antwort entgegenhielt: "Wisset Ihr nicht, dass geschrieben steht "Ehre Vater und Mutter? " Als er sich aber entschuldigte, er sei durch das Gewitter so erschreckt worden, dass er gezwungenermaßen Mönch geworden sei, antwortete er? "Schauet auch zu, dass es nicht ein Gespenst sei.

TR 1,623,1533

3.5. Es geht jetzt fast in das 16. Jahr meines Mönchtums, dass ich ohne dein (des Vaters) Wollen und Wissen auf mich nahm. Du sorgtest dich aus väterlicher Liebe um meine Torheit, da ich schon ein junger Mann war von 20 Jahren, also...mit der Hitze der Jugend ausgestattet; denn du hattest aus vielen Beispielen gelernt, dass diese Lebensweise manchem zum Unheil geworden sei. Du hattest aber vor, mich durch eine ehrenvolle und reiche Ehe zu binden. Diese Sorge bekümmerte dich, und dein Zorn auf mich war eine Zeitlang unversöhnlich. Vergebens redeten dir Freunde zu, wenn du Gott etwas opfern wolltest, solltest du dein Liebstes und Bestes opfern... Endlich gabst du nach und unterwarfst deinen Willen Gott, ohne deine Sorge um mich aufzugeben. Ich erinnere mich nämlich noch ganz genau, wie du schon versöhnt mit mir redetest, und ich dir versicherte, durch Schrecken vom Himmel gerufen zu sein. Denn nicht gern und freudig wurde ich Mönch, noch viel weniger um des Bauches willen, sondern von Schrecken und Angst vor dem plötzlichen Tode umzingelt, leistete ich ein erzwungenes und aufgenötigtes Gelübde. Da sagtest du: "Wenn es nur keine Täuschung und Blendwerk ist!

Hans und Margaret Lucas Cranach d. Ä.

Dieses Wort schlug in mich ein und setzte sich in meinem Innersten fest, als hätte Gott es durch deinen Mund gesprochen. Aber ich verschloss, so fest ich konnte, mein Herz gegen dich. und dein Wort.

Du fügtest noch etwas hinzu. Als ich dir in kindlichem Vertrauen wegen deines Zornes Vorhaltungen machte, wiesest du mich sofort zurecht und trafst mich so genau und geschickt, dass ich in meinem ganzen Leben kaum von einem Menschen ein Wort gehört habe, das stärker in mir nachgeklungen und gehaftet hat: "Hast du nicht auch gehört, dass man den Eltern gehorchen soll?" Aber ich, sicher in meiner Gerechtigkeit, hörte dich als einen Menschen und verachtete dich kühn; denn von Herzen konnte ich das Wort eigentlich nicht verachten.... Die göttliche Autorität steht auf deiner Seite, auf meiner Seite die menschliche Anmaßung… Weder du noch ich haben damals gewusst, dass die Gebote Gottes allem vorzuziehen sind…

Willst du mich noch herausziehen? Noch bist du ja Vater, und noch bin ich Sohn, und alle Gelübde haben nichts mehr zu bedeuten... Damit du dich nicht rühmest, ist der Herr dir zuvorgekommen und hat selbst mich herausgezogen. Denn was macht es aus, ob ich Kutte und Tonsur trage oder ablege?... Mein Gewissen ist befreit, und das heißt vollkommen frei geworden sein.

So bin ich noch Mönch und doch nicht mehr Mönch, eine neue Kreatur, nicht mehr des Papstes, sondern Christi...Der, welcher mich herausgezogen hat, besitzt ein größeres Recht auf mich als du... Er ist, wie man sagt, mein Immediatbischof, Abt, Prior, Herr, Vater und Lehrer… So hoffe ich, er habe dir einen Sohn geraubt, damit er durch mich vielen anderen Söhnen zu helfen beginne. Das solltest du nicht nur gern ertragen, sondern dich darüber von Herzen freuen, wie ich auch ganz sicher überzeugt bin, dass du nichts anderes tust.

Brief an den Vater vom 21.11.1521, WA 8,573f.

2 Texte z.T. akt.

Quellentexte I: Die Klosterzeit

Lucas Cranach d. Ä.

1. Theologie und Erfahrung

1.1. Ich hab mein theologiam nit auff ein mal gelernt, sondern hab ymmer tieffer und tieffer grubeln müssen; da haben mich meine tentationes (Anfechtungen) hin bracht, quia sine usum non potest disci (weil man ohne Übung nichts lernt).

TR 1,352, 1532

1.2. Wer keine Versuchungen kennt, was weiß der schon? Wer keine Erfahrung hat, was weiß der schon? Wer nicht selbst erfahren hat, was Versuchungen sind, der gibt nicht Wissen, sondern bloß Gehörtes, Gesehenes oder, was besonders gefährlich ist, Erdachtes weiter. Also: wer gewiss sein und anderen verlässlich raten will, der muss zuerst selbst erfahren werden, selbst sein Kreuz tragen und durch Beispiel vorangehen, und dann wird er soviel Gewissheit erlangen, dass er auch anderen Nutzen bringen kann.

WA 4, 95, 1513-16

2. Das Motiv für den Eintritt ins Kloster

2.1. Ich bin nicht gerne und begierig Mönch geworden, und schon gar nicht um meines Bauches willen, sondern von Angst und Schrecken vor einem plötzlichen Tod gepackt, habe ich ein erzwungenes, unausweichliches Gelübde geleistet.

De vot. mon.1521, WA 8, 573f.

2.2. Obwohl ich durch Gewalt Mönch geworden bin gegen den Willen meines Vaters, der Mutter, Gottes und des Teufels, habe ich in meiner Mönchszeit den Papst so ehrfurchtig geehrt, das ich allen papisten wollde trotz bitten, die es waren und die es sind. Denn ich habe das Gelübde getan nicht um des Bauches, sondern um meiner Seligkeit willen und habe unsere Regeln unbeugsam streng gehalten.

TR 4,4414, 1539

2.3. Ich bin drumb auch ins kloster geloffen, auf das ich nicht verloren wurde, sondern das ewige leben hette. Ich wollte mir selbst rathen und helffen mit der kappen.

WA 47; 84,1538-40

2.4. Ich verließ meine Eltern und Verwandten und warf mich gegen ihrer aller Willen in die Kutte und ins Kloster. Denn ich war überzeugt, dass ich durch diese Art von Leben und jene hässlichen Arbeiten Gott großen Gehorsam erweisen würde.

WA 44, 782, 1535-1545

2.5. Ich wurde darum Mönch, weil ich mit meinen Werken den strengen Richter versöhnen wollte.

WA 49, 713, 1545

2.6. Das ist unsere lehre gewesen, das wen einer getaufft were und nach seiner Thauffe eine todtsunde thette, so were Christus ihme nichts nutze. Wiltu aber selig und durch die Busse from werden, so hebe an und werde ein Monch und martere dich mit fasten und beten, biss du Gott dir wider zum freunde machest- Darauff bin ich auch ins kloster gangen.

WA 47, 575, 1537-40

3. Das existentielle Grundproblem

3.1. Denn ich bin selbs funffzehen jar ein Mönch gewest, on was ich zuvor gelebt, und vleissig alle jhre bücher gelesen und alles gethan, was ich kunde, noch hab ich mich nie können ein mal meiner Tauffe trösten, Sondern jmer gedacht; 0 wenn wiltu ein mal from werden und gnug thun, das du einen gnedigen Gott kriegest?

Und bin durch solche gedanken zur Möncherey getrieben und mich zu martert und zu plagt mit fasten, frieren und strengem leben.

Aus den Predigten von der hlg. Taufe 1534, WA 37,661

3.2.Im kloster hatten wir gnung zu essen und zu trincken, aber do hatten wir leiden und marter am hertzen und gewissen, und der Seelen leiden ist das aller gröste. Ich bin offt fur dem namen Jhesu erschrocken, und wen ich ihnen anblickte am Creutz, so dunkt mich, ehr wahr mir als ein blitz, und wen sein name genennet wurde, so hette ich lieber den Teuffel horen nennen, dan ich gedachte, ich muste so lange gute werck thun, biss Christus mir dardurch zum freunde und gnedig gemacht wurde. Im kloster gedacht ich nicht an weib, geltt oder gutth, sondern das Hertz zitterte und zappeltte, wie gott mir gnedig wurde. Den ich war vom glauben abgewichen und liess mich nicht anders duncken, dan ich hette Gott erzurnet, den ich mit meinen guten wercken mir widerumb versunen muste

Aus Predigten über Mt 18-24, WA 47, 589f.,1537-40

3.3. Ich nahm die-Sache (Papsttum) ernst als einer, der sich vor dem jüngsten Tag entsetzlich fürchtete und dennoch aus tiefstem Inneren gerettet werden wollte.

WA 54,179,1545 (im Rückblick auf die Zeit vor 1519)

3.4. Wie ich an mir selbs gefühlet habe, da ich wollt ein heiliger Monch sein und am frommsten war, daß ich viel lieber hätte von allen Teufeln in der Hölle gehort, denn von dem jüngsten Tag, und mir die Haar gen Berge stunden, wenn ich daran gedacht...

EA 51, 146,1534.

3.5. Ich fürchtete den jüngsten Tag des Zornes Gottes und die Hölle und suchte überall Hilfe; ich rief die heilige Maria, Sankt Christophorus an, und je mehr ich mich mühte, desto mehr verfing ich mich im Götzendienst. Ich konnte Christus nicht sehen, weil die Scholastiker mich so gelehrt hatten: die Vergebung der Sünden und das Heil von unseren Werken zu erhoffen.

WA 40/III, 719, 1550, ü

3.6. Ich hab mich im Bapstumb mehr fur Christo gefurcht dan fur dem Teuffel. Ich gedachte nicht anders, denn Christus sesse im Himel als ein zorniger Richter, wie ehr den auch auff einem Regenbogen sitzendt gemahlet wird. Ich kondte ihnen nicht anruffen, jhn seinen namen nicht wohl nennen horen und muste Zuflucht haben zu unser lieben Frauen und unter ihren Mantel kriechen, meinen zwolffbothen St. Thoma anruffen, und gedachte darnach: Ach, ich will beichten, Mess halten und Gott selbst mit meinen guten wercken zu frieden stellen.

WA 47,275; 1537

3.4. Als ich in Erfurt die erste Messe feierte (2.5.1507) und die Worte las: "Ich opfere dir, dem lebendigen, ewigen Gott ", entsetzte ich mich derart, dass ich vom Altar weglaufen wollte und ich hätte es getan, wenn nicht mein Prior mich zurück gehalten hätte. Denn ich dachte: Wer ist der, mit dem du redest?

TR 5, 5357. 1540

4. Das Versagen der Mönchswerke

4.1. Das ist jhrer aller predigt: Wenn ein fromer monch lebt nach seiner regel, so wird er, ob Gott wil, selig... Denn ich bin auch ein solcher fromer Mönch gewest wol funffzehen jahr, noch habe ichs noch nie kein mal können dazu bringen mit alle meinen Messen, beten, fasten, wachen, keuscheit, das ich hette konnen sagen: Nu bin ich gewis, dass mir Gott gnedig sey...

WA 36, 505f.; 1532

4.2. Als auch ich selbs bin zwentzig jar ein Mönch gewesen und mich gemartert mit beten, fasten, wachen und frieren, das ich allein fur frost möcht gestorben sein, Und mir so wehe gethan, als ich nimmer mehr thun wil, ob ich gleich kündte. Was hab ich damit gesucht anders denn Gott? der da solt ansehen, wie ich meinen Orden hielt und so streng leben füret? Gieng also jmer im Trawm und rechter Abgötterei. Denn ich gleubte nicht an Christum, sondern hielt in nicht anders, denn fur einen strengen, schrecklichen Richter, wie man jn malet auff dem Regenbogen sitzend. Darumb suchet ich andere fürbitter, Mariam und andere Heiligen; item meine eigen werck und verdienst des Ordens.

WA 45, 482, 1537

4.3 War is's, Ein fromer Münch bin ich gewest, Und so gestrenge meinen Orden gehalten, dass ichs sagen thar: ist jhe ein Münch gen himel kommen durch Müncherei, so wolt ich auch hinein komen sein. Das werden mir zeugen alle meine Klostergesellen, die mich gekennet haben. Denn ich hette mich (wo es lenger geweret hätte) zu tod gemartert mit wachen, beten, lesen und ander erbeit.

WA 38, 143, 1533)

4.4. Ich habe auch wollen ein heiliger fromer Mönch sein und mit grosser andacht mich zur Messe und zum gebet bereitet.. Aber wenn ich am andechtigsten war, so gieng ich (als) ein zweiveler zum Altar, ein zweiveler gieng ich wider davon. Hatte ich meine Busse gesprochen, so zweivelt ich doch; hatte ich sie nicht gebetet, so verzweivelt ich aber(mals). Denn wir waren schlecht (einfach) in dem Wahn, wir künden nicht beten und würden nicht erhöret, wir weren denn gantz rein und on sünde wie die Heiligen im Himmel.

WA 22,305f. ;153

4.5. Ich meinte als Mönch sofort, es sei um mein Heil geschehen, wenn ich einmal eine Begierde des Fleisches spürte, d.h. eine böse Regung, Lust, Zorn, Hass, Neid etc. gegenüber einem Bruder. Ich versuchte vieles, beichtete täglich etc. Aber ich erreichte überhaupt nichts, denn immer kehrte die Begierde des Fleisches wieder. Deshalb konnte ich keine Ruhe finden, sondern wurde ständig von diesen Gedanken gepeinigt: du hast diese oder jene Sünde begangen, du bist von Neid, von Ungeduld befallen etc.

WA 40 II, 91f.,1535

4.6. Absolutionsformel aus Luthers Kloster:

Das Verdienst des Leidens unseres Herrn Christi und der seligen Jungfrau Maria und aller Heiligen, das Verdienst des Ordens, die Belastung der Frömmigkeit (des Mönchstandes), die Demut des Bekenntnisses, die Zerknirschung des Herzens, die guten Werke, die du für Christi Liebe getan hast und tun wirst, mögen dir gereichen zur Vergebung deiner Sünden, zur Mehrung des Verdienstes und der Gnade und zur Belohnung des ewigen Lebens.

WA 40 I,264f.,1535

4.7. In der Ohrenbeichte wurde bei den Papisten nur auf das äußere Werk gesehen. Da war ein solch Lauffen, dass man sich niemer kont sat beichten. Fiel einem noch eine Sünde ein, so lief man wieder zurück...Und Dr. H. Schurff wurde so sehr gepeinigt, dass er drei-, viermal zum Priester vor dem Sakrament zurücklief. Ja ihm beim Darreichen am Altar noch einen Skrupel ins Ohr sagte. Wir machten die beichtveter müde, so machten sie uns bange mit ihren bedingungsweisen Lossprechungen: "Ich spreche dich los durch das Verdienst unseres Herrn Jesu Christi wegen der Reue des Herzens, des Mundes Bekenntnis, der Genugtuung deiner Werke und der Fürsprache der Heiligen usw." Die Bedingung richtet alles vnglück an. Denn dies alles taten wir aus Furcht vor Gott, um gerechtfertigt zu werden, überschüttet mit unzähligen menschlichen Satzungen.

TR 5, 6017

4.8. Als Mönch habe ich nicht viel Begierde gespürt. Pollutionen hatte ich aus leiblicher Nötigung. Frauen sah ich nicht einmal dann an, wenn sie beichteten.

TR 1, 121; 1531, ü

4.9. Als ich Mönch war, wollte ich kein Gebet auslassen. Als ich aber genötigt wurde, öffentlich Vorlesungen zu halten und zu schreiben, sammlet ich mein horas (Stundengebete) offt ein gantze woch bis auff den sonnabend, je zwo wochen oder drey. das ich mich je drey gantz tag ein sperret, und nichts ass und tranck, bis ich ausgebettet hett. Da war mir der kopff so toll davon,, daß ich in funff nachten kein aug zu thett und ich lagbis auff den todtt nieder und kam von sinnen. Als ich aber rasch gesund wurde, wenn ich wolt lesen, so gieng mir der kopff umb.

TR 1,495,1533

4.10. Doktor Staupitzen habe ich oft gebeichtet, nicht von Weibern, sondern die rechten knotten. Da sagte der: Ich verstehe es nit. Das hieß den recht getrostet. Kam ich darnach zu eim andern, so gieng es mir auch ßo. In Summa, es wolt kein beichtvater drumb wißen. Da gedacht ich, die Anfechtung hat niemand denn du. Da ward ich als ein todte leich… Ich war ser fromm im Mönchtum, aber dennoch war ich so traurig, dass ich dachte, Gott sei mir nicht gewogen.

TR 1, 518; 1533

4.11. Ja, ich pflegte wol 14 tage oder vier wochen auff zeu sammeln die Stundengebete, wan ich zeu thun hatte, und schutte einen gantzen boden voll; darnach nam ich eine gantze wochen fut mich oder einen tag oder drey und sperret mich in eine kammer, das ich wider tranck noch aeß, bis ich den bodem wol abgebettet hatte. Und balt schutte ich wider ein hauffen auff, das ich ßo lange bette, bis ich todt kranck druber war. Und zeu letzt samlet ich bey eim gantzen virtel jar auff; da wart mirs zeu viel, und ließ gar fallen.

WA TR 5, 5428, 1542

4.12. Nu will jhe gott geliebt seyn auß gantzem hertzen, wie das gepott lautt Deut. 6: Du solt gott deynen herrn lieb haben auß deynem gantzen hertzen. Und will, das alle unßere gutte werck unßer eygen und nit des tsuchtmeysters, des gesetzs, des todts, oder der helle, oder des hymels seyn; das ist, das wyr sie nit auß lautter furcht des todts odder helle, auch nitt auß genieß des hymells thun, ßondern auß freyem geyst, lust und liebe der gerechtickeyt

WA 10 I, 453,1522

5. Krisen der negativen Selbst- und Gotteserfahrung

5.1. Die schwerste Anfechtung ist die Anfechtung des Glaubens. Der Glaube soll ja alle anderen Versuchungen und alles Elend überwinden. Fällt er aber selbst in Anfechtung, dann erdrücken alle anderen, auch die kleinsten, den Menschen. Wenn der Glaube bleibt, kann das schlimmste Elend verachtet werden, denn alle anderen Anfechtungen schwinden, wenn der Glaube hält... Die Glaubensanfechtung ist der " Pfahl im Fleisch" des Paulus, ein grosser bratspis und pfal, der durch Geist und Fleisch fährt. Es ist nicht die Qual der Lust gewest, wie die Papisten träumen, die keine andre tentation denn die Lüsternheit gefult haben.

Von schweren Glaubenskämpfen verstehen sie nichts.

TR 3, 3678, 1530

5.2. Denn wo nur ein klein anfechtung kam vom tod odder sunde, so fiel ich da hin, und fand wedder Tauffe noch Müncherey, die mir helfen möcht. So hatte ich nu Christum und seine Tauffe lengest auch verloren. Da war ich der elendest mensch auff erden, tag und nacht war da eitel heulen und verzweiveln, das mir niemand steuren kundte. Also ward ich gebadet und getaufft jn meiner Müncherey, und hatte die rechte Schweissucht. Gott sey lob, das ich mich nicht zu tod geschwitzet habe, Ich were sonst lengst im abgrund der Helle mit meiner Münch Tauffe. Denn ich kandte Christum nicht mehr denn als einen gestrengen richter, für dem ich fliehen wolt und doch nicht entfliehen kundte.

WA 38, 148. 1533

5.3. Ich kenne einen Menschen, der versichert, öfters, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, so grosse und höllische Pein erlitten zu haben, wie es keine Zunge sagen, keine Feder schreiben und keiner ohne eigene Erfahrung glauben kann, so dass es, wenn sie sich völlig auswirken oder eine halbe, ja nur eine zehntel Stunde andauern würde, er ganz und gar zugrunde ginge und alle seine Gebeine in Asche zerfielen. Da erscheint Gott furchtbar in seinem Zorn, und mit ihm ebenso die ganze Kreatur. Dann gibt es keine Flucht, keinen Trost, weder drinnen, noch draußen, sondern alles klagt an. . .

In diesem Augenblick kann die Seele nicht glauben, jemals erlöst werden zu können, außer wenn sie die Pein vollends verspürt. Sie ist jedoch ewig, und kann nicht für zeitlich gehalten werden, es bleibt nur das bloße Verlangen nach Hilfe übrig und schreckliches Stöhnen, aber sie weiß nicht, woher sie Hilfe erbitten soll. Da ist die Seele ausgestreckt mit Christus, dass alle ihre Gebeine gezählt werden, und es gibt keinen Winkel in ihr, der nicht mit bitterster Bitterkeit, mit Grausen, Furcht und Traurigkeit angefüllt wäre, und dies alles ohne Ende.

WA 1, 558, 1518, ü

5.4. Das bereitet dem gesunden Menschenverstand und der natürlichen Vernunft den größten Anstoß, dass Gott rein nach seinem Willen die Menschen im Stich lässt, verstockt, in Verdammnis stürzt, als ob er eine Freude hätte an so großen Sünden und ewigen Martern jener Elenden... Ich selbst habe... Ärgernis genommen bis hinein in die Tiefe und den Abgrund der Verzweiflung, dass ich wünschte, ich wäre nie als Mensch erschaffen worden. Das war, bevor ich erkannte, wie heilvoll jene Verzweiflung sei und wie nahe der Gnade.

WA 18, 719, 1525, ü

66.. Der Durchbruch: Das neue Verständnis der Gerechtigkeit Gottes

Diese Wörter "gerecht" und "Gerechtigkeit Gottes" waren mir unter dem Papsttum ein Blitz im Gewissen und erschreckten mich beim blossen Hören. Aber als ich einmal in diesem Turm (wo der geheime Ort der Mönche war) über diese Worte nachsann "Der Gerechte lebt aus dem Glauben" und "Gerechtigkeit Gottes" etc., da kam mir beiläufig in den Sinn: Wenn wir als Gerechte aus dem Glauben leben sollen durch die Gerechtigkeit, und jene Gerechtigkeit Gottes jedem, der glaubt, zum Heil ist, dann kommt die Gerechtigkeit aus dem Glauben und aus dem Glauben das Leben. Da richteten sich mein Gewissen und mein Geist auf und ich wurde gewiss, dass das die Gerechtigkeit Gottes sei, die uns rechtfertigt und rettet. Und sogleich klangen mir diese Worte süß und angenehm. Dieße kunst hatt mir der Heilige Geist auff diesem thurm geben.

Andere Variante: Diese khunst hat mir der Heilig Geist auf diser cloaca auff dem thorm gegeben.

TR 3, 3232a,b, 1532

6.2. Ich hasste nämlich dieses Wort "Gerechtigkeit Gottes", das ich nach Brauch und Gewohnheit aller Doktoren philosophisch aufzufassen gelehrt war als formale oder aktiven Gerechtigkeit (wie sie sie nennen), durch die Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber, der ich mich, wie untadelig als Mönch ich auch lebte, mit aufgewühltem Gewissen vor Gott als Sünder empfand und nicht darauf vertrauen konnte, dass er durch meine Genugtuung besänftigt sei, liebte nicht, ja hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich wenn nicht mit stummer Lästerung, so doch gewiss mit mächtigem Murren gegen Gott: als sei es nicht genug, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder mit jeder Art Unheil bedrückt werden durch das Gesetz der 10 Gebote, sondern Gott müsse noch durch das Evangelium dem Schmerz Schmerz hinzufügen und uns auch noch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen. So raste ich mit wütendem und verwirrtem Gewissen und klopfte doch immer wieder bei Paulus in glühendem Wissensdurst an, was S.Paulus an dieser Stelle (Rom. 1,17) eigentlich meine.

Bis ich durch Gottes Barmherzigkeit nach tage- und nächtelangem Sinnen den Zusammenhang der Wörter näher betrachtete, nämlich: "Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: der Gerechte lebt aus Glauben", da begann ich die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die Gerechtigkeit, durch die als Gabe Gottes der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und dass der Satz, durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, die passive meint, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt aus Glauben1. Da fühlte ich mich wie ganz von neuem geboren und durch offene Tore ins Paradies selbst eingetreten. Die ganze Schrift hatte mit einem Mal für mich ein anderes Gesicht bekommen. Darauf durchlief ich die Heilige Schrift, wie ich sie in Erinnerung hatte, und sammelte auch in anderen Wörtern Ähnliches, wie zum Beispiel „Werk Gottes“, d. h.: das Werk, das Gott in uns schafft; "Kraft Gottes", durch welche er uns kräftig macht; "Weisheit Gottes", durch welche er uns weise macht; "Stärke Gottes", "Heil Gottes", "Ehre Gottes". So sehr ich bisher das Wort "Gerechtigkeit Gottes" gehasst hatte, so sehr liebte und rühmte ich jetzt das für mich süßeste Wort. So ist mir jene Stelle des Paulus wahrhaftig zur Pforte des Paradieses geworden. Später las ich Augustin "vom Geist und vom Buchstaben", wo ich wider Erwarten darauf stieß, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegt: als diejenige, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt.

Vorrede zu Band I der Lateinischen Werke, WA 54, 186, 1545

6.3. Jenes Wort "Gerechtigkeit Gottes" ist in meynem hertzen ein donnerschlag gewest. Denn wenn ich unter dem Papsttum las (Ps 31,2): "in deiner Gerechtigkeit errette mich" und (Ps 86,11) "in deiner Wahrheit", so glaubte ich alsbald, jene Gerechtigkeit sei der strafende Grimm des göttlichen Zorns. Ich war dem Paulo von hertzen feindt, wenn ich las: "die Gerechtigkeit Gottes wird durchs Evangelium offenbart" (Rom 1,17). Als ich freilich später das Folgende sah, wie geschrieben steht: "der Gerechte wird seines Glaubens leben" (Rom 1,17), und überdies noch Augustin zu Rate zog, da wardt ich frolich. Da erkannte ich, dass die Gerechtigkeit Gottes die Barmherzigkeit sei, die gerecht spricht, da wurde dem Gebeugten Hilfe zuteil.

TR 4, 4007, 1538, ü

6.4. Ich war lang irre, wuste nicht, wie ich drinnen war. Ich wuste wohl etwas, oder wußte doch nichts, was es ware, bis so lang das ich uber den locum ad Rom.1 (Stelle Rom 1,17) kam: "der Gerechte wird aus dem Glauben leben". Der halff mir. Da sah ich, von welcher iustitia Paulus redet. Da stand zuvor im text "Gerechtigkeit"; da reumet ich das abstractum (Gerechtigkeit) und concretum (der Gerechte) zusamen und wurde meiner Sachen gewiss:

Ich lernte zwischen der Gerechtigkeit des Gesetzes undder Gerechtigkeit des Evangeliums zu unterscheiden. Zuvor mangelt mir nichts, denn das ich keinen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium machet, hielt es alles vor eines und behauptete, zwischen Christus und Moses sei außer der Zeit und dem Grad der Vollkommenheit kein Unterschied. Aber do ich den Unterschied fande, das nämlich Gesetz und Evangelium zweierlei sei, da riß ich her durch.

TR 5, 5518, 1542/43

6.5. Es gibt 2 Anfechtungen, welche die einzelnen erschüttern, wenn sie über ihr Heil nachdenken: die erste betrifft die Unwürdigkeit, die zweite die Prädestination oder Erwählung. Die erstere, über die Unwürdigkeit, entsteht durch das Gesetz, denn das Gesetz lautet ja, dass Gott die Gerechten und Würdigen annimmt. Dieser muss man die Lehre von der unentgeltlich und ausschliesslich umsonst gewährten Rechtfertigung entgegensetzen und Schriftzeugnisse sammeln, die bekräftigen, dass die Ungerechten angenommen werden.

TR 5, 5897

6.6. Es ist abgötterej, das man weiset die leuthe von Christo unter den mantel Mariae, wie die Prediger Munche getan haben. Die mahleten die Jungfrau Maria also, das der Herr Christus drei pfeill in der Hand hette, der eine war Pestilentz, der ander Krieg, der dritte wahr theuer Zeit, darmit ehr die menschen straffen woltte. Alhier hieltte Maria ihren Mantel fur, auff das die Menschen nicht getroffen wurden.

WA 47, 276, 1537

6.7. Der glaube sol uns das geben, das Christus nicht ein Richter sey, wie er anderswo saget: „Ich bin nicht komen, das ich die Welt richte, sondern das die Welt durch mich selig würde“. Der Vater hat jn nicht gesant, das er die Leute scheuche, erschrecke oder jnen leid thue, so zu jme kommen, sondern das er sie bey sich behalte...

Derhalben so wollen wir Christum haben fur einen gnedigen herrn, die wir zu ihm komen. Der Regenbogen, da ehr auff sitzen wirdt, hilfft mir zum heil.

WA 33, 89 ff..;; 1531

6.8. Ich hab all mein Ding von Doktor Staupitz; der hat mir den Grund gegeben. Mein Staupitz sagte: Man mus den man ansehen, der da heißt Christus. Staupitz hat die Lehre angefangen.

TR 1, 526; 1533

6.9 Doctor Staupitz sagte zu mir: Wenn man will über die Prädestination disputiern, so were es besser, man dechte nicht daran, sondern hebe an bei den Wunden Christi; und bilde dir den Christum wol ein, so ist die Prädestination schon hinweckh, weil Gott vorausgesehen hat, sein Sohn werde leiden für die Sünder.

TR 2, 1820; 1532

6.10. Noch haben wir Christum fharen lassen und sind zu Maria und St. Barbara gelauffen. Das kam nun dohehr, das wir Christum als den Teuffel selbst flohen, dan man lerete, das ein iglicher fur dem gerichtstuel Christi wurde gestellet werden mit seinen wercken und orden. Und wir alten sind im Bapstumb also verderbt, das, wen ich gleich heutte zu Tage von Christo predige, das ehr allein unser Heiland sey, noch kan ichs nicht also gleuben und das liecht annemen, wie ichs gerne wollte. Dan des Bapsts lehre zeucht mich zurucke und bildet mir gahr das gegenspiel ein, nemlich das ich gegen dem gericht Gottes meine gute werck halten solle.

WA 47, 109f.; 1538

6.11 Deshalb, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Lerne es, ihm zu singen, und, an dir selbst verzweifelnd, ihm zu sagen: Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde; du hast, was mir zugehört, an dich genommen und mir gegeben, was dir zugehört. Du hast an dich genommen, was du nicht warst, und mir gegeben, was ich nicht war.

Hüte dich davor, auf einmal auf deine große Reinheit zu vertrauen, so dass du dir nicht mehr als Sünder erscheinen willst, der du doch bist. Christus wohnt nämlich nur in Sündern. Darum ist er vom Himmel, wo er bei den Gerechten wohnte, herabgestiegen, um bei den Sündern zu wohnen. Diese seine Liebe musst du immer neu wiederkäuen, dann wirst du die allersüßeste Tröstung erfahren. Wenn es auf unsere Bemühungen und Selbstpeinigungen ankäme, um die Ruhe des Gewissens zu erlangen, wozu ist er dann gestorben? Darum wirst du nur in ihm Frieden finden, in gläubigem Verzweifeln an dir selbst und deinen Werken.

WA Br I, 17,1516, ü

6.12. Weil die Heiligen ihre Sünde immer vor Augen haben und die Gerechtigkeit von Gott nach seiner Barmherzigkeit erflehen, eben darum werden sie auch von Gott immer als gerecht angesehen. Also sind sie in ihren eigenen Augen und in Wirklichkeit ungerecht, bei Gott aber, der sie um des Bekenntnisses ihrer Sünde willen als gerecht ansieht, sind sie gerecht; in Wirklichkeit Sünder, sind sie gerecht durch das gnädige Ansehen Gottes, der sich ihrer erbarmt. Ohne es zu wissen, sind die gerecht, und mit ihrem Wissen ungerecht, Sünder in Wirklichkeit, gerecht aber in Hoffnung – peccatores in re, iusti autem in spe… Ist er also vollkommen gerecht? Nein, sondern zugleich Sünder und gerechter – simul peccator et iustus; Sünder in Realität, aber Gerechter kraft der Ansehung und der gewissen Zusage Gottes, dass er ihn von der Sünde erlösen wolle, bis er ihn völlig heilt, und so ist er vollkommen heil in Hoffnung, in Wirklichkeit aber ein Sünder.

Römerbriefvorlesung 1515/16, c.4, WA 56, ü

6.13. In Bezug auf unsern Herrn Christus und die Vergebung der Sünden in Christus sind wir wahrhaft heilig, rein und gerecht... aber in bezug auf mich und mein Fleisch bin ich Sünder… Man darf nicht jene Aufteilung machen, dass wir teils Gerechte, teils Sündern seien. Vielmehr sind wir gänzlich Gerechte und gänzlich Sünder. Denn das ist wahr, dass wir in Gottes Ansehung wirklich und gänzlich gerecht sind, obwohl bisher die Sünde noch da ist. .. So sind wir wirklich und gänzlich Sünder in Bezug auf uns selbst und vom Ursprung her, aber dagegen hinbsichtlich dessen, dass Christus für uns gegeben ist, sind wir gänzlich heilig und gerecht. So heißen wir in verschiedener Hinsicht Gerechte und Sünder zugleich und auf einmal.

WA 39 I, 553.,563f.,1538, ü

6.14. Du kannst trotzen und rhümen widder den Teuffel: bin ich denn ja ein sunder, so bin ich doch ja kein sunder. Ein Sünder bin ich jnn mir selbs ausser Christo. Kein sunder bin ich in Christo ausser mir selbs, denn er hat meine sunde ver-tilget durch sein heiliges blut.

WA 38,205,1533

6.15 Jeder, der an Christus glaubt, ist gerecht, noch nicht völlig in der Realität –in re, aber in der Hoffnung- in spe; es ist nämlich ein Anfang mit seiner Rechtfertigung und Gesundung gemacht, wie bei jenem Menschen, der halbtod liegenblieb. Inzwischen aber, so lange er gerecht wird und gesundet, wird ihm um Christi willen nicht zugerechnet, was im Fleisch noch an Sünde zurückbleibt... Also zugleich ein Gerechter, zugleich ein Sünder .... Denn der Glaube selbst, wo er einmal geboren ist, macht sich das zur Aufgabe, die noch übrige Sünde aus dem Fleisch zu vertreiben durch mancherlei Peinigungen, Strapazierungen und Ertötungen des Fleisches. So soll also das Gesetz Gottes nicht nur im Geist und Herzen Zustimmung und Erfüllung finden, sondern auch im Fleisch, das immer noch Widerstand leistet gegen den Glauben und den Geist, der das Gesetz liebt und erfüllt.

WA 2,495,497,1519, ü

7. Bleibende Anfechtung und der Umgang mit ihr

7.1. Traurigkeit in der Welt entsteht z.B. aus finanziellen Gründen, aus Ehrgeiz etc. Aber meine Anfechtung ist die, dass ich meine, Gott sei mir nicht gewogen. Das ist Gesetz. Das ist die höchste Traurigkeit, wie auch Paulus sagt, weil sie tötet. Gott hasst diese, und er tröstet uns und sagt: Ich bin dein Gott. Die Verheissung weys ich, und es sol mich dennoch zu weylen ein gedanken zu boden stossen, der nit eins furtz werd ist?

Tr 1, Nr. 461, 1533

7.2. Das ist die größte Anfechtung des Sathans, dass er sagt: Gott hasst die Sünder; du aber bist Sünder, also hasst dich Gott auch"... Bei diesem Schluss muss man einfach den Obersatz bestreiten: dass es falsch ist, dass Gott die Sünder hasst. Wenn er dir dann (das Strafgericht über) Sodom entgegenhält und andere Beispiele des Zorns, dann halte du ihm deinerseits vor, dass Christus der Sohn ins Fleisch gesandt wurde; wenn er die Sünder hasste, hätte er gewiss nicht seinen Sohn für sie gesandt. Er hasst nur die, die sich nicht rechtfertigen lassen wollen, dh, die nicht Sünder sein wollen. Solche Anfechtungen nutzen uns sehr und richten nicht, wie es den Anschein hat, zugrunde, sondern unterrichten uns, und jeder Christ soll denken, dass er ohne Anfechtungen Christus nicht (kennen) lernen kann. Vor ungefähr 10 Jahren habe ich zum ersten Mal diese Anfechtung der Verzweiflung und des göttlichen Zorns verspürt.

Wenn die Anfechtung kommt, so kan ich nit eine lässliche Sünde uber winden ... Er (der Teufel) nimbt die leichtesten Sünden, die kan er so exaggerirn, das einer nit ways, wo er dafur sol bleyben ... Er lauscht allenthalb auff uns. Aber dennoch haben wir Christum, der nicht kam, um uns zu verderben, sondern zu retten, wenn man auff den sihet, so ist kein ander Gott in himel noch auff erden als der Gott, der rechtfertigt und rettet; andererseits wenn man den aus den augen lest, so ist auch nirgends kein hulff noch trost noch ruge. Allein wenn die Stelle kompt: Gott sandte seinen Sohn, so hatt das hertz ruge. Deshalb müssen alle, die angefochten werden, Christus zum Beispiel nehmen, der auch angefochten wurde, aber es ist ihm seurer worden als euch und mir.

Ich habe kein grossere (Anfechtung) gehabt und kein schwerere denn wegen der Predigt, das ich dacht hab: Das wesen richtest du allein zu; ist es nu unrecht, so bist du schuldig an sovil selen, die in die Hölle faren. In der Anfechtung bin ich offt dahin gangen in die Hölle hinein, bis mich Gott zurückrief und bestärkte, dass es Gottes Wort sei und wahre Lehre. Aber es kost vil, bis einer zu der Tröstung kompt.

Mit andern kompt er mit der Gerechtigkeit. Der Teuffei will nur aktive Gerechtigkeit in uns haben, so haben wir alle passive und sollen auch kein aktive haben. Passive nu will er uns nit lassen; so hab ich in der activen verlorn, denn da kann keiner inn stehn. Aber wenn man in abweyset und sagt: Hier ist jener Gekreuzigte für die Sünder; kennest du den auch? In dessen Gerechtigkeit lebe ich, nicht in meiner; wenn ich gesündigt habe, so anttwort er dafur. Das ist der erste Weg, den Satan zu besiegen: in und mit dem Wort. Der andere Weg ist, ihn durch Verachtung zu besiegen, das wir die gedancken ausschlagen, wollen nit dran denken, richten die Seele auf andere Gedanken, auf einen Chor oder ein hübsches Mädchen. Das ist auch gut.

. . . Wir müssen auch das Unsere tun und für unsern Leib Sorge tragen. Für Angefochtene ist Enthaltsamkeit hundertfach schlimmer als essen und trinken. Wenn ich meinem Appetit nachginge, würde ich drei Tage lang nicht essen. Das ist dann doppeltes Fasten, das ich iss, trinck, und dennoch one lust. Wenn die welt das sihet, so sihet sie es an als Trunkenheit, aber Gott wird urteilen, ob es Trunkenheit oder Fasten ist…Also so hallt den bauch und den kopff voll, dann geht es auch mit dem Schlafen besser. Denn es ist mir so: wenn ich auffwache, so kompt der Teuffel bald und disputirt mit mir, so lang bis ich sage: Leck mich in dem A.; Gott zürnt nicht, wie du sagst. Denn mit der Frage vexirt er uns am meysten. Dafur haben wir den Schatz des Wortes, Gott hab lob!

TR 1, Nr.141,1532, z.T. akt.

7.3. Er (der Teufel) weys, das mein hertz on unterlass bettet: Vater unser etc , und dennoch quält er mich oft wegen eines unterlassenen Gebets . . . Seine höchste Kunst ist, das er kan aus dem Evangelium Gesetz machen. Wenn ich diese Unterscheidung festhalten könnte, wolt ich im all stund sagen, er solt mich hinden lecken; auch wenn ich gesündigt hätte, würde ich sagen: Wie denn, sol man drumb evangelium verleugenen? Noch nit! Aber wenn ich disputiere, was ich gelassen und gethan hab, so bin ich dahin. Aber wenn ich antworte aus dem Evangelium: Vergebung der Sünden geht uber hin, dann habe ich gewonnen. Wenn er aber einen auf das thun, lassen bringt, so hat er gewonnen, wenn nicht Gott da ist, der sagt: Was? Auch wenn ich es nicht getan hätte, so must ich dennoch durch die Vergebung der Sünden selig werden, denn ich bin getauft . Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die thuts, da der Teufel schlegt eim das Wort auff den kopff; wenn man bey dem Gesetz bleybt, so ist man dahin. Kein Gewissen löst, sondern jene Unterscheidung allein, dass du .sagst: das Wort ist zweifach, das eine erschreckt, das andere tröstet. Da wendet der Sathan ein: Aber Gott sagt, da du das Gesetz nicht erfüllt hast, bist du verdammt; ich antworte: Er hat auch gesagt, dass ich leben soll. Grösser nämlich ist die Barmherzigkeit als die Sünde, das Leben als der Tod. Also hab ich das oder yhens nit thun, so vertrett es unser Herr Gott mit seiner gratia. Aber wen kann mitten in der Anfechtung da hin kommen? Es wurd Christo selber sauer, on das er Verheissung hat geben: er wird euch nicht versuchen über das hinaus, was ihr vermögt. Er lesst es aber offt so auf die hefen kommen, das einer nit mer kan.

TR 1,590, 1533

7.4. In diesem Alter hab ich keine Anfechtung von den leuten, hab nichts mit yhn zu thun; aber der Teuffel gehet mit mir uff dem Schlaffhaus spacirn, und ich hab ein oder zwen Teuffel, die lausen (lauern) starck auf mich und sind visirliche Teufel, und wenn sie im hertzen nichts konnen gewinne, so griffen sie mir den kopff an und plagen mir yhn, und wenn der nit mehr taugen wurdt, so will ich sie in ars weysen, da gehort er hin.

TR 1, 491,1533

7.5: Es sagte einmal mein Beichtvater zu mir, da ich immer närrische Sünden für ihn brachte: "Du bist ein Narr! Gott zörnet nicht mit dir, sondern du zörnest mit ihm; Gott ist nicht zornig auf dich, sondern du bist auf ihn zornig!" Ein großartiges Wort, das jener vor dem Licht des Evangeliums sagte!

TR 1,Nr.122,1531

7.6. Die aber vom Geist der Traurigkeit geplagt werden, sollen sich aufs Höchste hüten und vorsehen, dass sie nicht alleine seien. Denn Gott hat die Gesellschaft der Kirche geschafft, und die Bruderschaft geboten, wie die Schrift sagt: "Wehe dem Menschen, der allein ist; denn wenn er fällt etc.“ Auch gefällt Gott die Traurigkeit des Herzens vor ihm nicht, wiewohl er die Traurigkeit vor der Welt zulässt; aber er will nicht, das ich gegen jhm betrubt sol sein. So sagt er : „Ich will nicht den Tod des Sünders“; oder auch „lasst uns fröhnlich sein im Herrn!“ Er will keinen Diener haben, der sich nits guts zu yhm versehe. Das weiß ich, aber wol zehen mal in einem Tag wurd ich anderst zu sinn. Ich widerstehe aber dem Satan. Jag yhn auch offt mit eim Furtz hinweg. Wenn er mich versucht mit närrischen Sünden, sag ich: "Teuffel, gester thett ich auch ein furtz; hast du yhn auch an geschriben in dem register?“…Er greifft mich offt an, dass es nit eins drecks werde ist. Aber ich sehe es nit, wenn ich in der Anfechtung bin; wenn ich wider genesen bin, so sehe Ichs fein.

TR I, Nr. 122,1531

7.7. Gott will, dass wir fröhlich seien, und hasst die Traurigkeit. Wenn er nämlich wollte, dass wir traurig seinen, hätte er nicht Sonne, Mond und die Früchte der Erde gegeben, die er alle zur Freude gibt. Er hätte Finsternis gemacht. Ließe die Sonne nicht mehr aufgehen oder den Sommer wiederkommen.

TR I, Nr.124,1531, ü

Kapitel I: Luthers Grunderfahrung3

Luthers Theologie ist, so sehr sie sich auf die Schrift beruft, doch nicht am Schreibtisch entstanden. Sie ist aus existentiellen Krisen geboren; seine "Anfechtungen" haben ihn genötigt, "immer tiefer und tiefer hinein zu bohren " (Q I, 1.1), um eine tragfähige Lösung zu finden. Er hat seine Theologie nicht nur entwickelt, um andere zu lehren, sondern um selbst davon zu leben. "Wer gewiss sein und anderen verlässlich raten will, der muss zuerst selbst erfahren werden" (1.2). Darum handelt dieser 1. Abschnitt des Seminars davon, wie Luther Gefangenschaft der Seele und Befreiung durch das Evangelium, bevor er sie lehrte, in seiner Klosterzeit selbst durchlebte.

1. Was bewegt Luther, ins Kloster zu gehen?

1.1. Das Ereignis

Auf der Rückreise von Mansfeld, wo er die Eltern besucht hatte, wurde der 22-jährige Student nahe dem Dorf Stotternheim bei Erfurt von einem Gewitter überrascht. In Todesangst legte er ein Gelübde ab: "Hilf du, Sankt Anna, ich will ein Mönch werden "(Q 0, 3.1). Die Heilige Anna galt als Helferin in Gewittersnot und vor schnellem Tod. Dies Gelübde reute Martin nachher, er sah es als erzwungen und abgedrungen an (Q 0 3.1; 3.4; 3.5; Q I, 2.1), dennoch als verpflichtend. Gegen den Willen des Vaters, dessen Zukunftspläne er durchkreuzte und der ihn daraufhin wieder duzte (seit er Magister war, hatte der Vater ihn mit der Anrede "Ihr" geehrt, Q 0, 3.2), leistete er ihm Folge und trat in das Erfurter Kloster der Augustinereremiten ein. Später scheint Luther zu der Meinung des Vaters zu neigen, dass es sich bei dem Ereignis nicht um einen Wink Gottes, sondern um Täuschung und Blendwerk gehandelt habe

(Q 0 3.4; 3.5).

1.2. Das Motiv

Nach seiner eigenen Darstellung haben Luther "Angst und Schrecken vor einem plötzlichen Tod" zu seinem Gelübde und damit ins Kloster getrieben (Q I, 2.1; Q 0 3.1; 3.4; 3.5: ein Schrecken vom Himmel). Worauf beruhte denn seine Todesangst? Sie ergibt sich keineswegs aus der - modernen - Meinung, dass mit dem Tode alles aus sei, sondern aus der mittelalterlichen Erwartung, dass der Mensch mit dem Tod vor Gott, den Richter, tritt. Die Todesangst ist Gerichtsangst. Luther ist von einer geradezu panischen Angst vor dem Jüngsten Gericht besessen (Q I, 3.3;3.4; 3.5).

Mittelalterlicher Gerichtsernst kommt prägnant in einem lateinischen Gedicht des Thomas von Celano (13.Jhdt.) zum Ausdruck, das noch heute Bestandteil der Totenmesse (Requiem) ist. Daraus seien einige Verse zitiert:

Dies Irae - Tag des Zorns

Tag der Rache, Tag voll Bangen,

Schaust die Welt in Glut zergangen,

Wie Sibyll und David sangen.

Welch Entsetzen wird da walten,

Wann der Rächer kommt zu schalten,

Streng mit uns Gericht zu halten!

Die Posaun im Wundertone

Sprengt die Gräber jeder Zone,

Fordert alle hin zum Throne.

Staunend sehen Tod und Leben

Sich die Kreatur erheben,

Rechenschaft dem Herrn zu geben.

Da ist alles eingetragen,

Welt, daraus dich zu verklagen.

Sitzt der Richter dann und richtet,

Wird, was dunkel war, gelichtet,

Keine Schuld bleibt ungeschlichtet.

Ach, was werd ich Armer sagen,

Wessen Schutz und Rat erfragen,

Da Gerechte selber zagen?

Die Zuflucht zu Christus, die das Mittelalter auch kennt, bleibt Luther. in diesem Stadium verwehrt, denn auch ihn sieht er, schon von Jugend an, als Richter, der ihn erschreckt (Q I,3.7; 3.2; 3.6; 4.3; 5.2; 6.9; Q 0,1.9). Luther erwähnt mehrfach die Darstellung Christi als Richter, auf dem Regenbogen thronend (Q I, 4.2;3.6). Ein Sandsteinrelief aus dem 14.Jhdt. mit diesem Motiv befand und befindet sich noch heute an der Wittenberger Stadtkirche (s. Q 1). In einer Darstellung der Dominikaner bedroht Christus gar die Menschen mit 3 Pfeilen: Pest, Krieg und Teuerung, während Maria sie mit ihrem Mantel davor beschützt (Q I,6.6; sog. Schutzmantelmadonna). Auch Luther ergreift die volkstümliche Zuflucht zu den Heiligen (Q I,3.5; 3.6; 4.2) und zu den guten Werken (6.10).

1.3. Der Zweck

Was bezweckt Luther mit seinem Eintritt ins Kloster? Der Mönchsweg gilt dem Mittelalter als vollkommener Weg. Er führt zur Seligkeit (Q I 4.1). So hält auch Luther den Weg ins Kloster für den Weg zum ewigen Leben (Q I 2.2; 2.3). Mit dem Eintritt ins Kloster, mit der unnachsichtig strengen Beachtung der Regeln, der überharten Ausführung der "Mönchswerke" will Luther "Gott großen Gehorsam erweisen" (Q I 2.4),"den strengen Richter versöhnen" (2.5),"fromm werden und genugtun, dass er einen gnädigen Gott kriegt (3.1). Er will den Gott, den er erzürnt hat (3.2), mit guten Werken versöhnen, zufrieden stellen (3.6), will durch seine Strapazen "Vergebung der Sünden" erlangen (3.5.).

Der Orden der Augustinereremiten