Lyrische Novelle - Annemarie Schwarzenbach - E-Book

Lyrische Novelle E-Book

Annemarie Schwarzenbach

0,0
9,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein junger Mann aus betuchten Verhältnissen verlässt sein Elternhaus, um in Berlin zu studieren. Seine Karriere ist geplant, er soll Diplomat werden. Mit grossem Eifer betreibt er seine Studien und verkehrt vor allem in Kreisen, die seiner bürgerlichen Familie nahestehen. Als er Sibylle trifft, verändert sich sein geordnetes Leben. Von Anfang an ist er der attraktiven, unnahbaren Variétésängerin verfallen. Er lernt durch sie das Nachtleben der Grossstadt kennen; flüchtet vor der hoffnungslosen Liebe in den Alkohol, die Krankheit und aufs Land. Gleichzeitig weiss er jedoch, dass es keinen Ausweg gibt: »Im Grunde kann man für Sibylle nur sterben. Für sie zu leben, sagten meine Freunde, sei entwürdigend.«- Die im Frühling 1933 erstmals erschienene »Lyrische Novelle« stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte »hätte man eingestehen müssen«, dass der Held »kein Jüngling, sondern ein Mädchen« sei.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 153

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Annemarie Schwarzenbach wurde 1908 in Zürich geboren. Studium der Geschichte in Zürich und Paris. Ab 1930 enge Freundschaft mit Erika und Klaus Mann. 1931 Promotion. 1931 bis 1933 als freie Schriftstellerin zeitweise in Berlin. Erstmals Morphiumkonsum. 1933 bis 1934 Vorderasienreisen. 1935 kurze, unglückliche Ehe mit dem französischen Diplomaten Claude Clarac in Persien. 1936 bis 1938 (Foto-)Reportagen im Zusammenhang mit Reisen in die USA, nach Danzig, Moskau, Wien, Prag. Entziehungskuren in der Schweiz. 1939 Reise mit Ella Maillart nach Afghanistan. 1940 Aufenthalt in den USA. 1941 bis 1942 in Belgisch-Kongo. Die Journalistin, Schriftstellerin und Fotoreporterin starb 1942 in Sils.

E-Book-Ausgabe 2013

Copyright © 1988 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Coverfoto: Marianne Breslauer

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 545 8

Lyrische Novelle

1

Diese Stadt ist so klein, man kennt nach einem einzigen Spaziergang jeden Winkel. Auch einen alten, sehr hübschen Hof hinter der Kirche habe ich schon entdeckt und den besten Friseur des Ortes, der in einer gepflasterten Nebenstrasse wohnt. Als ich von seinem Laden aus einige Schritte weiterging, war ich plötzlich am Ausgang, es gab nur noch einige Backsteinvillen, und die Strasse war sandig und sah aus wie ein Feldweg. Dahinter begann gleich der Wald. Ich kehrte um, kam wieder an der Kirche vorbei und kannte mich ganz gut aus. Durch den alten Hof gelangt man in die Hauptstrasse, und jetzt trete ich in das Café »Zum roten Adler«, um hier ein wenig zu schreiben. In meinem Hotelzimmer komme ich immer wieder in Versuchung, mich auf mein Bett zu werfen und die kurzen Stunden des Tages untätig hinzubringen. Es kostet mich grosse Überwindung zu schreiben, denn ich habe Fieber, und mein Kopf dröhnt wie unter Hammerschlägen.

Ich glaube, wenn ich hier einen Menschen kennen würde, wäre ich gleich am Ende meiner Beherrschung. Aber ich spreche kein Wort und gehe so umher, ohne mir über meine Empfindungen klar zu werden.

Das Lokal kommt mir ziemlich merkwürdig vor. Eigentlich ist es eine Konditorei mit Glaskästen, ausgestellten Kuchen und einer Verkäuferin in schwarzem Wollkleid mit weisser Schürze. In der Ecke steht ein hellblauer Kachelofen, und die Sofas sind mit steilen, gepolsterten Rückenlehnen den Wänden entlang aufgestellt. Ein junger Hund läuft kläffend umher, ein ungepflegtes und armseliges Tierchen. Eine grauhaarige Frau versucht ihn zu streicheln, aber er entwischt ihr mit ängstlich gebogenem Rücken. Die Alte geht ihm nach, lockt ihn mit einem Stück Zucker und spricht laut und unentwegt zu ihm.

Ich glaube, sie ist geisteskrank. Niemand im Lokal scheint sie zu beachten.

Jetzt habe ich erst zwei Seiten geschrieben, und schon beginnen die Schmerzen wieder. Es sind Stiche in der rechten Seite, sie hören sofort auf, wenn ich mich hinlege oder wenn ich starken Alkohol trinke. Ich will mich aber nicht niederlegen, ich könnte jetzt so gut schreiben, und es entmutigt mich sehr, in meiner Einsamkeit untätig zu sein.

Die irrsinnige Alte ist weggegangen, ich würde gern sehen, wie sie über die Strasse geht und ob sie auch draussen laut vor sich hinredet wie die grauhaarigen Bettlerinnen in Paris. –

Früher konnte ich Geisteskranke nicht von Betrunkenen unterscheiden, ich beobachtete sie mit einer Art von ehrfürchtigem Grauen. Jetzt habe ich vor Betrunkenen keine Angst mehr. Ich war selber oft betrunken, es ist ein schöner und trauriger Zustand, man wird sich klar über Dinge, die man sich sonst niemals eingestehen würde, über Empfindungen, die man zu verbergen trachtet und die doch nicht das Schlechteste in uns sind. –

Ich fühle mich jetzt ein wenig besser. Ich werde für das, was ich heute schreibe, um die Nachsicht des Lesers bitten müssen. Aber Sibylle sagte mir, dass nichts, auch nicht die bittersten Erlebnisse und die verlorensten Stunden meines Lebens gänzlich unfruchtbar werden dürfen. Darum liegt mir so viel daran, selbst in diesem unfähigen Zustand mich meiner Schwäche zu überlassen und sie später einmal der Kritik zu unterziehen, an der mir einzig gelegen ist: ob es mir gelingen kann, einmal in irgendeinem Sinn von Sibylle ernst genommen zu werden.

2

Am schmerzlichsten ist es mir, dass ich weggefahren bin, ohne von meinem Freund Magnus Abschied genommen zu haben. Er ist krank, jetzt liegt er schon seit drei Wochen, und ich habe ihn sehr vernachlässigt. Ich sah ihn vor einigen Tagen, da ging es ihm ziemlich schlecht. Er lag im Hinterraum seines Ateliers, der Arzt war gerade bei ihm und schüttelte mir die Hand. Er untersuchte ihn schweigend, betrachtete die Fieberkurve und gab dem kleinen Portierssohn Anweisungen. Der Portierssohn ist ein blasser und magerer Bursche von etwa achtzehn Jahren, er kocht für Magnus und hat jetzt schon die ganze Pflege übernommen. Wenn Besuch kommt, führt er ihn selbst in das Atelier und verschwindet dann in der Küche. Dort bleibt er, bis Magnus ihn ruft. Er ist ihm sehr ergeben … Der Arzt gab ihm ein Rezept und schickte ihn in die Apotheke. »Ein braver Junge«, sagte er zu mir. Und Magnus lächelte, und meine Zugehörigkeit wurde einfach übersehen. Der Arzt ging fort, und ich wartete, bis der Junge aus der Apotheke zurück war.

»Hast du noch Geld?« fragte ich Magnus.

»Haben wir noch Geld?« fragte Magnus den Jungen. Der antwortete: »Du hast mir gestern zehn Mark gegeben, damit reichen wir vorläufig.«

Sie sagten sich du.

Ich ging dann weg, und ein paar Tage später schickte mir Magnus eine Einladung zum englischen Botschafter, die er für mich bekommen hatte, und schrieb mir einen Brief dazu. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

3

Früher hatte ich immer das Bedürfnis, mich allen Menschen zu erklären, um mit allen im Einverständnis leben zu können. Und ich hasste doch alle Geschwätzigkeit. Ich weiss aber nicht, ob ich sie hasste, weil ich ihr immer wieder verfiel, oder weil ich einsah, wie vergeblich alle Versuche sind, sich selbst den besten Freunden verständlich zu machen.

Ich sage »früher« und meine damit die Zeit, die drei Monate zurückliegt. Ich habe mich immer gegen alle äusseren Periodisierungen gewehrt, weil ich aufgedrängte Disziplin verabscheute. Jetzt muss ich mich an Freiwilligkeit gewöhnen, und es ist, als sei ich in einer einzigen Nacht erwachsen geworden. In dieser Nacht hätte ich Sibylle im Walltheater sehen können, ich hatte ja die Wahl. Aber ich bin dann weggefahren. Und vor dieser Nacht hätte ich es hier keinen Tag ausgehalten. Ich wusste nichts vom Alleinsein. Ich halte es sogar aus, von meinen Freunden missverstanden zu werden. Es war tatsächlich bisher mein einziger Wunsch, mich ihres Wohlwollens zu versichern, und ich verschwendete dafür meine ganze Liebenswürdigkeit. Und noch viel mehr.

Damit bin ich jetzt zu Ende. Wer weiss, was daraus entsteht.

4

Es ist schade um die Menschen, sagt Strindberg. Vor einigen Monaten sass ich mit einem Dichter zusammen in einem Berliner Kaffeehaus, wir redeten begeistert und begeisterten uns immer mehr an unserem gegenseitigen Einverständnis. Er war viele Jahre älter als ich, ich hätte beinahe sein Sohn sein können. Er beugte sich über den kleinen Tisch und hielt meine Hände fest, er schleuderte mir seine Ekstase, seinen Optimismus, seine rauschähnliche Freude wie Flammen entgegen. »Sie sind die Jugend«, sagte er, »die einzige Jugend, der ich die Zukunft und den Sieg über uns nicht missgönne –«

Seine Worte ernüchterten mich ein wenig. Er schien es augenblicklich zu empfinden, er liess meine Hände los, sah mir eindringlich ins Gesicht und sagte:

»Wissen Sie denn, wie liebenswert und wie gefährdet Sie sind? Sie sind auf einmal so blass, sagen Sie, was ich für Sie tun kann.«

Man sagt mir oft, dass ich gefährdet sei. Vielleicht liegt es an meiner zu grossen Jugend –

Damals lachte ich darüber. »Ich liebe die Gefahr«, sagte ich, und ich fühlte, dass mir die Freude aus den Augen leuchtete.

»Jetzt muss ich gehen«, sagte ich, es war Mitternacht, ich verliess ihn in Eile, fast ohne Abschied zu nehmen. Unter der Tür kam mir das Unschickliche meines Verhaltens zum Bewusstsein, ich eilte zurück, presste seine Hände und sagte: »Verzeihen Sie, ich warte seit zwei Tagen auf eine grosse Gefahr …«

»Gehen Sie«, sagte er lächelnd, »bestehen Sie sie …«

Ich habe sie aber nicht bestanden.

5

Ich bin den ganzen Nachmittag im Wald gewesen. Zuerst lief ich gegen den Wind über ein grosses Feld, es war anstrengend, ich fror, und der Waldrand war wie ein Obdach. Nirgends war ein Mensch, ich blieb einmal stehen und sah mich um, und die herbstliche Verlassenheit der Landschaft dämpfte meine Traurigkeit. Der Himmel war grau, von dunkleren Wolken durchjagt, Regenschauer gingen strichweise auf die Erde nieder. Und die Erde nahm sie gelassen auf.

Ich ging weiter, und die schweren Erdschollen hemmten mich. Aber dann war ich im Wald, Laub raschelte, nackte Sträucher streiften mich, ich bog sie auseinander, der Wind hatte sich plötzlich gelegt.

Dicht vor mir sprang lautlos ein Tier empor, es war ein grosser graubrauner Hase, er schnellte geschmeidig über die Wurzeln, duckte sich zusammen und verschwand dann pfeilschnell im Waldinnern. Ich sah sein Nest, rund ausgelegt unter den Sträuchern, bückte mich und legte die Hände auf die Stelle, wo sein pelzumhüllter Körper gelegen war. Eine Spur von tierischer Wärme war zurückgeblieben, die ich mit unbekannter Erschütterung empfand. Ich neigte mein Gesicht und schmiegte es an diese Stelle, und es war ein winziges Atmen und beinahe wie eine menschliche Brust.

Ich komme von den Feldern zurück. Die Erde klebt an meinen Schuhen, darum gehe ich langsam, wie ein Bauer. Manchmal vergesse ich, warum ich hier bin, auf der Flucht sozusagen, und bilde mir ein, schon lange hier gelebt zu haben. Aber wenn ich ein wirklicher Bauer wäre, wüsste ich, was auf diesen Feldern gesät, wieviel geerntet wird und welcher Boden der fruchtbarste ist. Das weiss ich alles nicht. Ich denke manchmal, dass den Bauern ihr Wissen vom Himmel kommt, weil sie fromm und von den Gewalten des Himmels abhängig sind. Ich gehe wie ein Fremder über die Felder und bin nur geduldet. Jetzt hasse ich mich plötzlich, weil ich ohne Verpflichtung bin. Hier, auf dem Lande, verstehe ich Gides »Immoraliste« und bin ihm verwandt, mit gleicher Sünde beladen, einer feindlichen, imaginären und fruchtlosen Freiheit ausgeliefert.

– Die Leute wissen ja nicht, was Sünde ist. –

Ja, nun schäme ich mich vieler Dinge und würde gern Gott um Verzeihung bitten. Wenn ich nur fromm wäre.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!