Madame Hélène - Juergen von Rehberg - E-Book

Madame Hélène E-Book

Juergen von Rehberg

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Beschreibung

Madame Hélène Helene Marschal, eine Grande Dame der Mode im fortgeschrittenen Alter, ist auf Der Suche nach dem eigenen ICH und verbirgt ihre Verletzlichkeit hinter einer Fassade aus Zynismus. Als sie einen Mann kennenlernt, der sich ihren Spielchen verweigert, beginnt bei ihr ein allmählicher Prozess der Veränderung. Sie reist mit ihm nach Paris und wird mit ihrer schmerzlichen Vergangenheit konfrontiert.

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Die Wohnanlage „Raio de Sol“1 an der Algarve war ein Projekt für eine finanziell gut situierte Klientel. Sie umfasste mehrere Bungalows mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten.

Als Christian und Helene dort einzogen, waren beide schon im wohlverdienten Ruhestand. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Helene brachte zwar eine Tochter mit in diese Ehe, die sich jedoch mit Christian nicht anfreunden konnte oder wollte.

Die gegenseitigen Besuche wurden immer weniger, und irgendwann blieben sie dann ganz aus.

Helene litt anfangs sehr darunter; aber mit der Zeit lernte sie damit umzugehen, dass gelegentliche Telefonate das Nonplusultra waren.

Christian war ebenfalls schon einmal verheiratet, und aus dieser Ehe waren zwei Töchter hervorgegangen.

Melanie, die ältere von beiden, hatte Sprachen studiert und verbrachte die meiste Zeit als Dolmetscherin im Ausland. Sie war nicht verheiratet und betrachtete die Ehe als nicht mehr zeitgemäß und als unnötiges Übel, das man besser vermeiden sollte.

Ihre jüngere Schwester, Karin, hatte Theologie studiert und arbeitete als Religionslehrerin an einem Gymnasium. Sie hatte Familie und war katholischer als der Papst.

Das implizierte auch, dass Verhütung für sie zu keiner Zeit ein Thema war und Abtreibung der Vorhof zur Hölle bedeutete.

Dank ihrer Fruchtbarkeit, von der Natur in reichem Maße damit ausgestattet, konnte sie auf eine stattliche Zahl von sechs Kindern blicken.

Und da inzwischen alle schon längst den Windeln entwachsen waren, konnte sie ihren Beruf wieder ausüben, den sie schwangerschaftsbedingt über einen sehr langen Zeitpunkt aussetzen musste.

Harald, der Samengeber, hatte anfänglich auch Theologie studiert, aber schon sehr bald, von heftigen Zweifeln gebeutelt, seiner Berufung wieder entsagt.

Jetzt ist er IT-Spezialist und sehr erfolgreich in seinem Beruf.

Die beiden Schwestern pflegten einen eher losen Kontakt, zumal Melanie nie so recht verstehen konnte, wie man sein Leben als Gebärmaschine fristen kann.

Sie machte aus ihrer Einstellung auch keinen Hehl daraus und brachte dies, anlässlich allfälliger Familienfeste, gerne einmal wieder aufs Tapet.

Erna, die Mutter der beiden und die Ex-Frau von Christian, hatte zwar nur bedingt Verständnis für die Gebärfreudigkeit ihrer Tochter, stellte sich aber bedingungslos vor sie, wenn Melanie wieder einmal vom Leder zog.

Wenn überhaupt war Harald der Schuldige, der mit seiner sexuellen Hemmungslosigkeit die arme Karin nicht aus dem Wochenbett herausließ.

Christian war das alles erspart geblieben, hatte er doch beizeiten das Weite gesucht. Er war dem Ruf der Liebe gefolgt, der ihn zu Edeltraud geführt hatte.

Nach dieser Zwischenstation, die nicht hielt, was sie anfänglich versprochen hatte, landete er schließlich bei Helene. Und jetzt war er angekommen.

Erna hat Christian nie verziehen, obwohl er immer wieder versucht hatte, Kontakt herzustellen, und seine beiden Töchter taten es der Mutter gleich.

Alle drei erklärten Christian zur „Persona non grata“ auf Lebenszeit. Und Christian konnte es ihnen noch nicht einmal verübeln.

*****

Als Helene noch im Berufsleben stand, war sie die erfolgreiche Geschäftsführerin einer Kette von mehreren Geschäften, welche auf anspruchsvolle Damenoberbekleidung im oberen Preissegment spezialisiert war.

Christian verdiente als selbstständiger Physiotherapeut sein Geld und seine Klientel bestand ausnahmslos aus Privatpatienten, meist aus gehobeneren Kreisen.

Dass er und Helene aufeinandertrafen, war einem reinen Zufall geschuldet.

Eine seiner Patientinnen, eine alleinstehende, schon in die Jahre gekommene Dame, namens Margot, hatte ihn um seine Begleitung zu einer Modenschau gebeten, welche im Stammhaus der besagten Modekette stattfand.

Nach mehreren, vergeblichen Versuchen, sich der Bitte zu entziehen, willigte Christian irgendwann ein.

Die Dame hatte ihm viele Patienten zugeführt, auf welche er keinesfalls hätte verzichten wollen. Und wer weiß, vielleicht würde die Veranstaltung ja recht unterhaltsam werden. Mit dieser Vorstellung motivierte sich Christian, was bis zu einem gewissen Punkt auch erfolgreich schien.

Das Modehaus trug übrigens den Namen „Mode Meunier“, und benutzte als Emblem das doppelt „M“.

Dahinter verbarg sich der Firmengründer und Chef, Erwin Müller, dessen Originalname in der Welt der Mode untragbar gewesen wäre.

Dass diese Veranstaltung sein Leben total auf den Kopf stellen würde, das konnte er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht erahnen…

*****

Die Modenschau war gut besucht. Alles, was Rang und Namen hatte bzw. glaubte, zu diesem erlauchten Kreis dazu zu gehören, hatte sich ein Stelldichein gegeben.

Bussi rechts, Bussi links, Small Talk mit dem Champagnerglas in der Hand, und stets mit wachsamem Auge auf die anderen Anwesenden.

Helene Marschal, die Geschäftsführerin, die in französischer Manier als „Madame Hélène“2 angesprochen wurde, begrüßte jeden einzelnen Gast mit Handschlag.

Als Margot und Christian an der Reihe waren, fiel die Begrüßung besonders herzlich aus.

„Darf ich dir meinen Begleiter vorstellen?“

Christian war ebenso überrascht wie Madame Hélène, die ihn eindringlich anschaute.

„Aber ja, liebste Margot“, kam die Antwort von der Geschäftsführerin, wobei sie das „t“ am Ende von Margots Namen ausgelassen hatte.

„Das ist der Mann mit den goldenen Händen, von dem ich dir schon erzählt habe.“

Christian fühlte, wie sich sein Mund anschickte, in totale Trockenheit überzugehen. Er hasste diese Bezeichnung, konnte sich ihr aber nicht entziehen.

„Sie sind das. Margot hat mir schon viel über Sie erzählt, lieber Christian.“

Nicht nur, dass am Ende von Margots Namen wieder das besagte „t“ fehlte, musste sich Christian seinen Namen ebenfalls französisch ausgesprochen anhören.

„Ich hoffe doch, nur Gutes, verehrte Frau Marschal“, antwortete Christian, „und vielen Dank für Ihre freundliche Einladung.“

Die unmittelbare Umgebung von Christian und den beiden Damen versank augenblicklich in betroffenes Schweigen.

Noch niemand hatte je gewagt, Madame Hélène mit bürgerlichem Namen anzusprechen. Das war ein Affront par excellence.

Die Geschäftsführerin sah Christian mit einem Lächeln an, das zu beschreiben, sehr schwer ist.

Es war weder kalt noch warm. Es schien jedoch keinesfalls zynisch, eher mitleidsvoll, und es brachte Christian in arge Bedrängnis.

Er fühlte eine tiefe Verlegenheit in sich aufsteigen, und in seiner ganzen Hilflosigkeit beugte er sich vor, ergriff Helenes Hand, um ihr mit einem Handkuss sein Bereuen zu dokumentieren.

Helene ließ ihn gewähren, und als Christian sich wieder aufrichtete, sah er in Helenes Augen, dass sie ihm verziehen hatte.

„Ich freue mich sehr, dass Sie der Einladung gefolgt sind, lieber Christian, und ich hoffe, dass Sie die Schau genießen werden.“

Mit diesen Worten wandte sich Madame Hélène von den beiden ab, um sich weiteren Gästen zu widmen.

Dieses Mal hatte sie Christians Namen ohne den französischen Touch ausgesprochen, was Christian ein feines Lächeln entlockte.

„Eine bemerkenswerte Frau“, dachte Christian und schaute Helene nach.

„Kommen sie, Christian; lassen Sie uns ein schönes Plätzchen suchen.“

Es war Margot, die ihn aus seinen Gedanken riss. Obwohl sie schon lange beruflich in Verbindung standen, waren sie über das „SIE“ nie hinausgekommen.

Wenig später begann die Modenschau. Es war nun einmal nicht Christians Welt; aber es war die Welt von Madame Hélène. Und ergo wuchs Christians Interesse von Minute zu Minute…

*****

Madame Hélène führte mit sicherer Hand durch die Modenschau.

Der Klang ihrer Stimme löste bei Christian Wohlgefallen aus. Es war eine Mischung aus Sanftheit und Bestimmtheit.

Was die Modelle und ihre Trägerinnen betraf, so hielt sich Christians Interesse in Grenzen. Er konnte den knöchernen, hochaufgeschossenen, jungen Damen nichts Schönes abgewinnen.

Allein der steinerne Gesichtsausdruck sollte den Betrachter eher traurig stimmen. Aber das schien, außer Christian, niemanden zu berühren.

Es lag wohl daran, dass die Schar der geladenen Gäste fast ausschließlich aus Damen bestand. Und die wenigen männlichen Gäste konnte man mit einem feinen Augenzwinkern den Damen hinzurechnen.

Jede der angekündigten menschlichen Schaufensterpuppen wurde – von Applaus begleitet – verabschiedet, um danach mit einem anderen Outfit erneut den Catwalk zu betreten.

Am Ende der Schau wurden sowohl die Models als auch Madame Hélène mit Applaus überschüttet.

Hélène nahm den Applaus mit einem feinen Lächeln entgegen, wobei ihr Blick für wenige Sekunden bei Christian hängen blieb.

Christian nickte ihr zu, und das Lächeln von Madame Hélène wurde augenblicklich mehr.

*****

Die Entscheidung war Christian schwergefallen. Er musste abwägen, was ihm wichtiger war: fernab der Gesellschaft, die so überhaupt nicht nach seinem Geschmack war, allein nach Hause zu fahren oder darüberstehen, um Hélène nahe sein zu können.

Er bereute sehr schnell seine Entscheidung. Die kleine Gesellschaft, welche nach der Schau in einer Schickimicki-Bar Platz genommen hatte, bestand nur aus ausgesuchten Leuten.

Margot gehörte ganz offensichtlich dazu. Als sie Christian Mitteilung davon gemacht hatte, dass sie und auch er eingeladen wären, der After-Show-Party beizuwohnen, war Christian erst einmal überrascht.

Aber noch größer war die Überraschung, als er Margot sagen hörte, Hélène hätte darauf bestanden, dass Christian unbedingt mitkommen solle.

„Ich glaube, Madame Hélène mag Sie, mein Lieber.“

Diese Worte von Margot gaben den Ausschlag, dass Christian einwilligte.

Ein Entschluss, den er eine knappe Stunde später schon wieder bereute. Hatte er geglaubt, Hélène näherkommen zu können, so sah er sich arg getäuscht.

Ihre Entourage aus lautstarken, modeaffinen Damen und femininen Herren, umschwärmte sie, wie die Bienen den Honigtopf, und für Christian blieben nur gelegentliche kurze Blicke, welche eher den Charakter von Mitleid aufwiesen, denn Interesse an seiner Person.

Selbst Margot, auf deren Drängen hin er sie begleitet hatte, schien seine Anwesenheit vergessen zu haben.

„Darf ich mich verabschieden?“

Mit diesen Worten wandte Christian sich an Madame Hélène.

„Sie wollen schon gehen, Christian?“, erwiderte Madame Hélène, und Christian war überrascht, dass sie sich seinen Namen gemerkt hatte.

„Fühlen Sie sich nicht wohl in unserer Gesellschaft?“

Christian glaubte, einen Hauch Ironie in der Stimme der Frau herauszuhören, deren Zauber er noch vor ein paar Stunden erlegen war.

„Genauso ist es, Frau Marschal“, antwortete Christian.

Die Worte hatten den Weg aus seinem Mund gefunden, noch bevor Christian es ihnen erlaubt hatte.

Der Geräuschpegel in der Bar sank augenblicklich herab. Es war, als hätte jemand den Stecker gezogen.

„Bonne nuit, mon ami, et dormiez bien! “

Ein feines Lächeln umspielte die Züge von Madame Hélènes Gesicht, als sie das sagte. Sie wandte sich wieder ihrer Gesellschaft zu, als wäre nichts geschehen.

Christian verließ eilig die Bar in dem Bewusstsein, sich gerade eine Menge Feinde gemacht zu haben, und er spürte deutlich den zornigen Blick von Margot in seinem Rücken.

*****

Eine knappe Woche später teilte ihm Frau Herzog, seine Ordinationshilfe mit, dass einige der Patientinnen ihre Termine storniert hätten.

Christian war nicht wirklich überrascht, als er das hörte. Seine ruchlose Tat, welche er in der Bar verübt hatte, zeigte Wirkung.

„Das macht nichts, Frau Herzog. Dann haben wir eben etwas mehr Freizeit.“

Frau Herzog verstand zwar nicht so recht, was sie mit dieser Antwort anfangen sollte; begnügte sich aber damit.

*****

Christian freute sich, als er Edeltraud zufällig in der Stadt traf. Sie war wie immer perfekt gestylt, und ihr Anblick elektrisierte ihn noch immer, wie schon in der Zeit, als er noch mit ihr zusammen war.

„Hallo, Christian! Ich freue mich, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

Edeltraud reichte Christian die Wange, und Christian platzierte den erwarteten Kuss darauf.

„Danke, Edeltraud. Es geht mir gut“, antwortete Christian, worauf Edeltraud ihn erstaunt ansah.

„Warum so förmlich? Hast du mich den gar nicht mehr lieb?“

Edeltraud neigte ihren Kopf zur Seite, als sie das sagte. Es erinnerte Christian an die gemeinsame Zeit mit ihr, als sie immer wieder ihre kindlich anmutenden Spiele mit ihm spielte.

Anfänglich fand er Gefallen daran. Auch dass sie wollte, dass er sie „Traudi“ nennen sollte. Aber irgendwann war er dessen überdrüssig.

Obwohl er den sexuellen Teil ihrer Beziehung als äußerst aufregend und befriedigend empfand, kam es schließlich doch zur Trennung.

Christian überging die Bemerkung von Edeltraud und sagte stattdessen mit einem Lächeln:

„Du siehst blendend aus. Ich denke, es geht dir gut. Habe ich recht, schöne Frau?“

„Charmant wie immer, du toller Mann“, erwiderte Edeltraud, „lädst du mich auf ein Glas Champagner ein?“

Als Christian nicht gleich darauf reagierte, fügte Edeltraud hinzu:

„Ein Kaffee tut es natürlich auch.“

Christian musste lachen. Es erinnerte ihn daran, dass die Zeit mit Edeltraud oft anstrengend war; aber zu keiner Zeit langweilig.

„Sehr gern, liebe Traudi“, erwiderte Christian. Es war ihm einfach herausgerutscht.

„Na, siehst du? Geht doch, mein Chrisi-Bär.“

Und plötzlich schien sich das Rad der Zeit zurückgedreht zu haben, und Christian fand Gefallen daran.

*****

„Erkaltete Pilzgerichte und erkaltete Liebschaften sollte man nicht wieder aufwärmen.“

Das musste auch Christian erfahren. Nach gerade einmal zwei Wochen, trennte er sich wieder von Edeltraud. Vielleicht war es auch umgekehrt; aber das ist nicht relevant.

Relevant ist, dass die Beziehung zwischen einem Mann in den Vierzigern und einer Frau Mitte zwanzig problembehaftet ist.

Die Trennung wurde ohne großes Aufsehen vollzogen. Mit einem „man sieht sich“ und einem „wir telefonieren“ war die leidige Angelegenheit aus der Welt geschafft.

Christian erneuerte wieder einmal seinen Schwur, keine feste Beziehung mehr eingehen zu wollen.

Und wieder einmal war es ein Meineid.

Obwohl ihm einige seiner Patientinnen nach dem Eklat in der Bar den Rücken gekehrt hatten, war noch genügend Arbeit übrig, um keine überflüssige Zeit zum Grübeln zu haben.

Das sollte sich schlagartig ändern, als ihm seine Ordinationsassistentin eine neue Patientin ankündigte:

„Frau Marschal ist die Nächste…“

*****

„Guten Tag, Herr Doktor.“

Christian musste erst einmal tief durchatmen, bevor er überhaupt fähig war, auf die Überraschung zu reagieren.

„Guten Tag, Frau Marschal, und bitte nennen Sie mich nicht <Herr Doktor>.“

„Das bringt mich jetzt aber in große Verlegenheit. Ich weiß ja nicht, wie Sie richtig heißen.“

Christian war verunsichert. Er wusste nicht, ob er von dieser Frau gerade zum Narren gehalten wurde oder ob sie seinen Nachnamen wirklich nicht wusste.

Helene Marschal erlöste Christian aus seiner Verunsicherung, indem sie hinzufügte:

„Ich kenne Sie ja nur als Christian.“

Dieses Mal hatte sie seinen Namen ohne den Französisch-Touch ausgesprochen.

Überhaupt fand Christian, bei näherer Betrachtung, dass ihm gerade Helene gegenüberstand und nicht Madame Hélène.

„Ich heiße Christian Geiger, Frau Marschal“, antwortete Christian.

„Jetzt sagen Sie mir nur noch Ihr Geburtsdatum, dann weiß ich alles, mein lieber Christian.“

Die Verunsicherung, welche Christian überwunden zu haben schien, kehrte augenblicklich zurück.

Helene hatte es in Christians Blick erkannt. Sie lächelte ihn an und sagte:

„Was halten Sie von einem Neustart?“

Christian zögerte und Helene führte die Initiative fort.

„Hallo Christian, ich heiße Helene, bin Löwe-Geborene und im reifen Alter von vierzig plus.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich <Helene> nennen würden und wenn ich Sie <Christian> nennen dürfte.

Und ich würde mich noch mehr darüber freuen, wenn wir uns näher kennenlernen würden.

Jetzt Sie!“

Christian war sprachlos. Ein Zustand, dem er zuletzt in Jugendjahren erlegen war. Sein Gegenüber hatte ihn völlig überfahren.

„Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen?“

Christian sah Helene fassungslos an. Diese Frau war eine Naturgewalt. So viel war sicher.

Als sich Christian wieder etwas gefasst hatte, sagte er:

„Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht als Patientin zu mir gekommen sind, sondern um mit mir ein Spiel zu spielen, damit Sie mit Ihren Freundinnen darüber lachen können?“

Diese Worte spiegelten die ganze Hilflosigkeit eines Mannes wider, der zwischen Bewunderung und Verachtung hin- und hergerissen war.

„Es schmerzt mich, dass Sie dieses Bild von mir haben, Herr Geiger, und es enttäuscht mich zutiefst.

Ich bin sehr wohl als Patientin zu Ihnen gekommen, denn ich leide seit einiger Zeit unter einem Zervikalsyndrom3.

Unabhängig davon, bin ich als Frau zu Ihnen gekommen, um Ihnen meine Zuneigung zu offenbaren, die ich seit unserer ersten Begegnung für Sie empfinde.

Aber das war ganz offenkundig ein Fehler. Bitte, entschuldigen Sie. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Und noch bevor Christian in irgendeiner Form darauf reagieren konnte, hatte Helene Marschal die Praxis wieder verlassen.

*****

Beiträge und Bilder über das Modehaus „Mode Meunier“ und deren Geschäftsführerin, „Madame Hélène“ fanden sich im Internet in großer Zahl.

Christian konnte es sich nicht verkneifen, ein wenig darin herumzustöbern.

Was alle Bilder gemeinsam hatten, auf welchen Helene Marschal abgebildet war, das war ihr gewinnendes Lächeln.

Es war jedoch nicht das Lächeln, das ihm seit ihrem Abgang aus seiner Praxis in Erinnerung geblieben war, und das ihn noch immer beschäftigte.

„Eine Frau mit zwei Gesichtern“, kam es Christian in den Sinn; aber der Gedanke missfiel ihm auch im selben Augenblick.

„Habe ich falsch reagiert, als Helene zu mir gekommen ist, um mich um meine Hilfe zu bitten?“

Diese Frage stellte sich Christian wieder und wieder, und je öfter er dies tat, umso mehr wuchs die Gewissheit in ihm, dass er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte.

Er griff ein paar Mal zum Telefon, um Helene anzurufen, denn die Kontaktdaten von ihr hatte seine Ordinationsassistentin ja im System gespeichert.

Kaum, dass er ihre Nummer gewählt hatte, unterbrach er auch schon wieder den Wählvorgang. Seine Angst, vor dem, was passieren könnte, ließ ihn davon Abstand nehmen.

Und dann passierte es doch.

„Frau Marschal ist am Apparat und möchte Sie sprechen.“

Die gute Frau Herzog. Diese Formulierung stammte aus einer Zeit, in der es noch keine Schnurlostelefone gab. Sie war ja doch schon ein älterer Jahrgang.

Umso erstaunlicher war es, dass sie sich dem schlimmen Feind „Computer“ gestellt hatte, als Christian sie darum gebeten hatte.

Frau Herzog war die Sprechstundenhilfe von Christians Vater, als dieser noch eine Arztpraxis unterhielt. Er war leider allzu früh an einem Herzinfarkt gestorben.

Christians Vater hatte immer wieder versucht, ihn zu einem Medizinstudium zu bewegen, was Christian jedoch nicht wollte.