Mami 1732 – Familienroman - Susanne Svanberg - E-Book

Mami 1732 – Familienroman E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Jauchzend lief die neunjährige Elena ihrem Vater entgegen, umarmte ihn stürmisch. "Morgen geht's los!" japste sie aufgeregt. Jochen Hellkamp drückte sein Töchterchen an sich und küßte es sanft auf die Stirn. Für ihn war dies der schönste Augenblick des Tages. Er liebte das Kind, hatte sein Leben ganz nach Elenas Bedürfnissen ausgerichtet. Als Elektroingenieur hatte er früher für seine Firma die ganze Welt bereist, heute war er als selbständiger Vertreter tätig, besuchte kleine Geschäfte, die elektrische Geräte verkauften. Das ermöglichte ihm eine freie Zeiteinteilung, was sich für die Betreuung des Kindes oft schon als unerläßlich erwiesen hatte. Der Verdienst war auch nicht schlecht, sie konnten sorgenfrei leben. "Vati, ich freu mich so. Du auch?" Jochen blieb die Antwort schuldig. Nein, er freute sich nicht, bemühte sich aber um ein Lächeln, um Elena nicht zu enttäuschen. "Die Reisetasche und ein Rucksack mit Proviant sind gepackt. Ich komme wie immer, um Elenazum Bus zu bringen." Hildegard Schwaiger, die Frau, die Elena tagsüber betreute, trat hinzu und beobachtete gerührt die herzliche Begrüßung. Das innige Verhältnis dieses Vaters zu seinem Kind erstaunte sie immer wieder. Drei eigene Kinder hatte sie gehabt, doch ihr Mann hatte sich kaum um sie gekümmert. Inzwischen war er schon gestorben, die beiden Söhne und die Tochter erwachsen. Hildegard besserte ihre schmale Witwenrente durch die Führung dieses Haushalts auf. Sie machte ihre Sache gut, doch Jochen wurde den Verdacht nicht los, daß sie sich mehr erhoffte, als hier nur die Stelle der Haushälterin zu übernehmen. Doch das war für ihn undenkbar.

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 Als Baby wurde sie entführt

Roman von Susanne Svanberg

Jauchzend lief die neunjährige Elena ihrem Vater entgegen, umarmte ihn stürmisch.

»Morgen geht’s los!« japste sie aufgeregt.

Jochen Hellkamp drückte sein Töchterchen an sich und küßte es sanft auf die Stirn. Für ihn war dies der schönste Augenblick des Tages. Er liebte das Kind, hatte sein Leben ganz nach Elenas Bedürfnissen ausgerichtet. Als Elektroingenieur hatte er früher für seine Firma die ganze Welt bereist, heute war er als selbständiger Vertreter tätig, besuchte kleine Geschäfte, die elektrische Geräte verkauften. Das ermöglichte ihm eine freie Zeiteinteilung, was sich für die Betreuung des Kindes oft schon als unerläßlich erwiesen hatte. Der Verdienst war auch nicht schlecht, sie konnten sorgenfrei leben.

»Vati, ich freu mich so. Du auch?«

Jochen blieb die Antwort schuldig. Nein, er freute sich nicht, bemühte sich aber um ein Lächeln, um Elena nicht zu enttäuschen.

»Die Reisetasche und ein Rucksack mit Proviant sind gepackt. Ich komme wie immer, um Elenazum Bus zu bringen.« Hildegard Schwaiger, die Frau, die Elena tagsüber betreute, trat hinzu und beobachtete gerührt die herzliche Begrüßung. Das innige Verhältnis dieses Vaters zu seinem Kind erstaunte sie immer wieder. Drei eigene Kinder hatte sie gehabt, doch ihr Mann hatte sich kaum um sie gekümmert. Inzwischen war er schon gestorben, die beiden Söhne und die Tochter erwachsen. Hildegard besserte ihre schmale Witwenrente durch die Führung dieses Haushalts auf.

Sie machte ihre Sache gut, doch Jochen wurde den Verdacht nicht los, daß sie sich mehr erhoffte, als hier nur die Stelle der Haushälterin zu übernehmen. Doch das war für ihn undenkbar. Zum einen war Hildegard wesentlich älter als er, zum anderen hatte er noch nie daran gedacht, wieder zu heiraten.

»Das ist nett von Ihnen, Frau Schwaiger, aber machen Sie sich morgen ruhig einen schönen Tag. Ich bringe Elena selbst zum Bus. Schließlich ist es das erste Mal seit sieben Jahren, daß wir getrennt sein werden.« Jochen zog sein Töchterchen zärtlich an sich. Die Kleine würde ihm fehlen.

Das Mädchen spürte den traurigen Unterton in der Stimme des Vaters. »Wir sind ja nur zehn Tage im Landschulheim, dann bin ich wieder da«, versuchte sie Jochen zu trösten.

Hellkamp war überzeugt davon, daß es für ihn zehn unheimlich lange Tage sein würden. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Er sah auf die Haushälterin, die im Begriff war zu gehen. Es hatte sich so eingespielt, daß sie das Haus verließ, wenn er kam. So war Elena nie allein.

»Sie brauchen die nächsten zehn Tage nicht zu kommen, Frau Schwaiger. Spannen Sie aus, gönnen Sie sich Ruhe. Das wird Ihnen guttun.«

»Aber…« Hildegard schien enttäuscht zu sein.

»Ich esse unterwegs, abends wische ich Staub, und ich sauge auch die Teppiche«, versprach Jochen mit charmantem Blinzeln.

»Wie Sie meinen.« Ein bißchen beleidigt ging Hildegard Schwaiger zu ihrem Fahrrad, das an der Hauswand lehnte. Sie nahm es und fuhr davon, ohne sich zu verabschieden.

Weder Jochen noch Elena fiel das auf. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

»Ich bin froh, daß du mich hinbringst«, nuschelte die Kleine strahlend. »Bei den anderen kommen nämlich nur die Muttis mit. Überhaupt hat niemand einen Vati, der so super ist. Nicole sagt das auch«, erklärte Elena unüberhörbar stolz. Nicole war ihre beste Freundin. Sie hatte zwei Brüder und war wild wie ein Junge. Jochen war deshalb von dieser Freundschaft nicht so begeistert.

»Sie beneiden mich alle. Und weißt du, was die Nicole tut, wenn sie groß ist?« Erwartungsvoll schaute Elena ihren Vater an. Groß war er, breitschultrig, sportlich. Er hatte lockiges dunkelblondes Haar, das immer ein bißchen verwuschelt war und Augen in einem warmen Braunton. Was Elena aber am meisten an ihm mochte, war sein Lächeln. Es war so ehrlich und so liebevoll, daß Elena immer ein richtiges Glücksgefühl empfand, wenn ihr Vater lachte. Das war auch jetzt so.

»Keine Ahnung«, murmelte Jochen, während er die Lederjacke an die Garderobe hing. Die Tasche mit den Prospekten und den Preislisten hatte er im Auto gelassen, denn er brauchte sie ja morgen wieder.

Es war ein harter Arbeitstag für ihn gewesen. Dreihundert Kilometer war er zurückgefahren, hatte es geschafft, pünktlich zu Hause zu sein, trotz Stau und dichtem Verkehr auf der Autobahn. Jetzt war er erschöpft und sehnte sich nach Ruhe.

»Du mußt raten, Vati«, forderte Elena streng. Manchmal war sie so lebhaft, daß sich Jochen der Belastung nicht gewachsen fühlte. Aber er hätte sich nie beschwert, im Gegenteil. Er war glücklich darüber, daß Elena fröhlich und unbekümmert aufwuchs, obwohl sie keine Mutter mehr hatte.

Sieben Jahre war es nun schon her, daß seine Frau Marguerite einen schweren Unfall gehabt hatte. Sie starb nur wenige Stunden, bevor er aus Mexiko, wo er für seine Firma gearbeitet hatte, zurückgekommen war. Seine spanischen Schwiegereltern machten ihm damals heftige Vorwürfe, gaben ihm die Schuld an Marguerites Tod. Obwohl sich Jochen keiner Schuld bewußt war, konnte er die ständigen Vorhaltungen nicht lange ertragen. Er kehrte mit der damals zweijährigen Elena aus Barcelona, wo er mit Marguerite gelebt hatte, in seine deutsche Heimat zurück.

Da seine Eltern kurz zuvor in ein Seniorenheim übergesiedelt waren, übernahm er ihr Haus, ließ es renovieren und gemütlich einrichten. Ein richtiges Schmuckstück wurde aus der etwas verwahrlosten Villa, die schon fast hundert Jahre alt war. Jochen gestaltete den Garten um, erhielt aber den alten Baumbestand und den kleinen Pavillon mit den Jugendstilmotiven. Für Elena baute er Schaukel und Rutsche, hatte die Spielgeräte vor vier Jahren durch ein ovales Schwimmbecken, das in den Sommermonaten ein beliebter Treffpunkt von Elenas Schulkameraden war, ergänzt.

»Du hast immer noch nicht geraten«, erinnerte das kleine Mädchen mit vorwurfsvollem Stimmchen.

»Ich denke, daß Nicole später einmal Boxer werden will oder Rennfahrer, vielleicht auch Freistilringer. Sie rauft doch so gern«, meinte Jochen blinzelnd.

Elena schüttelte empört das Köpfchen mit den braunen Haaren. Ihre großen Augen, die dem aparten Gesichtchen einen ganz besonderen Reiz gaben, drückten Unmut aus.

»Ganz falsch! Wenn die Nicole groß ist, will sie einen Mann heiraten, der so aussieht wie du.« Elena war völlig ernst.

Ihr Vater dagegen lachte amüsiert. »Den beneide ich nicht.«

»Warum?«

»Weil deine Freundin schon jetzt eine kleine Emanze ist.« Für Jochen war das Töchterchen eine vollwertige Gesprächspartnerin, mit der er sich oft auch über ernste Dinge unterhielt.

»Was ist das?« Elena, die spürte, daß diese Aussage für Nicole nicht ganz günstig war, stemmte angriffslustig die Arme in die Seiten. Normalerweise war sie ein sehr friedliches Kind und schien das oft überschäumende Temperament der spanischen Mama nicht geerbt zu haben.

»Eine Frau, die stärker sein will als jeder Mann.« Jochen war in die Küche gegangen, schaute in die auf dem Elektroherd warmgehaltenen Töpfe mit den Speisen, die Frau Schwaiger zubereitet hatte. Sie war eine recht gute Köchin, und es duftete auch jetzt verlockend.

»Ist sie auch«, brüstete sich Elena. »Die Nicole verhaut jeden Jungen. Du müßtest mal sehen, Papa, wie die in unserer Klasse Respekt vor ihr haben. Keiner legt sich mit ihr an.«

»Trotzdem hoffe ich nicht, daß du ihr nacheiferst. Sei bitte vorsichtig, wenn ihr im Landschulheim seid, laß dich von Nicole nicht zu gefährlichen Extratouren anstiften, hörst du?« Besorgt sah Jochen sein Töchterchen an. Er lebte in der ständigen Angst, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren, so wie damals Marguerite.

Elena winkte ungeduldig ab. »Das können wir ja gar nicht. Weil zwei Lehrer dabei sind: Frau Haise und der Eiermann.«

»Meiermann«, verbesserte Jochen, der den gewissenhaften Erzieher von den Elternversammlungen kannte.

»Es sagen aber alle Eiermann«, protestierte Elena.

»Du nicht, ist das klar?« Es kam nur selten vor, daß Jochen seine Tochter streng anschaute. Dies war so ein Fall.

»Hm.« Elena senkte das Köpfchen, nahm die bereitstehenden Teller und trug sie zum Tisch auf der Terrasse. Dort nahm Jochen mit seiner kleinen Tochter die Mahlzeiten ein, wann immer das Wetter es erlaubte. Man hatte von dort einen wunderschönen Blick in den Garten, der von immergrünen Sträuchern begrenzt wurde. Sie waren so hoch, daß das Nachbarhaus nicht zu sehen war.

Jochen kam mit den in Schüsseln umgefüllten Speisen hinterher. Sie waren eine sehr gut eingespielte kleine Gemeinschaft.

»ZweiunddreißigKinder und zwei Lehrer«, seufzte er bekümmert. »Das kann nur funktionieren, wenn alle gehorchen.«

»Aber Vati, so klein sind wir doch nicht mehr. Die meisten in unserer Klasse sind schon zehn. Da kann doch jeder auf sich selbst aufpassen.«

»Hoffentlich.« Jochen dachte daran, wie laut und lebhaft Elenas Klassenkameraden waren, wenn sie hier im Garten herumtobten. Richtig ängstlich sah er dabei aus.

Elena empfand Mitleid und eine tiefe Zuneigung. »Brauchst dir keine Sorgen machen, Papa. Ich bin immer vorsichtig.«

»Versprichst du mir das?« Jochen sah seiner Kleinen aufmerksam in die Augen.

Sie nickte mehrmals zur Bestätigung.

*

»Jo, do schau her«, murmelte Hubert Lech, der Verwalter des ehemaligen Hotels Sonnenhof, in seiner bayerischen Muttersprache. Er stützte sich auf den Besen, mit dem er gerade den Weg vor dem Haus gefegt hatte. Das war eigentlich nicht seine Arbeit, aber wenn es Engpässe gab, scheute Lech sich nicht, selbst zuzugreifen, egal welche Tätigkeit das war. Er war ein umgänglicher Mann, trug die landestypischen Trachtenanzüge und einen Gamsbarthut, bemühte sich aber um ein korrektes Deutsch. Nur wenn er überrascht war wie jetzt, verfiel er in den bayerischen Dialekt. »Unsere Angela ist auch schon da, obwohl die neue Gruppe erst heute ankommt. Erfahrungsgemäß haben wir die ersten Krankheitsfälle erst in zwei bis drei Tagen.« Wohlgefällig musterte Hubert die Krankenschwester, die ihr Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte und jetzt näherkam.

Angela Winter war eine sehr erfreuliche Erscheinung. Groß und schlank, dunkelhaarig mit faszinierenden blauen Augen.

Dem gutmütigen Hubert hatte sie damit schon bei der ersten Begegnung den Kopf verdreht. Seine Frau war ihm davongelaufen, als er den Sonnenhof, der früher ihm gehörte, nicht mehr halten konnte. Die Gemeinde hatte das Anwesen aufgekauft und ein Landschulheim daraus gemacht. Mit Hubert Lech als Verwalter hatte man keinen schlechten Griff getan. Er, der inzwischen geschieden war, verstand sich gut mit der Jugend, verstand sich auch darauf, das Personal gut zu führen und die Kosten niedrig zu halten. Jetzt zeigte es sich, daß es seine Frau gewesen war, die nicht hatte wirtschaften können und die Verantwortung dafür trug, daß der Sonnenhof so hoch verschuldet war. In seiner Gutmütigkeit hatte ihr Hubert zu lange freie Hand gelassen. Inzwischen hatte er die Enttäuschung überwunden, war mit seinem Leben recht zufrieden. Einen großen, einen sehr großen Wunsch hatte er allerdings: er träumte davon, die Zuneigung der hübschen Krankenschwester zu erringen. Deshalb freute er sich auch, wenn viele seiner kleinen Gäste erkältet oder sonst irgendwie pflegebedürftig waren, damit Angela ins Haus kommen und auch bleiben mußte.

»Ich kam ohnehin vorbei. Da dachte ich, schaust mal rein. Es gibt immer Kinder, denen es bei den langen Anfahrten im Bus schlecht wird. Da kann ich doch schon mal Tee richten.« Angela lächelte vergnügt. Das mit dem Vorbeikommen stimmte nicht ganz. Sie liebte Kinder und konnte es manchmal kaum erwarten, bis die nächste Gruppe eintraf und sie in den Sonnenhof gerufen wurde. In der übrigen Zeit arbeitete sie als Sprechstundenhilfe bei dem einzigen Doktor im Dorf. Er war schon älter, und die wenigen Patienten, die er noch hatte, kamen eigentlich mehr zum Reden. Wenn sie wirklich krank waren, fuhren sie zu den Ärzten in die Stadt. Deshalb brauchte der alte Doktor Angela immer weniger.

»Ich freue mich.« Hubert verneigte sich galant, was mit Besen und kurzer Lederhose etwas komisch aussah. »Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Frische Schmankerln haben wir auch. Die gibt’s zur Begrüßung.« Lech stellte rasch den Besen weg und kam mit Angela ins Haus.

Es war im Bauernstil eingerichtet mit schweren Möbeln, alten Truhen und bemalten Schränken, urgemütlich. Alle Jugendgruppen, die bisher ihre Landschulzeit hier verbracht hatten, fühlten sich auf Anhieb wohl. Es gab unter den jüngeren Kindern kein Heimweh und bei den älteren Jugendlichen keinen Vandalismus.

Hubert begleitete Angela in die Küche, wo es nach den in flüssigem Fett gebackenen Stückchen roch, trotz der weit geöffneten Fenster. Köchin Lene, eine freundliche vollschlanke Frau mittleren Alters, begrüßte Angela wie eine alte Freundin. »Na, jetzt san mer komplett. Nix kann mehr schiefgehn!«

»Ich freue mich auch schon auf die Kinder. Hoffentlich sind sie so aufgeschlossen wie die von der letzten Gruppe.«

»Und hoffentlich gibt’s jede Menge kleiner Wehwehchen, damit Sie jeden Tag kommen müssen, Angela«, raunte Hubert und sah die junge Frau verliebt an.

Angela überhörte es. Sie kochte Pfefferminztee und war froh, daß keine Zeit blieb, im Büro des Verwalters noch eine Tasse Kaffee zu trinken.

Der Bus kam früher als erwartet. Zweiunddreißig quicklebendige Buben und Mädchen drängten ungeduldig ins Freie, stürmten sofortzum Haus.

»Klasse! Super!« äußerten sich einige von ihnen.

Hinter der vergnügten Kinderschar entstiegen zwei gestreßte Lehrer und ein genervter Busfahrer dem modernen Reisebus. Für sie war es äußerst anstrengend gewesen, den Lärmpegel im Innern des Fahrzeugs zu ertragen.

Angelas Vorsichtsmaßnahme erwies sich bei den Kindern als überflüssig, dagegen waren ihr die Erwachsenen für den Tee recht dankbar. Sie hatten ihn bitter nötig.

Die Jugend stürzte sich indessen im rustikal eingerichteten Speisesaal auf die angebotene Limonade und die Schmankerl, die so rasch abnahmen, daß Köchin Lene ihren Augen kaum traute. Viele der Jungen und Mädchen kauten emsig. Auch Elenas Freundin Nicole. Sie war ein kräftiges Mädchen, daran gewöhnt, sich gegen zwei Brüder durchsetzen zu müssen. Neben ihr wirkte Elena sehr klein und zierlich. So, als wäre sie jünger.

Vielleicht fiel Angela dieses Kind gerade deshalb auf. Es gab sich sehr zurückhaltend, nippte nur an seinem Glas und hatte noch das erste Schmankerl in der Hand.

»Schmeckt es dir nicht?« fragte Angela freundlich. Ihre Stimme klang warm und mütterlich.

Elena sah auf, musterte die Fremde erstaunt. Sie war ihr irgendwie vertraut. Weshalb, das hätte Elena nicht sagen können. Daß sie Vertrauen zu dieser Frau haben konnte, wußte Elena sofort.

»Doch, es schmeckt. Aber ich habe keinen Hunger«, gestand Elena leise und ein wenig beschämt. Sie mußte ständig an ihren Vati denken, der dem Bus noch lange nachgewinkt hatte. So leicht, wie sie gedacht hatte, war ihr der Abschied doch nicht gefallen. Und wenn die Klassenkameraden nicht zugeschaut hätten, hätte sie vielleicht sogar geweint.

»Du vermißt deine Mutti, nicht wahr?« Angela konnte sich sehr gut in die Lage eines sensiblen kleinen Mädchens versetzen. Zu ihrer Überraschung schüttelte Elena heftig den Kopf. Der braune Pferdeschwanz flog von einer Seite zur anderen, und die blauen Kinderaugen füllten sich mit Tränen.

»Ich hab keine Mutti. Nur meinen Papa und Mops. Mops ist ein Kater, und er heißt so, weil er so dick ist«, erzählte Elena vertrauensvoll. Sie schnupfte ein bißchen, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Du wirst sehen, die Zeit hier vergeht unheimlich schnell, und dann bist du wieder bei ihnen«, tröstete Angela und streichelte behutsam Elenas Arm. Eigentlich wünschte sie sich in diesem Augenblick genau das Gegenteil. Sie wäre gern lange mit diesem Kind zusammen gewesen, denn gerade zu Mädchen dieser Altersgruppe hatte Angela eine ganz besondere Beziehung. Sie sprach mit niemand darüber, hütete sich vor jeder Andeutung. Absichtlich war sie nach ihrer Scheidung in dieses Dorf gezogen, wo niemand sie kannte, keiner sie auf ihr ganz persönliches Schicksal ansprach.

»Es wird dir bestimmt hier gefallen. Ihr werdet viel draußen sein, Spiele machen, wandern, klettern oder baden. Und wenn das Wetter mal nicht so gut ist, wird gebastelt, gesungen oder Theater gespielt. Wir haben eine richtige Kostümkammer.«

»Echt?« mischte sich Nicole ein. »Gibt es da auch Ritterrüstungen mit Schwert und Schild?«