Mami 1744 – Familienroman - Susanne Svanberg - E-Book

Mami 1744 – Familienroman E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Marlene wurde blaß. Fester preßte sie den Hörer des schnurlosen Telefons ans Ohr. Ihr hübsches Gesicht verzog sich, als hätte sie Schmerzen. "Nein", flüsterte sie entsetzt. Sie schüttelte den Kopf mit dem schulterlangen dunklen Haar. Der Blick ihrer schönen braunen Augen wurde verzweifelt. Angestrengt lauschte sie auf die Stimme aus dem Gerät. Für einen Moment schloß Marlene die Augen, atmete schwer. Es war, als müßte sie Kraft schöpfen, um sprechen zu können. "Ich komme selbstverständlich", flüsterte sie bedrückt. "Wann? Ich fahre so bald wie möglich weg und kann morgen bei euch sein. Es tut mir ja so leid… so furchtbar leid." Marlene preßte die Lippen aufeinander und schluckte mehrmals. Dabei rannen die Tränen über ihr jugendliches Gesicht. "Ja, bis morgen. Und danke, Arne, daß du mich informiert hast." Gewohnheitsmä­ßig schaltete Marlene das Gerät ab und legte es auf den Früh­stücks­tisch. Sie wurde sich dieser Handlung gar nicht bewußt. Ihr Blick ging in die Ferne. Die sanften Hügel der Toskana waren dort zu sehen, bepflanzt mit Reben und Olivenbäumen, unterbrochen von kleinen Eichenwäldern, vor denen lange Ketten uralter Zypressen standen. Dunkel hoben sie sich vom wolkenlosen blauen Himmel ab. Doch Marlene hatte keinen Blick für die liebliche Landschaft. Es waren ganz andere Bilder, die durch ihre Gedanken geisterten. Celestino Piotta, ihr Ehemann, hatte sie aufmerksam beobachtet. Er war einundfünzig und damit genau zwanzig Jahre älter als Marlene. Seine ständig schwelende Eifersucht hatte vermutlich ihre Ursache in diesem Altersunterschied.

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Mami -1744-

 …und plötzlich war eine Cousine da

Roman von Susanne Svanberg 

Marlene wurde blaß. Fester preßte sie den Hörer des schnurlosen Telefons ans Ohr. Ihr hübsches Gesicht verzog sich, als hätte sie Schmerzen.

»Nein«, flüsterte sie entsetzt. Sie schüttelte den Kopf mit dem schulterlangen dunklen Haar. Der Blick ihrer schönen braunen Augen wurde verzweifelt. Angestrengt lauschte sie auf die Stimme aus dem Gerät.

Für einen Moment schloß Marlene die Augen, atmete schwer. Es war, als müßte sie Kraft schöpfen, um sprechen zu können.

»Ich komme selbstverständlich«, flüsterte sie bedrückt. »Wann? Ich fahre so bald wie möglich weg und kann morgen bei euch sein. Es tut mir ja so leid… so furchtbar leid.« Marlene preßte die Lippen aufeinander und schluckte mehrmals. Dabei rannen die Tränen über ihr jugendliches Gesicht. »Ja, bis morgen. Und danke, Arne, daß du mich informiert hast.« Gewohnheitsmä­ßig schaltete Marlene das Gerät ab und legte es auf den Früh­stücks­tisch. Sie wurde sich dieser Handlung gar nicht bewußt. Ihr Blick ging in die Ferne.

Die sanften Hügel der Toskana waren dort zu sehen, bepflanzt mit Reben und Olivenbäumen, unterbrochen von kleinen Eichenwäldern, vor denen lange Ketten uralter Zypressen standen. Dunkel hoben sie sich vom wolkenlosen blauen Himmel ab. Doch Marlene hatte keinen Blick für die liebliche Landschaft. Es waren ganz andere Bilder, die durch ihre Gedanken geisterten.

Celestino Piotta, ihr Ehemann, hatte sie aufmerksam beobachtet. Er war einundfünzig und damit genau zwanzig Jahre älter als Marlene. Seine ständig schwelende Eifersucht hatte vermutlich ihre Ursache in diesem Altersunterschied.

Heitere Gelassenheit vortäuschend, lehnte er sich im Rattansessel zurück. »Schlechte Nachrichten?« fragte er ironisch in seiner italienischen Muttersprache. Deutsch zu lernen, hatte er nie für nötig gehalten. Für ihn war es selbstverständlich, daß seine Frau die italienische Sprache beherrschte. Daß sie das gemeinsame Töchterchen Antonia zweisprachig erzog, nahm er hin, hielt es allerdings für Unsinn.

»Ist dein Freund in Schwierigkeiten?« fragte Celestino grinsend. Er gab sich keine Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen. »Sie müssen ernster Natur sein, sonst könntest du nicht so erschüttert aussehen. Bist so bleich, als wärst du dem Teufel begegnet.« Celestino rieb sich zufrieden die dicken Hände. Es ging ihm gut, das sah man an seinem runden, glänzenden Gesicht ebenso wie an den teueren Maßanzügen, die er trug.

Marlene atmete tief durch. Sie fühlte sich durch die Bemerkungen ihres Mannes oft gedemütigt. Heute prallten sie an ihr ab.

»Meine Schwester Iris ist gestorben. Es war Arne, der eben anrief.

»Arne? Auch einer deiner Liebhaber?«

»Arne ist mein Schwager, das weißt du doch«, seufzte Marlene  geduldig. Längst hatte sie es aufgegeben, sich gegen ihren Mann aufzulehnen. Er war stärker, er hatte Macht und Geld. In seiner Heimat war er ein angesehener Mann. Ein Weingut und große Ländereien gehörten ihm, dar­überhinaus besaß er nach eigenen Angaben ein ansehnliches Aktiendepot. Sie dagegen war eine mittellose Ausländerin. Natürlich hätte sich Marlene von ihrem Mann trennen und in ihre Heimat zurückkehren können. Aber damit hätte sie ihr Kind verloren, und deshalb blieb sie, ertrug wehrlos Celestinos Sticheleien.

Der Italiener lachte spöttisch. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß er früher scharf auf dich war, dieser Arne? Daran hat sich bestimmt nichts geändert. Er will dich in eine Falle locken, das ist jedem klar, nur dir nicht. Du sagst natürlich sofort zu, weil…«

»Celestino, ich wiederhole: Meine Schwester ist in der vergangenen Nacht gestorben. Sie wird Anfang der nächsten Woche beerdigt.«

Antonia, sieben Jahre alt, vorlaut und altklug wie jedes verzogene Einzelkind, hörte der Unterhaltung schweigend zu. Das war kein Thema, das sie interessierte. Da beschäftigte sie sich schon lieber mit dem neuen Spielzeug, das ihr der Vater gestern von einer Reise mitgebracht hatte. Es war ein teueres elektronisches Spiel, eigentlich für Erwachsene gedacht. Doch Antonia, in solchen Dingen sehr geübt, beherrschte es bereits erstauntlich gut.

Celestino Piotta war entsprechend stolz auf das Töchterchen. Daß die Kleine nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern auch sehr begabt war, schmeichelte seinem Geltungsbedürfnis. Er verwöhnte Antonia mehr, als es ihrer Mutti lieb war. Kein Wunsch des kleinen Mädchens blieb unerfüllt. Auch jetzt beobachtete der stolze Vater selbstgefällig das Kind. Die schwarzen Locken, die glänzenden dunklen Augen und den sonnenbraunen Teint hatte Antonia von ihm. Aus ihr wurde bestimmt einmal eine Schönheit, die sich ihren Partner unter den reichsten Männern des Landes auswählen konnte. Alles, was er in Antonia investierte, war also gut angelegt.

»Dieser Arne hat gewußt, daß deine Schwester nicht alt wird. Jetzt streckt er die Fühler nach dir aus.« Unvermittelt wurde Celestino ernst und sah seine Frau warnend an.

Vielleicht hätte Marlene auf diese Anspielung anders reagiert, hätte sie nicht unter dem Schock der traurigen Nachricht gestanden. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Marlene den Gedanken vielleicht weitergesponnen, denn für Arne hegte sie Gefühle, die noch immer lebendig waren, obwohl sie seit fast acht Jahren mit Celestino verheiratet war und die eheliche Treue nie gebrochen hatte. Arne war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Doch daran wollte sie sich jetzt nicht erinnern. 

»Höre bitte mit dem Unsinn auf«, fuhr sie ihren Mann ungewohnt heftig an.

Für Celestino war dies die Aufforderung, seinen Vermutungen weitere hinzuzufügen. »Vermutlich hast du von den dunkelhaarigen, heißblütigen Italienern genug. Ein kühler Blonder aus dem Norden wäre doch ’ne nette Abwechslung.

Marlene  überging die höhnische Äußerung. »Ich richte ein paar Sachen und fahre gleich.«

»Du hast noch nicht gefrühstückt.« Celestino wies auf das unberührte Frühstücksgedeck.

»Entschuldige, ich kann nicht. Der Schreck…«

Piotta verzog das feiste Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. 

»Sagen wir lieber… die Vorfreude.  Das kommt den Tatsachen schon näher. Sag mal, hast du keinerlei Hemmungen, Mann und Kind alleinzulassen?«

Marlene seufzte. »Ich war seit fast acht Jahren nicht mehr in meiner Heimat, habe Iris nie wiedergesehen. Und nun soll ich nicht einmal zu ihrer Beerdigung?«

»Wer sagt das? Allerdings mußt du damit rechnen, daß ich auch meine eigenen Wege gehe.« Celestino  schmunzelte selbstgefällig. 

Schweigend stand Marlene  auf. Schon im ersten Jahr ihrer Ehe hatte Piotta eine Freundin gehabt,  mit der er seine Freizeit verbrachte. Er richtete der jungen Dame in Mailand eine teure Wohnung ein und bedachte sie mit vielen Geschenken. Weitere Mätressen folgten. Marlene erfuhr durch die Zeitung davon oder auch durch unachtsame Bemerkungen des Personals. Schon seit Jahren bestand ihre Ehe nur noch auf dem Papier, und sie wären sicher längst nicht mehr beisammen gewesen, hätte es die kleine Antonia nicht gegeben. Nie und nimmer hätte ihr Celestino das Kind überlassen. Was blieb Marlene da übrig, als seine Launen zu ertragen.

»Mama, darf ich mitkommen?« In Gegenwart des Vaters sprach Antonia italienisch. Deutsch redete sie nur, wenn sie mit Marlene  allein war. Beides beherrschte sie fehlerfrei.

»Es ist kein erfreulicher Anlaß, sonst würde ich dich gerne mitnehmen. Du könntest deine Kusine Lea kennenlernen. Sie ist nur zwei Monate jünger als du.«

»Wie sieht sie aus? Hübscher als ich?«

»Ich werde dir ein Foto mitbringen.«

»Vergiß es, principessa!« Celestino  neigte sich herüber, legte seinen Arm um das kleine Mäd­chen. »Sie kann gar nicht hübscher sein, weil du ja die Schönste bist, Antonia.« So klangvoll wie der Vater konnte niemand Antonias Namen aussprechen. Strahlend sah die Kleine zu ihm auf. »Du bleibst hier, und wir machen uns ein paar schöne Tage. Na, wie findest du das?« Herausfordernd sah Celestino das Töchterchen an.

Sie ließ das neue Spiel im Stich, sprang auf und umarmte den Dicken.

*

Es war ein ganz normales Reihenhaus, das Arne Nielson in einem Hamburger Stadtteil bewohnte. Verglichen mit dem Domizil der Piottas in der Toskana war es ein recht bescheidener Wohnsitz. Dabei verdiente Arne als Schiffsingenieur an einer Hamburger Werft sehr gut. Den größten Teil der Einnahmen verschlang bisher Iris’ Krankheit. In der Hoffnung, daß man ihr helfen konnte, hatte Arne seine Frau zu den besten Ärzten in Amerika, Japan und China geschickt. Immer wieder war das Schlimmste so hinausgezögert worden. Wirklich helfen konnte ihr allerdings niemand.

Marlene parkte ihren Wagen am Straßenrand, ging langsam durch den bescheidenen Vorgarten. Sie hatte Herzklopfen, als sie auf den Klingelknopf drückte.

Nach so vielen Jahren würde sie den Mann wiedersehen, den sie geliebt hatte wie keinen anderen. Sie war sehr enttäuscht gewesen, als er ihre Schwester heiratete.

Iris war ein Jahr älter als sie, und sie hatten sich immer gut verstanden, hatten eine glückliche Kindheit verlebt. Die ersten Symptome der Krankheit zeigten sich, als Iris 22 war. Natürlich galt die Sorge der Eltern fortan in erster Linie ihr. Marlene  hatte Verständnis dafür, war auch gerne damit einverstanden, Knochenmark für ihre Schwester zu spenden. Alle waren sehr erleichtert, als sich daraufhin der Zustand der Kranken verbesserte, als sie wieder ein normales Leben führen konnte.

An der Uni hatte Marlene Arne kennengelernt und mit nach Hause gebracht. Mit Iris zusammen verbrachten sie manchen fröhlichen Abend, unternahmen gemeinsame Ausflüge.

Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Marlene nahm mit großer Selbstverständlichkeit an, daß Arnes Interesse ihr galt, daß er sich nur aus Höflichkeit auch mit ihrer Schwester befaßte. Sie träumte von einer gemeinsamen Zukunft.

Um so mehr war sie enttäuscht darüber, als Arne und Iris ihre Verlobung bekanntgaben. Marlene fühlte sich hintergangen und verließ verbittert ihre Familie.

Bei einem Urlaub in Italien lernte sie Celestino Piotta kennen. Er hatte sich gerade von seiner zweiten Frau scheiden lassen und war sofort begeistert von Marlene.

Der wesentlich ältere Mann war ihr gleichgültig, und doch nahm sie seinen Heiratsantrag an, denn Piotta bot ihr nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch eine beachtliche gesellschaftliche Stellung und die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens. Nachdem Arne Nielsen für sie unerreichbar geworden war, versprach sie sich von einer Partnerschaft ohnehin nichts mehr. Es war ihr egal, wo sie künftig lebte. Eine Einstellung, die sie später sehr bereuen sollte.

Nach außen hin war alles in Ordnung. Jeder glaubte, daß Marlene das große Glück gefunden hätte, und sie gab sich auch zufrieden und glücklich. Niemand ahnte, wie sehr sie litt, am wenigsten Celestino, der keiner Frau treu sein konnte.

Marlene hatte Arne nie wiedergesehen, vergessen hatte sie ihn allerdings nicht.

Es dauerte einige Minuten, bis geöffnet wurde. Dann stand Marlene nicht ihrem Exfreund, sondern einem kleinen Mädchen gegenüber. Zierlich, schmal und blond war die Kleine und sah mit großen blauen Augen zu Marlene  auf. Augen, wie Arne sie hatte. Marlene verspürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Wie oft hatte sie davon geträumt, daß ihr Kind so aussehen würde. Zwei blonde Schaukelzöpfchen baumelten zu beiden Seiten des schmalen Gesichtchens und gaben ihm einen unwiderstehlichen Reiz.

»Du bist Lea, nicht wahr?« fragte Marlene  befangen. »Ich bin deine Tante, die Schwester deiner Mutti.«

Verunsichert sah sich das Kind um. »Papa!« rief es ein wenig ängstlich durch den Flur. Lea hatte in ihrem jungen Leben schon viel Schweres erfahren, war viel zu ernst für ihr Alter. Die Krankheit der Mutter hatte sie ebenso belastet wie den Vater. Das ständige Hoffen und Bangen und schließlich der unabwendbare Tod hatten Leas kindliche Fröhlichkeit unterdrückt, ließen die jugendliche Unbekümmertheit gar nicht aufkommen. Lea war reifer und erfahrener als andere Kinder ihres Alters. Zu früh hatte sie die harte Wirklichkeit des Lebens kennengelernt. Sie hatte auch gelernt, sich an­zupassen, abzufinden, das Schick­sal als vorgegeben hinzunehmen. 

Ein Mann erschien, hochgewachsen, sportlich schlank mit einem kantig wirkenden und dennoch hübschen Gesicht und Augen, die überhaupt nicht dazu paßen. Sie waren sanft und erinnerten in ihrem reinen Blau an einen Bergsee. Tief, still, geheimnisvoll. 

»Marlene!« Mit ausgestreckten Händen ging Arne auf die Schwägerin zu. Er begrüßte sie mit einem Lächeln, das echte Freude verriet. Seine für einen Mann so ungewöhnlich blauen Augen strahl­ten. »Wie schön, daß du gekommen bist. Du siehst gut aus, noch besser als früher.«

Der letzte Satz war ein laut geäußerter Gedanke und deshalb für Arne etwas peinlich. Eine leichte Röte überflog seine bleichen Wangen. Arne erinnerte sich flüchtig an früher, an die glückliche Zeit des Studiums. Nein, er hatte nichts vergessen, aber er hatte es vermieden, an Marlene zu denken. In den vergangenen zwei Jahren hatte die Sorge um seine Frau all sein Denken beherrscht. Daneben war für nichts anderes Platz gewesen. Es war, als hätte er auf dem Mond gelebt und müßte sich jetzt wieder auf der Erde zurechtfinden. Es war fast etwas peinlich für ihn.

»Arne, ich wußte nicht, daß es Iris wieder schlechter ging. Sonst wäre ich viel früher gekommen«, erklärte Marlene  etwas schuldbewußt. Sie hatte die Sonnenbrille, die sie beim Fahren zum Schutz gegen die blendenden Strahlen der untergehenden Sonne getragen hatte, ins Haar geschoben und sah so jung und lebensfroh aus, trotz der Trauerkleidung.

Für wenige Augenblicke vergaßen die Erwachsenen das Kind, das zwischen ihnen stand und verwundert hochschaute. Lea spürte die Vertrautheit zwischen den beiden Menschen, und das war erstaunlich für sie. Seit Iris’ Krankheit wieder aufgeflackert war, hatten die Nielsons alle Kontakte zu Freunden und Bekannten abgebrochen und lebten ganz zurückgezogen.

Der Vati mochte also die fremde Tante, und Lea beschloß, sie auch zu mögen. Sie hatte sofort bemerkt, daß diese Frau eine sehr liebe, verständnisvolle Art hatte.

»Bitte, komm herein«, forderte Arne den Besuch auf. Er führte Marlene  ins geräumige Wohnzimmer, in dem viele Handarbeiten an Iris erinnerten. Arne bat die Schwägerin, auf der Couch Platz zu nehmen und setzte sich ihr gegenüber, etwas steif und unbeholfen. »Iris wollte nicht, daß jemand von ihrer Krankheit erfährt, auch du nicht. Sie hoffte bis zuletzt, daß sie wieder gesund werden würde. Aber leider…« Traurig zuckte Arne die Achseln.

»Und ich dachte immer, sie hätte die Krankheit überwunden.« Marlene war aufgewühlt und nervös, sie hatte Mühe, ihre Hände stillzuhalten.

»Wir haben das auch gedacht, und als Lea zur Welt kam, war das auch die Meinung der Ärzte. Iris wollte ein ganz normales Leben führen. Fast sechs Jahre lang hat sie es geschafft.«

Es war die Liebe, die ihr diese Kraft gab, dachte Marlene ohne Neid. Daß Iris in Arne verliebt war, wußte sie schon damals,  als sie an derselben Uni studierten. Allerdings hätte sie nie geglaubt, daß die Schwester so unfair sein würde, ihr den Freund zu nehmen.