Mami 1833 – Familienroman - Gisela Reutling - E-Book

Mami 1833 – Familienroman E-Book

Gisela Reutling

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Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Es regnete, als Rüdiger Joost langsam über die holprige Straße durch das Dorf fuhr. Die Häuser wirkten wie ausgestorben an diesem Sonntagnachmittag. Dahinter dehnten sich die Stoppelfelder unter einem grauverhangenen Himmel. Nichts unterbrach die Eintönigkeit dieser Landschaft. Die Stille kam dem Großstädter geradezu beklemmend vor. Nur das Blöken einer Kuh war von irgendwoher aus einem Stall zu hören. Mußte er sich ausgerechnet diese gottverlassene Gegend aussuchen, dachte Rüdiger, unwillkürlich den Kopf schüttelnd.

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Mami –1833–

Für dich will ich leben

Roman von Reutling Gisela

Es regnete, als Rüdiger Joost langsam über die holprige Straße durch das Dorf fuhr.

Die Häuser wirkten wie ausgestorben an diesem Sonntagnachmittag. Dahinter dehnten sich die Stoppelfelder unter einem grauverhangenen Himmel. Nichts unterbrach die Eintönigkeit dieser Landschaft. Die Stille kam dem Großstädter geradezu beklemmend vor. Nur das Blöken einer Kuh war von irgendwoher aus einem Stall zu hören.

Mußte er sich ausgerechnet diese gottverlassene Gegend aussuchen, dachte Rüdiger, unwillkürlich den Kopf schüttelnd.

Vor dem Haus Nr. 24 hielt er an und stieg aus. Dr. med. Joachim Bühler, stand auf dem Schild neben dem Klingelknopf zu lesen. Rüdigers Blick umfaßte das Haus: Mit dem Sachverstand des Architekten stellte er fest, daß hier einiges getan werden mußte, um das Fachwerk zu erhalten.

Hinter einem Fenster im oberen Stock war der helle Schein einer Schreibtischlampe. Joachim war also zu Hause. Wo sollte er auch sonst sein, wenn er nicht gerade zu einem Patienten gerufen wurde.

Rüdiger wollte klingeln, aber dann zog er die Hand wieder zurück. Ein jungenhaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er legte zwei Finger an die Lippen und stieß einen kurzen gellenden Pfiff aus. Mit diesen drei Tönen hatten sie sich als Halbwüchsige gegenseitig bemerkbar gemacht. Es war lange her, aber nicht vergessen. Da erschien der Freund auch schon am Fenster, und nur Sekunden später war er an der Haustür.

Lachend, mit einem festen Händedruck, begrüßten sich die beiden Männer. »Wenn das keine Überraschung ist! Komm herein, Rüdiger.«

Im Erdgeschoß waren die Praxisräume, darüber die Wohnung.

»Du hast nichts verändert in den zwei Jahren, seit ich mal hier war, um zu sehen, wo du abgeblieben wärst«, stellte Rüdiger fest, als er sich umsah. Da gab es immer noch kaum mehr als das Notwendige im Wohnzimmer. Das Sofa und den altmodischen Lehnsessel hatte der Freund seinerzeit von seinem Vorgänger übernommen.

»Wozu sollte ich etwas verändern«, sagte Joachim. Er knipste die Lampe am Schreibtisch aus, auf dem ein Stapel Fachzeitschriften lag. Etwas nachdenklich fügte er hinzu: »Ist das tatsächlich schon zwei Jahre her…«

»Mindestens«, nickte Rüdiger. »Und nicht einmal hast du dich bei uns blicken lassen, so oft ich dich auch eingeladen habe. Kommst du denn nie mehr in die Stadt?«

»Nein«, antwortete Joachim einsilbig. Er wandte sich um. Dann, mit Wärme in der Stimme: »Um so mehr freue ich mich, daß du den Weg zu mir gefunden hast. – Ich mache uns einen Kaffee, ja? Ich habe allerdings nur Pulverkaffee da. Typisch Junggeselle.«

Dafür hatte er einen edlen Cognac im Haus, von dem er je einen Fingerbreit in zwei Schwenkgläser füllte. Er war ein schlanker dunkelhaariger Mann mit ruhigen Bewegungen. Schön waren seine Hände, schmal und feingliedrig fast wie die einer Frau.

Mit einem freundschaftlichen Lächeln tranken sie sich zu.

»Und wie läuft’s bei dir, hast du gute Aufträge?« erkundigte sich Joachim, als er das Glas zurücksetzte.

»Ich kann nicht klagen«, gab Rüdiger zurück. »Ein deutsch-französisches Gymnasium ist in Planung, und für nächstes Jahr ein neues Kongreßzentrum. Die Stadtväter wissen zwar nicht, wo sie das Geld dafür hernehmen sollen, aber es geht ums Prestige.« Er zuckte die Achseln. »Corinna will ihren Laden auch vergrößern«, bemerkte er beiläufig.

»Laden«, wiederholte der Freund belustigt. »Laß das deine Frau nicht hören. Der Name CORINNA steht doch für das eleganteste Modegeschäft, mit Preisen, die einem Normalbürger die Haare zu Berge stehen lassen. So ist es doch, oder?«

»Ja, ja. Es gibt noch genug, die es sich leisten können. Corinna arbeitet aber auch soviel dafür, daß wir uns nur bei den Mahlzeiten sehen, und das auch nur gelegentlich. Zur Zeit ist sie in Paris, um für die Frühjahrssaison zu ordern. Na ja… Und da hab’ ich mir gedacht, ich schau’ mal nach meinem alten Freund Joachim, ob sich da inzwischen was getan hat.«

»Da wird sich nichts mehr tun, Rüdiger«, sagte der andere gelassen und führte die Kaffeetasse zum Mund.

»Das solltest du nicht sagen!« Lebhaft beugte Rüdiger sich vor. »Du, mit deinen Fähigkeiten, kannst doch nicht ewig hier als Landarzt mit einer bescheidenen Praxis für Allgemeinmedizin bleiben.«

»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben.«

»Ach was.« Rüdigers Stimme wurde drängender, fast beschwörend. »Menschenskind, Joachim, du bist vierunddreißig Jahre alt, genau wie ich, da gibt man doch noch nicht auf. Du bist Chirurg! Wie kannst du dich damit begnügen, Hustentropfen oder was weiß ich zu verschreiben.«

»Damit kann ich wenigstens keinen in den Tod befördern«, sagte der Arzt schroff. Die Linien neben seinem Mund vertieften sich.

»O Gott«, stöhnte Rüdiger auf. »Davon wollen wir doch nicht wieder anfangen. Für jenen Patienten gab es ohnehin keine Hoffnung mehr.«

»Du hast davon angefangen«, betonte Joachim mit abweisendem Blick.

»Ich will dich nur aufrütteln. Einer muß das ja mal tun. Über diesen Vorfall, der zu einem Skandal hochgeputscht wurde, ist doch längst Gras gewachsen. Das sollte für dich kein Grund sein, nie wieder ein Skalpell in die Hand zu nehmen.«

Abrupt erhob sich Dr. Joachim Bühler. Er schaltete das helle Deckenlicht an. Gewiß, es war dämmrig geworden, aber Rüdiger kam es vor, als wollte er damit die Schatten der Vergangenheit vertreiben, die er heraufbeschworen hatte. Vielleicht war es unklug gewesen.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Lassen wir es. – Hast du eigentlich noch mal was von Paul gehört?« versuchte er abzulenken.

Da legte sich ihm die Freundeshand auf die Schulter.

»Schon gut, mein Alter«, sagte Joachim in versöhnlichem Ton. »Ich weiß, wie du es meinst. Aber ich kann dir versichern, daß ich hier ganz zufrieden bin. Ich werde gebraucht, und das in einem weiten Umkreis, und nicht nur für Hustentropfen, das kannst du mir glauben.«

»Freilich, das ist mir klar«, räumte Rüdiger ein. »Aber was hält dich sonst hier, wo es nur Äcker und Wiesen und ein paar verstreute Dörfer gibt. Das ist doch trostlos.«

Joachim setzte sich wieder. »Dir mag es so scheinen, an einem regnerischen Herbsttag wie heute. Dennoch hat diese karge Landschaft auch ihren Reiz. Man erlebt die Jahreszeiten ganz anders. Wenn Schnee die Fluren bedeckt, es dann wieder zu grünen beginnt und im Sommer die Felder reifen. Wie das wogt, wenn der Wind darüber streift. Davon weiß man nichts in der Großstadt, das mußt du zugeben.«

Rüdiger mußte lächeln. »Da muß man schon ein Naturfreund sein wie du, um das zu schätzen zu wissen. Aber ersetzt das den Umgang mit Gleichgesinnten, Geselligkeit, gute Gespräche?«

»Oh, ich habe einmal in der Woche einen Stammtisch im ›Ochsen‹, da kommt der Pfarrer, der Tierarzt, der Bürgermeister, manchmal auch ein Kollege vom anderen Bezirk. Da gibt es schon Gesprächsstoff. Aus mondänen Partys, wie sie in euren Häusern stattfinden, habe ich mir nie etwas gemacht. Das weißt du.«

Rüdiger nickte. Er merkte schon, daß es keinen Sinn hatte, weiter in den Freund zu dringen. Sie wechselten das Thema.

Es gab genug freundliche Erinnerungen an die Jugendzeit. Bis zum Abitur waren sie in dieselbe Schule gegangen, hatten Freundinnen gehabt, sich über erste Liebesenttäuschungen gegenseitig getröstet.

»Weißt du noch, wie Paul dir die hübsche Sabine weggeschnappt hat?« fragte Rüdiger lachend. »Geheiratet hat er dann doch eine andere. Drei Kinder soll er mit ihr haben.«

»So? Ich weiß nichts mehr von ihm…«

»Und unsere große Tour mit dem Segelboot auf dem Atlantik«, fuhr Rüdiger angeregt fort. »Da waren wir doch schon gestandene Männer, aber auf einmal bekamen wir Lust auf Abenteuer. Und ein Abenteuer war’s ja auch, wie wir in den Sturm gerieten und im letzten Moment die Küste erreichten. Vier Jahre ist das jetzt her, nicht? Da war doch Anja auch dabei?«

Rüdiger wußte im gleichen Moment, da er es ausgesprochen hatte, daß er den Namen nicht hätte erwähnen sollen. Das war auch so eine Sache, die er nicht begriffen hatte.

Schnell ging er darüber hinweg.

Draußen war es stockdunkel. Er hatte noch gut zwei Stunden Fahrt vor sich. Am Abend wollte Corinna noch anrufen. Sie würde sich wundern, wenn er nicht zu Hause war.

So verabschiedete er sich bald. Diesmal sollte es aber nicht wieder zwei Jahre dauern, bis sie sich wiedersahen. »Du bist uns jederzeit willkommen, Joachim«, sagte Rüdiger eindringlich. Der andere nickte nur.

Schwarze Nacht umfing Rüdiger, als er die einsame Landstraße erreichte. Es nieselte immer noch, der Scheibenwischer surrte. Die Scheinwerfer hoben Meilensteine, hier und da einen Wegweiser ins nächste Dorf ins Licht. Kein Baum, kein Strauch…

Hier käme ich mir vor wie lebendig begraben, mußte Rüdiger wiederum denken. Was hatte Joachim denn da noch von seinem Leben? Patienten versorgen, bei Wind und Wetter über Land fahren, und einmal in der Woche einen Stammtisch im ›Ochsen‹. Sollte das wirklich das Ende einer Laufbahn als junger erfolgreicher Chirurg sein? Facharzt auf dem Gebiet der Neurochirurgie.

Er, Rüdiger, verstand nicht viel davon. Dieses Gebiet war ihm fremd. Er wußte nur, daß dies ein Zweig der Chirurgie war, der sich mit Eingriffen am Zentralnervensystem befaßt. Dafür mußte man begabt sein. Joachim war es in besonderem Maße. Die überaus komplizierte und verantwortungsvolle Tätigkeit des Freundes hatte ihm stets großen Respekt abverlangt.

Gestürzt war Joachim über eine Operation, die als inoperabel galt. Er hatte sie dennoch gewagt, gegen den Willen seines Vorgesetzten. Der Patient war gestorben.

Wie eine Flutwelle hatten sich Empörung und Zorn seiner Berufskollegen über Dr. Bühler ergossen. Ein Arzt mußte seine Grenzen kennen, alles andere lief auf ein Verbrechen hinaus, so lautete die Anklage. Sogar das Wort MORD war gefallen.

Es mochte, überlegte Rüdiger, während er so dahinfuhr, auch Neid und Gehässigkeit dem Begabteren gegenüber bei manchen mitgespielt haben. Er hatte es schon damals gedacht, als Joachim, Verzweiflung in den Augen, ihm die ganze Geschichte erzählte.

Jedenfalls hatte der sensible, feinnervige Mensch die Treibjagd, wie man es wohl nennen konnte, nicht durchgestanden. Er hatte kapituliert, hatte sich wie ein waidwundes Tier verkrochen.

Warum es auch zum Bruch mit Anja gekommen war, blieb für Rüdiger ein Rätsel. Er war doch so gut wie verlobt mit ihr gewesen. Anja war OP-Schwester, und, soviel er wußte, die einzige, die zu Joachim gehalten hatte. Hätte sie nicht auch weiter zu ihm gehalten, ganz gleich, wie sein Weg verlief?

Es war darüber nicht mit dem Freund zu reden, und sie hatte sich auch völlig zurückgezogen. Einmal hatte er sie von weitem gesehen und ihr zugewinkt. Aber sie hatte ihn wohl nicht gesehen oder wollte es nicht.

Es war schade um die beiden.

Endlich tauchten die Lichter der Großstadt wieder vor ihm auf. Hochhäuser, zuckende Leuchtreklamen, Autos auf breiter Fahrbahn. Eine Viertelstunde später hielt Rüdiger vor seinem Haus, einem modernen Bau, großflächig, mit viel Glas, vollendet in Form und Stil, nach eigenem Entwurf erbaut.

Er wunderte sich flüchtig, daß Corinnas Wagen schon dastand. Sie pflegte ihn am Flughafen stehenzulassen, wenn sie nur für einige Tage fort war, in Berlin, Mailand oder Paris, den Städten, wo Mode gemacht wurde.

Sie kam ihm entgegen. »Hallo, Schatz, wo treibst du dich herum?« Mit einem scherzhaften Lächeln bot sie ihm ihren Mund.

Rüdiger umfaßte seine Frau leicht. Sie war so groß wie er, superschlank, das weichfließende Hausgewand betonte ihre schmalhüftige Gestalt.

»Ich wußte ja nicht, daß du heute schon zurückkommen würdest. Sind die Geschäfte so gut gelaufen?«

»Bestens«, antwortete Corinna gutgelaunt. »Wir hatten heute vormittag noch eine kurze Besprechung, bei der wir zum Abschluß gekommen sind. Und da habe ich den nächsten Flieger genommen.«

Mit ihren geschmeidigen Bewegungen ging sie ihm voraus, zur Hausbar, denn darauf wollte sie nun einen Schluck mit ihm trinken.

»Und du? Bist du etwa auf Abwegen, wenn dein Weib nicht zu Hause ist?« Ein herausforderndes Funkeln lag in den graugrünen, weitgeschnittenen Augen, die ein geschicktes Make-up betonte.

»Na sicher. Dann habe ich nichts Eiligeres zu tun, als mein Weib zu betrügen«, gab Rüdiger im gleichen Ton zurück. Sie lachten beide. Er nahm ihr den Shaker aus der Hand. Drinks verstand er besser zu mixen als sie.

Aber nach dem ersten Schluck wurde er ernst. »Ich war bei Joachim Bühler«, sagte er und drehte sein Glas zwischen den Fingern.

»Ach nein«, entschlüpfte es Corinna. »Was ist dir denn da eingefallen?«

»Es ist mir eingefallen«, sprach Rüdiger langsam, »daß ich noch einen Freund habe, dem übel mitgespielt wurde.«

»Lebt er immer noch in so einem Nest, wo die Füchse sich Gute Nacht sagen?« Dabei griff sie nach einer Zigarette, ließ das silberne Feuerzeug aufspringen, bevor ihr Mann sich danach beugen konnte.

»Ja. Er ist ein armer Teufel, Corinna. Auch wenn er vorgibt, ganz zufrieden zu sein mit diesem ihm unangemessenen Leben. Ich möchte nicht wissen, wie es in seinem Innersten aussieht.«

Corinna blies den Rauch von sich und sah ihm nach. »Er ist doch selber schuld«, meinte sie. »Warum hat er seine Karriere aufs Spiel gesetzt?«

»Das kann man so nicht sagen«, hielt Rüdiger seiner Frau entgegen. »Er wollte doch noch eine winzigkleine Chance gesehen haben, ein junges Leben zu retten.«

Ihr ebenmäßiges Gesicht blieb unberührt. Sie zuckte die Achseln. »Dafür geht man doch nicht ein solches Risiko ein. Ich kann jedenfalls kein Mitleid mit ihm haben.«

Ihre Blicke trafen sich. In Corinnas Augen stand jetzt ein harter Glanz. Rüdiger kannte das. Sie konnte erbarmungslos sein in ihrem Urteil über andere Menschen. Oder wenn ihr beruflich etwas in die Quere kam, das ihr den Weg zu ihrem Ziel versperrte. Wahrscheinlich war sie auch deshalb eine so erfolgreiche Geschäftsfrau geworden, nicht nur mit ihrem unglaublichen Gespür für Modetrends.

Sekundenlang schwiegen sie. Dann sagte Corinna in verändertem, leichten Ton: »Frau Bender soll uns etwas zum Abendessen machen. Du hast doch auch noch nicht gegessen?«

Das Hausmeisterehepaar hatte eine Einliegerwohnung und war jederzeit über Hausruf zu erreichen. Die Frau war für den Haushalt zuständig, der Mann geschickt in allen anfallenden Arbeiten und hielt, trotz seines steifen Beines, auch den Garten tadellos in Ordnung.

So war alles perfekt geregelt in diesem Haus.

Man empfing Freunde zu geselligen Abenden, man wurde eingeladen. Auch bei kulturellen Ereignissen, an denen die Stadt reich war, fehlte das elegante Ehepaar Joost selten. Es gab Opernpremieren, Ausstellungen, Konzerte mit berühmten Solisten.

Ein abwechslungsreiches, erfülltes Leben, neben befriedigender Arbeit.

Warum nur hatte Rüdiger, wenn auch in seltenen Momenten, dennoch das Gefühl, daß irgend etwas fehlte?

Er war seit vier Jahren mit Corinna verheiratet. Ihre Beziehung währte schon länger, doch hatten sie es nicht für nötig befunden, sie zu legalisieren. Irgendwann war es dann doch geschehen, eigentlich mehr aus den sachlichen Erwägungen heraus, daß es manches vereinfachen würde, wenn sie unter einem Dach lebten. Es ersparte die Fahrerei, und es war Platz genug da, daß man einander nicht nerven würde in zu engem Zusammenleben.

Rüdiger hatte sich in die kühle blonde Schöne verliebt, die zu erobern ihn gereizt hatte. Kühl blieb sie, auch in der Liebe. Corinna zeigte eher überraschte Abwehr, wenn er heißerem Verlangen nachgab.

»Nicht so stürmisch, mein Freund… « Und bei zärtlichen Liebesworten, die sich ihm über die Lippen drängten, konnte sie auf ganz unnachahmliche Weise die Augenbrauen hochziehen. Nicht sentimental werden, ja? Man wußte auch ohnedies, daß man zusammengehörte.

Er hatte es gelernt, sich zurückzunehmen. Sie waren doch, alles in allem glücklich in ihrer Ehe. Es war eben nicht jedem Menschen gegeben, Gefühle zu zeigen. Er liebte sie so, wie sie war.

*

Es gibt seltsame Zufälle im Leben.

Kaum mehr als vierzehn Tage später traf Rüdiger Anja Koller. Diesmal konnte sie ihn nicht übersehen. Sie war in dem Lift, als er ihn betrat.

»Guten Tag, Anja«, sagte er. »So trifft man sich wieder.«

»Hallo, guten Tag.« Die junge Frau mit dem roten Wollschal um den Hals nickte ihm zu. »Sie haben Ihr Büro hier im Haus, ich sah unten das Schild.«

»Siie?« Rüdiger dehnte das kleine Wort. »Haben wir uns nicht früher gedutzt? Wir waren doch mal Sportsfreunde.« Er lächelte.