Aus den Augen verloren... - Gisela Reutling - E-Book

Aus den Augen verloren... E-Book

Gisela Reutling

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Oliver kam dazu, als sie den Koffer vom Schrank holte. »Wofür brauchst du den, Mama?« »Wofür braucht man wohl einen Koffer? Zum Verreisen natürlich.« Irene lächelte ihrem Söhnchen zu und klappte den Deckel hoch. »Wer verreist?« Breitbeinig stand er da, die Hände in die Taschen seiner Latzhose gesteckt: Oliver Renz, fünf Jahre und zehn Monate alt. »Vater, Mutter und Kind«, beantwortete Irene heiter seine Frage, während sie ein paar Wäschestücke aus der Kommode nahm. »Echt? Wir verreisen?« Seine prallen Wangen röteten sich. »Wohin denn? Ist doch noch gar nicht Sommer.« »Aber Frühling ist es. Und wenn wir Glück haben, scheint die Sonne auch in Hamburg.« »Hamburg«, staunte der Junge. Das war doch eine Riesenstadt mit einem Hafen und vielen Schiffen. »Was machen wir da?«

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Mami – 2012 –

Aus den Augen verloren...

Ein kleiner Junge wurde als Baby entführt

Gisela Reutling

Oliver kam dazu, als sie den Koffer vom Schrank holte.

»Wofür brauchst du den, Mama?«

»Wofür braucht man wohl einen Koffer? Zum Verreisen natürlich.«

Irene lächelte ihrem Söhnchen zu und klappte den Deckel hoch.

»Wer verreist?«

Breitbeinig stand er da, die Hände in die Taschen seiner Latzhose gesteckt: Oliver Renz, fünf Jahre und zehn Monate alt.

»Vater, Mutter und Kind«, beantwortete Irene heiter seine Frage, während sie ein paar Wäschestücke aus der Kommode nahm.

»Echt? Wir verreisen?« Seine prallen Wangen röteten sich. »Wohin denn? Ist doch noch gar nicht Sommer.«

»Aber Frühling ist es. Und wenn wir Glück haben, scheint die Sonne auch in Hamburg.«

»Hamburg«, staunte der Junge. Das war doch eine Riesenstadt mit einem Hafen und vielen Schiffen. »Was machen wir da?«

»Wir beide gehen spazieren. Papa muß arbeiten. Er hat dort einen Kunden, weißt du.«

»Uij, super. Wie lange bleiben wir?«

»Drei, vier Tage. Wenn es schön ist, hängen wir das Wochenende noch dran.«

Oliver riß es herum. »Ich geh’ meinen Rucksack packen. Hummel-hummel!«

Er hatte mal einen Film über Hamburg gesehen, da sagten sie das.

Michael Renz kam an diesem Abend etwas früher als sonst aus dem Büro. In der Diele stand ein gepackter Koffer. Ein Rucksack, noch nicht zugeschnürt, daneben. Man wußte ja nie, ob einem im letzten Moment noch etwas einfallen würde!

»Na, schon reisefertig«, schmunzelte der hochgewachsene Mann und fuhr seinem kleinen Sohn durch den blonden Schopf.

»Von mir aus kann’s gleich losgehen«, sagte Oliver. Mit Schwung griff er nach seiner Mütze, die dort lag, und zog sie sich verwegen mit dem Schild nach hinten über den Kopf.

»Das denn doch nicht«, dämpfte der Vater seinen Überschwang. »Aber morgen um sechs, weil ich mittags die erste Besprechung habe. Dann wirst du vielleicht nicht mehr so fröhlich aus der Wäsche gucken, wenn du um fünf aus dem Bett geholt wirst.«

»Da kennste mich aber schlecht, Papa«, behauptete Oliver großspurig und verschwand Richtung Küche, wo seine Mutter schon mit den Tellern klapperte.

In Wahrheit war das Bürschchen am nächsten Tag zu so ungewohnt früher Stunde kaum wachzukriegen. Erst als er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte und es ihm einfiel, daß heute ja eine große Fahrt bevorstand, sauste er ab ins Bad.

Eine halbe Stunde später stand der Wagen aufgetankt und startklar vor dem Haus, und auf ging’s!

Alles verlief wie geplant, ohne Stau auf der Autobahn, ohne besondere Umleitungen wegen irgendwelcher Baustellen.

Als sie sich nach etwa fünfeinhalb Stunden ihrem Ziel näherten, schlug Oliver das Herz hoch. Da sah er schon den Hafen mit seinen tausend Kränen, die in den Himmel ragten, die vielen Überseeschiffe, riesigen Kolossen gleich… Da kam man doch aus dem Schauen und Staunen nicht heraus!

Tatsächlich wurden Olivers hochgespannte Erwartungen auch in den nächsten Tagen nicht enttäuscht. Wenn der Papa seiner Tätigkeit als Anlageberater nachging, ›eroberten‹ sich die Mama und er auf vielen Wegen die Stadt. Ihr Hotel lag in der City, nicht weit von der Binnenalster. Überall war Wasser, über das man weit hinwegsehen konnte. Allein diese Tatsache entzückte den Jungen, der aus einer nur an Wald reichen Gegend kam.

Aber auch Irene genoß den Aufenthalt. Als junges Mädchen war sie mit ihren Eltern hier gewesen. Wie lange war das her! Achtzehn, neunzehn Jahre. Inzwischen war sie siebenunddreißig. Ja, ja, die Zeit verging.

Aber sie fand doch alles noch wieder. Es war derselbe Blick von der Lombardsbrücke auf den Jungfernstieg. Sie erkannte die St. Michaelis-Kirche, den ›Michel‹, wie das Hamburger Wahrzeichen liebevoll genannt wurde. Und immer noch spiegelten sich die alten Häuser im Nikolaifleet.

Gern sah sich Irene auch die eleganten Geschäfte in den Alsterarkaden oder den weiträumigen Einkaufspassagen an. Mit Kennerblick betrachtete sie die Schaufensterauslagen, sie gaben ihr gelegentlich Anregung für ihren Beruf als Dekorateurin, den sie noch hin und wieder ausübte, wenn sie von der Agentur angefordert wurde.

Ihren Oliver interessierte das freilich weniger. Ihn zog es zu den Schwänen, zu den Schiffen, und das Höchste war für ihn die Hafenrundfahrt.

Was gab es nicht alles zu erzählen, wenn der Papa endlich wieder bei ihnen war. Auch er war frohgemut, denn geschäftlich lief es besser als erhofft. Nach dem Abendessen entspannte er sich noch bei einem Bummel mit seinen Lieben durch die lichterglänzenden Straßen der Stadt.

»Und die Reeperbahn?« fragte Oliver. »Gehen wir nicht auch auf die Reeperbahn, da wo die vielen Leuchtreklamen glitzern und noch viel mehr Leute als hier unterwegs sind? Haben die doch im Fernsehen gezeigt.«

Zu seiner Enttäuschung wollten seine Eltern nicht mit ihm auf die Reeperbahn. Den Gruß Hummel-hummel hatte er auch noch nicht vernommen. Die Leute lächelten höchstens amüsiert, wenn er das mal keck hervorbrachte.

»Da müssen wir morgens um fünf mal auf den Fischmarkt gehen, da magst du ihn hören«, lächelte sein Vater.

Um fünf? Ach nee, da war er doch noch zu müde, wo die Tage ohnehin so ereignisreich waren. Sie vergingen nur zu schnell!

Kein Wunder, daß Oliver einen Jubelruf ausstieß, als der Papa sagte, daß sie erst am Montag nach Hause fahren wollten. Da lag nun noch das Wochenende vor ihnen, und es gab wieder neue Unternehmungen. Bis zu diesem Sonntagnachmittag, bis zu diesem schönen weiten Spaziergang an der Alster, mit ihren Segelbooten, ihren Passagierschiffen. Zur Linken das Wasser, zur Rechten hohe frischgrün belaubte Bäume, hinter denen sich die großbürgerlichen Villen verbargen. Darüber ein heller Himmel, an dem die weißen Wolken rasch dahinsegelten.

Ihr Ziel war ein beliebtes Ausflugsrestaurant, das man ihnen im Hotel empfohlen hatte.

Es war zu windig, um draußen zu sitzen, so verlockend das auch zunächst erschien. Dafür bot sich ihnen in der Gaststube mit der niedrigen Balkendecke eine äußerst anheimelnde Atmosphäre. Zinn- und Messinggeräte glänzten an den Wänden, daneben hingen Schiffsbilder, Positionslaternen und Schiffsglocken, das Steuerrad einer Kogge, wie die alten Hanseschiffe genannt wurden. Das war doch genau das Richtige für den letzten Nachmittag in dieser Stadt Hamburg!

Am Nebentisch saß ein junges Paar mit einem niedlichen kleinen Mädchen von etwa drei Jahren. Es bekam einen Eisbecher serviert, der von einem Papierfähnchen gekröhnt war.

»So was möchte ich auch«, sagte Oliver mit einem begehrlichen Blick dahin.

Sein Eis kam mit dem Kaffee, den seine Eltern für sich bestellt hatten.

»Da ist ja gar keine Fahne drauf!« rief er enttäuscht eine Spur zu laut aus. Die Kellnerin war schon weiter, es herrschte Betrieb.

»Oliver«, sein Vater schüttelte den Kopf, »wozu brauchst du eine Fahne? Die kannst du sowieso nicht mitessen.«

»Die wollt’ ich aufheben, so, als Souvenir.« Dieses Wort stand an manchem Geschäft, wo Andenken für Touristen feilgeboten wurden.

»Da hast du wohl bessere Souvenirs«, äußerte Irene belustigt, »ein Shirt mit dem Wappen von Hamburg, und den Bausatz für ein Überseeschiff.«

In diesem Moment kam das blondlockige kleine Mädchen zu ihnen an den Tisch. Es legte Oliver das Papierfähnchen hin, das seinen inzwischen ausgeschleckten Eisbecher geschmückt hatte. »Da…!«

»Oh«, machte Irene überrascht, »willst du ihm das schenken?« Und, als das Kind nur stumm nickte, »das ist aber lieb von dir. Bedanke dich mal schön, Oliver.« Der Junge war rot geworden vor Verlegenheit.

»Ja – danke.«

Die Kleine trippelte zurück und kletterte wieder auf ihren Stuhl. Irene gab der hübschen jungen Frau am Nebentisch ein kleines Lächeln und wandte sich wieder ihrem Kaffee zu.

Mit gesenkten Lidern löffelte Oliver sein Eis. Er tat es langsamer, als es sonst seine Art war. Nach ein, zwei Minuten sagte er leise: »Könntest du nicht deinen Platz mit mir tauschen, Mama?«

»Warum das denn?« fragte Irene verwundert.

Er brachte sein Gesicht nahe an sie heran. »Die Frau guckt mich immer so an«, wisperte er.

Unwillkürlich drehte Irene sich nochmals um, aber die junge Frau sah schnell beiseite. »Laß sie doch gucken, Oliver. Deshalb müssen wir nicht die Plätze wechseln. Das sähe ja dumm aus.«

»Mach hier kein Aufsehen, Sohnemann«, sagte auch sein Vater. »Iß dein Eis, daß es nicht zerschmilzt.«

»Aber warum tut sie das?« beharrte Oliver.

»Vielleicht gefällst du ihr«, warf Irene lächelnd hin. »Da ist doch nichts dabei.«

Sowieso machten die Gäste am Nebentisch sich jetzt zum Aufbruch bereit. Der Herr zahlte, die Frau half der Kleinen in ihr Jäckchen. Dann strebten sie zum Ausgang, ohne sich noch einmal umzusehen.

Am nächsten Tag trat die Familie Renz die Heimfahrt an. Oliver fiel der Abschied ordentlich schwer.

»Hier könnt’ ich immer bleiben«, sagte er vom Rücksitz des Wagens her, als er nun zum letzten Mal das große Wasser und die vielen Schiffe sah.

»Ja, sollen wir dich hierlassen?« fragte sein Vater scherzhaft. »Noch können wir umkehren.«

»Hi nein!« quiekte Oliver auffahrend. Im Zurücksinken fügte er nachdenklich hinzu: »Aber vielleicht, wenn ich groß bin, geh’ ich nach Hamburg…«

»Dann ziehst du mit einem großen Netz dicke Fische an Land und verkaufst sie auf dem Fischmarkt«, schlug Michael Renz vor und warf ihm über den Rücken einen kurzen Blick zu.

»Oder ich geh’ als Matrose«, spann der Junge den Faden weiter. »Die haben so schöne Mützen mit Bändern dran.«

»Ach, jetzt hört schon auf«, fiel Irene lachend ein. »Davon mag ich gar nichts hören, daß du einmal groß sein und von uns gehen wirst, Oliver. Jetzt kommst du im Herbst erst mal in die Schule, das reicht schon.«

Denn als Schulbub würde er ihr schon nicht mehr ganz gehören. Aber gleichzeitig dachte sie, daß sie doch eine egoistische Mutter war.

Da fühlte sie sich von hinten umarmt, Oliver drückte sein Gesicht an ihren Nacken. »Ist ja alles nur Spaß, Mama«, nuschelte er in ihr Haar hinein. »Ich bleibe doch immer und immer bei dir.«

*

Das Abendessen verlief ziemlich schweigsam.

Silke hatte sich zu ihrem Omelett ein paar Salatblätter aus der Schüssel auf den Teller getan, aber sie hielt nur die Gabel in den Händen und sah so geistesabwesend auf die Speise, als wolle sie etwas darin ergründen.

Das Tinchen war müde. Sie hieß eigentlich Martina, aber noch

schien der Name zu gewichtig für die zierliche Dreijährige, so blieb es bei Tinchen oder Tina. Es war ja auch ein erlebnisreicher Sonntag gewesen!

Mit einem Schiff, dessen Wimpel lustig im Winde flatterten, waren sie auf der Alster gefahren, inmitten von vielen anderen frohgemuten Ausflüglern. Dann hatten sie einen für ihre kleinen Beine ziemlich weiten Spaziergang gemacht, immer am Ufer entlang. Zuletzt hatte der Papa sie freilich huckepack getragen. Und eingekehrt waren sie auch noch, und sie hatten Eis gegessen.

So brabbelte sie jetzt nur noch etwas vor sich hin, von den Schwänen, die sie gesehen und die so lange Hälse hatten, während sie einen Löffel nach dem anderen mit der leichten, flockigen Eierspeise in den Mund schob.

Ihr Vater nahm noch etwas Käse zum Weißbrot, als das Mobiltelefon klingelte. Er griff danach.

»Dr. Kelling«, meldete er sich. Nur Sekunden dauerte es, bis er sagte: »Geht in Ordnung, Karin. Bis morgen also.«

»Was wollte denn die Karin?« erkundigte sich das Tinchen neugierig. Sie kannte die Sprechstundenhilfe, denn die Praxis ihres Papas befand sich unten im Haus, mit einem Extra-Eingang.

»Karin hat schlimme Zahnschmerzen, sie muß morgen früh gleich zum Arzt und kommt daher später«, antwortete Dr. Hansjörg Kelling. »Du kommst bitte sofort, wenn du Tina in den Kindergarten gebracht hast«, wandte er sich an seine Frau.

»Klar«, nickte Silke. Sie wußte, was montags immer los war. Gerade so, als überlegten sich manche Leute am Wochenende, daß sie eigentlich mal zum Doktor müßten.

Vor ihrer Heirat war sie medizinisch-technische Assistentin gewesen. Sie stand ihrem Mann zur Seite, wo immer es nötig war. Er konnte sich auf sie verlassen.

Als sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine gegeben hatte, war es auch schon Zeit, das Töchterchen ins Bett zu bringen, dem sowieso halb die Äuglein zufielen.

»Jetzt wirst du aber schön schlafen, Schätzchen«, sagte Silke zärtlich, während sie ihr die Decke hochzog.

»Hm, wo wir heute so einen großen Tag hatten«, murmelte das Kind.

Einen großen Tag?

Silke stand einen Moment reglos.

Ja – vielleicht war es ein großer Tag…

Ach Unsinn – rede dir um Himmels willen nichts ein, Silke!

Sie ging so schnell hinaus, als müsse sie vor ihren eigenen Gedanken fliehen, und zog leise die Tür hinter sich zu.

Im Wohnimmer blätterte ihr Mann in der Wochenendausgabe der Zeitung. Sie war ziemlich umfangreich, er hielt ihr einen Teil davon hin. Sie nahm es auch und setzte sich zu ihm. Aber nach einer Weile fiel es Hansjörg doch auf, daß sie überhaupt nicht darin las.

»Denkst du immer noch an den Jungen?« fragte er unvermittelt in die Stille hinein.

Silke zuckte zusammen. Abwehrend schüttelte sie den Kopf und beugte sich tiefer über das Zeitungsblatt.

»Natürlich denkst du unablässig daran«, stellte Hansjörg Kelling fest. »Was sollte dich sonst so stark beschäftigen, daß du weit fort zu sein scheinst.«

Er wartete, sah auf ihren geneigten Kopf. Das glatte dunkelblonde Haar fiel ihr rechtsseitig über die Wange.

Endlich blickte sie auf. Ihre Miene war verkrampft.

»Die Augen…«, flüsterte sie.

»Was war mit seinen Augen?« sagte der Mann etwas brüsk.

»Dieses glänzende helle Goldbraun«, brachte sie mit schwankender Stimme hervor, »genau wie bei Pascal. Alle haben es immer bewundert und fanden es einzigartig…« Sie verstummte.

»Ich habe diesem fremden Jungen am Nebentisch nicht in die Augen gesehen«, sagte Hansjörg nüchtern. »Wenn er wirklich braune Augen hatte, die gibt es in allen Schattierungen. Es ist nichts so Besonderes daran. Einzigartig finden das höchstens junge Mütter und die Omas.«

Mit fahrigen Händen strich Silke über die Zeitung, dann ließ sie sie zu Boden sinken.

»Es war ja auch nicht nur das«, sagte sie mit raschem Atem. »Es war mehr. Ich kann es nicht erklären. Etwas Unfaßliches.«

»Silke!« Hansjörg legte nun auch hastig die Zeitung beiseite, er sprang auf. »Silke, mach dich doch nicht verrückt«, beschwor er sie. »Ich habe dir das schon am Nachmittag gesagt, als wir das Restaurant verlassen hatten und du mir geradezu verstört vorkamst. Da hast du mir etwas erzählt von Ähnlichkeit und einem unbezwingbaren Gefühl, das dich zu dem Jungen zog, so daß du den Blick kaum von ihm nehmen konntest. Der gehört doch ganz offensichtlich zu diesem Ehepaar, es war ihr Sohn.«

»Und wenn nicht?« Silkes Lider flatterten. »Es wird mir keine Ruhe mehr lassen, Hansjörg, und wenn ich ganz Hamburg nach dem Jungen absuchen müßte, den die Frau Oliver nannte.«

Der Mann seufzte abgrundtief auf. Er bückte sich nach der Zeitung, die zu Boden gefallen war, und legte sie zu der anderen. Dann umfaßte er seine Frau und zog sie aus dem Sessel zu sich empor.

»Silke – klammerst du dich denn immer noch an die Hoffnung, unser Pascal könnte wiederkommen? Wir haben doch jahre- und jahrelang nichts unversucht gelassen, um ihn wiederzufinden. Wir wollen nicht wieder davon anfangen, uns elend damit machen. Bitte, ja?«

Er hielt sie fest umfangen, er legte sein Gesicht gegen ihre Wange. Seine Nähe, seine warme tiefe Stimme ließen Silke etwas ruhiger werden.

Freilich, Gefühle konnten täuschen. Wahrscheinlich hatte sie überreagiert. Dennoch sagte sie still: »Auch wenn wir nicht mehr immer davon reden, Hansjörg, und in Martina ein neues Glück gefunden haben, so gibt eine Mutter doch nie die Hoffnung auf.«

In diesem Moment kam Carolin herein.

»Oh, Entschuldigung!« Das junge Mädchen nahm sich zurück, als sie die beiden in stummer inniger Umarmung fand. »Ich wollte nicht stören.«