Man stirbt doch nicht im dritten Akt! - Peter Bause - E-Book

Man stirbt doch nicht im dritten Akt! E-Book

Peter Bause

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Beschreibung

Aus dem Rotschopf ist ein Silberkopf geworden. Das darf auch sein, denn: "Es war alles sehr rastlos, es war alles sehr schnell! Über sechzig Jahre Beruf, und nun bin ich achtzig", schreibt Peter Bause in seinen Erinnerungen. Und schüttet einen prallvollen Sack schönster Theateranekdoten aus, in denen seine Kollegen Herwart Grosse, Martin Hellberg, Dietrich Körner, Klaus Piontek, Ekkehard Schall, Rolf Ludwig auf und hinter der Bühne schier unglaubliche Auftritte haben. Da wird eine glanzvolle Theaterepoche lebendig. Der vielseitige Schauspieler hat in zahllosen Theater- und Filmrollen brilliert, hat große und kleine, komische und tragische Rollen – in einem Spektrum vom "Faust" bis zum "Milchmann Tevje" – gespielt und jede einzigartig und dem Publikum unvergesslich gemacht. "Über mich wurde, je nach Sympathie, böse, neidisch oder achtungsvoll gesagt: Der singt und tanzt als bunter Hund in jedem Hausflur!" Mit viel Humor und klugem Understatement schreibt Peter Bause über sein Schauspielerleben. An einem lässt dieser "bunte Hund" keinen Zweifel: Das Theater ist die Basis für seine vielgestaltige Arbeit, Theater, wie er es von der Pike auf erlernt hat und in das er seine Leser mit temperamentvoll erzählten Geschichten einlädt, die ganze Welt zu schauen!

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Verlag Neues Leben –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50089-2

ISBN Print 978-3-355-01912-5

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Tom Peschel

www.eulenspiegel.com

Die Printausgabe enthält einen 16-seitigen Bildteil.

Inhalt

Verehrte Leserinnen und Leser!

Warum stirbt man nicht im dritten Akt?

Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung und endet ­abrupt

Wie ich ein »bunter Hund« wurde und ­Herwart Grosse mein Freund

Ein echter norwegischer Handschuh geht verloren, und meine Mutter bringt Heidi Kabel zum Lachen

Was Tourneetheater eigentlich heißt

Hans Bunge und der Wartesaal von Helsinki

Dario Fo und die Mühen und Freuden der Ebenen am Berliner Ensemble

Unterwegs mit dem BE

Von Neustrelitz bis Jagsthausen

Brecht spielen

Ein Zufall – und ich sah die Welt

Am Deutschen Theater

Meine Rolle aller Rollen

Über Klassenkampf und feucht-fröhliche Feste

Wie ein Vormittag große Wellen schlagen kann und ein letzter Glücksfall am BE

Fernsehgeschichten

Fortsetzung des dritten Aktes in Dresden

Die Fröhlichkeit in unserem Beruf

Der Osten versteppt

Faust und ein kurzer Aufenthalt in Auerbachs Keller

Fünf Kapitäne auf einem Flaggschiff

O Lust des Beginnens oder München ade!

Schöne Tage in Davos

Des Teufels General in polnischer Uniform

Komische Leute, komische Sachen

»Vielleicht muss man es selbst erlebt haben, um es nicht zu verstehen!«

Einen besseren Schauspieler kriegen Sie nicht!

Ein Witz zum Schluss, der alles sagt

Zwei Worte hinterher

Verehrte Leserinnen und Leser!

In den ganz alten Büchern, die ich auch besitze, steht oft ein Vorwort.

Als diese alten Bücher noch neue Bücher waren und es nichts aus der heutigen Zeit an schneller Technik zum Erkennen der Welt und der Zusammenhänge gab, hatten die damals neuen und jetzt alten Bücher eine gute Zeit. Sie wurden immer verkauft und als neue Auflage wieder und wieder gedruckt.

Und weil die Bücherschreiber damals noch Zeit hatten, schrieben sie zu jeder neuen Auflage ein neues Vorwort. Das summierte sich natürlich, wenn man in der sechzehnten Auflage immer noch mal die Leserinnen und Leser begrüßt, eine neue Geschichte erzählt und sich beim Verlag oder Förderer bedankt. Dreißig Seiten voller Vorworte.

Heute ist ein Buch durch, wenn es durch ist, auch Romane, die auf dem flachen Land spielen oder in der hohen Stadt, auf einem Trecker oder in einem U-Bahnschacht.

Das ist mit diesen Erinnerungen etwas anders, denn es ist mein Versuch, das Buch von 2010 weiterzuentwickeln, neue Erlebnisse der letzten zehn Jahren auferstehen zu lassen und die damals gedruckten Erkenntnisse neuen Betrachtungen zu unterziehen.

Die Zeiten für Theaterfrauen und Theatermänner haben sich in diesen Jahren sehr geändert. Die Sorgen und Nöte haben zugenommen, rapide verändert haben sich auch die Spielweise und der Blick auf altbewährte Theaterstücke.

Aber ein bisschen Humor ist geblieben, die Ironie sich selbst gibt es immer noch, wenn sie auch mit Vorsicht vorgetragen werden muss, damit es nicht als Schwäche daherkommt.

Natürlich hofft man sehr, dass es Sie überhaupt interessiert, was jetzt betrachtet wird, denn Corona hat uns Künstlern einiges abverlangt. Manchmal fragt man sich, ob man diesen Beruf überhaupt noch ausüben kann.

In der großen Hoffnung, bei Ihnen auf dem Nachttisch nicht als Fehlbesetzung oder Fehleinkauf zu erscheinen, wünsche ich Ihnen mit mir ein paar angenehme Stunden.

Nichts ist schöner, als von einem Theaterleben zu erzählen, weil alles einmalig war und es so nicht wiederherzustellen ist.

Nur neu und dadurch wieder anders!

Berlin 2021

Warum stirbt man nicht im dritten Akt?

Weil es sich nicht gehört. Weil es dann erst richtig losgeht mit dem Leben auf der Theaterbühne!

»Die deutsche Bühne, auf der seit Lessing unsere deutsche Kunst erblühte, fasste die szenische Wirkung in größeren Gruppen zusammen, welche durch stärkere Einschnitte voneinander getrennt waren.

Die Teile des Dramas mussten in fünf getrennten Abschnitten untergebracht werden. Jeder Akt erhielt den Charakter einer geschlossenen Handlung, ein wirksamer Abschluss war wünschenswert. Die Fünfzahl der Akte ist kein Zufall. Schon die römische Bühne hielt auf sie:

1. Akt: Die Einleitung (Exposition)

2. Akt: Die Steigerung

3. Akt: Der Höhepunkt

4. Akt: Die Umkehr

5. Akt: Die Lösung«

(Gustav Freytag: Technik des Dramas, ­erschienen 1863 in Leipzig im Verlag Hirzel)

Was für eine bombastische Aufgliederung, was für schöne Hinweise! Und das Wunderbare an der Sache – sie stimmt!

So, und nun legen wir das auf das Leben des gemeinen Erdenbürgers um.

Die Einleitung umfasst den Beginn des Lebens, die Orientierung im Leben, das Andocken an bestimmte Interessensbereiche.

Die Steigerung bezeichnet nun das »Fahrt aufnehmen«. Jetzt werden Dinge konkret gemacht, sie werden benutzt, vielleicht auch hier und da gegeneinander ausgespielt. Man fängt an, sich zu profilieren, man kann schon absehen, ob man »was wird« im Leben und im Beruf.

Der dritte Akt! Jetzt ist man Amboss oder Hammer. Ab jetzt ist man dabei. Das eigene Wort gilt und hat Gewicht. Man sammelt Freunde, man bestimmt ganze Arbeitsabschnitte. Man ist gesund, hat Gegner und Neider. Das stört alles nicht, denn die bleiben zurück in ihrem Strudel, sie versinken, sie vergehen. Man ist in Form, man stirbt doch nicht im dritten Akt! Es wird gefordert, aufgetrumpft, gütig getan und Wohlwollen versprüht.

Häuser und Länder werden gekauft, Autos vergrößert. Es geht, nach Lessing, regelmäßig zu. Man kann genießen und auf die anderen schauen, wie sie strampeln, wie sie schwitzen.

Die Lösung, das ist das wirkliche Ende. Man sitzt in Vorständen oder in Talkrunden und sagt nun langsam, aber stetig immer dasselbe. Was man selber einmal war, wie man es gemacht hat. Und die Vergangenheit erstrahlt im rosigen, langweiligen Lichte.

Jetzt stellen wir die Lebensbetrachtung etwas schärfer ein. Es geht eine Stufe runter, hin zu meinem Schauspielerleben.

Als den ersten Akt würde ich die Deutsche Post Magdeburg, die Theaterhochschule Leipzig, das Friedrich-Wolf-Theater Neustrelitz und das Volkstheater Rostock benennen.

Der zweite Akt ist die Steigerung des Schauspielerdaseins: meine Jahre am Deutschen Theater Berlin. Durch die Wucht der dort vorhandenen hohen Persönlichkeiten würde ich meine bescheidenen acht Jahre an diesem noblen Haus als doppelt gelebt betrachten. Wechselkurs 1 zu 2 also. Im realen DDR-Leben gab es den damals schon nicht mehr, denn 1 zu 5 war die klassische Schmuggelbörse, bevor der Wechselkurs zum Ende unseres Landes auf 1 zu 10 anstieg. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Beteiligen konnte ich mich an diesen Obszönitäten des unwürdigen Umtausches nicht, ich hatte ja keinen handwerklichen Beruf und war auch kein Kellner oder Türsteher an einer Bar. Ich war nur Schauspieler.

Der dritte Akt, der wirkliche Höhepunkt, das war meine Arbeit am Berliner Ensemble unter Manfred Wekwerth. Das waren meine Fernsehspiele, meine vielen Hörspiele, meine nicht zu zählenden »Hausflurauftritte«, da war die DEFA. Da war das Anerkennen einer guten Arbeit, da war der ausgeprägte Wille, mitgestalten zu wollen. Und da sollte man sterben, nur weil einem das Land verlorenging?

Sie kamen, sie sondierten, sie musterten, sie bestimmten, sie schlossen, sie entließen, man wurde als Verlust einfach abgeschrieben. Und vielleicht hatten sie wirklich die Hoffnung, dass man echt stürbe, wie so viele meiner Kollegen, an Kummer, an Krebs, am allgemeinen Versiegen der Lebensfreude.

Nein, nein! Diesen Gefallen wollte ich ihnen nicht tun.

Gustav Freytag schrieb schon 1863, dass im vierten Akt neue Personen auftreten, die eigene Geschichten und Biografien haben und sich nun einmengen in das Stück. Ich war im beginnenden vierten Akt, vor dreißig Jahren, knapp unter Fünfzig. Nichts war da mit einem geruhsamen Lebensernteeinfahrvergnügen. Ich musste, wie Millionen Menschen in anderen Berufen neben mir, einfach wieder von vorn anfangen.

Die satten Erntefeste in einem bestimmten Alter hatte ich bei meinen älteren Kollegen oft beobachtet und fühlte mich nicht inspiriert davon. Ich wollte nie mit Bräsigkeit meine Erfolge zementieren, das hatte ich mir schon als junger Mensch vorgenommen. Und nun wurde ich plötzlich durch die Zeitläufte einfach dazu gezwungen.

Ich war mir nicht zu fein, auf Tournee zu gehen, es machte mir nichts aus, nach 600 Kilometern im Auto abends noch den Azdak zu spielen oder den Puntila, den Richard Strauss, den Berlichingen, den Schuster Voigt, den General Harras, Faust, ach, was weiß ich noch alles. Mit diesem Einsatz, mit dieser Freude, mit unserem Können haben wir unsere neuen Kollegen aus den alten Ländern sehr erstaunt.

Das schreibe ich alles ohne Bitterkeit. Die gesellschaftlichen Umstände haben mich im Moment des Genießenwollens einfach weitergetrieben. Und es war gut so.

Lebenswichtig war es, den dritten Akt zu überstehen, zu meistern, sich darin zu profilieren. Und nun lebt es sich fantastisch, aufmerksam, fröhlich im vierten Akt, und vielleicht lasse ich den fünften Akt einfach aus.

Ich nehme Sie jetzt mit in mein Hin und Her des Lebens. Ich folge keiner Chronologie, in der Sie die ersten vierzig Seiten überspringen können. Ich habe mir gesagt, wie es kommt, so kommt es, alles hatte seine Zeit und seinen Raum.

Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung und endet abrupt

»Trude«, rief Onkel Wilhelm mit schon etwas angeschwank­ter Stimme, »einen Eimer Wasser!«

Wenn Onkel Wilhelm diese Forderung ohne ein »bitte« davor oder danach aussprach, dann war es so weit. Und es war immer dasselbe mit denselben Personen, die erst der Tod trennte. Ein Schauspiel, von mir bestaunt in Magdeburg, in der Annastraße 37. Es war auch der sich immer wiederholende Anlass: Weihnachten, Geburtstag meiner Mutter, Geburtstag meiner Oma. Da kamen die Brüder und die Schwester meiner Oma mit der Straßenbahn angefahren aus den Stadtteilen Cracau und Neue Neustadt, die Wohnung füllte sich, man redete, man sang. Man trank die kleinen braunen Schnäpse, manchmal auch in der Farbe Grün, und aß den Blechkuchen, der als Teig am frühen Morgen zum Bäcker Schell gebracht und neben dem Brutofen zum echten Kuchen wurde. Wichtig an diesem Blechkuchen war die schmale Pappe, auf der der Kuchenbesitzername stand. Die Pappe brannte sich meist in den Teig und konnte mitgegessen werden. Die Pappe war wichtig, denn viele Frauen und Kinder brachten ihre Blechkuchen am frühen Morgen zu Schell, und man wollte ja den eigenen wiederbekommen. Es waren die schönen, armen fünfziger Jahre. Vielleicht waren sie auch nicht schön, ich weiß es nicht, denn für ein Kind ist jede Zeit schön. Aber so richtig schön wurde es, wenn Onkel Wilhelm den oben zitierten Satz ausrief.

Meine zierliche, echt rothaarige Mutter brachte den Eimer Wasser, und Onkel Wilhelm holte leicht schwankend seine B-Trompete von der Flurgarderobe. Diese Trompete hatte er schon bei der Ankunft bespielt, unten auf dem Hof. Die Mieter schauten aus den Fenstern, und einmal bekam Onkel Wilhelm sogar eingewickelte Münzen zugeworfen. Das verbitterte ihn, denn er war ja kein Straßenmusikant, sondern Stabstrompeter im Ersten Weltkrieg gewesen, Militärmusiker eben. Viel musste er nach Kriegsbeginn nicht mehr blasen, denn ziemlich schnell wurde aus dem Hurra-Krieg ein Stellungskrieg, und Onkel Wilhelm konnte sich schonen. So blieb ihm das Morgensignal, das Achtungssignal, na, was es so gab und schnell abgeblasen war. Bei Gasverdacht musste er nicht blasen, da schlug man hämmernd an eine Eisenschiene.

Heinrich, der Mann meiner Oma, also der Vater meiner Mutter, wurde am dritten Kriegstag von einer französischen Granate zerrissen. Aber Onkel Wilhelm saß mit seiner Trompete in einem Stabsquartier in Frankreich und wurde deshalb von Onkel Ernst zutiefst verachtet, denn Onkel Ernst war U-Bootfahrer in diesem Krieg der kaiserlichen Verwandten. Kriegselite also. Onkel Ernst kam aus Aschersleben rüber und erzählte mir immer und immer wieder die Geschichte, wie er wegen Krankheit an Land bleiben musste und genau auf dieser Feindfahrt ohne ihn »sein« Boot vernichtet wurde. Mit offenem Mund stand der kleine, echt rothaarige Peter bewundernd vor ihm. Und gerade als U-Bootfahrer konnte Onkel Ernst der folgenden Darbietung von Onkel Wilhelm nichts abgewinnen, denn jetzt kam »Der Untergang der Titanic«. Bis zu seinem Tode war Onkel Wilhelm fest davon überzeugt, dass die Schiffskapelle dieses Dampfers gespielt hatte »Bis hierher hat uns Gott gebracht in seiner großen Güte …!« Was nachweislich nicht stimmt. Er war aber von seinem Irrglauben nicht abzubringen.

Tausend Jahre später habe ich über zweihundert Mal den Schuster Voigt im »Hauptmann von Köpenick« gespielt. Da gibt es die berühmte Gefängnisszene, in der gezeigt wird, wie man in einem Zuchthaus den Tag des Sieges von Sedan feiert. In der Szene, die mit einem Gottesdienst beginnt, wird dieses Lied von Ämelie Juliane Reichsgräfin von Schwarzburg-Rudolstadt gesungen. Und über zweihundert Mal war Onkel Wilhelms Irrtum mit mir auf der Bühne und trompetete im Geiste neben mir.

Aber damals, an den Geburts- und anderen Feiertagen, stand er vor dem Wassereimer, begann dieses Lied zu blasen und tauchte dabei seine Trompete in den Eimer. Ich weiß nur noch, dass man die liebliche Melodie nicht mehr hörte. Dafür blubberte es furchterregend. Das Geräusch kannte Onkel Ernst als U-Boot-Matrose ganz genau, und Onkel Wilhelm hatte einen solch leuchtend roten Kopf vor Anstrengung, dass man damit über jede Stromsperre gekommen wäre. Unvergesslich alles! Und wunderschön – in der Erinnerung.

Angesichts dieses hehren Musikerbeispiels in der eigenen Familie habe ich versucht, mir die edle Kunst des Trompetens anzueignen. Meine Mutter kaufte in einem dunklen Laden eine nagelneue B-Trompete, und ich ging stolz zum Unterricht. Mein Lehrer war Onkel Wilhelm, und ich scheiterte vollkommen. Onkel Wilhelm konnte mir nicht vermitteln, dass man Töne üben muss, immer wieder, um sie später zu einer Melodie zusammenfügen zu können. Ich hatte einen ziemlich guten Ansatz, wie ich von mir behaupte, aber verwechselte so häufig die drei Ventile, dass der ehemalige Stabstrompeter mir dauernd auf die Finger schlug. Da beendete ich meine Besuche und Versuche, und meine arme Mutter sollte das Ding verkaufen. Das muss ihr gelungen sein, denn ich habe es nie wieder gesehen.

Das war mein zweiter Versuch, mich musisch auszudrücken.

Ein paar Jahre zuvor scheiterte ich als eleganter Mandolinenspieler. Die Mandoline, als Instrument an sich, war eine Zeitlang ein beliebter und gern gesehener Wegbegleiter. Sie hatte sich in der Wanderbewegung etabliert, und auch ich sah mich wandern. Die Mandoline vor der Brust, die bunten Bänder am Mandolinenhals, Lederhose an … Aber auch dieses harmlose, freundliche Instrument begriff ich nicht, wie Jahre später nicht die drei Ventile der Trompete. Ich begriff es nicht, griff am Hals daneben, meine Mandolinenlehrerin, eine kinderlose ältere Dame, schlug mir auf die Hände – wie Jahre später Onkel Wilhelm –, und ich flehte meine Mutter an, mich von diesem Joch zu befreien.

Das tat sie und verscheuerte die Mandoline.

Das war wichtig in den schönen, armen fünfziger Jahren, dass man alles wieder verkaufen konnte. Einer fand sich immer, der was brauchte, und ich hätte nie gedacht, dass man das später über das Internet intensiv betreiben kann. Also ich nicht, aber meine Töchter Anna und Maria.

Doch, doch wenn ich mich so erinnere, dann war meine Mutter auf der Höhe, trotz ihrer schweren Herzkrankheit. Sie achtete darauf, dass es nicht eingleisig lief, daher die Mandoline, daher die Trompete, daher das Schulanrecht für das Stadttheater und daher die Bücher.

Bücher! Das war die Entdeckung meiner Mutter für mich, und damit war ich hochzufrieden. Dafür bin ich meiner Mutter dankbar, die durch die Herzkrankheit keine Arbeit aufnehmen konnte. Sie verkörperte das, was die letzte Position unter Menschen in der schönen DDR war: Invalidenrentnerin.

Meine ganze Kindheit war geprägt von Armut, was nicht weiter auffiel, denn es waren alle arm. Außer Herrn ­Gerboth aus dem Vorderhaus, Parterre. Der machte in Bohnerwachs und trug damals schon einen Ledermantel. Später kam noch ein Opel P4 dazu, und wenn der gewaschen wurde, standen wir Kinder stundenlang daneben und warteten voller Sehnsucht, einmal eine kleine Runde um die Häuser mitgenommen zu werden. Ab und zu wurde der Wunsch erfüllt, es hing davon ab, welcher Knecht von Bohnerwachs-Gerboth am Waschen war. Die Bohnerwachs­familie zog bald aus der Wohnung in bessere Viertel. Damit verschwand der Glanz von Reichtum aus unserer Straße in Magdeburg.

Wir hatten ewig und immer Geldsorgen. Aber meine Mutter hat alles gemeistert, wie fast alle Mütter dieser Zeit. Und darum gehört meine Verehrung und Achtung diesen Frauen. Was haben die alles durchmachen müssen. Neben den täglichen Überlebenssorgen kämpfte meine Mutter vergeblich um die wenigen Alimentezahlungen, die keiner zahlte. Weder mein Erzeuger, der Franz hieß, noch der Erzeuger meiner Schwester Sonja, der ebenfalls Franz hieß. Vorbei alles! Die Bewunderung für meine Mutter bleibt, die dann schon mit sechsundsechzig Jahren gestorben ist.

Damals trieb mich die Liebe zu den Büchern in die Stadtbibliothek Magdeburg, genauer gesagt in die Zweigstelle Stadtfeld. Dort wurden Kinder gesucht, die helfend den Damen an der Ausleihe zur Seite standen. Die besprachen mit dem Besucher anhand von Karteikarten seine Buchwünsche, und wenn es ging, wurde der Buchwunsch erfüllt. Ich bekam die Karteibuchkarte und lief nach hinten in das Lager, um das Buch zu holen. Das machte mir Spaß, und ich wünschte immer, dass keine Besucher kommen sollten, damit ich hinten im Lager in aller Ruhe lesen konnte. Später las ich eigentlich nur noch und vergaß durch die Welt der Bücher meine eigentliche Aufgabe. Jedenfalls kommt aus dieser Kinderzeit meine Freude an Büchern und meine Hochachtung allen gegenüber, die was geschrieben haben.

Durch die Bücher und durch das Radio wurde die Fantasie ungemein angeregt. Das wird jedem so ergangen sein, aber es kommt ja darauf an, ob man seine Kindheit in sich behält oder schnöde zur Seite legt. Nein, mir gefiel alles, und das Radio lief eigentlich immer. »Bastei« nannte der Kasten sich und hatte das berühmte »Magische Auge«. Das war faszinierend, und aus dem Lautsprecher tönten die schönen, ausgebildeten Stimmen. Wie sie sprachen und sangen, die Nachrichten, die spannenden Übertragungen aus dem Bundestag, die Nachmittagssendungen aus Niedersachsen, die Wasserstandsmeldungen, das war alles so freundlich, so verbindlich, so bedächtig, so klug. Und dann Radio Luxemburg mit Camillo Felgen! Was habe ich diesen Mann und seine Stimme verehrt. Und er konnte so überzeugend seine Werbung machen, dieses »… und da schaue ich wieder auf meine Bifora-Uhr und es ist 16 Uhr 12!« Man musste sich regelrecht zwingen, nicht gleich loszulaufen, um diese Uhr zu kaufen, die es in der DDR gar nicht gab.

Und die Sonnabendnachmittage aus Hamburg. Heitere Gelassenheit während der kleinen Raterunden und das Hafenkonzert am Sonntagmorgen. In meiner Erinnerung saß ich nur am Radio. Noch etwas entdeckte ich dabei: Die damaligen Radiomacher konnten Stimmungen erzeugen. Wenn es Vormittag war, dann war eben eine Vormittagsstimmung im Radio, und nachmittags und abends dann eben diese Stimmung. Jedenfalls wünschte ich mir in dieser Zeit nur eines, einmal beim Radio zu arbeiten. Man sagte nicht »Sender«, sondern Radio. Und dieser Kindertraum erfüllte sich für mich wirklich.

1966 war ich gerade ein halbes Jahr in Rostock, hatte den »Bel ami« gespielt, war also in Rostock schon weltberühmt.

Zu dieser Zeit gab es den Radiosender »Rostock«. Es gab ein schönes Funkhaus, viele Mitarbeiter, und im Sommer mutierte dieser kleine Bezirkssender zur »Ostseewelle Rostock«. Da war dann schon mehr Power vorhanden. Von 6 bis 20 Uhr hielt der Sender die Urlauber in Stimmung, indem er gute Stimmung vermittelte. Neidisch hörte ich da hin, neidisch auch, zumal ein Schauspielkollege vom Volkstheater dort Nachrichten las und die Musikstücke ansagte. Ein bisschen zu trocken, nach meiner jugendlichen, unreifen Auffassung, aber R. war da drin und dabei, und ich wollte auch dahin, um dabei zu sein, wenn die Radiowellen die Zuhörer erreichten.

Mir half ein Zufall. Herr K., Dramaturg am Theater, der mich in Neustrelitz entdeckt hatte und dem Rostocker Intendanten Hanns Anselm Perten empfahl, gab eine kleine Feier, zu der auch der Redakteur H. vom Sender Rostock kam. Nachdem ich genug Schlagseite und Mut in mir hatte, formulierte ich meinen Kinderwunsch: einmal, bitte, bitte, Radio machen. Und da mich H. verehrte oder mich verstand oder einfach nur freundlich war, gab er mir einen Montagstermin im Sender Rostock, live von 6 bis 8 Uhr.

Was soll ich sagen? Ich stieg ein im Sender Rostock, ich konnte meine Vorstellungen vom Radio an die Hörer bringen. Ich war einfach frech, ich machte den Montagmorgen mit mir am Mikrofon zu einem Begriff des Senders. Meine Beliebtheit steigerte sich so, dass Besuchergruppen im Sender nach mir fragten, und immer musste sauertöpfisch geantwortet werden, dass ich eigentlich zum Volkstheater Rostock gehöre. Ich sprudelte von Einfällen, ich schilderte meine Beobachtungen kabarettistisch am Mikrofon, ich packte alle meine Wünsche auf den Sendetisch, ich stellte meine eigenen Musikabläufe zusammen, ich drängte meine Kollegen vom Pult, ich, ich, ich!

Und dann lasse ich Dummdei mich vom Sender überreden, doch auch am Dienstagmorgen am Mikrofon zu sitzen. Und später auch am Donnerstag. Dann auch noch am Mittwoch, dann freitags und sonnabends, da allerdings am Nachmittag.

Ich weiß nicht, was ich mir in meiner Jugendlichkeit gedacht habe. Ich wollte arbeiten, ich stand um halb fünf auf, damit ich um 6 Uhr pünktlich meinen Mund aufmachen konnte. Und Theaterproben ab 10 Uhr hatte ich außerdem. Und viele Vorstellungen. Ich muss doch bescheuert gewesen sein, dass ich glaubte, die Einfälle fliegen mir weiter so zu. Ja, zuerst flogen sie noch reichlich, dann immer weniger, und schließlich musste ich mir die Einfälle holen, oder, wie wir in der Theaterpraxis sagen, ich musste die Sendungen stemmen, um Erfolg zu haben. Aber Stemmen bedeutet verkrampft sein, unfrei, eng.

Natürlich habe ich immer mal wieder tolle Sachen gemacht. Sendeschluss für Rostock war im Sommer 20 Uhr, und dann stieg der Staatssender aus Berlin in die Wellenlizenz. Es ist mir jedenfalls zweimal gelungen, unsere Schalttechniker zu überreden, um 20 Uhr eben nicht auf den DDR-Sender zu gehen, sondern mich weitermachen zu lassen. Musik hatten wir genug, und die Kollegen der Technik machten mit und verlängerten ihren Feierabend. Es war eine gute Stimmung in unserer Zentrale. Dass das ging, erscheint mir heute noch wie ein Wunder. Damals dachte ich bescheiden, es geht, weil ich es bin, weil ich beliebt bin, weil ich Einfälle habe. Ich muss sehr bescheiden gewesen sein.

Aber seit ich jeden Tag im Radio redete, war es nicht mehr gut. Ich wurde ein Opfer meiner Überschätzung. Es sei verziehen, denn ich war noch sehr jung, sechsundzwanzig.

Aus dem Sender wurde ich 1968 gekippt, und würde ich es in meinem Lebenslauf darauf ankommen lassen, könnte ich schreiben: aus politischen Gründen. Es war meine politische Dummheit, verursacht durch meine politische Wachheit.

Die Friedensfahrt war ja eine ungeheuer populäre Einrichtung. Ich sehe mich noch als Student, zusammen mit Hunderten von Leipzigern, auf der Straße stehen, unter den Übertragungssäulen. Oertel reportierte den jeweiligen Stand der jeweiligen Etappe, Küttner mit seiner markanten Stimme saß im Studio Berlin, und Täve gewann immer oder Kapitonow. Wir alle hörten zu und fühlten uns dem Land verbunden, welches solche Sportler, Reporter und Studiosprecher hatte.

An dieser Stelle noch zwei Worte zu Täve, er ist ja kürzlich 90 geworden und verdient alle Bewunderung, denn er hat eine Haltung. Ihm ist einfach manches egal, denn seine sportlichen Verdienste kann ihm keiner nehmen, und die ewigen Ablehnungen, ihn in die »Hall of Fame« des deutschen Sportes aufzunehmen, wird er mit seinem Humor bestimmt verkraften.

Was haben wir diesen Menschen verehrt und die Rede­wendung von »Unser Täve« war voller Herzenswärme gemeint. Im Sommer 1956 entdeckte ich bei meinen täglichen Radtouren eine Menschenmenge vor dem Magdeburger Hauptbahnhof. Nicht am Haupteingang, sondern ein wenig rechts daneben, da befand sich der praktische Mitropa-­Wartesaal und ein Friseurladen. Auf der Straße davor standen bestimmt fünfzig bis sechzig Leute, und ich stellte mich dazu. Da waren wir schon mehr und gaben mit der Ansammlung das typische DDR-Zeichen: Hier steht man an, hier ist was los, hier gibt es was!

Und im Magdeburgischen Slang erzählte sich die Menge: »Täve ist da drin beim Friseur und lässt sich die Haare schneiden, und da, zwanzig Meter weiter, steht sein Motorrad.« Alles starrte abwechselnd auf das kleine Motorrad oder auf das Gebäude und wartete auf den frisch frisierten Täve Schur. Das war schon eine ziemlich aufregende Angelegenheit. Und dann kam er! Bekleidet mit einem grauen Gummimantel, frisch gekämmt und dadurch noch jünger aussehend. Die Menschen hatten plötzlich strahlende Gesichter und fingen an zu klatschen. Ich sah mein Idol zum ersten Mal so nah und lebendig, also klatschte ich mit. Ich hatte es auch noch nie erlebt, dass man klatscht, weil jemand berühmt ist und auf der Straße steht. Dass Täve sich über unser Straßentheater freute, war ihm anzusehen, denn er lächelte ungemein nachsichtig und ging dankend zu seinem kleinen Motorrad. Wir fünfzig bis sechzig Menschen folgten ihm und sahen zu, wie der berühmte Täve seine Maschine abbockte und so schön klassisch den Anmachhebel mit dem rechten Fuß nach unten trat. Der Motor sprang sofort an, zur Freude der umstehenden Fans, denn keiner wollte erleben, wie das große Idol sich durch nochmaliges Antreten verkleinerte. Nein, der Motor lief, Täve schwang sich in den Sattel, alles klatschte noch einmal, und er fuhr los.

Was für eine Geschichte. Obwohl ich diese Begegnung Täve fünfzig Jahre später eindringlich erzählte und ausmalte, konnte er sich an den Friseurbesuch am Magdeburger Hauptbahnhof und den grauen Regenmantel nicht erinnern. Vielleicht war es ihm auch peinlich, als weltberühmter Radfahrer mit einem Motorrad erwischt zu werden, aber egal. Heute grüßen wir uns freundlich und fragen uns gegenseitig, wie es so geht – und er sieht immer noch blendend aus.

Vor einigen Jahren besuchte unsere Familie Tochter Maria in Brüssel, die damals dort für die EU arbeitete. In den Vorabsprachen für Brüssel hatte ich gebeten, dass wir unbedingt das Jacques-Brel-Museum besuchen sollten, ich wollte meinem Idol einfach mal nah sein.

Dieses Museum ist ein Wunder an Würdigung des großen Brel. Der Eingang macht noch irgendwie Eindruck, viel Plüsch an der Kasse. Die Frage, wie lange man hier im Rundgang sein Idol bewundern kann, wurde mit zwei Stunden beantwortet. Der tatsächliche Aufenthalt belief sich auf zwanzig Minuten. Wir sahen ein altes Radio, einen schwarzen Schlips vom Meister und ein Paar Manschettenknöpfe, die angeblich mit ihm auf den Bühnen der Welt waren. Dann waren da noch ein paar kleine Boxen, aus denen er sang, einige Fotos, wenige Informationen, und hinten war dann ja auch schon Schluss. Das Kirschbier grade­rüber in der Kneipe war immerhin gut gekühlt.

Am Abend ging ich mit dem Hund noch um die Ecke und entdeckte in einer kleinen Nebenstraße einen Reparaturladen für Fahrräder. Im Schaufenster hing ein Plakat mit der für mich faszinierenden Aufschrift »Friedensfahrt«. Nichts weiter, keine Jahreszahl, nur »Friedensfahrt«. Rechts unten klebte ein kleines Bild von Täve Schur, und oben von der Decke hing ein Rennrad von damals. Was für ein Erlebnisbogen vom Magdeburger Friseurbesuch 1956 zur Friedensfahrtwürdigung 2012 in Brüssel. Dazwischen lag ein ganzes eigenes Leben – die Bewunderung ist geblieben.

Diese Bewunderung für Menschen, die Hochachtung verdienten, hatte ich schon immer. Selbst heute erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich auf dem Damaschkeplatz in Magdeburg stehe, an eine eigentlich harmlose Begegnung. An einen schönen Sonntagmorgen fuhr dort der stadtbekannte Peter Borgelt mit seiner damaligen Freundin Fräulein Jochmann (ebenfalls vom Theater) mit einem Motorroller – Marke Berlin – an mir vorbei, und ihre aufgeladenen Badesachen sagten mir, dass es an den Barleber See ging. Warum erzähle ich das? Weil es heitere Beobachtungen waren und die Beteiligten ebenfalls voller Heiterkeit waren, die man nicht vergessen kann und auch nicht sollte.

Im Jahr 1968 war in Prag Frühling, mit dem die anderen Ostblockländer nicht recht warm wurden. Man ging propagandistisch gegen die Prager Ideen vor. In diesem konkreten Fall wurde über die Friedensfahrt, als die Radfahrer sich auf dem Gebiet der ČSSR befanden, nur noch sehr zurückhaltend berichtet. Das entdeckte ich, und eines schönen Morgens im Mai sagte ich zwischen zwei Musiktiteln, die Friedensfahrt sei wohl so unwichtig geworden, dass man sie im Radio behandele wie das Radrennen um den Magdeburger Dom.

Das Radrennen um den Magdeburger Dom ist ein kleines Rennen um vier Häuser, geadelt durch Täves Mitmachen, aber ansonsten tiefste Provinz, wie Theaterschauspieler zu sagen pflegen, wenn sie nicht in Berlin spielen.

Dieser flapsige Vergleich mit der Anspielung auf die fehlende Berichterstattung aus dem Bruderland an der Moldau war meine letzte Bemerkung im Sender Rostock.

Um 9 Uhr im Mai 68 war Schluss, und ich habe das Funkhaus erst dreiundvierzig Jahre später wieder betreten, um ein Interview zu geben über meinen Abschiedsabend im ausverkauften Volkstheater.

Als ich 1970 nach Berlin kam, da wollte ich es noch einmal versuchen mit dem Rundfunk. Ich durfte an der Seite des äußerst charmanten Hermann Matt, dessen Frau Ingeborg Nass eine großartige Kabarettistin war, einige Sendungen im Frühprogramm des DDR-Rundfunks gestalten, aber dauerhaft wurde es nicht, da die Arbeit am Theater doch wichtiger und schwerer wurde. Ich hatte einfach keine Zeit mehr, meine ironische Betrachtungsweise auf das Leben zu pflegen.

Aber generell blieb für einen einigermaßen guten Schauspieler der Rundfunk erhalten mit seinem Angebot, Hörspiele mitzugestalten. Auch haben meine Frau und ich fast ein Jahrzehnt in »7–10 Sonntagmorgen in Spreeathen« satirische Szenen gesprochen. Damit war dann Schluss, als für alle Schluss war.

Ich habe das Funkhaus in der Nalepastraße geliebt. Dort war die Tradition mit Händen zu fassen, da waren erstklassige Fachleute am Werk, da waren Schauspieler versammelt, die ich schon als Jugendlicher in Hörspielen gehört hatte. Dort waren die Entspanntheit und die Freundlichkeit untereinander zu Hause. Das war immer so, ob im Fernsehfunk oder im Rundfunk, es trafen sich die Schauspielmatadore aus allen Theatern Berlins und ein gutes kluges Arbeiten begann. So habe ich es in Erinnerung.

Vor einigen Jahren lief in einem westdeutschen Sender ein Hörspiel unter dem Motto: Aus dem Rundfunkarchiv. Es wurde groß angekündigt, dass es eine Produktion des DDR-Rundfunks sei und man sich glücklich schätze, dieses hohe künstlerische Werk zu senden.

Bitte, sendet alles von uns, und ihr werdet bemerken, wie viele für euch namenlose Schauspieler eine einzigartige Qualität produziert haben!

Besonders gern hatten wir Schauspieler die Schuhe des DDR-Rundfunks, denn diese waren mit einer Nummer versehen. Mit weißer Lackfarbe war sie gut sichtbar auf das Oberleder aufgemalt. Diese Schuhe mit den Nummern benötigte man, wenn man Szenen spielen musste, in denen Schritte wichtig waren, auf Kies, Marmor oder so. Wenn man das nicht mit den eigenen Schuhen bewältigen konnte, dann schlug die Stunde der Nummernschuhe. Manchmal vergaß man, sie wieder auszuziehen und fuhr damit nach Hause, zur Schadenfreude der Kollegen, die natürlich bei der Verabschiedung den Mund hielten.

Mich traf es nur einmal, aber Hans-Peter Minetti, der immer so genau und korrekt war, den hat es oft und immer wieder erwischt. Er war ein ausgezeichneter Sprecher und intensiver Schauspieler, der immer vieles gleichzeitig im Kopf hatte. Nach einem Auftritt in Kühlungsborn musste mein Freund Peter Schneider zuerst mit ihm den Autoschlüssel am Strand suchen und dann noch gemeinsam nachts einige Zeit durch Kühlungsborn marschieren, um sein Auto zu finden.

Die Rundfunkproduktionen wurden, wie auch bei der Schallplatte, in der Nacht durchgeführt. Das ist nicht ungünstig, denn die Schauspieler waren noch im Tritt von ihren Vorstellungen des Abends. Kluge Menschen saßen an den Pulten oder führten Regie, und wir konnten auch gegen 3 Uhr früh noch unser Handwerk anwenden, denn gelernt ist gelernt. Der Rundfunk in der Nalepastraße, bewacht von der Deutschen Volkspolizei, war eine gute ­Adresse, und man war gern dort.

Nie hätte ich gedacht, dass ich nach 1990 nie wieder in die Nalepastraße fahren würde. Und heute noch langweile ich meine Familie an einer bestimmten Ampel in Karlshorst, wenn ich bei Rot dort mit dem Auto stehe, mit meiner Betrachtung, dass ich früher immer hier abgebogen sei, um in den Rundfunk zu fahren. Dieser Betrachtung folgt ein allgemeiner Aufschrei, ich solle bedenken, dass es nun schon lange vorbei sei und ich mich wiederhole. Ich verspreche, es zu bedenken, um es beim nächsten Halt dort doch wieder nicht zu tun.

Wie ich ein »bunter Hund« wurde und Herwart Grosse mein Freund

Mir konnte man eine gewisse Betriebsamkeit in meinem Beruf nicht absprechen. Das ist erst einmal positiv, denn ich habe mich immer bemüht, irgendwie alles zu machen, was man in diesem Beruf ausdrücken kann. Über mich wurde, je nach Sympathie, böse, neidisch oder achtungsvoll gesagt: Der singt und tanzt als bunter Hund in jedem Hausflur! Aber um das durchzuhalten, muss man eine Basis haben. Diese Basis kann nur das Theater sein.

Durch das Theater bleibt man im Kopf beweglich für die Auftritte »nebenbei«, von mir immer als Tagesgeschäft bezeichnet. Das ist nicht abfällig gemeint, denn diese Ausflüge benötigt man, um frisch und freudig wieder im Theater zu erscheinen, um weiterzulernen. Für den Beruf und für das Leben. Ich spielte kleine und große Rollen, ohne zu murren – das ist nicht selbstverständlich. Ich probierte effektiv, nachdem ich meine Mittel kannte – das ist nicht immer selbstverständlich.

Mich an Theaterproben erinnernd, stelle ich fest, wie innerlich nackt wir uns den Rollen und dem Stück genähert haben. Natürlich waren wir geistig auf der Höhe, wurden von Chefdramaturgen mit Material zur Zeit und zum Stück versorgt, die ja anerkannterweise noch geistiger auf der Höhe sind. Und wir waren offen. Wir kannten uns, waren ein Ensemble, keiner musste dem anderen vorspielen, was er unter Theater versteht. Man konnte sehr zeitsparend arbeiten. Das Handwerk des Einzelnen wurde in seinen Möglichkeiten geachtet, man musste es nicht verteidigen. Das spart Kraft. Das schafft Platz für die Rollenerarbeitung. Das war in Neustrelitz so, in Rostock, aber besonders im DT (Deutsches Theater) und BE (Berliner Ensemble).

Da saßen ja nun die Stars der DDR! Die hätten doch ihren bekannten Typ einfach durchziehen können. Die Rolle an sich zerren – und alles ist schon gut. So spielen, wie man immer spielt. Das wäre doch schon ein Erfolg, weil man damit immer Erfolg hatte. Aber nein, nein, nein! Auf den Proben stiegen sie in diese Rollen hinein, sie krochen in die Haut des Rollenmenschen, und das Wunder tat sich schon bei der ersten Leseprobe auf: Sie veränderten sich, der Grosse, der Franke, der Körner, der Piontek, der Esche, der Düren, der Schall, der Thate, die Grube-Deister, die Macheiner und all die vielen anderen Persönlichkeiten. Da sind so viele zu nennen, die uns Junge damals zwangen, genau zuzusehen und zuzuhören bei ihrer Rollenerarbeitung. Und wir hörten gut zu, wir sahen gut hin, denn man wollte in der eigenen Rolle richtig auf sie reagieren, um diese Könner zu erfreuen und nicht aufzuhalten in ihrem Tun. Wir Fleißigen damals, der Reusse, der Eichel, die Wachowiak, der Mann, die Heinz, die Perdelwitz, der Seifert, der Lang und all die anderen.

Und was wurde gelacht auf diesen Proben! Diese Heiterkeit, diese Dankbarkeit dem Theater gegenüber! Es war die Goldene Zeit des bürgerlichen Theaters in einem Versuch, der sich Sozialismus nannte.

Apropos Versuch und gesellschaftliche Zeiten: Lisa Macheiner kam zu spät zu einer Probe von »Schwitzbad« von Majakowski im DT. Friedo Solter Regie, in seiner ruhigen, zuhörenden Art. Lang in der Hauptrolle als überzeugter Arbeiter, der gegen ein Kulturdiktat der Funktionäre kämpft. »Schwitzbad« ist Majakowskis Aufschrei gegen die bezahlten Besserwisser in den Amtsstuben der kulturellen leninistischen Bürokratie. Diese Kaste wurde von Dieter Franke angeführt. Versehen mit einem entlarvenden Toupet schwadronierte er unvergleichlich über seine Auffassung von Kultur. Jeder begriff sofort, was und wer gemeint war, und aus 1922 wurde 1977 und das nahtlos. Um ihn herum die Kriecher: die Paryla, so wunderbar mondän und vulgär als Geliebte, der Kleinert, mit Perücke völlig entstellt, mit seinen penetranten Fragen an die Kunst. Ich höre es noch, diese scharfe, entwürdigende Diktion. Und Esche, ach mein Esche, der immer nur ausrufen musste: »Haben Sie ein Telefon?«, und damit das Theater zum Explodieren brachte. Dieter Mann, der einen Theaterchef mimte, der sich gleichsam körperlich in sich hineindrehte, um vor diesen sozialistischen Banausen seine Konzeption eines Kulturabends zu erklären. Ein begeisternd schreiendes Theaterpublikum zeigte Abend für Abend an, dass die angeprangerten Lügen eines sozialistischen Systems sehr gut begriffen wurden. Da war das Theater am rechten Ort, zur rechten Zeit.

»Schwitzbad« ist schwer zu inszenieren, aber Solter nahm es ernst, und wir Schauspieler taten das auch. Und wenn solche Oberliga aufspielt, sind das Theatersternstunden voller Anstand, voller Ernst, voller Komik – und alles mit großem Können.

Und eben zu einer dieser Proben kam Lisa Macheiner zu spät. Als elegante ältere Dame erschien sie an der Bühnenrampe, um sich bei Solter zu entschuldigen. Sie habe es nicht schaffen können, pünktlich im Theater zu sein, da die HJ auf der Straße marschiere und alles blockiere. Dieter Mann überwand als Erster die Sprachlosigkeit und raunte Lisa in seiner trockenen, geraden Sprechweise zu, dass es wohl die FDJ sei, die da marschiere. Darauf Frau Macheiner: »Ich wusste doch, ein J war dabei.«

Mir wurde schlagartig klar, dass man im Alter viele Freiheiten hat, etwas zu sagen, weil man schon was erlebt hat im Leben. Vor allem einige Gesellschaftsordnungen, die immer von sich behaupten, sie seien die besten und die schönsten für die Masse Mensch, die sie gerade zu befehlen haben.

Und Herwart Grosse. Es gibt Gesichter, die vergisst man nicht. Und wenn zu diesen Gesichtern eine Stimme kommt, die dazu stimmt, dann kann es was werden in diesem Beruf.

Als Lehrling der Deutschen Post Magdeburg hatte ich mit meinen fünfzehn Jahren zwei mich sehr bewegende und erschütternde Filmerlebnisse.

Als Kind war ich ein fanatischer Sonntagsdreizehnuhrkinogänger. Jahrelang sah ich im Kino »Oli« in Magdeburg (das gibt es heute noch) für 25 Pfennig alle Filme, die es gab, vor allem und immer wieder die sowjetischen Kriegsfilme. Diese Filme, deren Titel für mich inzwischen alle vergessen sind, hatten fast immer, den Sieg der Roten Armee über das Nazireich zum Thema. Dagegen ist nun wirklich nichts zu sagen, schon gar nicht geschichtlich. Aber die Macher dieser Filme zeigten uns die Rotarmisten als Helden, die ohne Mühe zwanzig oder dreißig deutsche Panzer gleichzeitig abschießen konnten, und dass die Deutschen, vor allem die im Generalstab, außerordentlich blöde waren und auch noch so aussahen. Das war für uns Kinder sehr verständlich, und nach dem Kinoschluss, so gegen halb drei, liefen wir erst einmal zu Eis-Herper dreißig Meter weiter, holten uns eine Erfrischung für 15 Pfennig die Kugel, schlangen diese einfach runter, dann ging es im Laufschritt in die Ruinen. Und in diesen Ruinen spielten wir den Film schießend und brüllend nach, der Hellmut, der Lothar, der Rainer, der Klaus, ich natürlich, und wer getroffen war von nicht vorhandenen Kugeln, der blieb liegen. Möglichst in verzerrter Körperhaltung, das hatten wir ja gerade für 25 Pfennig gesehen. Und mein Erstaunen am 17. Juni 1953 bestand darin, dass ich, vor dem Polizeipräsidium Magdeburg stehend, feststellen musste, dass »richtige« Schüsse extrem laut und die Panzer grauenerregende Monster waren. Nix da mit der Einbildung, man könne davon dreißig auf einmal abschießen. Und die Erkenntnis – weglaufend von dem Polizeipräsidium Magdeburg, aus dem Akten und Bilder der Führer der deutschen Arbeiterbewegung geschmissen wurden –, dass Schüsse, Panzer, Krieg etwas Furchterregendes sind und kein bunter Film.

Ach ja, wenn das »Oli« nicht gerade sowjetische Zweite-Weltkriegsfilme spielte, dann eben sowjetische 1918-Filme. Die Uniformen wechselten, die Dramaturgie nie. Die Bolschewiken waren die Guten, die mit Lässigkeit dreißig Pferde mit aufgesattelten Weißgardisten niedermachen konnten. Ich will auch nur sagen und es belegen, dass ich filmtechnisch und filmdramaturgisch gut parteilich ausgerichtet war. Nichts geht doch über saftige Kameraeinstellungen in einem Farbfilm, Stalin auf dem Trittbrett eines Panzerzuges stehend, Pfeife rauchend und unbeschadet durch ein Trommelfeuer der verfluchten Weißgardisten fahrend. Da ist man doch gerne dabei. Da möchte man doch gleich mit auf dem Trittbrett stehen bei solch einem mutigen und freundlichen Mann und Chef aller friedliebenden Menschen der Welt. Jetzt weiß ich auch wieder, wie der unerträgliche und bunte Film hieß: »Panzerzug …«, also die Nummer habe ich doch vergessen, vielleicht 08-15?

Es gibt ja diese Sache im Internet, dass man in vielen Städten Straßenbahn fahren kann, mit einem Bier in der Hand, ohne sich zu Hause aus dem Sessel erheben zu müssen. Nachdem ich das in meinem hohen Alter erkannt hatte, fuhr ich auf diese Weise in Magdeburg Straßenbahn. Ich besah mir die Stadt in Richtung Olvenstedt. Ich habe das genossen! Der Fahrer hüstelte öfter, aber es war eine lange vor Corona aufgezeichnete Fahrt. Jegliches Hüsteln war also unbedenklich. Plötzlich tauchte rechts in der Olvenstedter Straße das gute alte »Oli« auf. Langsam schob es sich an mir vorbei, und hocherfreut konnte ich feststellen, dass es noch existierte. Es war mittlerweile ein Programmkino, beklebt mit Ankündigungen, aber es war noch da, das Kino meiner Kindheit. Und die Skulpturen aus Sandstein nebenan am Tor, die zu einer Umzugsfirma gehörten, waren auch noch da.

Das »Oli« hat den Krieg unzerstört überstanden. Es hat die Wende überstanden. Hoffentlich wird es Corona überstehen, mit all den schönen Erinnerungen in uns, an ein gutes altes Kino.

Zurück zu meinem Lehrlingsfilmabend der Deutschen Post Magdeburg. An jenem Abend sah ich »Ehe im Schatten«, vom jungen Kurt Maetzig gedreht, der 2011 hundert Jahre alt geworden ist. Dieser Film behandelt die Ehe der Familie Gottschalk im Dritten Reich. Beide Schauspieler, sie ist Jüdin, er ein ziemlich bekannter Bühnenschauspieler in Berlin, der damals gerade seine Filmkarriere begann. Beide geraten unter Druck des Reichsministers für Aufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, dieses schlauen, skrupellosen Verbrechers. Gottschalk wird massiv bedrängt, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Da das ihr sicherer Tod gewesen wäre, beschließen beide, Selbstmord zu begehen. Diesen Film halte ich noch heute für einen der bewegendsten. Tränen ohne Ende bei mir auf dem Nachhauseweg, Tränen bei jeder Erinnerung daran. Und später, im Ergebnis davon, intensives Befassen mit diesem Ehepaar Gottschalk, welches im wirklichen Leben auch den achtjährigen Sohn mit in den Tod nahm. Sie liegen auf dem Friedhof in Stahnsdorf bei Berlin. Was für eine Haltung dieser Menschen in einer Zeit, der man, wie Brecht es sagte, entronnen ist.

Dieser Film zeigt großartige Bilder. Was für eine Erschütterung allein diese kleine Einstellung, wo der in die Emigration gehende jüdische Kollege, im abfahrenden Zug stehend, das klemmende Zugfenster nicht mehr öffnen kann, um seinen Freunden zum Abschied die Hand zu reichen. Mensch, Maetzig! So einfach, so großartig, mit fast nichts alles gesagt. Die ganze unselige Zeit in einem Blick!

Maetzig hat später dieses Kunstwerk als letzte UFA-Produktion bezeichnet. Die darin verwendeten Einstellungen, Kameraabläufe, auch die Musik und die Dialogführung seien noch hart an die UFA-Erfahrung gekoppelt. Bitte, ganz bescheiden würde ich jetzt antworten, dass es dann eben ein großer Abschiedsfilm der UFA war und all ihre Verderblichkeit in einem antifaschistischen Film unterging.

Der andere Film von Kurt Maetzig, den ich sah, hieß »Der Rat der Götter«. Spielt in hohen Kreisen der Chemischen Industrie im Ruhrpott. IG Farben entwickelte dort ein Gas, Zyklon B, für das Vernichtungslager Auschwitz. Das war ein epochales Filmwerk. Es begann in den Dreißigern und endete nach dem Krieg. Auch hier gab es, wie in jedem Film, negative und positive Rollen. Eine Rolle erschien mir Jüngling besonders negativ. Da war irgendein Fiesling, der die Forschung für die Mörder von Millionen Menschen mit allen Mitteln vorantrieb. Diese Rolle spielte Herwart Grosse. Und er spielte sie ganz modern, indem er natürlich war. Ihm reichte für seine Darstellung seine Stimme, sein Aussehen, und eine Persönlichkeit war er sowieso. Er trat als Mensch dort auf, nicht als erkennbarer Lump, sondern als ein Menschenversteher gegenüber diesem noch von Skrupeln geplagten Wissenschaftler, den er mit seiner freundlichen Art auch einfangen kann für diese Drecksentwicklung zur Vernichtung von unschuldigen Menschen.

Mit dieser Rolle hatte Herwart Grosse bei mir den Platz eines der besten Schauspieler der DDR erobert. Da war ich noch sehr jung, und er hat diesen Platz in meinem Herzen behalten.

Er kam aus der revolutionären Jugendbewegung. Aus diesem Kreis entwickelten sich Sprechergruppen, die in der Öffentlichkeit bei den Kundgebungen der KPD vor den Massen auftraten, um kulturell deren Herzen für die rote Sache zu entzünden. Oft unter Anleitung von Erich Weinert, Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Friedrich Wolf. Grosse hat die Hitlerzeit im Schillertheater unter Heinrich George überstanden und war bald und dann für immer am Deutschen Theater. Ein kluger, ruhiger, freundlicher Mensch, der in der Maske als Einziger rauchen durfte und für die Asche und die Kippe immer eine kleine, verschließbare Silberdose mitbrachte.

Im DT und BE war der Maskenraum fast ein heiliger Ort. Hier wird der Schauspieler geschminkt, hier beginnt seine Verwandlung. Ein Ort der Konzentration. Was man zu sagen hat, wird geflüstert, nach Möglichkeit aber geschwiegen. Die Maskenzeiten für jeden Schauspieler werden, einmal bekannt gegeben, genauestens eingehalten. Wie hat sich das verändert! Heute wird geredet, geschwätzt, laut und hemmungslos gelacht und sogar Radio gehört. In der Maske! Natürlich erscheint man wie ein verbrauchter Greis mit der Feuerklatsche, wenn man sich das alles verbittet. Aber man muss es sich verbitten, denn wir sind nicht in irgendeinem Kaufhaus oder auf einem Jahrmarkt, wir sind, wie es die ganz Alten sagten, im Tempel der Kunst.

Herwart Grosse gehörte zu der Sorte von Schauspielern, die eigentlich keine Proben benötigen, weil alles sofort stimmt. Staunend stand man in den Proben, hier speziell zum »Richard III.«, und fragte sich innerlich, wie das möglich ist, alles gleich so klar darzustellen. Ich glaube, es war die Intelligenz, die Vorbereitung auf die Rolle und die Klugheit des Lebens, was da zusammenkam. Und wir jungen Menschen versuchten mühsam, aber eifrig strebend, uns anzupassen, und das voller Hochachtung, voller Scham dem eigenen Ich gegenüber, weil man noch nicht so reif war wie die Alten, die mit uns probierten. Dort, am Deutschen Theater, habe ich Demut gelernt und bin dankbar für diese Schule des Lebens im Theater.

So, jetzt komme ich zur eigentlichen Sache: Ich konnte meinem berühmten Kollegen Grosse etwas von der Kunst zurückgeben, mit der er mich bisher beeindruckt, ergriffen und erfreut hatte. Nicht mit Kunst, da konnte ich nicht ranreichen, sondern körperlich.

Wir probierten unter Manfred Wekwerth »Richard III.«. Mit einem fantastischen Hilmar Thate und mit einer neuen Entdeckung aus der Shakespeareforschung der DDR: der direkten Anrede an das Publikum. Wekwerth legte für Thate als Richard die ganze Konzeption darauf um. ­Richard III. als Entertainer. Thate sprang das Publikum geradezu an, redete auf die Zuschauer ein, legte ihnen seine Sicht der Dinge dar, bat um Verständnis dafür, dass er noch den und den und dann den umbringen müsse, um König zu werden. Für dieses sich Bekanntmachen und Gemeinmachen mit dem Publikum begab er sich sogar in die erste Reihe des Zuschauerraumes, sozusagen nach dem Motto, wenn hier noch ein Platz frei ist, setze ich mich dazu und schau mir die Abfolge meiner eigenen Mordpläne neben Ihnen sitzend an. Ich erinnere mich, dass er auch während der Dialoge mit seinen Feinden immer und immer wieder ins Publikum schielte, um den Zuschauern zu zeigen: Seht mal, so läuft das, so mache ich das, und seht euch meinen Partner noch mal genau an, denn gleich bring ich ihn um. »Richard« Thate als Mörder und Spielleiter – wunderbar!

Und dann die Drehung der Konzeption: Im Laufe des Abends, als es für Richard in seinem Intrigenspiel immer enger wird, immer feindseliger, immer unversöhnlicher, als es gewissermaßen immer anstrengender wird, als Mörder König zu werden, da wurde sein Entertainer-Gespräch mit dem Zuschauer immer weniger, immer kürzer und fand schließlich überhaupt nicht mehr statt. Als rennender Hamster im Laufrad der Macht hatte Richard keine Zeit für einen Blick, für eine Geste und schon gar nicht mehr für ein Gespräch mit dem Zuschauer. Ganz abgesehen davon, dass im sich füllenden Blutbad der Morde wohl auch kein Zuschauer mehr mit ihm darüber sprechen wollte. Was für ein grandioser Grundeinfall.

Ich hatte den Herzog von Clarence zu spielen, also gleich nach Richards Anfangsmonolog die Bühne zu betreten, um mich verwickeln zu lassen in ein Gespräch mit Richard, der mich dahin bringt, meine eben erfolgte ungerechte Verhaftung als gerecht anzusehen.

Das ist sein erster Sieg in dem Stück, und fünf Minuten sind erst vergangen seit dem Anfang.

Einige Bilder später hatte ich einen wunderbaren Tod. Ich wurde von Dieter Franke und Christian Grashof in einem Weinfass ersäuft. Vorher lief aber noch ein Gespräch zwischen uns ab, das sich gewaschen hatte. Die freundlichen Drohungen der beiden und meine gesteigerten Todesängste, war das eine Szene! Und diese beiden freundlichen Mörder zeigten auch noch Verständnis für meine hoffnungslose Lage und baten mich obendrein um Verständnis für ihre Lage, mich nun umbringen zu müssen.

Meine Frau bezeichnet die Szene heute noch als die beeindruckendste in meinem Bühnenleben. Das finde ich ungerecht, ich habe noch viele andere Bühnentode gestalten können, doch ich komme gegen diese ihre Meinung nicht an.

Jedenfalls hat »Richard III.« einen fulminanten Schluss mit dem Schrei nach einem Pferd, das er mit einem Königreich bezahlen will. Nebenbei, erst in dieser Inszenierung habe ich den Aufschrei nach einem Pferd verstanden. Die Könige der damaligen Zeit warfen sich selbst in die Schlacht – mit voller Rüstung und Verhelmung und obenauf ein prächtiger Federbusch. Alle Krieger sollten im Getümmel angstvoll erkennen: Hier kämpft Seine Majestät persönlich. Auf dem Gaul ging das noch, da konnte man das Schwert hin und her schlagen. Die Herrlichkeit im Kampfe war natürlich vorbei, wenn einem das Pferd unterm Hintern abgestochen wurde. Der Reiter, ob nun König oder Söldner, wurde zum Fußgänger degradiert und damit ein Maikäfer auf dem Rücken, und sein Todesurteil stand ohne Verzug fest. Daher dieser Aufschrei: »Ein Pferd! Ein Königreich für ein Pferd!« Das wäre die Rettung für ­Richard gewesen. Auch Gustav Adolf, König von Schweden, musste es später in den Reformationskriegen bei Lützen erleben, solange er noch lebte. Im Gegensatz zu Richard wurde der schwedische Kollege nicht nur einfach getötet, sondern ausgeraubt und gedemütigt bis auf die nackte Haut. Und Wallenstein erlebt in einem Traum, wie ihm das Pferd vernichtet wird. Wallenstein am Boden und die Hufe der anderen Pferde zertreten ihn. Er ist so beeindruckt von diesem Unfall, dass er danach bei Schiller einen ziemlich langen Monolog darüber hält. Dieser Monolog übrigens fängt mit einer Zeile an, für die allein es sich schon lohnt, Schauspieler zu werden: »Es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher ist als sonst und eine Frage frei hat an das Schicksal.«

Im »Richard« nun gibt es die »Szene seiner letzten Nacht« vor der entscheidenden Schlacht. Thate wälzt sich unruhig hin und her und schreit die Namen derer, die er alle umgebracht hat. Er ruft auch meinen Namen und den von Grosse, der den Hastings spielte..

Daraufhin erscheinen wir und sprechen fürchterliche Sätze des Verfluchens. Wie das eben so ist, wenn man tot ist und den eigenen Mörder in der Hölle wiedertrifft. Dazu hatte man in der aufgebauten Schräge der Bühne Klappen angebracht, schön verteilt. Aufs Stichwort musste man die Klappe selbst entriegeln, mit dem Kopf rausgucken, bekam ein Spotlicht, damit alles auch alptraummäßig aussah, und los ging es mit dem Verfluchen.

Die Klappen waren an verschiedenen Orten. Wir Ermordeten mussten beim Inspizienten, der für den Ablauf eines Theaterabends verantwortlich ist, antreten. Vom Zuschauer aus gesehen, selbstverständlich nicht sichtbar, war es die rechte Seite im DT. Dann krochen wir nacheinander auf Knien in den engen Hauptgang, von dem dann, noch enger werdend, die Einzelgänge zu den Klappen abgingen. Ein kleines Bergwerk. Ich beschreibe es so ausführlich, um aufzuzeigen, dass auch Schauspieler manchmal körperlich schwer arbeiten müssen. Ich war der Letzte, der auf die Knie musste, denn ich hatte die günstigste Klappe, gleich am Rand rechts. Vor mir sank also mein hochverehrter Herwart Grosse, den ich seit dem fünfzehnten Lebensjahr bewunderte, in die Knie und scheuerte in einer nicht sitzenden, dicken Strumpfhose den Gang entlang. Bitte: vor mir das Hinterteil meines verehrten Kollegen in einer Strumpfhose. Ich bog ab, meine Klappe war ja gleich erreicht, und während ich auf mein Stichwort wartete, hörte ich Grosse noch lange durch die Gänge rutschen, bis er endlich seine Klappe erreicht hatte. Und da tat er mir leid. Er war ja schon in gesegnetem Alter, und ich fand es unwürdig, diesem geachteten Kollegen die äußerste Klappe zuzuweisen. Ganz hinten links, vom Zuschauer aus gesehen.

Und in der Hauptprobe, wo alles schon so läuft und alle schon so aufgeregt tun, als wäre es die Premiere, obwohl man noch drei Tage Zeit hat, da trat ich an Herwart Grosse heran und bot ihm meine günstige Klappe an.

Ich muss sagen, er war gerührt. Er, der mich oft bewegt hatte mit seiner Kunst, dankte mir zutiefst für diese technische Handreichung. Da kroch ich nun, dankbar, dass er es angenommen hatte, schwitzend zu seiner Klappe. Es war aber nun Hauptprobe, und alles sollte ja wie Vorstellung laufen, und so waren die Scheinwerfer auf die Klappen ausgerichtet und gingen, wie festgelegt, Klappe für Klappe nacheinander an und aus. Da ich vergessen hatte, unseren Tausch der Beleuchtung kundzutun – wir hatten ja auch keine Zeit und meine Freude über die humanitäre Hilfe war nachhaltig –, ging der erste Scheinwerfer auf die geschlossene Klappe, unter der Herwart hockte, und ich reiß hinten seine Klappe auf, um im Dunkeln meinen Fluch zu fluchen. Und weil nun Hauptprobe war und alle vor und hinter dem Regiepult nervös waren und es eben doch noch keine Vorstellung war, setzte ein Geschrei von unten ein, als wäre der Abend gescheitert. Und während ich, im Dunkeln hockend, beschimpft wurde, öffnete sich die beleuchtete Klappe und Grosse erschien wie der Geist der Erde und erklärte den Schreienden, er habe mich aus gesundheitlichen Gründen gebeten, die Klappen zu tauschen. Seine berühmte, überall erkennbare Stimme nannte meinen Namen und beschützte mich. Alle schwiegen, die Scheinwerfer wurden umgestellt, und Herwart Grosse bot mir anschließend das Du an. Unvergesslich!

Was kommt nicht alles hoch an Erinnerungen, wenn man eine kleine Geschichte erzählen will.

Theater ist Erinnerung im Kopf, und hoffentlich immer eine schöne! Vielleicht ist es gut, dass man diese Theatererinnerung nach vielen Jahren der immer besser werdenden Erinnerung nicht mehr sehen muss. Vielleicht wäre man enttäuscht, wenn man nicht das wiederfände, was man da in sich trägt. Das wäre wirklich traurig, denn Erinnerung ist doch gelebtes Leben.

Wenn ich zum Beispiel an die legendäre Inszenierung am BE denke: »Purpurstaub«. Ich war damals noch am DT, aber wie oft hieß es nachmittags im Freundeskreis, los, auf in den »Purpurstaub«. Da man selbst ein Ire sein wollte, vor allem im Trinkgenuss, erschien man oft dezent angedudelt im Zuschauerraum und amüsierte sich. Ich glaube, dieses Unikum von Inszenierung habe ich zehnmal gesehen. Was für ein Glück der Erinnerung! Nein, bloß kein Dokument des Festgehaltenen davon sehen, dann wäre ja die Freude vorbei. Vielleicht.