Maran der Harfner - Harry Eilenstein - E-Book

Maran der Harfner E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Maran wird zum Wanderharfner und zieht im Auftrag des Königs durch dessen Reich, wobei er in den tiefen Wäldern unerwartete Dinge entdeckt. Doch seine wichtigste Suche ist die nach den vielen verschiedenen Wegen zu der eigenen Seele, mit denen er anderen Menschen hilft, sich selber zu erkennen. Er beginnt auch allmählich, die größeren Formen der Magie zu entdecken die über das Erkennen der Gedanken von anderen, das Deuten von Orakeln und den anderen Dingen, die er bisher mit seinem Freund Arrel erforscht hat, deutlich hinausgehen. Und erlebt die Zeit der Selbstbetrachtung, die jeder Mensch mit 28 Jahren erlebt ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Auf Wanderschaft

Kapitel 2: In den Nordbergen

Kapitel 3: Am Wasserfall

Kapitel 4: Sannaran

Kapitel 5: Dichter-Wettstreit

Kapitel 6: Der Gärtner

Kapitel 7: Edelsteine und Wandelsterne

Kapitel 8: Zurück zum Großen Wall

Kapitel 9: Am Großen Fluß

Kapitel 10: Estragos

Kapitel 11: Rückkehr

Kapitel 12: An den Südbergen

Kapitel 13: Der Eulenturm

Kapitel 14: Diebe und Schmiede

Kapitel 15: Der König

Kapitel 16: Jergun

Kapitel 17: Im Auftrag des Königs

Kapitel 18: Aurin

Kapitel 19: Easdan

Kapitel 20: Die Zeit des Wächter-Wandelsterns

Kapitel 21: Das Sonnenkind

- Kapitel 1 -

Auf Wanderschaft

„Es ist seltsam, noch in Sannaran zu sein – jetzt, wo ich weiß, daß ich im Frühjahr fortgehen werde. Das ist wie Warten, daß es endlich losgeht. … Aber wenn ich den ganzen Winter über nur auf den Frühling warte, vergeude ich meine Zeit. Doch was soll ich in diesem Winter tun? Was hilft mir weiter?“

Maran saß im Garten der Königin Gawina der Schönen. Es war später Herbst und es fiel ein leichter Nieselregen. Die Blätter an den Bäumen in dem Garten waren gelb, rot und braun gefärbt und bei jedem Windstoß fielen Blätter von den Bäumen und wirbelten über die Wege, Wiesen und Beete.

„Was weiß ich denn, was mir gut tun wird? Und was mich wieder näher zu diesem Erwachen zurückbringt, daß ich nicht mehr erreichen kann, seit ich an diesen inneren Abgrund gelangt bin?

Hm … Runen üben? … Das scheint mir nicht mehr das Sinnvollste zu sein – die kann ich brauchen, wenn ich ein bestimmtes Mea-Rad wecken will … oder wenn ich eine der Runen-Gottheiten anrufen will.

Und das Singen der fünf klingenden Töne in meine Fußsohlen? … Das ist gut, um den Mea-Leib kennenzulernen und um das Verlassen des Leibes mit dem Mea-Leib zu erlernen … Ob das noch für etwas anderes gut ist? … Könnte schon sein. … Soll ich das weiterüben? Ich weiß nicht so recht …

Na gut – Arrels Bücher habe ich alle gelesen, Arrel ist fort und bei Dirak gibt es auch nicht mehr viel, was ich in der Sternenkunde bei ihm lernen könnte … Wobei ich ja aber auch nicht sagen kann, daß ich schon wirklich gut in der Sternenkunde bin – das wäre überheblich … Aber da geht es im Moment auch nicht weiter – die Sternenkunde liegt nicht genau vor mir als nächster Schritt auf dem Weg zum Erwachen … nein, wohl kaum …

In den Rado-Tempel gehe ich natürlich weiterhin – das tut gut, täglich zweimal den Gott der Richtigkeit zu spüren und ab und zu den Menschen dort zu helfen … Und ich lebe ja auch davon, daß ich das tue – aber ich würde das wohl auch tun, wenn ich nichts dafür bekäme … Na ja – ein bißchen unregelmäßiger vermutlich als ich das jetzt tue …

Die täglichen Mea-Reisen zu meiner Seele in dem Tempel in der Wüstenstadt mache ich weiterhin. Das fühlt sich richtig an und es tut gut.

Hm – haben das eigentlich alle Magier, daß sie sich immer wieder mal hinsetzen und schauen müssen, wo ihr Weg weitergeht und was sie jetzt machen wollen? Bei mir kommt das je regelmäßig vor … Vermutlich liegt das an dem Quadrat zwischen dem Wächter-Wandelstern und dem Magier-Wandelstern in meiner Sternenkarte; Der Wächter sucht eine feste Form, aber er muß sie immer wieder an das anpassen, was der Magier als das Wichtigste erkannt hat. Und dafür muß ich mich immer wieder mal hinsetzen und schauen, wo ich stehe und wo entlang ich weitergehen will … Das ist wohl eher etwas, was sich aus meiner Sternkarte ergibt – und was nicht bei allen Magiern so ist.

Was gibt's noch? … Das Atmen in mein Herz-Rad – das tut gut, aber ist das noch immer sinnvoll? Geht das nicht noch etwas wirkungsvoller? Aber wie? Eigentlich ist das ja auch schon so wie es jetzt ist recht wirkungsvoll … aber es kommt mir so vor, als ob das eine Eichel wäre, die gerade mal ein bißchen gekeimt ist und noch lange keine große, dicke Eiche geworden ist.

Hm – mal nachdenken … Das Herz-Rad ist die Mitte meiner sieben Mea-Räder … und in Arrels Rotem Buch wird dieses Mea-Rad in der Mitte der Brust auch 'Tempel der Seele' genannt. Und der Tempel meiner Seele bei meiner Mea-Reise in die Wüstenstadt liegt auch in der Mitte der Stadt …

Daraus ergibt sich doch eigentlich, daß das Atmen in die Mitte der Brust so etwas wie ein Nähren der eigenen Seele ist – ich lenke mit meinem Atem die Mea zu meiner Seele … Dadurch sage ich doch eigentlich auch, daß ich meine Seele für das Wichtigste halte – denn sonst würde ich die Mea ja woanders hin lenken. …

Und wenn ich mir das so anschaue, scheint mir die Wirkung des Atmens in die Brustmitte und die Wirkung der Reisen in den Seelen-Tempel in der Wüstenstadt doch recht ähnlich anzufühlen … Das Atmen ist allerdings allgemeiner, ungenauer, unpersönlicher …

Hm … kann man denn beides miteinander verbinden? … Die Reise zur Wüstenstadt braucht nicht das Atmen – das würde nicht viel dazutun können, da ich ja bereits als Ganzes auf dem Weg zu meiner Mitte bin und nicht nur meinen Atem zu meiner Mitte sende … Aber läßt sich dieses 'in die Brust atmen' nicht noch ergänzen? … … …

Eigentlich ist das doch ganz einfach: Ich könnte innerlich beim Einatmen und beim Ausatmen jeweils den Namen 'Goldener' meiner Seele sprechen – das würde meine Ausrichtung klarer und eindeutiger machen. Dadurch würde auch das Atmen zielgerichteter, genauer und persönlicher werden. Dadurch würde diese Herz-Atmung der Reise zu meiner eigenen Mitte deutlich näher kommen.

Ja – das werde ich mal ausprobieren. Das fühlt sich gut an.“

Maran wandte seine Aufmerksamkeit nach innen.

„Goldener – wie findest Du meine Idee? Ist die sinnvoll?“

Maran hörte keine Antwort, aber er spürte ein Lächeln, das von innen her kam.

„Das ist dann wohl ein 'ja' … Gut – dann werde ich das ausprobieren.

Was gibt es denn noch? … Hm – da sind die Element-Rituale, die Wandelstern-Rituale, die Mittlere Säule … Ja, die Mittlere Säule werde ich weiterhin machen. Aber regelmäßig oder nur bei Bedarf? … Hm – weiß ich noch nicht …

Dann gibt es da doch auch noch das Drachen-Ritual. Soll ich das mal täglich machen? Hm … das könnte sinnvoll sein. Zumindestens ist das etwas, was ich ja noch nicht wirklich gründlich ausprobiert habe. Und es ist etwas, das auch eine Mitte hat … Ob diese Mitte etwas mit meiner Seele zu tun hat, die ja auch in der Mitte steht? … Hm – das muß wohl so sein, aber wie diese Verbindung zwischen dem Lichtdrachen in der Mitte der sechs Drachen und meiner Seele in der Mitte meiner sechs anderen Mea-Räder aussieht, weiß ich noch nicht … Aber das kann ich ja mal erforschen … Gut – das mach ich.

Macht es Sinn, die Mittlere Säule an das Drachen-Ritual anzuschließen? … Ich weiß es nicht … Ich werde das Drachen-Ritual erst einmal einzeln machen und die Mittlere Säule nur bei Bedarf. Auf diese Weise lerne ich die Wirkung des Drachen-Rituals am besten kennen. Also einmal am Tag das Drachen-Ritual.

Und das Atmen in mein Herz-Rad mit den Worten 'Goldener – Goldener'? Hm – einmal am Tag? Oder dreimal am Tag? Oder nur bei Bedarf? …

Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen meiner Seele und dem Erwachen? … Das weiß ich nicht so recht. Aber da muß wohl ein Zusammenhang sein … Und ich werde wohl auch davon ausgehen können, daß ich dann, wenn ich fest in meiner Seele verankert bin, leichter zu diesem Erwachen zurückfinden werde. … Ja – das dürfte ziemlich sicher sein. Also dreimal am Tag die Herz-Atmung mit den Worten 'Goldener – Goldener'. … Ja, gut – das mach ich so.

Das Erleben meiner Seele und das Erwachen – was ist da eigentlich gleich und was ist da anders? Warum habe ich mir das eigentlich noch nie genauer angeschaut? Komisch …

Also: Welche Eigenschaften hat die Seelen-Begegnung im Tempel in der Wüstenstadt? Und welche Eigenschaften hat das Erwachen? … Hm, das ist gar nicht so einfach zu beschreiben – aber mal schauen, wie weit ich damit komme …

Bei der Seelen-Begegnung entsteht Freude – und auch bei dem Erwachen. Ist das dieselbe Freude? … Hm … bei der Seelen-Begegnung ist das persönlicher, auf die Seele ausgerichtet – bei dem Erwachen ist das unpersönlich und irgendwie weit … Das ist ja schon mal ein klarer Unterschied: Die Freude bei der Seelen-Begegnung ist auf die Mitte hin ausgerichtet, also auf meine Seele, und die Freude beim Erwachen ist eigentlich abgrenzungslos, die richtet sich im Grunde auf alles, was es gibt, aber nicht auf die Summe der einzelnen Dinge, sondern eben sozusagen auf diese unfaßbar große Weite, in der alle Dinge sind.

So was! Das war ja einfacher und klarer als ich es erwartet habe … Was gibt’s denn da noch bei diesen beiden Arten der Freude?

Da ist eine Wärme – eine erfüllende Wärme. Wie ist die bei der Seelen-Begegnung? Da kommt die Wärme sozusagen von innen. Und bei dem Erwachen? Da ist sie Innen und Außen, also eigentlich überall. Hm – das ist ja wieder derselbe Unterschied: Die Freude und die Wärme sind bei der Seelen-Begegnung mit der Mitte verbunden, und bei dem Erwachen sind sie mit der Weite verbunden.

Freude und Wärme … Dann ist da noch dieses Erfülltsein … Auch das ist verschieden: Bei der Seelen-Begegnung bin ich von meiner Seele erfüllt, und bei dem Erwachen bin ich einfach erfüllt ohne zu wissen wovon und woher das kommt – bei der Seelen-Begegnung kommt diese Fülle von Innen von der Seele.

Das sieht ja fast so aus, als ob das beides grundlegend gleiche Erlebnisse wären, nur daß die Seelen-Begegnung auf die eigene Mitte ausgerichtet ist, und daß das Erwachen eine Weite ist.

Dann gibt es da ja auch noch das Gefühl der Richtigkeit. Auch die ruht bei der Seelen-Begegnung in der Seele, während sie beim Erwachen einfach da ist. Das ist wieder derselbe Unterschied: Mitte und Weite.

Noch mehr? … Ja – da ist eine Einsgerichtetheit. Bei der Seelen-Begegnung bin ich ganz auf meine Seele ausgerichtet – bei dem Erwachen bin ich sozusagen 'ganz da'. Daher ist diese Einsgerichtetheit bei der Seelen-Begegnung wieder persönlicher – ich stehe ja meiner Seele gegenüber … da bin ich einsgerichtet, aber ich bin als ich selber auf meine Seele ausgerichtet, die mir gegenüber steht. Das ist beim Erwachen anders – da bin ich einsgerichtet, aber da ist eigentlich nichts, auf das ich einsgerichtet wäre … das ist ja eigentlich ziemlich komisch, wenn ich mir das jetzt mal genauer betrachte … Da bin ich einfach 'ganz da', ganz bei mir, ganz im Hier und Jetzt, ganz bei allem, was ist …

Ob das wohl irgendjemand verstehen könnte, wenn ich ihm das so erzähle? Das dürfte ziemlich schwierig werden, wenn derjenige so was noch nicht erlebt hat … Das wäre ungefähr so, als wenn ich jemandem, der noch nie bei einer Vereinigung von Mann und Frau das Überkippen der Welle erlebt hat, diese Erfahrung beschreiben wollte – ein ziemlich aussichtsloser Versuch …

Dann ist da ja auch noch dieses 'grundlos glücklich sein'. Ist das dasselbe wie die Freude? … Hm – nicht so ganz. Die Freude ist wie ein Schwingen, das freier oder umfassender geworden ist … Ja, so könnte man Freude beschreiben. Dieses 'grundlos glücklich sein' ist eher wie ein Erfülltsein, da bin ich mittendrin, da schwingt nichts, sondern da ist etwas einfach da und ich bin sozusagen satt – wie die sprichwörtliche 'Made im Speck'.

Ja – und bei beidem ist keinerlei Impuls da, den Zustand, in dem ich da bin, zu ändern …

Ist der Unterschied zwischen der Seelen-Begegnung und dem Erwachen also nur 'Mitte – Weite'? Da muß doch eigentlich noch mehr sein, wenn ich zu meiner Seele gehen kann, aber nicht in den Abgrund in diese Weite springen kann … Na ja – aber die Mitte gibt Halt und die Weite löst auf … Das ist ja schon etwas sehr Verschiedenes, das den Unterschied ausmachen könnte …

Gibt es denn vielleicht noch so etwas wie eine unterschiedliche Färbung in diesen beiden Erlebnissen? … Hm … eigentlich läßt sich das alles nur auf diesen Unterschied 'Mitte – Weite' zurückführen.

Das klingt so, als ob das Erwachen eine größere Form der Seelen-Begegnung wäre … Aber was soll das sein? Also dieses Größere, dem ich da begegne?

Wie war das denn mit der Mittleren Säule des Lebensbaumes? Wie sah der beim Menschen aus? Da müßte sich das doch finden lassen, oder?

Also:

1. Einer-Alles-Einziger

-. Gottheit

6. Seele

9. Mea-Leib

10. fester Leib

Hm – das sieht ja so aus, als ob dieses Erwachen das Erlebnis einer Gottheit wäre … Komisch – da habe ich aber keine Gottheit gesehen … Aber vielleicht habe ich sie auch nur nicht erkannt. Und wer hat da an diesem Abgrund, den ich innerlich gesehen habe, eigentlich zu mir 'Spring!' gesagt? Meine Seele?

Wenn sich die Seelen-Begegnung in '6.' im Grunde genauso anfühlt wie das Erwachen in '-.', nur daß das in '6.' auf die Mitte, also auf meine Seele bezogen ist, und in '-.' auf eine Gottheit, dann muß meine Seele wohl mit dieser Gottheit verbunden sein. Und der Übergang zwischen beiden ist der Sprung in diesen seltsamen inneren Abgrund. Diese Gottheit muß dann wohl so etwas wie eine große Form meiner Seele sein oder so was in der Art … hm …

Tja – ob das jetzt wohl alles so richtig ist, wie ich mir das da überlege? Klingt gut, aber hängt auch noch ziemlich in der Luft … Da brauche ich vor allem noch mehr Erlebnisse – und am besten den Rat von jemandem, der diese Erlebnisse kennt und verstanden hat und weiß, wie man da hin kommen kann.

Und deshalb gehe ich ja auch im Frühjahr auf Wanderschaft. Und bis dahin werde ich die Reise zur Mitte machen, das Atmen in meine Brustmitte mit den Worten 'Goldener – Goldener' üben und auch die Drachen-Rituale.

Also gut – dann gehe ich jetzt mal wieder nach drinnen in mein Zimmer und mache das Drachen-Ritual.“

Maran verließ den Garten der Gawina und ging in das Haus neben dem Garten, in dem sein Zimmer war. Mittlerweile hatte es auch allmählich stärker zu regnen begonnen.

In seinem Zimmer stand Maran einen Augenblick unschlüssig da.

„Kann ich das Ritual noch auswendig? … Ich glaube, ich lese es vorsichtshalber noch mal im Grünen Buch nach.“

Das Drachenritual

Zauberlehrling! Magie ist eine Reise in unbekannte Länder und Du wirst dort Dinge erleben, von denen Du nichts geahnt hast. Sorge daher dafür, daß Du, wenn Du zu dieser Reise aufbrichst, Dich schützen kannst und jeden Zauber beenden kannst – sei er von Dir selber oder von jemand anderem erschaffen worden.

Lerne dafür das Drachenritual.

Es ist einfach, aber es wird erst durch Übung wirklich wirkungsvoll – so wie es einfach ist, das Gehen zu beschreiben und die ersten Schritte zu tun, aber ein wirklich schnelles Rennen Übung erfordert.

Das Folgende ist das Drachenritual, wie es von den Drachenmeistern ersonnen, geübt und weitergegeben worden ist.

Das Bild des Schutzkreises

Dein Schutzraum ist eine Kugel mit Deinem Herz-Rad in der Mitte.

Deine Kugel hat sieben Bereiche: Osten, Süden, Westen, Norden, oben, unten und Mitte. Der unterste Kreis entsteht dadurch, daß diese Schutzkugel, in der Du stehst, ein Stückweit in den Erdboden hineinragt.

Du kannst auf einer Kugel sechs gleichgroße Kreise aufmalen, die jeweils an vier Stellen einen der anderen sechs Kreise berühren. Forme Dir eine Kugel aus Lehm und zeichne diese sechs Kreise auf die Lehmkugel – dann wirst Du verstehen, was ich meine.

Das ist Deine Schutzkugel – die Kugel mit den sechs Kreisen auf ihr.

In die sechs Kreise wird jeweils das Schutzzeichen gezeichnet: ein aufrechter Strich und ein Querstrich, also ein Kreuz mit vier gleichlangen Armen.

Der Drache unten erstreckt sich weit über den Ort hinaus, an dem Du stehst, aber genau unter Dir ist sein Herz-Rad – unter der Mitte des Kreuzes in dem Kreis.

Der Drache oben erstreckt sich weit über den Ort hinaus, an dem Du stehst, aber genau über Dir ist sein Herz-Rad – in der Mitte des Kreuzes.

Die Drachen an den vier Seiten haben ihren Kopf über dem Kreuz-Kreis und ihre vier Pfoten jeweils in einem der vier Kreisviertel; ihr Herz-Rad ist in der Mitte des Kreuzes; ihr Schweif ist von dem Kreis fortgewandt – die Drachen sind bei Dir, aber sie sind nicht nur bei Dir …

Der Drache in der Mitte ist aufrecht: sein Kopf ist oben bei dem Herz-Rad des Himmelsdrachen, sein Schwanz ist unten bei dem Erddrachen und sein Herz-Rad ist in der Mitte – dort wo auch Dein eigenes Herz-Rad ist.

Der Same und die Quelle und die Wurzel und die Mitte eines jeden Schutzes ist die Verankerung in dem eigenen Herz-Rad. Wenn Du dort verankert bis, kommen die Sieben Drachen Dir zu Hilfe – und sie helfen Dir auch, Dich in Deinem Herz-Rad zu verankern.

Das Ritual

Schaue nach Osten, halte Deine Hände auf Dein Herz-Rad und sprich: „Ho!“

Imaginiere die Kugel, in deren Mitte Du stehst und die so groß ist, wie der Raum, den Du schützen willst.

Halte Deine beiden Arme so, daß sie zusammen wie ein „W“ aussehen, richte Deine Handflächen nach außen hin und sprich: „Ich stehe in der Mea-Kugel.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz unter Dir.

Strecke Deine Arme nach unten und richte Deine Handflächen zur Erde. Imaginiere den unteren Kreis, also den Rand der Mea-Kugel, die teilweise in die Erde hineinreicht, sowie das Kreuz in diesem Kreis, auf dessen Mitte Du stehst.

Sprich: „Unter mir ist der Große Erddrache Mannalani. Ich begrüße und berühre Dich, Mannalani, mit meinem Wurzel-Rad.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz im Osten.

Strecke Deine Arme nach Osten hin aus, die Handflächen nach vorn, imaginiere den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

Sprich: „Vor mir im Osten ist der Winddrache Ssamalan. Ich begrüße und berühre Dich, Ssamalan, mit meinen Hand-Rädern.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz im Süden.

Strecke Deine Arme nach Süden hin aus, die Handflächen nach vorn, imaginiere den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

Sprich: „Vor mir im Süden ist der Feuerdrache Sharfan. Ich begrüße und berühre Dich, Sharfan, mit meinen Hand-Rädern.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz im Westen.

Strecke Deine Arme nach Westen hin aus, die Handflächen nach vorn, imaginiere den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

Sprich: „Vor mir im Westen ist der Wasserdrache Wannawenas. Ich begrüße und berühre Dich, Wannawenas, mit meinen Hand-Rädern.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz im Norden.

Strecke Deine Arme nach Norden hin aus, die Handflächen nach vorn, imaginiere den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

Sprich: „Vor mir im Norden ist der Erddrache Gudrubel. Ich begrüße und berühre Dich, Gudrubel, mit meinen Hand-Rädern.“

Ziehe mit Deiner Hand den Kreis und das Kreuz über Dir.

Strecke Deine Arme nach oben hin aus, die Handflächen nach oben, imaginiere den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

Sprich: „Über mir ist der Große Himmelsdrache Sonarvan. Ich begrüße und berühre Dich, Sonarvan, mit meinem Scheitel-Rad.“

Lege beide Hände auf Dein Herz-Rad und sprich: „Ich bin in dem Lichtdrachen Gorvan und Gorvan ist in mir. Ich begrüße und berühre Dich, Gorvan, mit meinem Herz-Rad.“

Der Gesang

Singe die Namen der Sieben Drachen. Singe den Namen des Drachens der Mitte zweimal – einmal am Anfang und einmal am Ende, da er der Anfang und das Ende der Sieben Drachen und des Schutzkreises ist. Imaginiere dabei noch einmal möglichst lebhaft die Sieben Drachen: „Gorvan – Mannalani – Ssamalan – Sharfan – Wannawenas – Gudrubel – Sonarvan – Gorvan.“

Das Bild

Siehe die Erde unter Dir, stehe bewußt mit Deinen Füßen auf ihr und sprich:

„Kind der Erde, verbinde Dein Wurzel-Rad mit dem Feuer der Erde!“

Siehe den Himmel über Dir, greife mit Deinen Händen in die Höhe und sprich:

„Kind der Sonne am Himmel, verbinde Dein Scheitel-Rad mit den Flammen der Sonne!“

Spüre die Luft rings um Dich, atme einmal tief ein und einmal tief aus und sprich:

„Atmendes Geschöpf, trinke die Mea der Luft, die alle Wesen nährt und verbindet!“

Imaginiere den Ort, an dem Du stehst, als eine Insel in einem weiten Wasser, gehe im Sonnenlauf einmal im Kreis, versprenkle Wasser und sprich:

„Wesen, das aus dem Wasser geboren ward – wie zu allen Zeiten versprüht der Priester, der das Wirken des Wasser lenkt, zuerst das Weihwasser des lautbrandenden Meeres.“

Imaginiere die Feuer-Waberlohe am Ufer rings um die Insel, auf der Du stehst, gehe im Sonnenlauf einmal am Ufer der Insel mit glimmendem Räucherwerk entlang und sprich:

„Priester des Feuers – wenn Du, nachdem alle Trugbilder geflohen sind, das heilige Formlose Feuer siehst, das Feuer, das durch die Höhen und Tiefen der Welt blitzt und flammt, höre dann die Stimme des Feuers!“

Imaginiere das Licht der Mitte, das den Raum über der Insel erfüllt, das den Raum rings um Dich, den Du schützen willst, erfüllt, der die ganze

Schutzkugel erfüllt, erhebe dann anrufend Deine Arme und sprich:

„Drache des Lichts – erfülle mein Herz!

Drache der Mitte – erfülle meine Insel!

Drache des Herz-Rades – erfülle meinen Weg!“

„Ho!“

Es ist wichtig, das dieses Ritual sorgfältig ausgeführt wird. Die Kugel ist der eigene Mea-Leib, der hier zu einer Festung gemacht wird. Der Kreis auf der Erde ist die Wehrmauer – das sechs Kreuz-Kreise sind die Befestigungstürme, die sechs äußeren Drachen sind die Wächter auf den Türmen und der siebte Drache in der Mitte ist Dein Leibwächter.

Dieses Ritual sollte mit einer dreifachen Absicht durchgeführt werden:

erstens mit der Absicht der Reinigung des Ortes,zweitens mit der Absicht des Schutzes des Ortes unddrittens mit der Absicht der Stärkung des Ortes
in dieser Reihenfolge.

Das, was hier über den Ort gesagt wurde, gilt natürlich in gleicher Weise auch für den, der an diesem Ort steht und dieses Ritual durchführt.

Durch dieses Ritual wird die Mea des eigenen Mea-Leibes gestaltet. Das ist jedoch nicht nur eine starke Schutzmauer wie um eine Burg oder um eine Stadt – diese Schutzkugel hat eine siebenfache Aufgabe, einen siebenfachen Ansatz und eine siebenfache Wirkungsweise:

1. Die Mitte dieser Schutzkugel ist das eigene Herz-Rad, das auch die Mitte des eigenen Wesens ist – dies ist die Anbindung an die Quelle der Mea.

Die Aufgabe ist der Selbstausdruck der eigenen Seele in dem eigenen Herz-Rad.

Der Ansatz ist das Strahlen des Mea-Leibes vom Herz-Rad her.

Die Wirkungsweise ist die Einsgerichtetheit.

Dies ist die Aufgabe des Herz-Rades.

2. Die obere Anbindung dieser Schutzkugel ist das Licht der Sonne am Himmel – der Große Himmelsdrache.

Die Aufgabe ist die Bewußtheit.

Der Ansatz ist das Erwachen.

Die Wirkungsweise ist die bewußte Wahrnehmung.

Dies geschieht durch das Scheitel-Rad.

3. Die untere Anbindung dieser Schutzkugel ist das Erdfeuer unten – der Große Erddrache.

Die Aufgabe ist der innere Halt.

Der Ansatz ist die Verankerung in der Zeit und an dem Ort, an dem Du gerade bist.

Die Wirkungsweise ist die Belebung.

Dies geschieht durch das Wurzel-Rad.

4. Die östliche Anbindung dieser Schutzkugel ist die Luft-Mea – der Luftdrache.

Die Aufgabe ist das Erfassen der Wahrheit.

Der Ansatz ist das Hinschauen.

Die Wirkungsweise ist das Erkennen.

Dies geschieht durch das Dritten Auge.

5. Die südliche Anbindung dieser Schutzkugel ist das Feuer-Mea – der Feuerdrache.

Die Aufgabe ist das Entwickeln von Stärke.

Der Ansatz ist der Siegeswille.

Die Wirkungsweise ist die Durchsetzung.

Dies geschieht durch das Tanz-Rad.

6. Die westliche Anbindung dieser Schutzkugel ist das Wasser-Mea – der Wasserdrache.

Die Aufgabe ist das Erschaffen von Liebe.

Der Ansatz ist die Anteilnahme.

Die Wirkungsweise ist das Mitgefühl.

Dies geschieht durch das Hals-Rad.

7. Die nördliche Anbindung dieser Schutzkugel ist das Erd-Mea – der Erddrache.

Die Aufgabe ist das Fördern des Gedeihens.

Der Ansatz sind die Wünsche.

Die Wirkungsweise ist das angewandte Wissen.

Dies geschieht durch das Sonnengeflecht.

Ich verneige mich dreimal vor der Weisheit des sehr ehrwürdigen Magus Sravan Taralonias, der uns dieses Ritual gegeben hat.

Tur

Das Ritual und das Bild muß ein Teil des eigenen Mea-Leibes werden – man muß ess

Ssandor

Nachdem Maran sich das Drachen-Ritual noch einmal durchgelesen und es sich eingeprägt hatte, stellte er sich in die Mitte seines Zimmers und begann mit dem Ritual.

Maran blickte nach Osten, legte seine Hände auf das Mea-Rad in der Mitte seiner Brust und sprach „Ho!“

Dieser Beginn eines Rituals war ihm noch von den Schwitzhütten aus dem Seetal vertraut und er fühlte sich sofort ein wenig heimisch in dem Ritual.

Er stellte sich möglichst lebhaft eine Mea-Kugel vor, in deren Mitte er stand. Das war seine Schutz-Mea-Kugel. Dort, wo sie ein Stück in die Erde eingesunken war, beschrieb der Rand der Kugel einen Kreis, in dessen Mitte Maran stand – das entsprach dem Schutzkreis, den er auch bei der Dämonen-Beschwörung, die er zusammen mit Arrel gemacht hatte, auf die Erde gezeichnet hatte.

Dann richtete er seine Arme angewinkelt zu Seite, wobei die Ellenbogen unten waren und die Hände auf Höhe der Schultern nach außen wiesen.

„Ich stehe in der Mea-Kugel.“

Als nächstes streckte er seine Arme nach unten und richtete seine Handflächen zur Erde und imaginierte den Kreis, in dem er stand, sowie ein Kreuz in ihm, auf dessen Mitte er stand.

„Unter mir ist der Große Erddrache Mannalani. Ich begrüße und berühre Dich, Mannalani, mit meinem Wurzel-Rad.“

Maran sah innerlich die vage, verschwommene braune Gestalt des Erddrachen Mannalani, so wie er diesen Drachen auf seiner Mea-Reise gesehen hatte.

Maran zog mit seiner rechten Hand einen Kreis und ein Kreuz in ihm im Osten. Dieser Kreis lag auf der Schutz-Kugel, die er rings um sich imaginiert hatte.

Er streckte seine Arme mit den Handflächen nach vorne nach Osten hin aus.

„Vor mir im Osten ist der Winddrache Ssamalan. Ich begrüße und berühre Dich, Ssamalan, mit meinen Hand-Rädern.“

Er ahnte den blauen Luftdrachen mehr als daß er ihn wirklich sah.

Maran wandte sich nach Süden und zog dort mit seiner rechten Hand einen Kreis und das Kreuz in ihm.

Er streckte seine Arme nach Süden hin aus, die Handflächen nach vorn und imaginierte den Kreis mit dem Kreuz in ihm.

„Vor mir im Süden ist der Feuerdrache Sharfan. Ich begrüße und berühre Dich, Sharfan, mit meinen Hand-Rädern.“

War da vor ihm der rote Feuerdrache? Er war deutlicher zu sehen als die anderen drei Drachen, die er bisher angerufen hatte … aber Feuer ist ja auch das kraftvollste Element … Maran meinte sogar ein wenig Wärme, die von vorne her zu ihm strahlte, zu spüren.

Nun folgte der Kreuz-Kreis im Westen. Maran streckte wieder seine Arme mit den Handflächen nach vorne nach Westen hin aus.

„Vor mir im Westen ist der Wasserdrache Wannawenas. Ich begrüße und berühre Dich, Wannawenas, mit meinen Hand-Rädern.“

Der grüne Wasserdrache war klarer zu sehen als die anderen Drachen – vermutlich weil das innere Sehen zum Wasser gehört …

Im Norden zog er den Kreuz-Kreis der Erde und imaginierte ihn mit ausgestreckten Armen.

„Vor mir im Norden ist der Erddrache Gudrubel. Ich begrüße und berühre Dich, Gudrubel, mit meinen Hand-Rädern.“

War da die rumpelnde Stimme des Gudrubel zu hören, der leise amüsiert vor sich hin lachte?

Maran wandte sich wieder nach Osten und zog nun den Kreuz-Kreis über sich, streckte seine Arme nach oben hin und imaginierte den Kreuz-Kreis möglichst lebhaft.

„Über mir ist der Große Himmelsdrache Sonarvan. Ich begrüße und berühre Dich, Sonarvan, mit meinem Scheitel-Rad.“

Die Anwesenheit des weißen Sonarvan erinnerte Maran an die Mittlere Säule, bei der ja schließlich auch weißes Licht von oben her gerufen wird.

Maran legte wie am Anfang wieder beide Hände auf sein Herz-Rad.

„Ich bin in dem Lichtdrachen Gorvan und Gorvan ist in mir. Ich begrüße und berühre Dich, Gorvan, mit meinem Herz-Rad.“

Maran blieb eine Weile so stehen. Das fühlte sich so ähnlich an wie das Atmen in die eigene Brust. Maran stand eine Weile nur da und spürte in die Bilder hinein, die er imaginiert und gerufen hatte.

„Das sieht ja so aus, als ob dieses Drachen-Ritual eine Verbindung zu vielen anderen Erlebnissen von mir hätte und sie zu einem Gesamtbild zusammenfassen würde …“

Dann fuhr er mit dem Ritual fort. Er blieb in der Mitte und nach Osten gewandt stehen und begann die sieben Drachennamen zu singen, wobei er sich innerlich jeweils zu dem betreffenden Drachen wandte und sich Zeit mit dem Singen ließ.

In der Mitte der Lichtdrache … „Gorvan“

Unten der Große Erddrache … „Mannalani“

Im Osten der Luftdrache … „Ssamalan“

Im Süden der Feuerdrache … „Sharfan“

Im Westen der Wasserdrache … „Wannawenas“

Im Norden der Erddrache … „Gudrubel“

Oben der Große Himmelsdrache … „Sonarvan“

In der Mitte der Lichtdrache … „Gorvan“

Maran betrachtete das Bild, das er durch seine Imagination erschaffen hatte … oder das dadurch entstanden war, daß er die sieben Drachen zu sich gerufen hatte …

Maran runzelte seine Stirn.

„Wie hängen eigentlich meine Imagination und die Drachen zusammen? Was davon ist die eigentliche Ursache für diese Bilder? … Nein – denk ein anderes Mal darüber nach, Maran – jetzt will ich doch das Ritual durchführen.“

Maran konzentrierte sich wieder auf das Bild der Schutzkugel, der sechs Kreuz-Kreise auf ihr und der sieben Drachen.

Er streckte seine Arme nach unten und schaute innerlich nach unten zu dem Drachen Mannalani.

„Kind der Erde, verbinde Dein Wurzel-Rad mit dem Feuer der Erde!“

Er streckte seine Arme nach oben und schaute innerlich zu Sonarvan empor.

„Kind der Sonne am Himmel, verbinde Dein Scheitel-Rad mit den Flammen der Sonne!“

Maran spürte die Luft rings um sich her und atme einmal tief ein und einmal tief aus.

„Atmendes Geschöpf, trinke die Mea der Luft, die alle Wesen nährt und verbindet!“

Maran nahm den Becher mit Wasser, den er sich vor dem Ritual bereit gestellt hatte, und ging einmal in Sonnenlauf-Richtung am Rand des Schutzkreises auf dem Boden entlang, versprenkelte dabei ein wenig von dem Wasser und imaginierte, daß dieser Kreis eine Insel ist.

„Wesen, das aus dem Wasser geboren ward – wie zu allen Zeiten versprüht der Priester, der das Wirken des Wassers lenkt, zuerst das Weihwasser des lautbrandenden Meeres.“

Dann nahm er die Schale mit getrocknetem und zerriebenem Salbei, auf die er ein kleines Stück glühender Holzkohle legte, sodaß der Salbei zu räuchern begann, und ging dann im Sonnenlauf an dem Kreis entlang und imaginierte eine Waberlohe am Ufer der runden Insel.

„Priester des Feuers – wenn Du, nachdem alle Trugbilder geflohen sind, das heilige formlose Feuer siehst, das Feuer, das durch die Höhen und Tiefen der Welt blitzt und flammt, höre dann die Stimme des Feuers!“

Maran stellte sich wieder in die Mitte des Zimmers und imaginierte, daß der ganze Raum innerhalb der Waberlohe auf der Insel von Licht erfüllt ist.

„Drache des Lichts – erfülle mein Herz!

Drache der Mitte – erfülle meine Insel!

Drache des Herz-Rades – erfülle meinen Weg!“

Maran betrachtete eine Weile das Bild, das er durch dieses Ritual erschaffen hatte: die Schutzkugel, den Schutzkreis auf dem Boden, die sechs Kreuz-Kreise, die Insel mit der Waberlohe und dem Licht, die sieben Drachen …

„Ho!“

Maran blieb noch eine Zeitlang in dem Zimmer stehen und genoß das Gefühl von Schutz, von Zentrierung und von Fülle, das durch dieses Ritual entstanden war.

Nach einer Weile merkte er, daß irgendetwas in ihm unruhig war … Was war das? … War da irgendwo die Richtigkeit gestört? Aber wo denn? … Maran ging innerlich noch einmal das Ritual durch …

Da entdeckte er es: In dem letzten Teil wurde der Drache oben, der Drache unten, dann der Luftdrachen im Atem, der Wasserdrache im Wasser-Sprenkeln, der Feuerdrache im Räuchern und der Lichtdrache mit den Licht-Versen gerufen – aber der Drache der Erde im Norden fehlte!

„Gut – da werde ich noch einen Vers für den Erddrachen oder so was in der Art einfügen. Vielleicht einfach nur die Erde mit den Händen berühren und die Insel imaginieren … zwischen dem Räuchern und den Licht-Versen … Ja, dann ist es das Ritual runder.“

Maran setzte sich auf sein Lager und dachte über das Ritual nach.

„Eigentlich ist das doch ganz schön lang, dieses Ritual … Kann man das nicht vereinfachen, ohne seine Wirkung zu schmälern? Das wäre doch gut … Ich muß mal darüber nachdenken, aber vorerst lasse ich es so, wie es ist – mit der Erddrachen-Ergänzung.“

Später am Abend machte Maran nach dem Flötenspielen im Rado-Tempel seine Reise zu seiner eigenen Mitte – zu dem Tempel seiner Seele in der Wüstenstadt. Mittlerweile war der Bereich der Felder rings um diese Wüstenstadt immer weiter gewachsen, sodaß der Namen 'Wüstenstadt' eigentlich gar nicht mehr zutraf – die Stadt stand in blühenden Gärten und reich tragenden Feldern. Doch aus Gewohnheit nannte Maran diesen Ort noch immer 'Wüstenstadt'.

„Diese Gärten und Felder und Weiden müssen doch eigentlich bedeuten, daß mein Leben zu gedeihen beginnt, daß ich mich nicht mehr von der Welt getrennt fühle und daß ich allmählich heil werde. Die Gärten, Felder und Weiden sind nicht die Stadt – und wenn die Stadt mein Leib ist und der Tempel mein Herz-Rad, dann müßte die Umgebung der Stadt doch eigentlich der Teil der Welt sein, mit dem ich verbunden bin, also jetzt Sannaran und die Menschen hier, die ich ab und zu sehe … und vielleicht auch die Menschen aus dem Seetal …

Das fühlt sich wirklich gut an, daß sich diese Wüste allmählich in einen blühenden Garten verwandelt hat! Das hat begonnen, nachdem ich meine Wölfin und meine Seele getroffen habe – und den Thuja am Ufer des Flusses in der Wüstenstadt … Das eigene Leben beginnt also zu gedeihen, wenn man die eigene Seele kennengelernt hat … Das ist ja sehr leicht einzusehen, daß das so ist …“

Maran legte sich auf sein Lager, schloß seine Augen und ging innerlich zu der Straße durch die Wüste, die mittlerweile durch Felder und Weiden führte. Er grüßte den Wächter am Tor der Stadt, der ihn einließ und ging durch die Alleen zum Fluß, an dem die Stadt lag. Dort traf er seine Wölfin und ging mit ihr weiter zu dem runden Tempel in der Mitte der Stadt.

Maran fiel auf, daß der Tempel rund war und in der Mitte der Stadt lag, die ebenfalls rund war – und daß dies doch das Symbol der Sonne war: ein kleiner Kreis in einem großen Kreis.

Als Maran den Tempel betrat, blieb die Wölfin wie immer innen neben dem Eingang sitzen.

Maran stellte sich in die Mitte des Tempels und rief seine Seele. Sie erschien schon nach kurzer Zeit und schaute ihn an. Irgendetwas war heute anders als sonst … so als ob eine bisher verschlossene Tür aufgehen würde …

Maran schaute seiner Seele, die in der Gestalt eines jungen Mannes mit goldenen Haaren vor ihm stand, in die Augen. Der Goldene kam ihm allmählich näher und Maran ging ihm entgegen. Der Goldene ergriff Marans Hände … er umarmte ihn … er kam immer näher … schließlich vereinte er sich mit Maran und Maran sah ihn nicht mehr vor sich, sondern spürte und sah den Goldenen in sich …

Maran stand nur da und tat nichts … er war ganz bei dieser Wärme und dem goldenen Licht seiner Seele, die er nun in sich sah und spürte …

Er wußte nicht, wie lange er dort so gestanden hatte, als das Erlebnis allmählich verblaßte. Schließlich dankte er seiner Seele für das, was er erlebt hatte und verließ den Tempel zusammen mit seiner Wölfin.

„Ist der Goldene jetzt noch immer in mir? … Nun ja – wo sollte er denn auch sonst sein … Aber so habe ich das noch nie erlebt – so deutlich … Das ist ja, als ob ich den Goldenen erst einmal eine Weile außerhalb von mir sehen mußte, um dann wirklich begreifen zu können, daß er in mir ist …

Ist es das, was mit einer Anrufung gemeint? Ein Wesen, daß außerhalb von einem ist, kommt in einen hinein und man wird dann eins mit ihm? So schlicht wie mein Erlebnis eben kann das sein?“

Maran lief zusammen mit seiner Wölfin an dem Fluß entlang durch die Wüstenstadt bis zu dem schmalen Kanal, der von dem Stadttor bis zu dem Fluß hin führte. Dort an der Einmündung des Kanals in den Fluß setzte er sich neben den Thuja, der dort stand – die Pflanze, mit der er verwandt war. Sein Wolf setzte sich neben ihn und er holte aus einer Tasche in seinem Gewand einen Bergkristall. Maran betrachtete alle drei.

„Das sind also meine drei Verbindungen zur Welt … Diese drei sind mir ähnlich und wir sind daher Verbündete … Freunde … Verwandte … die Ausdauer und das Finden des Jenseitsweges der Wölfin … der Jenseitsweg und die Weisheit des Lebensbaumes … und die Klarheit und Richtigkeit des Bergkristalls … Und diese drei sind auch Eigenschaften des Goldenen … Sie sind mein Ziel, mein Weg, mein Tanz, mein Lied – sie sind das, was ich bin und was ich lebe … So einfach ist das … Sie sind mein Lebenssinn – ich lebe das, was sie sind, und drücke dadurch aus, wer ich bin …

Das Leuchten meiner Seele in mir nimmt als Wölfin, als Thuja und als Bergkristall Gestalt an … So schlicht ist das alles … und so erfüllend …“

Schließlich erhob sich Maran wieder, steckte den Bergkristall in seine Tasche, legte kurz seine Hand zum Gruß an den Thuja, winkte seiner Wölfin zu, die dort am Fluß sitzen blieb, und ging dann zurück zu dem Stadttor und dann weiter in die nun grünende Wüste hinaus bis zu dem Punkt auf der Straße, an der er diese Reise immer begann und auch immer beendete.

*

Maran schien, daß noch kein Winter so lange gedauert hatte wie dieses Jahr … aber wenn man auf etwas wartet wie auf den Aufbruch im Frühjahr zusammen mit dem Händler Trolkar dem Schwarzen, dann fließt die Zeit ganz besonders langsam.

„Wie wird das wohl werden? Ob ich mich mit dem Händler Trolkar gut verstehen werde? Mit dem Helfen beim Anbieten seiner Waren mache ich mir eigentlich keine Sorgen – ich mag Werkzeuge … und die Verwendung der Werkzeuge, die ich noch nicht kenne, werde ich schnell gelernt haben.

Aber ob ich auf dieser Fahrt wohl jemanden finde, der mir sagen kann, wie ich mit diesem inneren Abgrund umgehen kann, vor dem ich mich offenbar so fürchte, daß ich nicht wieder zu dem Erwachen zurückkehren kann … das ist schon eine sehr unsichere Angelegenheit, diese Suche ins Ungewisse hinein …“

Maran ging morgens und abends in den Rado-Tempel. Offenbar hatten die Menschen dort in dem Stadtviertel von Marans Absichten erfahren – hatte Blafo es ihnen erzählt? Einige versuchten Maran zu überreden, in Sannaran zu bleiben, aber Maran blieb standfest und erklärte ihnen immer wieder, daß er nicht hier in dem Tempel bleiben konnte, sondern auf eine Suche gehen muß. Doch was er suchte, erzählte er ihnen nicht – er hatte das Gefühl, daß das sonst ziemlich seltsam für die Leute in dem Stadtviertel klingen würde.

Das Drachen-Ritual, das Maran jeden Tag durchführte, wurde allmählich lebendiger – vor allem die Drachen selber, die er zunehmend klarer sehen konnte. Er hatte den Eindruck, daß sich seine Imagination der Drachen bei dem Ritual einer Art Mea-Reise annäherte, bei der er ja nach einer Weile meistens recht deutliche Bilder sah. Sein Imaginieren der Drachen und sein Sehen der Drachen auf einer Mea-Reise schienen allmählich miteinander zu verschmelzen: Es war, als ob er die Drachen rufen würde, ihnen mit seiner Imagination zu erscheinen half, woraufhin sie dann schließlich eigenständig vor ihm dastanden.

„Kann man das eigentlich unterscheiden – was ich imaginiere und was von den Drachen selber kommt? Eigentlich nicht wirklich … Das ist schon seltsam …

In der leiblichen Welt steht ein Baum vor mir und dieser Baum ist genau das, was er ist, und ich kann ihn mit meinen Augen sehen, mit meiner Nase riechen, mit meinen Händen tasten und mit meinen Ohren das Rauschen seiner Blätter hören – da ist das, was da ist, und das, was ich wahrnehme, klar getrennt – das ist ganz deutlich zweierlei, das Wahrgenommene und das Wahrnehmen.

Doch bei den Drachen ist das anders. Sie sind auch eigenständig da, da sie von fast allen Menschen gleich oder zumindestens sehr ähnlich wahrgenommen werden. Aber sie sind nicht einfach 'da draußen' und ich sehe sie eben nicht genau so, wie sie sind – sie sind eigentlich auch in mir und meine Imagination und mein aufmerksames Schauen lassen ihr Bild vor mir entstehen und verändern es auch ein bißchen. Wobei ich ja nicht mal wirklich sagen kann, ob diese Drachen vor mir oder in mir sind …

Das ist ja an vielen Stellen in der Magie so: Das Innen und das Außen ist nicht so klar getrennt wie in der leiblichen Welt. In der leiblichen Welt ist der Baum eindeutig draußen und nicht in mir. Aber ein Baum, den ich imaginiere oder innerlich auf einer Mea-Reise sehe – der ist sowohl draußen als auch drinnen … Der ist genauso wirklich wie eine Eiche im Wald rings um das Seetal, aber nicht als Ding, das ich im Außen anfassen kann.

Die Eiche im Seetal ist auf dem Lebensbaum in '10.', also in der leiblichen Welt. Die innere Eiche, die ich imaginiere oder auf einer Mea-Reise sehe, ist auf dem Lebensbaum in '9.', also in der Mea-Welt.

Eigentlich ist das ja ganz logisch, daß es in der Mea-Welt '9.' keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen mehr gibt, denn wenn das obere Ende des Lebensbaumes, also die '1.' die Einheit aller Dinge ist, muß es von '10.' nach '1.' hin eine allmähliche Auflösung der Abgrenzungen und Unterscheidungen geben …

Tja – und damit bin ich mal wieder bei dem Abgrund angelangt, bei dem die Abgrenzungen sehr gründlich aufgelöst werden … das ist der Schritt von '6.' nach '-.' auf der Mittleren Säule … Und diesen Schritt will ich ohne Angst gehen können … Aber wie? … Und um das herauszufinden, werde ich auf Wanderschaft gehen und alle fragen, die das vielleicht wissen könnten …“

Maran dachte oft über diesen Abgrund nach, aber er kam zu keiner Lösung, wie er seine Angst vor diesem Abgrund heilen könnte.

*

Allmählich wurden die Tage länger und der Wind wärmer und der Schnee begann zu schmelzen. Schließlich waren es nur noch ein paar Tage bis zur Frühlingstagundnachtgleiche.

Nach dem morgendlichen Flötenspielen im Rado-Tempel ging Maran in die Innenstadt zu Lar und klopfte an seiner Tür. Nach einer Weile öffnete Lar, der sich auf einen Stock stützte.

„Hallo Maran! Ist es Zeit für Deine Wanderung?“

„Ja – aber was ist mit Dir passiert? Warum brauchst Du einen Stock?“

„Ach – ich werde doch allmählich alt … Ich kann auch ohne gehen, aber so ist es angenehmer. Komm rein. Ich sehe, daß Du Deine Kiste bei Dir hast.“

Sie gingen zusammen in das Bücherzimmer, in dem Maran mit Sandor und Lar gesprochen hatte. Lar öffnete eine Tür, die zu einer Kammer führte und zeigte Maran ein Regal.

„Hier kannst Du sie hinstellen.“

Maran stellte die Kiste auf das Regal und dachte an die Bücher, das Hirschmesser, den Psalter und die anderen Dinge, die er in die Kiste gepackt hatte.

Er blickte Lar an.

„Soll ich Dir die Bücher hier in Dein Bücherzimmer stellen?“

„Ja, gerne.“

Maran holte die Kiste noch mal hervor und legte die Bücher auf den Tisch.

Lar schaute sehr aufmerksam auf die Bücher.

„Ah – das berühmte Schwarze Buch … das Grüne Buch mit dem Lebensbaum – das kenne ich, ein wirklich gutes Buch … das Rote Buch mit dem achtspeichigen Rad – das kenne ich noch nicht … das Braune Pentagramm-Buch – das wollte ich immer schon mal lesen … Was ist denn das kleine Buch da – die zusammengehefteten Seiten?“

„Oh – das sind nur ein paar Seiten, die ich mal für Arrel geschrieben habe. Das sind nur ein paar Gedanken von mir, weil Arrel immer wieder dieselben Dinge angezweifelt hat.“

„Das würde ich auch gerne lesen – wenn es Dir recht ist?“

„Ich weiß nicht, ob sich das lohnt – aber wenn Du möchtest …“

„Ja, gerne!“

Nachdem Maran die fünf Bücher – wenn man seine eigene Schrift denn als Buch zählen konnte – auf den Tisch gelegt hatte, stellte er seine Kiste wieder in das Regal in der Kammer.

„Setzt Dich doch, Maran.“

„Gern.“

„Du ziehst jetzt also ins Ungewisse, um irgendwo einen Hinweis darauf zu finden, wie man den Abgrund überqueren kann …“

„Ja … wobei mir das eher ein Springen in den Abgrund zu sein scheint … Ich glaube nicht, daß es da auf der anderen Seite einen festen Boden gibt, den man erreichen könnte – 'überqueren' klingt so nach einer Brücke … Aber ich wollte nichts an Deinen Worten aussetzen, Lar!“

Lar schmunzelte.

„Ich sehe schon – Du hast da mehr Erfahrungen als ich. Du siehst klarer, was da vor Dir liegt. … Nun ja – ich bin ein Schriftgelehrter und habe immer nach der richtigen Form gesucht und sie gelehrt … das wird man nun mal ziemlich fest … Oder man sucht sich diese Tätigkeit nur aus, wenn man zu diesen festen Dingen neigt. … Du hast die Sternenkunde gelernt, oder?“

„Ein bißchen …“

„Bei Deiner Bescheidenheit würde ich mal vermuten, daß Du schon einiges verstanden hast. Ich bin Steinbock und mein aufsteigendes Zeichen ist die Jungfrau – doppelte Erde … viel Festigkeit, viel Form … da neige ich dazu, alles als feste Formen zu sehen …“

„Aber Du hast mir im Garten der Gawina beschrieben, wie man mit Sprache und Schrift umgehen muß – und da hast Du gesagt, daß sie vor allem der Verständigung dient. Ist das nicht schon etwas Bewegliches?“

„Nun ja – ich suche nach dem, womit man das angestrebte Ziel erreichen kann. Und da ist es hilfreich, wenn man auch sieht, wie der andere denkt und spricht und schreibt … Aber Deine Wanderung – gibt es da vielleicht etwas, was Du da noch brauchen kannst, Maran?“

„Etwas, was ich brauchen kann?“

Maran errötete ein wenig – warum war Lar nur so hilfsbereit? Er war doch nur ein kleiner Tempeldiener …

Maran dachte nach.

„Wenn es irgendetwas gibt, was mir einen Hinweis geben kann, wo ich suchen muß … das wäre die größte Hilfe für mich.“

„Hm … wenn ich das mal wüßte …“

Lar schaute gedankenversunken auf seine Bücher, die wohlgeordnet auf den Regalen an den Wänden des Zimmers standen.

„Der Abgrund wird immer wieder einmal erwähnt … in alten Heldengeschichten und in Anleitungen zum Mitten, also zum 'in die eigene Mitte gehen', aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß da irgendwo etwas steht, was hilfreich sein könnte.“

„Von wo stammen denn diese Geschichten und Anleitungen? Vielleicht hilft mir das ja weiter.“

„Hm … da gibt es Geschichten über Tangaron – aber der scheint ja überall gewesen zu sein … dann gibt es da eine Geschichte von der Schönen Insel vor dem Delta des Rhiannon … Geschichten aus den Schneebergen … Wenn ich mir das so recht überlege, scheint es so ziemlich überall Geschichten darüber zu geben.

Ich nehme an, Du hast gehofft, daß alle Geschichten und Anleitungen nur aus dem Nordwesten kommen oder so – damit Du weißt, daß Du im Nordwesten suchen mußt?“

„Ja … so was in der Art …“

„Tja – da kann ich Dir nicht helfen. Dieser Abgrund scheint überall bekannt gewesen zu sein, aber zugleich ist nirgendwo etwas Genaueres über ihn zu finden.“

Lar schüttelte nachdenklich seinen Kopf.

„Wieso eigentlich? Weil man es nicht beschreiben kann? Weil es geheim gehalten wird? Weil es in Vergessenheit geraten ist? … Ich weiß es nicht …“

Sie saßen eine Weile schweigend beisammen. Dann sich erhob Maran.

„Ich werde mal wieder gehen. Vielen Dank für Deine Hilfe, Lar!“

„Ich wünschte, ich könnte Dir mehr helfen, Maran. … Alles Gute auf Deiner Suche! Und möge San-Rado Deine Schritte zu Deinem Ziel lenken!“

„Danke, Lar! Und möge San Deinem Leib und Deinem Geist Stärke geben, daß Du noch lange gesund bleibst!“

Lar schaute Maran ein wenig verwundert an, aber dann sah er, daß Maran das ganz ernst meinte, und lächelte.

„Danke, Maran – diese Hilfe des Sonnengottes nehme ich sehr gerne an. … Wir werden uns wiedersehen.“

„Das wünsche ich mir auch – wirklich!“

Lar blickte Maran von seiner Haustüre aus noch eine Weile hinterher.

Maran ging durch das Südtor und weiter zu dem Theater, um sich von Grunga zu verabschiedeten. Grunga hatte nur wenig Zeit, um mit Maran zu sprechen.

„Alles Gute, Maran! Das wünsche ich Dir von ganzem Herzen! Und wenn Du nach Sannaran zurückgekehrt bist, dann schau bei mir vorbei, ja?“

„Das werde ich machen, Grunga. Alles Gute! Und mögen die zehn Samoanas Dir immer zu Hilfe eilen, wenn Du sie brauchst!“

„Oh – Danke, Maran! Diese Hilfe kann ich gut brauchen.“

„Ach – das hätte ich fast vergessen! Kannst Du meine Königsmünze in Verwahrung nehmen, Grunga? Die möchte ich nicht auf meiner Fahrt verlieren und die brauche ich, um in die Innenstadt gehen zu können.“

„Deine Königsmünze verwahren? Ja, gerne. Ich werde sie bei mir zuhause aufbewahren. Und wenn Du wieder in den San-Rado-Tempel zurückkommst, werde ich sie Dir holen.“

Maran holte die Münze aus seiner Tasche und reichte sie Grunga.

„Vielen Dank, Grunga!“

Grunga schmunzelte.

„Ich danke auch Dir, Maran.“

„Warum?“

„Nun – wenn ich Deine Königsmünze habe, werde ich einer der ersten sein, die Du in Sannaran aufsuchen wirst, wenn Du zurückkommst.“

Maran errötete wieder, aber Grunga klopfte ihm nur freundschaftlich auf die Schulter und ging in einen der vielen Gänge und Räume hinter der Rückwand der Bühne.

Als Maran zum Tempel des San-Rado kam, saß Blafo schon im Tempel auf einer der Bänke an der Innenwand. Er lauschte Marans Flötenspiel und winkte ihn dann zu sich.

„Jetzt ist es bald Zeit für Deine Wanderung, nicht wahr? Willst Du noch immer fort?“

„Ja – ich will schauen, was ich finden kann.“

„Ich hoffe, Du kommst bald wieder, Maran. Dein Zimmer wird gerade nicht gebraucht. Wenn Du nicht ein ganzes Jahr fort sein wirst, kannst Du wahrscheinlich, wenn Du zurückkommst, wieder in Dein altes Zimmer.“

„Wirklich? Das wäre wirklich sehr schön! Das Zimmer ist schon ein bißchen zu meinem neuen Zuhause geworden – vor allem mit dem Blick auf den Garten der Gawina …“

Blafo erhob sich und auch Maran stand auf.

Blafo reichte Maran die Hand.

„Alles Gute, Maran, und viel Erfolg!“

„Dir auch alles Gute, Blafo! Und vielen Dank für Deine Hilfe!“

Blafo lächelte.

„Das Beste ist doch immer, wenn zwei etwas tun, was sich zusammenfügt und sich beide bei dem anderen bedanken können. Ich helfe Dir, in Sannaran leben zu können, und Du hilfst uns allen, daß der Rado-Tempel gedeiht.“

Maran errötete schon wieder.

„Mach's gut, Maran!“

Blafo wandte sich zum Eingang, winkte Maran noch einmal zu und ging dann hinaus.

Maran stand noch eine Weile da und schaute durch das Tempeltor nach draußen auf die Straße, wo Blafo schon längst nicht mehr zu sehen war.

„Ein bißchen ist Sannaran ja schon zu meiner zweiten Heimat geworden – nicht nur das Zimmer am Garten der Gawina.“

Schließlich kleidete sich Maran in der Kammer hinter dem Tempel wieder um und ging zu dem Haus an der Stadtmauer, um sich von Dirak und Lin zu verabschieden. Er traf Dirak im Küchenkeller an, aber Lin war nicht da.

Er erzählte Dirak von seinen Plänen und daß er jedoch vorhatte, nach Sannaran zurückzukehren.

„Grüßt Du Lin von mir, ja?“

„Mach ich. Und alles Gute auf Deiner Wanderung!“

„Und Dir viel Freude und Weisheit beim Sternegucken!“

Maran ging durch die Gassen heim zu dem Haus am Garten der Gawina. Er wurde ein bißchen traurig und merkte, daß er mittlerweile doch schon mehr Wurzeln in Sannaran geschlagen hatte, als er gedacht hatte.

„Ich werde ja wiederkommen. Es ist nur ein Ausflug, eine Suche, eine Wanderung … Ich will ja nicht schon wieder woanders wohnen, sondern hier in Sannaran bleiben.“

Doch die leichte Traurigkeit blieb …

Am nächsten Morgen ging Maran zu dem Alten Markt im Nordviertel der Außenstadt. Dort fand er Trolkar den Schwarzen an seinem gewohnten Platz mit seinem Werkzeug-Stand.

„Hi Maran – da bist Du ja endlich! Ich habe mich schon gefragt, ob Du wohl kommen wirst.“

„Doch, doch – ich will mit Dir kommen. Wann geht es denn los?“

„Übermorgen früh. Komm bei Sonnenaufgang zum Auentor im Westen von Sannaran. Und bring was zu Essen für drei, vier Tage mit. Ich warte dann mit meinem Esel-Karren am Tor auf Dich. Ich hoffe, Du hast nicht allzuviel Gepäck? Wir wollen schließlich möglichst viel verkaufen und nicht eine Kleidersammlung durch die Lande fahren.“

„Nein – ich habe nur einen Rucksack voll mit Sachen.“

„Das ist gut. … Na, dann bis übermorgen – da kommen gerade Handwerker auf meinen Stand zu, die vielleicht was kaufen wollen.“

Trolkar wandte sich den beiden Handwerkern zu.

„Meine Herren – was wünschen sie? Ich habe alles, was das Herz und die Hand begehren können …“

Maran ging zurück zum Garten der Gawina und hörte hinter sich Trolkar die Vielzahl seiner Werkzeuge aufzählen und ihre Güte anpreisen. Er schmunzelte – Trolkar war wirklich von ganzem Herzen ein Händler!

„So ein Händler werde ich wohl kaum jemals werden …“

Am Abend des nächsten Tages packte Maran alles in seinen Rucksack, was er mitnehmen wollte: seine Flöte, sein Bronzemesser, seine Decke, unter der er schlief, Nähzeug, Schnur, drei Brote, ein zweites warmes Hemd und allerlei andere kleine Dinge, die unterwegs nützlich sein konnten.

Am Morgen stand Maran früh auf, schaute sich noch einmal in seinem Zimmer um, ob er etwas einzupacken vergessen hatte, verließ sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich zu. Dabei hatte er ein seltsames Gefühl – wie durch eine Tür in eine andere Welt zu gehen, in etwas Neues, in das Unbekannte, das nun vor ihm lag. Er ging aus dem Haus hinaus und dann weiter durch die Gassen bis zum Auentor.

Dort wartete schon Trolkar der Schwarze auf ihn. Er stand neben einem voll beladenen Karren mit vier großen Rädern, der von zwei Eseln gezogen wurde.

„Da bist Du ja endlich! Ich habe schon geglaubt, daß Du verschlafen hast!“

„Es ist doch gerade Sonnenaufgang … wie wir abgemacht haben.“

„Komm schon Kerlchen, leg meine Worte nicht auf die Goldwaage! Los, Graufell und Hinkebein! Keine Faulheit! Bewegt eure müden Hintern! Los! Los!“

Die beiden Esel setzten sich langsam in Bewegung und der Karren rollte an. Trolkar packte einen Strick, den er vorne an der Deichsel befestigt hatte, und lenkte die beiden Esel damit. Sie fuhren auf der Weststraße durch die Außenstadt. Maran erkannte schon bald, warum dieser Karren so große Räder hatte – durch die Größe der Räder rollte der Karren über alle kleineren und mittelgroßen Schlaglöcher einfach hinweg und Trolkar mußte nur noch auf die ganz großen Löcher in der Straße achten.

Maran schaute sich den Karren genauer an. Er war wie ein großer Holzkasten mit vier Rädern gebaut – die hintere Achse saß fest an dem Karren, die vordere war mit einem beweglichen Drehschemel an der Unterseite des Karren befestigt, wobei die Achse der beiden vorderen Räder fest mit der Deichsel verbunden war, sodaß sich der Karren gut lenken ließ. Die Kiste war mit einer Plane aus Segeltuch bedeckt, um die Werkzeuge in dem Karren vor Regen zu schützen.

„Na – prüfst Du, ob alles an dem altersschwachen Karren in Ordnung ist?“

„Ich schaue ihn mir einfach nur genau an, damit ich verstehe, wie er gebaut ist und warum er so gebaut worden ist.“

„Guter Handwerker … Du gefällst mir, Kerlchen!“

Maran lief neben dem Karren her, den Trolkar mithilfe des Strickes lenkte. Schon bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen.

„Wo willst Du etwas verkaufen, Trolkar?“

„Nicht hier in der Nähe von Sannaran – da bekommst Du nicht viele Silberlinge für das Werkzeug, weil die Bauern hier noch selber zu dem Markt in Sannaran fahren, um sich Sägen, Zangen und Nägel zu kaufen. Wir müssen erst mal einen Tag lang nach Westen wandern.“

„Wie weit im Westen von hier aus liegt denn der Große Wall?“

„Der Große Wall? Wenn Du mit dem Eselkarren unterwegs bist und den geraden Weg nimmst, sechs Tage. Aber wenn Du den gewundenen Weg von Dorf zu Dorf ziehst und überall etwas verkaufen willst, brauchst Du zwölf bis fünfzehn Tage. Aber wir werden nicht bis zum Großen Wall fahren – da herrscht Krieg.“

„Ich will da auch nicht hin – ich versuche nur, mir innerlich eine Landkarte zu zeichnen, damit ich weiß, wo ich bin.“

„Und das kannst Du Dir merken?“

„Ich versuch's.“

Gegen Mittag wurden die Dörfer seltener und die Wälder größer und sie begegneten auf der Weststraße auch weniger Karren, Reiter und Wanderer. Als die Sonne hoch oben am Himmel stand, fuhr Trolkar den Karren an den Straßenrand und ließ die Esel auf der Wiese Gras fressen. Trolkar und Maran setzten sich auf eine umgefallene Buche und aßen von dem Brot, daß sie mitgenommen hatten.

Trolkar trank aus einem Lederschlauch und Maran konnte riechen, daß in dem Schlauch Branntwein oder etwas ähnliches sein mußte. Er schaute ein wenig mißtrauisch auf den Schlauch, weil er sich sorgte, ob Trolkar wohl manchmal genauso betrunken sein mochte wie Arrel.

„Was schaust Du so?! Ich brauche ab und zu einen guten Schluck, um dieses Scheiß-Leben zu ertragen. Was dagegen?“

„Nein, trink nur … Ich habe nur einen Freund, der sich mit Bier sein ganzes Leben zerstört hat … Das macht mich ein wenig traurig – deswegen bin ich nicht gerade ein Freund von Bier, Wein, Branntwein und ähnlichem.“

„Da hast Du schon recht, Kleiner … es ist besser nichts zu trinken, wenn man das kann … Das Bier und den Wein hat der Fürst der Finsternis erfunden und den Menschen gebracht – Bier ist das Blut des Astar und Wein das Blut der Nordberge … sie sind beide Todesboten – das Bier der Bote des Totengottes Astar und der Wein der Bote der Hügel, auf denen neben dem Wein auch das Trann angebaut wird.

Ne, ne, Kleiner – bleib Du mal schön beim Wasser. Das ist gesünder, wenn Du leben willst.“

„Willst Du denn nicht leben?“

„Laß uns über was anderes reden, Kleiner … diese Dinge verderben mir die Laune! Ich leg mich jetzt noch mal eine Weile hin. Weck mich, wenn ich einschlafen sollte, ja?“

„Mach ich.“

Maran setzte sich mit seinem Hintern auf seine Fersen, die Schienbeine auf der Erde. Er hatte diese Art zu sitzen inzwischen 'Drachensitz' genannt. Er ließ seine Augen offen, um die beiden angeleinten Esel im Blick zu haben, aber begann mit seinem Mitten: in sein Herz-Rad atmen und dabei innerlich 'Goldener' sprechen.

Nach einer Weile sprach ihn Trolkar an.

„Was machst Du da, Kleiner? Das sieht nicht gerade gemütlich aus, wie Du da sitzt.“

„Ich mitte.“

„Was machst Du?“

„Mitten. In meine Mitte gehen.“

„Und wozu ist das gut?“

„Ich spüre dann besser, wer ich bin und was ich will.“

„Das will ich lieber nicht zu genau sehen – bei mir, meine ich … Komische Sachen machst Du … Aber wenn's Dir gut tut … Aber nun laß uns weitergehen. Es wird langsam Zeit.“

Er wandte sich zu seinen beiden Eseln.

„Graufell! Hinkebein! Es geht weiter!“

Er spannte die beiden Esel wieder vor den Karren und Maran beobachtete genau, wie er das machte, um ihm beim nächsten Mal helfen zu können.

Sie liefen auf der Weststraße weiter und schwiegen die meiste Zeit. Maran ging innerlich immer wieder einmal in seine Hütte der Erinnerungen und zeichnete die Straßen, Dörfer, Kreuzungen und Wälder in seine Landkarte ein. Mittlerweile gelang ihm das auch während des Gehens neben dem Eselkarren ganz gut.

Gegen Abend kamen sie in ein Dorf an einem kleinen Bach, der von Norden her kam und zum Rhiannon weiterfloß. Trolkar hielt auf dem Dorfplatz an und einige Bauern kamen, um eine Säge und ein paar Bohrer zu kaufen.

„Viel ist das ja nicht, Trolkar … Davon kannst Du leben? Da verkaufst Du doch in Sannaran schon mehr, nehme ich mal an, oder?“