Maran der Magier - Harry Eilenstein - E-Book

Maran der Magier E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Maran wird als Magier nach und nach bekannter als ihm lieb ist - erst recht, als er in einen Krieg gezwungen wird und in einen Religionsstreit gerät. Trotz all der Schwierigkeiten, die ihm begegnen, sucht er trotzdem beharrlich weiter nach seinem eigenen Weg. Dabei wird die Reise zur eigenen Mitte, durch die man seine eigene Seele erkennt, auf unerwartete Weise immer wichtiger. Maran sieht sich auf einmal auch vor die Frage gestellt, was nach dem Tod geschieht. Ganz allmählich kommt er dabei auch dem näher, was das "Herz der Magie" ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Bücher von Harry Eilenstein

Die Themen der 87 Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“

Impressum

- Kapitel 1 -

Besinnung

Maran saß mit dem Rücken an die alte Weide gelehnt und schaute auf die beiden Flüsse, die sich einige Schritte vor ihm vereinten. Dort vorne am Ende der schmalen Sandbank, auf der der halb verfallene Wachturm und die alte Weide standen, bildeten sich viele Strudel – dort wo das Wasser des Bergflusses in den Rhiannon strömte.

Maran dachte über das nach, was er in dem letzten halben Jahr alles erlebt hatte, doch oft schaute er auch nur ohne jeden Gedanken in das Wasser vor sich, das an dem Zusammenfluß genauso wild wirbelte wie sich sein Leben anfühlte.

„Ich weiß gar nicht mehr so recht, wer ich eigentlich bin … Ich wollte das Mittlere Reich durch Magie schützen – und nun liegen die Schlangenringe als ein Klumpen Silber auf dem Grund des Bergflusses … und ich fühle mich, als ob ich meine rechte Hand verloren hätte … Und ich kann nichts mehr mit dem einem der Schlangenringe in mein Leben rufen – keine einfache Magie mehr … Warum ist das nur alles so gekommen?

Ich bin müde … einfach nur noch müde … Ich schlafe den halben Tag … Warum bin ich eigentlich derartig erschöpft? Weil ich die Ringe zerstören mußte? Oder wegen der Zeit mit Gana? … Sie sagt, ich bin nur ein willenloser Sklave, der nur gehorchen kann … Hat sie damit recht? … Na, ja – ich versuche ja schon, immer den Frieden zu wahren und es allen recht zu machen … ja, das tue ich … und das tue ich eigentlich schon immer …

Wo geht es jetzt nur weiter? … Ich weiß es wirklich nicht … Am besten nichts ändern … Wenn man nicht weiß, wo man hinwill, sollte man nicht loslaufen und auch nicht viel an dem, wie es bisher gewesen ist, ändern … Tja – was will ich? Wer bin ich?

Ich dachte, ich wüßte das alles, doch nun … Und ich habe die goldene Asar-Kette vor die Sonnensäule in der Mitte von Sannaran gelegt … Ich hatte das Gefühl, daß ich alles loslassen müßte – wirklich alles … War das richtig? … Ich weiß es nicht – aber es hat sich damals richtig angefühlt. … Na, ja – das mit der Kette kann ich nicht mehr ändern – eine goldene Kette in der Mitte des belebtesten Platzes in der Stadt wird dort nicht lange liegenbleiben … Wer die wohl jetzt haben mag? Wahrscheinlich 'der, für den sie bestimmt ist' – so wie ich mir das gewünscht habe …

Was tun? … Erst mal weitermachen, bis ich wieder ein bißchen klarer geworden bin … ich hoffe, ich werde irgendwann wieder klarer werden … das hoffe ich wirklich … Also erst mal wieder mittags in den Tempel des San-Rado gehen und Abends in die Halle des San-Aran … das habe ich ja beides kaum noch gemacht … und hoffen, daß ich bald wieder sehen kann, wo es weitergeht … und wer ich eigentlich bin …

'Rabenkopf' … so nennen diese Magie-Braukünstler diesen Zustand, in dem sich alles Alte aufgelöst hat und in dem das Neue noch nicht erschienen ist … ein Haufen Kompost, eine zerfallene Ruine, Humus auf dem Waldboden … aufgelöst, keine Form mehr, nichts Wachsendes … 'Rabenkopf' – ein schwarzer, fauliger Klumpen … Ja, so fühle ich mich …

Zu dem gehen, was ich schon von mir weiß? Zu Asar, zu dem Goldenen, zu der Wölfin, dem Thuja, dem Bergkristall, dem Fliegenpilz? … Nein – das bringt mich gerade nicht weiter … ich brauche etwas anderes – das kann ich fühlen … Aber was ist das eigentlich, was ich da brauche? … Das weiß ich nicht … Also warten … Was könnte ich denn jetzt auch sonst anderes tun?“

Maran saß lange Zeit dort an die Weide gelehnt und schaute in das Wasser der beiden Flüsse. Schließlich bekam er Hunger und stand wieder auf und ging auf der Landzunge zwischen den beiden Flüssen zu dem alten Wachturm und an ihm vorbei und weiter am Ufer des Rhiannon entlang bis er zu der Anlegestelle der Fähre kam.

Plötzlich traf ihn ein harter Schlag im Rücken. Maran drehte sich schnell um, um zu sehen, wer ihn geschlagen hatte – doch da war niemand … Maran schaute sich verwirrt um und erblickte schließlich dreißig Schritte entfernt Krad, der hämisch grinste und immer wieder einen kleinen Stein ein Stückchen in die Höhe warf und ihn wieder auffing. Neben ihm stand Mar, der Flöter des Sonnentempels und eine Frau mit breitem Kinn, die ebenfalls beide grinsten.

In Maran schoß Wut empor, aber er bremste sie gleich wieder, drehte sich weg und ging in Richtung Südstraße. Da traf ihn noch ein Stein an seiner rechten Schulter. Maran blieb stehen und fing innerlich an zu zittern, doch er riß sich zusammen und ging weiter. Er hörte Krad, Mar und die Frau hinter sich lachen, als er zwischen den vielen Menschen Richtung Innenstadt ging. Hier konnten sie ihn nicht mehr mit Steinen bewerfen …

„Ist das richtig, einfach fortzugehen? … Wenn ich mich gewehrt hätte, hätten sie mich angeklagt – und sie waren zu dritt und es wären drei Stimmen gegen eine Stimme gewesen, das heißt ich wäre dafür bestraft worden, daß ich mich wehre, weil sie gesagt hätten, daß ich angefangen habe und daß sie gar nichts getan haben … Ja, das ist Krads Stil … und auch der von Mar, wie mir scheint … und sie haben eine Frau gefunden, die zu ihnen paßt … Die Freundin von Krad oder Mar?

Was soll ich nur tun?! Mein Leben ist völlig zerstört … Na, ja – nicht völlig … aber ich weiß nicht mehr, wer ich bin, was ich will, was richtig ist, wo es weiter geht, wieso ich so viel falsch gemacht habe … Wie nennt man das? Verwirrt? Durcheinander? … Wie nach einem heftigen Schlag auf den Kopf … oder so schwindelig als ob ich einen langen Wiesenabhang hinunter gerollt wäre … ja – so fühle ich mich …

Was hat der Nachtreiter in der Nacht zu mir gesagt, in der ich meine Asar-Kette vor die Sonnensäule gelegt habe? … Man muß alle seine Fehler machen – ohne sie wäre auch er nicht zu dem geworden, was er heute ist …

Aber zu was könnte ich denn werden? … Ich weiß es nicht … Ich kann gerade nur das sehen, was ich alles falsch gemacht habe …“

Maran lief langsam heim in die Innenstadt und war so in Gedanken, daß er nicht sah, wo er lang lief und wem er begegnete.

Nachdem er zuhause etwas gegessen hatte, ging er langsam zu der Halle des Aran – er hatte fast den ganzen Tag an der Weide unten an den beiden Flüssen gesessen und es dämmerte schon.

Als Maran in die Große Halle kam, war Raschack schon dar und schaute ungeduldig auf Maran und Olek, die als letzte gekommen waren. Als Maran sich umschaute, sah er, daß zwei neue Frauen bei ihnen waren. Die eine war fast so jung und hager wie Aranja, doch die andere war älter und sehr kräftig. Sie stand neben Krad, mit dem Rücken zu Maran gewandt. Als sie sich umdrehte, sah er, daß das die Frau war, die vorhin bei Krad und Mar gestanden hatte, als Krad Maran mit Steinen beworfen hatte.

Maran seufzte.

„Muß das sein? … Na, ja … wenn ich hier kämpfen lernen will, ist das wahrscheinlich einfacher, wenn ein paar hier sind, die mir mit dem größten Vergnügen Schmerzen zufügen und mich verspotten … Wirklich sehr fürsorglich von den Göttern!“

Raschack zeigte mit dem Finger auf die beiden Neuen.

„Name?“

Die kräftigen Krad-Freundin mit dem breiten, eckigen Kinn antwortete als erste.

„Lartis. Ich bin hier, um meine Kampfkünste noch etwas auszubauen.“

Die junge Hagere schaute unsicher zu Lartis hinüber und antwortete mit kaum hörbarer Stimme.

„Mon.“

Raschack stellte heute mehrere Hindernisse hintereinander auf: einem Balken, über den sie balancieren mußten, eine Kiste, über die sie springen mußten, ein Seil, an dem sie schwingen mußten, einen Balken, der auf zwei Kisten lag und unter dem sie hindurchkriechen mußten, und dann noch einmal eine hohe Kiste, über sie hinüber klettern mußten.

Er ließ sie alle nacheinander einmal über diese Hindernisse klettern, laufen und springen. Dann wandte er sich an die Jünglinge.

„Habt ihr gesehen, wie ihr das macht? Hölzern! Stockend! Plump! Ich zeige euch mal, wie das aussehen soll.“

Raschack lief los und war in der Hälfte der Zeit, die der Schnellste der Jünglinge gebraucht hatte, an anderen Ende der Hindernisse angekommen. Maran und die anderen sahen ihm staunend zu. Wie hatte Raschack das gemacht? Der war doch viel älter als sie …

„Wenn ihr im Kampf seid oder angreift oder flieht, müßt ihr schnell sein – schneller als die anderen. Das kann euer Leben retten! Jetzt alle noch mal! Und zwar schneller!“

Doch viel schneller wurden die Jünglinge nicht und einige stolperten oder fielen von dem schwingenden Seil herunter … Alles in allem war das jetzt eher schlechter als besser …

Manador schaute Raschack verwundert an.

„Wie macht Ihr das, Meister? Das verstehe ich nicht …“

„Endlich fragt mal jemand! Ihr seid also doch nicht alle auf den Kopf gefallen.

Ihr rennt einfach los und steht dann vor dem nächsten Hindernis und wundert euch, was da plötzlich vor euch steht, fangt an und schaut dann, wie ihr irgendwie zurechtkommt. Da wundert es mich, daß ihr nicht mehr Verletzungen bekommen hat. Ihr trefft keine Entscheidungen, sondern versucht einfach mal das eine oder andere. So werdet ihr niemals einsgerichtet. Und ohne einsgerichtete Kraft seid ihr lahm und schwach!“

Krad hob seinen Arm.

„Aber ich habe doch versucht, schnell zu sein!“

„Und warst nur halb so schnell wie ich. So holt Dich jeder Feind mühelos ein.“

Moranat schüttelte verwundert seinen Kopf.

„Aber wie macht ihr das?“

„Zwei Dinge. Schaut als erstes die Hindernisse an – dafür hättet ihr jetzt reichlich Zeit gehabt … was in einem Ernstkampf natürlich nur selten der Fall ist. Geht in eurer Vorstellung innerlich durch die Hindernisse und entscheidet, was ihr wo macht, wie ihr lauft, springt, rollt oder was auch immer. Imaginiert das so lebhaft wie möglich. Stellt euch vor, wie ihr eure Arme und Beine bewegen werdet. Dies Imaginieren dauert am Anfang recht lange, aber wenn ihr das übt, geht das immer schneller. Dann könnt ihr irgendwann ein neues Hindernis sehen und wißt sofort, was ihr dort machen müßt und wie sich das dabei anfühlen wird.

Das zweite ist das Fließen der Bewegungen. Ihr seid von einem Hindernis zu dem nächsten gegangen und habt dann jedesmal davor gestanden und geschaut, was ihr jetzt am besten machen solltet. So braucht ihr die meiste Zeit für die Pausen zwischen den Hindernissen. Schaut euch stattdessen den ganzen Hindernis-Weg an und schaut, wie ihr mit einer einzigen fließenden Bewegung hindurch kommt. Nutzt den Schwung vom letzten Hindernis aus, um über das nächste Hindernis zu kommen. Haltet nicht jedesmal zwischen zwei Hindernissen an, sondern macht die Schritte, die notwendig sind und geht dann sofort zum nächsten Hindernis. Nicht Laufen, Anhalten, Nachdenken, Schwingen, Anhalten, Nachdenken, Springen, Anhalten, Nachdenken, Rollen, sondern ein einziger Fluß: Laufen – Schwingen – Springen – Rollen – fertig.

Schaut euch jetzt an, was ihr bei jedem der fünf Hindernisse machen wollt und wie sich das anfühlt, wenn ihr das macht. Und macht das gründlich!“

Raschack wartete eine ganze Weile, während alle Jünglinge nur dastanden und auf die Hindernisse blickten.

Schließlich ließ er wieder alle einmal durch die Hindernisse laufen. Maran war erstaunt, wieviel schneller sie jetzt auf einmal waren.

„Und jetzt stellt euch alle noch einmal den Ablauf der Bewegungen vor und verbindet sie zu einem einzigen Fluß. Wie kommt ihr aus einem Hindernis heraus? Und wie fangt ihr das nächste Hindernis an? Und wie könnt ihr diese beiden Bewegungen miteinander verbinden? Und zwar so, daß es ein Fluß wird – daß das Ende der vorigen Bewegungen zugleich der Anfang der nächsten Bewegung ist. Macht euch das klar! Schaut es euch genau an! Imaginiert das! Spürt das in eurem Leib! Stellt euch das so lebendig wie möglich vor!“

Wieder standen die Jünglinge vor den Hindernisse und schauten sie sich genau an und versuchten, sich einen fließenden Ablauf von Bewegungen vorzustellen.

Als Raschack sie dann wieder durch die Hindernisse laufen ließ, waren die Jünglinge noch einmal deutlich schneller als zuvor.

Maran wunderte sich, wie sehr diese Imagination der Bewegungen die Bewegungen schneller und zudem auch noch viel sicherer machte.

„Das ist ja wie in der Magie! Der Wille und die Imagination lenken die Ereignisse … Aber daß Wille und Imagination auch einen Einfluß auf meine Bewegungen haben – das hätte ich nicht gedacht …

Aber eigentlich hätte ich mir das ja schon denken können – schließlich macht es ja auch einen großen Unterschied, wenn meine Hand von zwei anderen auf einem Pfosten festgehalten wird, ob ich auf meine festgehaltenen Hand schaue und nicht weg komme, oder ob ich auf meine freie Hand schaue und einfach fortgehe. Das ist doch im Grunde auch dasselbe wie bei diesem Versuch, bei dem man einen, der auf einem Stuhl sitzt, zu viert nur mit den Zeigefingern hochhebt …“

Sie übten noch eine ganze Weile an dieser Hindernis-Reihe und wurden, wie Maran selbst bei Olek sehen konnte, immer sicherer. Am schnellsten war Aranja am anderen Ende der Hindernis-Reihe an – was Maran nicht allzu sehr wunderte, da Aranja mit Abstand die Schnellste und Flinkste von ihnen war. Nur Meister Raschack war noch schneller als sie.

„Herhören! Eine Sache machen manche schon richtig, doch die meisten machen sie noch verkehrt. Einige von euch vergessen das Atmen, weil sie so schnell durch die Hindernisse kommen wollen. Atmet, denn sonst machen eure Muskeln schon nach kurzer Zeit nicht mehr mit.

Und das zweite: Atmet so, daß es zu den Bewegungen paßt. Atmet beim Springen aus, atmet beim Landen ein. Atmet ein, wenn ihr die Arme zu einem Hindernis emporhebt, atmet aus, wenn ihr sie wieder herunternehmt. Atmet aus, wenn ihr zuschlagt, atmet ein, wenn ihr eure Hand wieder zurückzieht. Schaut euch an, wo ihr einatmet und wo ihr ausatmet. Wenn ihr den Leib anspannt, ist das Ausatmen einfacher, wenn ihr den Leib entspannt, ist das Einatmen einfacher.

Macht das jetzt mal und vergleicht es. Spannt euren Leib an, drückt die Arme gegen den Leib und atmet dabei ein … … … So – und jetzt atmet ein, während ihr den Leib entspannt … … … Merkt ihr den Unterschied?“

Fast alle nickten.

„Es gibt Bewegungen, die zusammenpassen und solche, die nicht zusammenpassen – und das Atmen ist auch eine Bewegung. Schaut euch möglichst viele Bewegungen an und verbindet sie mal miteinander und schaut, ob sie zusammenpassen oder nicht. Nehmt euch viel Zeit dafür, denn wenn ihr Bewegungen miteinander verbindet, die ein unterschiedliches Wesen haben, behindert ihr euch selber. Nehmt euch Zeit dafür – es lohnt sich!“

Nach diesen Worten verließ Raschack die Halle und Maran wunderte sich, was man alles für das Kämpfen lernen mußte … so hatte er sich das nicht vorgestellt … nicht mit so vielen Einzelheiten und Zusammenhängen …

Doch Maran konnte nicht lange über die Kampfkunst nachdenken, denn Manador war in die Halle gekommen. Er setzte sich auf die Bank an der Wand und die Jünglinge holten drei Bänke herbei und setzen sich im Halbkreis vor ihn.

Manador schaute einmal in die Runde. Bei diesem Blick hatte Maran immer das Gefühl, daß Manador danach schaute, was die Jünglinge heute brauchen und was sie verstehen und sich merken konnten.

„Ich werde euch heute einige Dinge erzählen, auf die ihr achten müßt, um im Kampf erfolgreich zu sein. Diese Dinge werden nicht für alle von euch gleich wichtig sein, aber ihr solltet sie alle kennen und keins von ihnen vollkommen unbeachtet lassen.

Sei gut vorbereitet. Schwitze im Frieden – dann blutest Du weniger im Krieg. Bereite Dich im Frieden für den Krieg vor – bereite Dich im Krieg für den Frieden vor. Sorge dafür, daß Du nicht besiegt werden kannst und warte auf eine Gelegenheit, den Gegner zu besiegen. Du kannst Dich selber gegen die Niederlage schützen, aber Du kannst Dir nicht des Sieges über den Gegner sicher sein. Dich vor der Niederlage zu beschützen, liegt in Deinen Händen, aber die Gelegenheit, den Gegner zu besiegen, wird von ihm selber erschaffen.

Sei vorsichtig und vorausschauend, denn die größte Verwundbarkeit ist die Unwissenheit. Fast jedes Unglück geschieht durch Unachtsamkeit. Man weiß nie, wann man auf einen Feind treffen wird – sei daher stets auf das Schlimmste vorbereitet. Wenn Du die Gefahr sehen kannst, bevor sie angekommen ist, hat sie fast ihre ganze Kraft verloren. Schau, wo die Ausgänge sind bevor Du eintrittst – denn Du weißt nicht, ob Feinde im Haus sind. Nimm niemals an, daß der Feind nicht angreifen wird, sondern verlasse Dich auf Deine eigene Bereitschaft, ihm entgegenzutreten. Weiche außerhalb Deines Heimes niemals von Deinen Waffen – Du weißt nie, wann Du Deinen Speer brauchen wirst.

Gehe den Gefahren aus dem Weg, die Du bereits ahnen kannst, bevor Du ihnen begegnet bist. Es ist besser, dort Unterkunft zu suchen, wo weniger Leute sind; achte darauf, alle Orte zu meiden, an denen Streit und Hader ist; laß die Narren zanken und gehe Deines Weges. Bedenke stets, daß viele Fallen auf den Unvorsichtigen warten.

Feinde sind wie Hunde und Wölfe: Du solltest keine schlafenden Hunde wecken – und Du solltest dort, wo Du die Ohren des Wolfes über dem Busch siehst, bedenken, daß dort auch seine Zähne sind. Erwarte von einem gierigen Wolf stets einen Angriff.

Sei vorsichtig und zurückhaltend, denn zu viel Vertrauen ist schon vieler Männer Verderben gewesen. Sage heute nur solche Dinge, die Du morgen nicht bereuen wirst, denn etwas, was man gesagt hat, kann man nicht ungeschehen machen, und ein Geheimnis, das man aufgedeckt hat, kann man nicht wieder verbergen.

Wahre stets den Überblick, denn sonst läufst Du in die Enge. Sei daher umsichtig im Kampf und schaue die Dinge mit einem weiten und alles umfassenden Blick an. Lasse Dich niemals von Kleinigkeiten bannen, sondern blicke immer auf das Ganze. Weißt Du, daß Du sehen kannst, was rechts und links ist, ohne dafür Deine Augen zu bewegen? Übe das – es könnte einmal hilfreich sein.

Nutze das, was da ist, so wie Du es vorfindest. Ein guter Anführer strebt den Sieg durch die gute Gelegenheit zu erlangen und verlangt nicht von seinen Kriegern, daß sie den Sieg erschaffen. Greife daher an, wenn Dein Gegner noch nicht vorbereitet ist oder sich noch nicht gesammelt hat. Und nutze den beginnenden Zusammenbruch Deines Feindes, um ihn ganz zu besiegen.

Oft hat ein wenig Geschick dort Erfolg, wo große Stärke wirkungslos ist: Burgen und Festungen können mit nur geringer Kraft erobert werden, Mauern können durch List zerstört werden, und tapfere Krieger können von ihren Rossen gestoßen werden. Und wenn Du klein bist und nur ein kleines Messer hast, dann greife die Gelenke Deines Gegners an. Aber ob Du nun klein oder groß bist – Du mußt Dein Netz sorgfältig auslegen und nicht neben der Tür nach der Klinke greifen.

Entscheide Dich schnell und handle rasch, doch sei gut vorbereitet, damit die Raschheit Dir nicht zu Deinem Schaden gereicht. Bedenke dabei immer, daß zwar ein einzelner Krieger seine Stellung rasch verändern kann – ein Heer jedoch nur langsam. Schnelligkeit ist das Geheimnis des Erfolges im Krieg. Nutze aus, daß der Gegner unvorbereitet ist, ziehe auf unerwarteten Wegen und schlage dort zu, wo er es nicht erwartet.

Was habt ihr nun davon behalten? Fang Du an, Laskran, und dann der neben Dir und so weiter. Jeder eine Sache, die er noch weiß, auf die ihr achten solltet.“

„Geschick“ – „Überblick“ – „Vorsicht“ – „schnell entscheiden“ – „vorbereitet sein“ – „schnell handeln“ – „das, was da ist, nutzen“ – „vorausschauend“ – „Gelegenheiten nutzen“ – „nicht übereilig sein“ – „Gefahren aus dem Weg gehen“ – „nicht zu viel vertrauen“ – „keine unnötigen Gefahren “ – „handle unvorhersehbar“

Manador nickte zufrieden.

„Das war ja mehr als ich zu hoffen gewagt habe. Gut – jetzt erzählt jeder ein Beispiel für das, was er eben gesagt hat, worauf man achten sollte. Fang Du an, Laskran.“

„Ehm … Geschick … Wenn man einen Bären mit einer Falle fangen kann, ist das besser, als auf ihn Jagd zu machen, weil es ungefährlicher für die Jäger ist.“

Maran, der neben Laskran saß, dachte kurz darüber nach, wo Überblick besonders wichtig sein könnte.

„Wenn ein Heer ein anderes Land erobern will, ist es sehr hilfreich, eine Landkarte von diesem anderen Land zu haben, damit man weiß, wo man Flüsse, Schluchten, Brücken, Seen, Sümpfe, Städte und ähnliches finden wird. Dann kann das Heer geschickter vorgehen – ohne Überblick ist kein geschicktes Vorgehen möglich.“

So erzählten alle Jünglinge ein Beispiel zu dem, was sie eben als wichtigen Leitsatz angeführt hatten. Manche erzählten nur kurz zwei Sätze, andere wie Olek erzählten lange, umständliche Geschichten. Am Ende hatte Maran das Gefühl, daß sich ihm diese Leitsätze sicher eingeprägt hatten.

Manador stand auf und die Jünglinge erhoben sich.

„Stellt euch nun nach den Elementen geordnet auf – Feuer links, Luft halblinks, Wasser halbrechts und Erde ganz rechts.“

Das Durcheinander beim Aufstellen war mittlerweile nicht mehr ganz so groß wie beim ersten mal, als sie sich entsprechend dem Element des Tierkreiszeichens, in dem ihre Sonne stand, aufgestellt hatten.

„Achte auf die fünffache Haltung:

Schlage heftig, plötzlich und stark – werde wie Feuer. Sei unberechenbar – werde wie der Wind. Kämpfe völlig entspannt – werde wie Wasser. Werde ruhig und unverwundbar – werde wie ein Fels. Bleibe immer Du selber – werde wie die Sonne.

… … …

Feuer-Jünglinge – sprecht 'Schlage heftig, plötzlich und stark – werde wie Feuer.'“

Die Feuer-Jünglinge wiederholten ihren Spruch und er klang kraftvoll durch die Halle. Dann kamen die Luft-Jünglinge an die Reihe und es pfiff wie ein Wind. Die Wasser-Jünglinge klangen wie das Rauschen des Meeres und die Erd-Jünglinge wie Geröll, das einen Hang hinunter poltert.

Maran hatte das ja jetzt schon des öfteren gehört, aber es war immer wieder beeindruckend, wie deutlich man dabei die vier Elemente erkennen konnte.

Nach Meister Manador kam noch Meister Wannalasi in die Große Halle. Eigentlich sah Wannalasi mit seiner guten Kleidung und seinem sehr gepflegten Äußeren überhaupt nicht wie ein Krieger oder wie ein Magier aus – aber er unterrichtete trotzdem Kampfmagie und zählte zu den Meistern des Sharfan-Ordens.

Die Jünglinge wollten sich schon auf die Bänke setzen, doch Wannalasi schüttelte mit dem Kopf.

„Nein – heute nicht viele Worte, sondern Taten. Stellt euch zu zweit auf.“

Olek kam zu Maran und stellte sich neben ihn. Olek hatte in letzter Zeit oft Maran für ihre Zweikämpfe ausgewählt, da Maran in den letzten drei Monden fast genauso schwach und genauso wenig einsgerichtet wie er selber gewesen war – das Zusammenleben mit Gana und das Einschmelzen der Schlangenringe hatten Maran jeden inneren Halt genommen …

„Gut. Einer stellt sich hin und schließt seine Augen – der andere stellt sich in zehn Schritten entfernt von dem ersten hin und geht möglichst leise auf ihn zu. Sobald der mit den geschlossenen Augen spürt, daß der andere ihm zu nah kommt, sagt er 'Halt'. Dann öffnet er seine Augen und schaut, wo der andere steht, wie weit er noch entfernt ist. Und die, die gehen – geht verschieden schnell oder bleibt auch mal stehen oder geht auch mal zwei Schritte rückwärts damit der andere nicht die Entfernung zu euch anhand der Zeit, die vergangen ist, abschätzen kann.

Ist das allen klar?“

Maran sah einige verwunderte Blicke und wußte auch selber nicht so recht, wozu das gut sein sollte, aber er nickte wie die anderen.

Olek schloß seine Augen und Maran ging leise auf ihn zu. Schließlich stieß er leicht gegen Olek – er hatte nicht 'Halt' gesagt.

„Ich habe nicht spüren können, daß Du gekommen bist, Maran … Laß uns das mal andersrum machen, daß Du Deine Augen schließt.“

Maran schloß seine Augen und wartete. Auf einmal hatte er ein komisches Gefühl im Sonnengeflecht.

„Halt!“

Er öffnete seine Augen und sah, daß Olek ungefähr zwei Armlängen von ihm entfernt war.

Sie versuchten das mehrmals abwechselnd und Maran sagte jedesmal bei derselben Entfernung 'halt', doch Olek spürte erst beim dritten Versuch etwas – allerdings immer erst beim Abstand von einer Armlänge.

„Alle aufhören und zuhören! Bei welchem Abstand habt ihr etwas gemerkt?“

Einige wenige hatten wie Olek zunächst nichts gespürt – erst als der andere mit seinem Leib an ihren Leib stieß. Einige andere hatten den anderen beim Abstand von einer Armlänge gespürt und die meisten beim Abstand von zwei Armlängen.

Wannalasi nickte zufrieden.

„Das war ja besser als ich es von euch erwartet habe. Der Mea-Leib ragt ungefähr eine Armlänge über euren festen Leib hinaus – nach allen Richtungen hin. Daher gibt es drei Abstände, bei denen ihr etwas spüren könnt: 1. die beiden Mea-Leiber berühren sich – das ist der Abstand von knapp zwei Armlängen; 2. der Mea-Leib des einen berührt den festen Leib des anderen – das ist knapp eine Armlänge Abstand; und 3. der feste Leib des einen berührt den festen Leib des anderen.

Beobachtet das mal in eurem Leben: Unbekannte läßt man nicht gerne näher als zwei Armlängen an sich heran; Freunde nicht gerne näher als eine Armlänge; und nur Menschen, mit denen man sehr vertraut ist, berührt man gerne leiblich.

Manche Menschen spüren die den anderen auch schon auf größere Entfernungen als nur zwei Armlängen – das sind Menschen, die entweder eine große Angst oder ein großes Mißtrauen in sich tragen und daher ständig bereit zur Flucht oder zum Angriff sind.

Macht jetzt denselben Versuch noch einmal, aber wendet dabei dem, der sich euch nähert, euren Rücken zu.“

Alle führten wieder diese Versuch durch. Olek hatte große Schwierigkeiten, hinter sich überhaupt irgendetwas zu spüren – Maran spürte Olek meistens erst beim Abstand von einer Armlänge.

„Alle aufhören und zuhören! Wie war der Abstand jetzt?“

Es war bei fast allen so, daß sie mit ihrer Rückseite das Nahen des anderen deutlich schlechter spüren konnten – oft erst ab einer Armlänge Abstand.

„Das ist fast immer so … Die Menschen haben vorne viel mehr Aufmerksamkeit als hinten – schließlich weisen unsere Augen auch nach vorne und wir gehen in der Regel auch vorwärts und benutzen unsere Hände auch vor uns. Aber es ist wichtig, auch hinten wachsam zu sein – schließlich erfolgen die meisten Angriffe von hinten …

Ihr kennt sicher dieses komische, leicht kribbelnde, unruhige Gefühl im Nacken, das man bekommt, wenn man von hinten angestarrt wird. Das ist dafür da, daß man einen bevorstehenden Angriff von hinten spüren kann.

Nun macht dasselbe auch mal, indem ihr eure linke Seite und danach eure rechte Seite dem Herannahenden zuwendet.“

Olek war auf seiner linken Seite wacher als auf seiner rechten Seite – Maran konnte hingegen auf seiner rechten Seite besser spüren, wenn sich Olek näherte.

„Alle herhören! Wer konnte auf beiden Seiten gleich gut wahrnehmen?“

Moranat und Aranja hoben ihre Hand.

„Wer konnte links besser spüren als rechts?“

Olek und noch ein Mann und eine Frau meldeten sich.

„Seid ihr Linkshänder?“

Olek und die Frau nickten.

„Wer konnte rechts besser spüren?“

Nun meldeten sich alle anderen – ungefähr ein Dutzend der Jünglinge.

„Wer von euch ist kein Rechtshänder?“

Niemand meldete sich.

„Wie ihr seht, gibt es nur wenige, die links und rechts gleich wach sind. Fast alle sind auf der Seite wacher, die der Hand entspricht, die sie vorzugsweise benutzen.

Vielleicht kommt euch dieser Versuch wie ein Kinderspiel vor, aber das Spüren von Menschen, die man nicht sieht, ist im Kampf überlebensnotwendig. Übt das zu zweit, wenn ihr etwas früher in die Halle kommt, damit ihr euch darin sicherer werdet. Macht ein Spiel daraus und starrt den anderen dabei an oder geht vollkommen gelassen auf ihn zu. Versucht herauszufinden, wie ihr euch dem anderen unbemerkt annähern könnt und wie ihr den anderen besser spüren könnt. Wer geschickt in dieser Wahrnehmung ist, wird es leichter haben, im Kampf zu überleben.

Nun noch ein solches Spiel, bei dem es um den Mea-Leib geht. Einer stellt sich hin, aber er hat diesmal die Augen offen. Der andere geht auf ihn zu und der Stehende sagt 'Halt' oder etwas ähnliches. Wenn das überzeugend klingt, bleibt der Herannahende stehen – wenn das nicht überzeugend klingt, geht er weiter.

Es geht hier erst mal nicht darum, den anderen umzurennen, sondern darum, zu schauen und vor allem zu spüren, ob der Stehende Kraft in seine Worte legen kann, das heißt, ob er seine Worte mit Mea füllen kann.

Ist das klar?“

Die meisten nickten ein wenig zögernd, weil sie das Ganze noch nicht so recht einschätzen konnten.

Olek stellt sich hin, Maran ging zehn Schritte von ihm fort, drehte sich um und ging dann langsam auf Olek zu.

Es war deutlich zu sehen, daß das Olek unangenehm war. Sein 'Halt' bei drei Schritten Abstand klang so zaghaft, daß Maran einfach weiterging, bis er mit Olek zusammenstieß. Sie wiederholten das noch mehrmals, aber es wurde eher noch schlimmer als besser.

Als sie es umgekehrt versuchten und Olek auf Maran zuging, hatte Maran den Eindruck, daß Olek sich nicht an Maran herantraute, wenn Maran ihn nur scharf anschaute.

„Aufhören! Aufhören! Das sah noch nicht besonders überzeugend aus, was ich da gesehen habe. Olek – Krad – kommt mal beide her und stellt euch zehn Schritte voneinander entfernt hin.

Krad – geh auf Olek zu.“

Krad grinste und als er sich bis auf drei Schritte genähert hatte, wich Olek ihm aus und ging rasch rückwärts.

„Halt! Es reicht, Krad! Kommt wieder beide her und stellt euch wieder zehn Schritte auseinander hin.

Wie ihr gesehen hat, kann Olek Krads Annäherung kaum ertragen. So kann er keinen Kampf gewinnen.

Olek – stelle Dir einen aufrechten Lichtstrahl in Dir vor, der nach unten in die Erde reicht und nach oben hin bis in die Sonne. … … … Hast Du das?“

Olek nickte eher zaghaft.

„Gut. Krad – geh noch mal auf ihn zu.“

Krad begann und diesmal konnte Olek immer hin 'Halt' sagen und blieb auch an seinem Platz stehen, doch Krad lief weiter bis er gegen Olek stieß.

„Hm … Olek … Was ist Deine Lieblings-Pflanze?“

„Mein Lieblingspflanze?“

„Ja.“

„Ehm … die Weide … die Hängeweide …“

„Gut – dann stell Dir jetzt mal vor, daß hinter Dir eine dicke Trauerweide steht, die mit Deinem Rückgrat verbunden ist und die Dein Rückgrat beschützt. … … … Hast Du das?“

Olek nickte.

„Gut … Krad? Geht auf ihn zu.“

Diesmal stand Olek deutlich ruhiger da und hielt seine Hände vor sich, als er 'Halt' sagte und hielt Krad auf einer Armlänge Abstand zurück.

„Das war schon besser, Olek. Nimm noch zwei Dinge hinzu: leg Deinen Lieblingsstein vor Dich hin und hol zwei von Deinen Lieblingstieren zu Dir und imaginiere sie links und rechts von Dir. … Was sind der Stein und die Tiere?“

„Ein weißer Kieselstein und zwei Steinböcke.“

„Hast Du sie imaginiert?“

Nachdem Olek seine Augen einen Augenblick lang geschlossen gehalten hatte, öffnete er sie wieder und nickte.

„Krad – Du bist wieder dran.“

Es war deutlich zu sehen, daß Krad diesmal einen Widerstand zu überwinden hatte, als er sich Olek näherte.

„Das war schon deutlich besser.“

„Aber Krad ist wieder bis zu mir gekommen!“

„Ja – ist er. Aber Du bist nicht mehr fortgelaufen wie beim ersten mal und er mußte etwas dafür tun, daß er bis zu Dir gekommen ist. Das ist schon ein großer Unterschied.

Kennst Du Deine Seele? Welches Bild hat sie?“

„Eine Frau …“

Einige Jünglinge lachten leise und Olek lief rot an.

„Dann stell Dir jetzt mal vor, daß Du in dieser Frau stehst – daß Dich Deine Seele ringsum umhüllt. … … … Fertig?“

„Ja.“

„Dann wieder Du, Krad.“

Olek stand nur da und schaute Krad an – und Krad hatte Mühe, bis zu Olek zu gehen.

„Sehr gut, Olek! Und nun noch ein Schritt weiter. Welche Gottheit beschützt Dich? Oder welche Gottheit gehört zu Deinem Clan?“

Olek antwortete nur ziemlich leise.

„Manola …“

„Die Mondgöttin? Dann rufe sie um Hilfe, imaginiere sie, verbinde Dich mit ihr, stell Dich selber in ihrer Gestalt vor, sodaß sie Dich ganz umhüllt – aber stell sie Dir deutlich größer vor als Du Dir eben Deine Seele vorgestellt hast. … … … Hast Du das?“

Olek nickte.

„Gut … Na, dann – Krad …“

Krad ging auf Olek zu und es war deutlich, daß er diesmal tatsächlich kämpfen mußte, um bis zu Olek zu gelangen.

„Habt ihr alle den Unterschied gesehen, den es macht, ob man sich einfach nur hinstellt oder dabei etwas imaginiert?

Erprobt das nun zu zweit und wechselt ab und zu, mit wem ihr das macht.“

Mittlerweile hatten alle erkannt, wie wichtig das war, was Wannlasi ihnen da gezeigt hatte und sie imaginierten mit großem Eifer – wenn auch mit verschiedenem Erfolg. Krad hatte offensichtlich keinerlei Schwierigkeiten damit, den Wildnisgott Agrak so heftig zu imaginieren, daß er fast jeden fernhalten konnte, doch anderen fiel das deutlich schwerer. Moranat gelang das ab und zu, aber das war bei ihm noch sehr schwankend. Aranja schien noch danach zu suchen, was sie da eigentlich machen sollte – erinnerte sie sich nicht mehr an die innere Reise zu ihrer inneren Mitte? Maran hatte eher wenig Erfolg, als er sich selber als den Korngott Asar imaginierte.

„Gut. Alle herhören! Übt das zu zweit, wenn ihr Zeit dafür habt. Und natürlich kann auch der, der sich dem anderen nähert, seine Seele und seine Gottheit in sich hineinrufen.

Das mag jetzt alles noch recht schlicht aussehen, aber das ist etwas, was sich noch sehr weit ausbauen läßt und zu einer der wirkungsvollsten Formen der Kampfmagie werden kann. Wir werden noch des öfteren auf diese Übung zurückkommen und sie ausbauen und sie für verschiedene Dinge benutzen.“

Danach verließ Wannalasi die Große Halle und die meisten begannen aufgeregt miteinander zu reden – sie konnten jetzt deutlicher sehen, daß sie wirklich Kampfmagie lernen würden, und auch, wo der Weg dahin ungefähr entlang laufen würde.

Zusammen mit dem, was Almo ihnen schon gezeigt hatte, entstand in Maran durch den heutigen Abend allmählich ein erstes nebelhaften Bild von dem, wozu sich die beiden einfachen Grundelemente der Magie – das Fernesehen und das Fernehandeln – bei einem geübten Krieger entwickeln konnten.

*

Maran saß im Bücherzimmer und dachte wieder einmal über das letzte Vierteljahr nach, das noch immer wie ein Schatten über ihm lag.

„Das hat mich doch alles ziemlich durchgerüttelt und mir jeden Halt genommen … Diese Ringe … und Gana … und was da sonst noch alles war …

Maran – Du solltest Dir das mal genauer ansehen, damit Du verstehst, was Du da gemacht hast. Es wäre alles andere als weise, solch große Fehler noch einmal zu machen – und wenn Du das alles nicht wirklich bis zur Wurzel hin verstehst, wirst Du Deine Fehler wiederholen!

Ist ja schon gut! Ich mach das ja schon! … Aber wie fange ich das an? … Was haben denn die anderen gesagt? … Hm …

Ich glaube, Brella hat gesagt, daß die Schlangenringe Menschen helfen würden, die zu selten mit einem anderen im Bett liegen und zusammen Spaß haben … Ja – das trifft ja wohl auf mich zu … Und wenn ich mir mit einem der Schlangenringe an meiner Hand etwas gewünscht habe, sind ja auch mehrmals Frauen zu mir gekommen … Dieses leibliche Verlangen nach einer Frau ist also eine Wurzel dieser Ringe gewesen … offensichtlich …

Dann ist da diese alte Zauberringe-Geschichte, in der Magier Macht in Ringe bannen und diese Ringe dann benutzen … und am Ende werden diese Ringe zerstört … Tja – die Ähnlichkeit mit dieser alten Geschichte ist ja unverkennbar … und mir ist das die ganze Zeit über nie aufgefallen … Wie blind man doch sein kann!

Was ist da noch gewesen? … Mein Wunsch, das Reich zu schützen, war doch auch da! Dieser Wunsch war auch echt! … Aber ich sollte mir diesen Wunsch mal genauer ansehen … Das Reich schützen … hm … nicht die Sklavenjäger angreifen … das ist also Verteidigung … magische Verteidigung … unsichtbare Verteidigung … Oje! Das ist doch das Opfer-Verhalten – so gehen doch Opfer vor! Man ruft einen Stärkeren herbei, der einen beschützen soll! Und ich konnte damals ja noch weniger kämpfen als heute – und habe natürlich das Reich auf dieselbe Weise schützen wollen wie ich mich selber schützen würde … aber dieses Vorgehen ist krank, weil ich eben als hilfloses Opfer handle und nicht als jemand, der kraftvoll in sich selber ruht! … Na gut – noch ein Fehler …

War's das dann? … Nein – ich habe die Macht genossen, die ich gespürt habe, wenn ich den Ring getragen habe … Tja – wonach sehnt sich das ohnmächtig Opfer ganz heimlich? Das Opfer wäre gern der mächtige Täter! Und traut sich das nicht zu sein … also wird es ganz heimlich zum mächtigen Täter … und was könnte eine noch heimlichere Macht sein als die Magie?

Oh, Mann! Was hab ich da nur gemacht ohne es zu merken? Diese Schlangenring-Geschichte war so einiges, wovon ich nichts gesehen habe … Wir waren in dem Magier-Kreis alle Anfänger, denn es hat ja lange gedauert, bis einer gespürt hat, daß da was nicht stimmt mit den Ringen …

Hm … diese riesige Glut-Linse tief unten in der Erde, die die Wurzel und die Quelle der Kraft in diesen Ringen war … was ist das eigentlich? … Das kann ja eigentlich nur das Schlangenfeuer der Erde sein … Das werden wir wohl auch schon auf dieser inneren Reise richtig erkannt haben. Da kann ja eigentlich nichts dran falsch sein, daß die Ringe damit verbunden gewesen sind …

Warum ist diese Glut-Linse das Erste gewesen, was mir jemals begegnet ist, wo ich nicht mehr noch näher heran gegangen bin? Weil die so groß war? … Eigentlich nicht – Götter sind auch groß und die fürchte ich nicht … Fürchte ich das Erdfeuer? … Hm – wenn diese Glut-Linse das Wurzel-Rad der Erde ist, könnte es sein, daß ich mein eigenes Wurzel-Rad fürchte … Ja – ich habe den Mea-Stau in meinen drei oberen Mea-Rädern und bin ein verzichtendes, ohnmächtiges Opfer, wenn man's mal deutlich ausspricht … Und für so jemanden wäre es das Schreckensbild schlechthin, wenn die Gier im eigenen Wurzel-Rad erwachen würde – was ja geschehen würde, wenn ich näher an diese Glut-Linse herangehen würde …

Oh, Mann! Was bin ich blind gewesen! Und was habe ich aus meiner Blindheit heraus mit dem besten Willen getan! Diese Blindheit mir selber gegenüber, die ist wirklich schlimm! Das muß ich ändern! …

Die Linsenform dieser Glut-Linse … sind nicht die Mea-Räder auch solche Linsen-förmigen Scheiben, die sich drehen und glühen, strahlen oder leuchten? Diese Glut-Linse ist also wirklich das Wurzel-Rad der Erde … Oder … oder … habe ich da nur mein eigenes Wurzel-Rad gesehen? Aber so viel Mea wie in dieser Glut-Linse, die wir da gesehen haben, kann ich unmöglich in mir haben! …

Und das Gitter in dem Schacht nach da unten? Und der gemauerte Boden in dem Schacht? Was war das? Das ist doch ein Hindernis für das Erdfeuer da unten gewesen, nach oben zu kommen … Und solch ein Hindernis habe ich ja auch in mir – ich habe ja meine drei unteren Mea-Räder weitgehend ausgesperrt, ausgegrenzt, eingemauert … ja … Habe ich da die Blockaden in mir selber gesehen? Das Gitter zwischen meinem Herz-Rad und meinen Sonnengeflecht? Und weiter unten den gemauerten Boden zwischen meinem Sonnengeflecht und meinen Tanz-Rad? Das würde ja gut passen …

Aber warum haben wir das auf dieser inneren Reise gesehen? Waren die Bilder auf dieser Reise ein Gemisch aus Bildern aus der Erde selber und aus Bildern in mir? … Na, ja … die Mea in den Schlangenringen war ja auch ein Gemisch aus der Mea der Erde und der Mea aus mir … Da würde das ja schon passen …

Und da war noch etwas! Diese innere Reise mit Ralkon, Jergun und noch einem in das 'Feuer der Erde'! Da bin ich doch in das Feuer dieses Erdgeist-Schamanen gegangen! Und die Ringe waren ja Erdfeuer … Hat da dieser Schamane mitgemischt? Aber warum? Was waren dessen Ziele? Hat der bestimmte Ziele gehabt? Oder bin ich da nur in das, was er ist, rein geraten, weil ich mich in sein Feuer gestellt habe?

Ich sag's ja nicht zum ersten mal, aber ich weiß wirklich noch immer sehr, sehr wenig und mache noch immer dicke Anfänger-Fehler … Wir hätten uns das alle gemeinsam anschauen sollen, innere Reisen machen sollen, Orakel befragen sollen – noch bevor ich überhaupt nur mit dem Schmieden begonnen hatte!

Na, ja … der Nachtreiter würde sagen, daß ich aus dicken Fehlern auch viel lernen kann … Nun, ja – da hat er zwar recht, aber wenn ich diese Fehler durch ein etwas bedächtigeres und umsichtigeres Vorgehen vermeiden könnte, wäre das doch auch recht angenehm …

Und dann waren da noch diese Männer, die einige von uns innerlich gesehen haben … Wer sind die? Was haben die mit den Schlangenringen zu tun gehabt? … Leben die irgendwo hier in der Welt? … Eher nicht … Sind das Geister? Hm … Sind das Gestalten aus alten Geschichten? Vielleicht aus den Geschichten, in denen Zauberer magische Ringe schmieden? Vielleicht … Oder sind das Bilder aus mir? Bilder der mächtigen Täter? Könnte schon sein – das wird da wohl einen Anteil dran haben … Zumindestens waren das 'mächtige Männer' – was auch immer sie tatsächlich sein mögen …

Aber das war's jetzt ja hoffentlich an Fehlern, oder? … Nein – das war's immer noch nicht … Ich wollte doch das Reich schützen und verteidigen … Und ich habe die Ringe auf Vollmond geschmiedet – und der Vollmond enthält eine große Spannung. Ein Schutz sollte hingegen ruhig und fest sein – also Neumond … Vollmond ist Angriff, Neumond ist Verteidigung – also waren das eigentlich Angriffs-Ringe für die mächtigen Täter und nicht Verteidigungs-Ringe für die ohnmächtigen Opfer … Tja – auch da habe ich daneben gelegen … Na, ja – eigentlich habe ich ja genau getroffen, nur daß meine Sehnsucht danach, auch mal der Mächtige zu sein, diese Ringe gestaltet hat und nicht mein Wunsch, das Reich zu schützen …

Also war die Gestaltung der Ringe sehr schlüssig und einheitlich ausgerichtet – nur eben nicht auf das, was ich gedacht habe, worauf ich sie ausrichten würde …

War's das jetzt endlich an Fehlern? … Hm … nein – noch immer nicht … Wenn die Schlangenringe uns schützen sollen, dann müßte die Schlangenkraft frei wirken können – aber geschlossene Ringe sind gefangene Kraft … Ich hätte diese Ringe offen schmieden sollen, also offene Ringe oder noch besser einfach Schlangen, die geradeaus kriechen und irgendwo hin kommen statt sich nur im Kreis zu drehen …

Und was war noch falsch? … Ich habe den Rubin-Ring nicht vergraben … Warum eigentlich nicht? … Hm … das war der lenkende Ring, der herrschende Ring … Wollte ich den nicht hergeben? Wollte ich die ganze Mea in diesen Ringen selber lenken? Aber ich habe ihn nie benutzt … Habe ich mich das nur nicht getraut? … Könnte sein …

Und die Edelsteine? Waren die richtig? … Rubin in der Mitte, zwölf Turmaline außen … Was ist das? … Feuer in der Mitte, Schönheit außen … die Turmaline sind die Steine des schönen Wandelsterns … und der schöne Wandelstern ist die Herrscherin des Sternzeichens Waage, das mein aufsteigendes Sternzeichen ist … Oje! Das war ein Selbstbildnis! Der Rubin für mein Sonnen-Zeichen Löwe und die Turmaline für mein aufsteigendes Zeichen Waage … ja …

Für Schutzringe hätte ich einen Hämatit für den Krieger-Wandelstern und zwölf Onyxe für den Wächter-Wandelstern nehmen müssen … Wie gründlich kann man eigentlich eine Sache falsch machen?!

Die gute Absicht alleine reicht nicht … Die Ringe hätten ganz anders sein müssen … und vielleicht hätten es nicht einmal Ringe sein müssen … Ich bin ja auch ziemlich schnell bei dem Bild der magischen Ringe angekommen, statt mich gründlich zu fragen, was ich eigentlich erreichen will und wie ich das am wirkungsvollsten machen kann. … Ich hätte das ausführlich mit den anderen besprechen sollen … ja … Wobei ich nicht weiß, ob die etwas gemerkt hätten … Aber vielleicht hätte ja der eine oder andere eine gute Frage gestellt, sodaß ich mal angefangen hätte, so zu denken, wie ich jetzt gerade denke …

Was kann ich denn da noch sehen? … Na, ja – es ist offenbar die Form, die einen Gegenstand am meisten prägt. Hier also die in einem Kreislauf gefangene Schlangenkraft – und die Schlangenkraft ist das unterste Mea-Rad … Silber ist Mond und leitet die Mea gut, aber prägt nur die Art der Bewegung der Schlangen-Form – die grundsätzliche Prägung ist die Form der Schlange.

Und die Steine? Was machen die? Die zeigen so was wie eine 'Färbung' … Silber und Rubin und Turmaline – heißt das, daß ich will, daß meine Mea wie das Mond-Silber fließt und dadurch meine Rubin-Sonne auf Turmalin-schöne Weise wieder frei fließen kann? … Hm – klingt so … aber die zu einem Kreis geschlossene Form der Schlangenringe hält die Schlangenkraft gefangen …

Das Ganze ist wirklich ein Selbstbildnis gewesen … und nicht der Schutz für das Mittlere Reich, den ich eigentlich erschaffen wollte …

Tja … und nun? Ich will sowas eigentlich nicht noch mal machen – in der Magie solch einen Irrweg gehen …

Was da ja auch noch zumindestens schräg dran war, ist, daß das eigentlich etwas war, was ich im Grunde alleine ausgedacht, geplant und durchgeführt habe – aber das dann mit anderen zusammen weiterführen wollte … Und dann aber keinerlei Anregungen gegeben habe, was man mit den Ringen machen könnte … und auch selber nichts mit ihnen gemacht habe … War das der Wunsch nach mehr Gemeinschaft, mit der ich mich ja immer ein wenig schwer tue? … Zumindestens ist auch dieser Teil der ganzen Angelegenheit ziemlich schräg …

Aber was soll ich jetzt tun? … Mich selber besser kennenlernen … alle größeren Unternehmungen vorher sehr viel gründlicher durchdenken … und Symbole und Mythen und dergleichen sehr viel besser kennenlernen … Wenn ich diese Bildersprache besser kennen würde, die in der Magie und im Gemüt der Menschen wirkt und die man auch auf den inneren Reisen und in den Träumen erleben kann, dann würde ich weniger Gefahr laufen, in der Magie Dinge zu tun, die eine ganz andere Wirkung haben als die, die ich eigentlich angestrebt habe …

Also alle Mythen lesen, die ich finden kann, und sie mir genau ansehen … und Träume und die Bilder auf den inneren Reisen genau betrachten … und auch das Wind-Wasser-Wissen, die Mea-Räder, die Kornkreise, die Steinkreise, die Mea-Mittel … alles, wo sich diese innere Bildersprache zeigt …

Da habe ich jetzt ja ziemlich viel vor …“

*

Am Nachmittag des nächsten Tages saß Maran im Archiv der Halle des Aran und las in verschiedenen Büchern, die ihm vielversprechend aussahen. Er wunderte sich immer wieder, über was schon alles Kampfkunst-Bücher geschrieben worden waren – das reichte vom richtigen Schleifen eines Schwertes über die Kunst der Späher bis hin zum Bau einer Stadtmauer …

Maran blieb erst einmal bei den allgemeineren Büchern. Hier und da fand er hilfreiche Hinweise – Dinge, auf die er selber nicht gleich gekommen wäre.

Wenn Du gegen mehrere kämpfst, dann greife stets den Stärksten an, dann den Zweitstärksten und so fort.

Wenn man darüber nachdenkt, ist das ja schon schlüssig … Der Stärkste ist der Gefährlichste und der sollte nicht unverhofft in den Kampf eingreifen, wenn es einem selber gerade nicht paßt … und wenn man den Stärksten besiegt, sind die anderen eingeschüchtert …

Derjenige ist ein guter Krieger, der nicht nur siegt, sondern der mit Leichtigkeit siegt.

Tja – was sollte man dazu noch sagen? Wenn ein Krieger das Kämpfen so gut versteht wie ein guter Handwerker mit jahrelanger Erfahrung sein Schmieden versteht – oder was auch immer er macht – dann sieht das Siegen vermutlich mühelos aus …

Lerne von der Natur.

Was mag das bedeuten? Wind-Wasser-Wissen in der Kampfkunst? … Tiere bewegen sich auf die sinnvollste Weise, die es für das gibt, was sie tun, denn sie tun ja den ganzen Tag lang nichts anderes … Man kann also Reiher, Schlangen, Füchse und andere Tiere beobachten und von ihnen lernen, wie man sich sinnvoll und wirksam bewegt … Vermutlich kann man das auch von Bäumen und Wolken und Flüssen lernen …

Wenn das Wasser den Fels bewegt, ist dies wahre Kraft. Wenn der Falke seine Beute schlägt, so ist dies Genauigkeit. Gleiches gilt für den erfolgreichen Krieger.

Das ist ja eigentlich dasselbe wie das vorige – ich kann vom Wasser und von den Tieren und vermutlich auch von allem anderen in der Natur lernen, wie man sich am besten bewegt … Das ist wirklich eine neue Sicht auf das Kämpfen … und das ist auch eine Form, die Bildersprache der Mea zu erlernen …

Wenn Du Frieden schließt, dann achte auf sechs Dinge:

Der Frieden hat nur dann ein gutes Fundament, wenn beide aufrichtig sind.Der Frieden kann nur dann gelingen, wenn man klar sieht, wie die Lage ist.Der Frieden kann nur dann gefunden werden, wenn man sachlich bleibt.Der Frieden ist nur dann haltbar, wenn er für beide Seiten von Vorteil ist.Der Frieden ist nur dann dauerhaft, wenn der Wille von beiden Raum hat.Der Frieden wird nur dann nicht gefährdet, wenn beide dem anderen verzeihen.

Das ist ja wirklich eine hilfreiche Auflistung … Ich habe noch nie irgendwo gehört oder gelesen, was für einen dauerhaften Frieden notwendig ist …“

Nach einer Weile nahm sich Maran ein anderes Buch aus den Regalen und schaute sich an, was in ihm stand – es war eine Sammlung von Sprichworten.

„Das ist offenbar eine alte und beliebte Form, um Weisheiten aufzubewahren … vermutlich sind diese Weisheiten früher mal von Mund zu Mund weitergegeben worden, bevor sie aufgeschrieben wurden …

Was gibt es denn da alles?

Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.

Nun ja – das ist offensichtlich … aber man kann es leicht vergessen …

Sei nicht zu rasch in der Rache, wenn jemand Dir Unrecht tut.

Und bevor Du auf die Reise der Rache gehst, grabe zwei Gräber.

Hier wird vor Rache gewarnt – man könnte selber dabei sterben … aber Rache ist sehr weit verbreitet, denn kein Krieger bleibt gerne der Besiegte …

Man sollte selbst einen dumpf-sinnigen Trottel warnen, wenn er nackt am Feuer sitzt.

Wenig Hilfe ist immer besser als gar keine.

Von den Hageren wird man Speise erhalten.

Es ist von Übel, die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft zu verletzen.

Hm – hier steht mal was anderes als Kampf-Weisheiten … Man sollte auch den Hilflosen und den Dummen helfen …

Die Bobachtung, daß Hagere freigiebiger als Dicke sind, ist ja spannend … Sind Dicke denn dick, weil sie gierig sind? Ich muß das mal beobachten … Hm – so ganz kann das nicht stimmen, denn Menschen mit den Fischen als aufsteigendem Zeichen sind meist rundlich und auch freigiebig …

Jeder erntet die Früchte seiner Taten.

Ob das wohl stimmt? Oder ist das mehr ein Wunsch als eine Beobachtung? Menschen die schnell wütend werden, sterben auch öfter mal im Streit – aber nicht alle. Ist das hier der Wunsch der hilflosen Opfer nach einer aus ihrer Sicht gerechten Welt? Klingt so …

Es ist besser betrogen zu werden als niemandem zu vertrauen.

Es ist gut, den Vertrauenswürdigen zu helfen.

Was halte ich denn davon? Niemandem zu vertrauen hieße ja, einsam zu sein … Und das wäre sicherlich nicht gut … Und dem Vertrauenswürdigen zu helfen, ist auch sinnvoll – dann wird man auch selber Hilfe erhalten …

Aber ich glaube, ich sollte jetzt mal rüber in die Große Halle gehen … das klingt auf dem Gang vor der Türe so, als ob die anderen kommen würden …“

Maran schloß das Buch, stellte es in das Regal zurück und ging dann in die Halle hinüber, wo er schon Manador sitzen sah. Maran setzte sich zu den anderen auf die drei Bänke, die im Halbkreis vor Manador standen. Manador wartete, bis alle saßen.

„Es ist wichtig, die alten Weisheiten zu kennen, aber es ist auch wichtig, denken zu lernen und diese Weisheiten in das eigene Denken einzufügen. Um das zu können, müßt ihr lernen, sinnvolle Fragen zu stellen.“

Maran mußte an seine Betrachtungen über die Schlangenringe am Vortag denken – da hatte er sich ganz offensichtlich all die wichtigen Fragen viel zu spät gestellt und einfach das getan, was ihm als erstes eingefallen war … Offenbar war dieses Fragen auch in der Kampfkunst wichtig …

„Die Grundlage von allem ist der Lebenswille. Dazu gibt es viele Sprichworte: 'Jeder ist gierig nach Leben.' oder 'Die Hand hat jedes Recht sich zu wehren, wenn der Kopf in Gefahr ist.'

Wann werden diese Sprichworte bedeutungsvoll?“

Olek hob seine Hand.

„Ja?“

„Wenn man in Schwierigkeiten steckt und nicht mehr weiterweiß und dazu neigt, aufzugeben.“

„Ja – dann braucht man Weisheit, um nicht in den Schwierigkeiten stecken zu bleiben. Auch hier gibt es Sprichworte: 'Man muß sich zuerst um die dringendsten Probleme kümmern.', 'Jedes Problem, das auftaucht, erfordert seine eigene Lösung.' und 'In großer Not sollten gute Männer herbeigerufen werden.'

Also mit dem Dringendsten beginnen – so wie man zuerst den stärksten Gegner angreifen soll. Dann schaut man sich die Schwierigkeit genau an und schaut, was gebraucht wird – und man sollte sich Hilfe holen.

Welche Frage kann man hier nun stellen? … Ja – Maran?“

„Wovor habe ich Angst? Wovor will ich davonlaufen?“

Krad lachte leise, doch Manador beachtete ihn nicht.

„Das ist eine gute Frage, denn Ängste haben eine Berechtigung, weil sie warnen wollen – aber sie sind keine guten Ratgeber für das Handeln, weil sie kopflos machen. Dazu gibt es zwei etwas längere Weisheiten:

'Mache Dich mit Deinen Ängsten vertraut und heile sie, denn Angst ist eine der Wurzeln der Wut; und aus den Wurzeln der Wut wächst der Baum des Hasses empor – und die Früchte dieses Baumes sind großes Leid.'

'Mache Dich mit Deinen Ängsten vertraut und heile sie, sodaß Du selbst dann, wenn Du zwischen Hammer und Amboß gefangen sein solltest, nicht furchtsam wie eine Maus in der Falle wirst und das Herz eines Hasen bekommst.'

Wie ihr seht, ist die Angst ein Bote, der zu dem König kommt und ihm sagt, daß draußen eine Gefahr droht. Diese Boten sind wichtig, da der König sonst nicht handeln kann, um die Gefahr abzuwehren. Aber dieser verängstigte Bote sollte sich niemals selber auf den Thron setzen dürfen, denn die Angst macht kopflos – während es die Aufgabe des Königs ist, stets den Überblick zu wahren und den Kopf auch bei der schlimmsten Flut über Wasser zu halten und sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

Man sollte also nach seinen Ängsten schauen.

Gibt es hier noch eine hilfreich Frage? … Ja – Loosan?“

Maran war neugierig, was dieser rundliche Jüngling, der immer etwas zurückhalten war, fragen würde.

„Man kann sich fragen, ob man etwas wirklich braucht, oder ob es nur Gier ist, deren Erfüllung keinen Genuß und keinen Frieden bringt.“

Manador nickte.

„Eine sehr gute Frage, die sehr wesentlich ist – denn wieviele Menschen leben schon in einer inneren Fülle? Doch diese Frage wird viel zu selten gestellt.

Hier gibt es wieder viele Weisheiten und Redewendungen: 'Der Drache verläßt nicht sein Gold.', 'Je mehr er besaß, desto mehr wollte er haben.', 'Viele sind arm, die viel Gold besitzen.', 'Er neidet mir denselben Himmel, der auch über seinem eigenen Haupt ist.', 'Es ist schändlich für einen König, in seinem eigenen Reich zu plündern.', 'Gold führt zu Streit in der Familie.', 'Die Häuser der Großzügigen sind selten und sie liegen weit voneinander entfernt.' und 'Der Arme gibt eher etwas ab als der Reiche.'

Ihr seht, die Gier nach Reichtum ist eine Sucht, die niemals das Loch im eigenen Inneren füllen kann – doch das ist etwas, worüber man lange reden könnte … Dieser innere Mangel ist die Wurzel von fast allem Übel …

Was könnte man noch fragen? … Moranat?“

„Man kann sich auch fragen, ob man gerade angeben will, und auch, ob das alles nur Gerede ist, was man da gerade hört.“

„Nun habt ihr alle drei Dinge zusammen, die man betrachten sollte: der Mangel, der zu Gier führt; die Angst, die zu Grausamkeit führt; und die Selbstzweifel, die zu Angeberei führen. Das sind die drei Dinge, die man immer im Auge behalten sollte, denn sie sind Abweichungen von der eigenen Mitte – und wenn man die eigene Mitte verläßt, wird man hilflos. Das habt ihr ja inzwischen sicherlich bei den verschiedenen Kampf-Übungen gelernt.

Dazu gibt es wieder einige Sprichworte: 'Viele Krieger haben mehr Angeberei als Hirn.', 'Brüste Dich nicht mit Deiner Stärke.', 'Wer nur gegen wenige gekämpft hat, lobt sich selbst am lautesten.', 'Du tust nur groß mit Deinem Maul wie der Fuchs mit seinem schönen Schwanz!' und 'stark mit der Zunge, aber schwach mit der Hand'.

Weil das oft vorkommt, gibt es auch Redewendungen zu den Folgen der Angeberei: 'Sei still, denn Deine Zunge könnte sich um Deinen Kopf wickeln!', 'Die Götter bringen mit großem Eifer die Worte zu dem Sprecher zurück, der sie ohne Verstand ausgesprochen hat.' und 'Jeder wird für seine Worte irgendwann der Gnade bedürfen.'“

Maran frug sich, wieviele Sprichworte und Weisheiten Manador wohl auswendig kennen mochte. Diese Menge, die Manador immer sofort einfiel, schienen Maran ein sicheres Zeichen dafür zu sein, daß auch Manador in sich so etwas wie eine 'Hütte der Erinnerungen' erschaffen haben mußte.

„Das Gerede ist auch etwas, was man vermeiden sollte – wenn die Gespräche keinen Gehalt mehr haben, ist der Rückzug in die Stille besser. Dazu gibt es auch einige Weisheiten: 'Es ist besser, dort Unterkunft zu suchen, wo weniger Leute sind.', 'Je weniger man in Menschenmengen geht, desto besser wird es einem ergehen.', 'Es ist nicht leicht, da Frieden zu schaffen, wo Lärm und Gerede niemals enden.', 'je weiter fort von schlechten Gesellen, desto besser' und 'Niemand, der sich mit schmutzigen Leuten abgibt, wird mit sauberen Händen davonkommen.'

Eine lästige Sache sind auch Schwätzer: 'Es ist schwer, eine Anklage gegen einen Redenschwinger vorzubringen, der sich durch einen Tanz von Worten aufbläht, ohne irgendetwas zu sagen.', 'Nur wenige können sich aussuchen, was über sie erzählt wird.' und 'Nirgendwo sind so wenige Leute, daß sich die Dinge nicht herumerzählen würden – insbesondere wenn es für jemand anderen peinlich ist.'

Was fällt euch noch ein, was man hier fragen könnte? … Ja, Loosan?“

„Oft wird auch nach der Schuld gefragt – nach der eigenen und nach der der anderen.“

„Ja, das ist wahr. Aber hier weiß ich nur ein einziges Sprichwort: 'Wer warnt, ist nicht der Schuldige.'

Noch eine Frage? … Aranja?“

„Braucht man nicht Hoffnung, um mit all diesen Schwierigkeiten zurechtkommen zu kommen?“

„Ja, das ist wahr. Wenn Du keine Hoffnung mehr hast, kannst Du auch nichts mehr tun. Niemand bewegt sich ohne Aussicht auf Erfolg … Hier weiß ich wieder nur ein Sprichwort: 'So mancher wurde wieder gesund, nachdem nur noch wenig Hoffnung bestand.'

Ihr habt jetzt gesehen, daß ihr leben wollt, daß es Schwierigkeiten gibt und ihr habt geschaut, worin die Schwierigkeiten begründet sind. Was könntet ihr jetzt fragen?“

Krad hob seinen Arm.

„Wozu sind diese ganzen Fragen denn gut? Es geht hier doch ums Kämpfen!“

„Wenn Du denkst, daß es hier ums Kämpfen geht, hast Du noch nicht viel verstanden, Krad.“

Krad errötete tatsächlich ein wenig …