Maran der Schamane - Harry Eilenstein - E-Book

Maran der Schamane E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Maran wächst in einem kleinen, abgelegenen Bergdorf auf, in dem die Bauern auf sehr einfache Weise leben. Dort lernt er von seiner Großmutter, wie man die Lebenskraft sehen und lenken kann, er erfährt, was ein Totemtier ist, und wie man mit der Hilfe der Lebenskraft und der Götter heilen kann. Er erlebt Schwitzhütten und Astralreisen und er entdeckt einfache Formen der Magie und alte Rituale und noch vieles anderes - doch das ist erst der Anfang der langen Geschichte eines Zauberers ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Im Bauch der Erde

Kapitel 2: Dinkel und Distel

Kapitel 3: Das Leben weben

Kapitel 4: Wildbach und Weidental

Kapitel 5: Fragen

Kapitel 6: Elfen, Omen und Wildschweine

Kapitel 7: Auf dem Bauchberg

Kapitel 8: Das Knochen-Orakel

Kapitel 9: Der Seelenvogel

Kapitel 10: Pfeilspitzen und Mea-Räder

Kapitel 11: Mittsommer

Kapitel 12: Die Höhle der Ahnen

Kapitel 13: Der Vogelstab

Kapitel 14: Geschichten und Listen

Kapitel 15: Der Hirsch

Kapitel 16: Gespräch mit den Wolken

Kapitel 17: Am Jenseitsfluß

Kapitel 18: Mit den Vögeln sprechen

Kapitel 19: Der Ruf der Zweimalgeborenen

Kapitel 20: Winde aus der Ferne

Kapitel 21: Der Tänzer

Kapitel 22: Die Hütte der Erinnerungen

Kapitel 23: Wasser

Kapitel 24: Schatten

Kapitel 25: Im Bauch der Erde

Kapitel 26: Das Ende des Seetal-Dorfes

Kapitel 27: Aufbruch

- Kapitel 1 -

Im Bauch der Erde

Die Flammen loderten hoch empor und erleuchteten die nächtliche Wiese am Bach, an dem das Dorf lag. Maran trat ein paar Schritte zurück, als die Hitze der Flammen zu stark wurde.

Seine Großmutter trat zu ihm und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. „Schau, Maran: Nun brennt der Kopf von Mutter Erde – sie richtet ihren Willen, ihre Gefühle und Gedanken auf uns und berührt uns.“

Rings um das Feuer standen drei Dutzend Männer, Frauen und Jugendliche, die alle in das Feuer in ihrer Mitte blickten.

Auf der Ostseite des Feuers hatten sie am Nachmittag unter der Leitung von Marans Großmutter die Schwitzhütte errichtet – ein halbkugelförmiger Bau aus zusammengebundenen Weidenästen, die mit Fellen, Decken und Tüchern bedeckt waren und nur im Westen eine Öffnung hatte.

„Die Feuergrube ist der Kopf von Mutter Erde, Maran, die Schwitzhütte ist ihr Bauch und der kleine Erdhügel in der Mitte zwischen beiden ist ihr Herz. Diesen Herzhügel haben wir mit der Erde aus dem Loch in der Mitte der Schwitzhütte aufgeschüttet. Dieses Loch in der Schwitzhütte ist der Schoß von Mutter Erde, der alles gebiert. Die Linie, die ich von der Feuergrube bis zu dem Loch in der Schwitzhütte aus Mehl gestreut habe, ist ihr Rückgrat. Deshalb treten wir, wenn das Feuer entzündet ist, nicht mehr über diese Linie – das wäre unfreundlich gegenüber Mutter Erde.“

„Dann ist der hufeisenförmige Erdwall rings um die Feuergrube das Haar von Mutter Erde?“

„Ja.“

„Was sind denn dann die Steine, die wir auf das Holz in der Feuergrube gestapelt und dann mit Holz bedeckt haben?“

„Das ist die Beständigkeit von Mutter Erde, ihr Willen, ihre Gefühle und Gedanken, die sie nachher zu uns in die Schwitzhütte sendet. Das ist die Lebenskraft, die sie uns bringt – die Nabelschnüre von ihr zu uns.“

Maran blickte in das Feuer, das in der Grube loderte. Sie war zwei Fuß tief und drei Fuß lang und breit.

„Du bist jetzt zwölf Winter alt, Maran, und kannst jetzt mit in die Schwitzhütte kommen – das ist Dein erstes Mal heute.“

„Krad hat erzählt, daß es furchtbar heiß ist in der Schwitzhütte – das werde ich sicherlich nicht aushalten.“

„Du weißt doch, daß Krad Dich ärgert, wo er nur kann. Glaubst Du, daß ich Dich in der Schwitzhütte wie glühendes Kupfer schmieden will oder wie eine Schafskeule garkochen will?“

„Nein … eigentlich nicht.“

Großmutter lächelte Maran zu: „Mutter Erde will Dich nur ausbrüten, damit Du endlich schlüpfen kannst und ganz Du selber wirst.“

Krad stand ein paar Schritte rechts von Maran und grinste ihn frech an. Er war einen Winter älter als Maran und war letztes Jahr das erste Mal in der Schwitzhütte gewesen.

Großmutter hob die Hand und alle schauten zu ihr. „Nehmt euch alle ein paar Blätter von dem Salbei und zerreibt ihn zwischen den Händen. Dann legt ein bißchen davon auf eines der hundertundacht kleinen, roten Stoffstückchen und legt einen Wunsch mit hinein und gebt sie mir dann.“

Alle begannen Salbei zwischen ihren Handflächen zu zerreiben. Der Duft des getrockneten Salbeis war so stark, daß er sie alle trotz des Feuers wie eine Wolke umgab.

Marans Mutter kam als erste. „Hier, Mutter, ist mein erster Salbei-Wunsch.“ Großmutter nahm den kleinen Stoffbeutel entgegen und band ihn mit einer geschickten Bewegung mit einer dünnen Schnur zu. Nach Marans Mutter Linnan kam sein Vater Brag und viele andere, die mit in die Schwitzhütte wollten oder einfach nur während der Schwitzhütte am Feuer sitzen wollten.

Maran legte den Wunsch, daß alles in der Schwitzhütte für ihn gut gehen wird, in sein Salbei-Beutelchen und reichte ihn seiner Großmutter.

Er sah zwischendurch immer wieder seiner Großmutter zu, wie sie die kleinen Beutelchen mit der Schnur zuknotete. Die Beutelchen hingen wie Perlen an einer Kette. Mana war zwar ein wenig rundlich und bewegte sich immer langsam und bedächtig, aber sie war trotzdem schnell in allem, was sie tat – und sie war eigentlich durch nichts zu erschüttern. In Marans Familie war 'gut gelaunt wie Mana' mittlerweile zu einer Redewendung geworden.

Manche hatten viele Wünsche und brachten viele Salbei-Beutelchen, andere brachten nur ein oder zwei Beutelchen. Schließlich kam Marans Mutter mit dem letzten Beutelchen und reichte ihn schweigend ihrer Mutter. Inzwischen waren die ganzen Salbei-Wunschbeutelchen an die lange Schnur geknüpft worden, die Großmutter nach und nach sorgfältig auf den Boden gelegt hatte, damit sie sich nicht verhedderte.

Nun nahm Großmutter acht Stoffstückchen, die ein bißchen größer waren und verschiedene Farben hatten: ein schwarzer, ein gelber, ein weißer, ein blauer, ein grüner und drei rote. Sie legte auf jedes Stoffstückchen wieder etwas zerriebenen Salbei und band sie einzelnen mit einer kurzen Schnur zu.

Maran schaute seiner Großmutter zu.

„Schau, Maran – dieser schwarze Beutel ist für die Schlange im Norden, dieser rote für den Bären im Norden, der gelbe für den Adler im Osten, der weiße für die Kuh im Süden, der grüne für Mutter Erde, der blaue für Großvater Himmel, dieser rote für das Große Geheimnis in der Mitte und dieser dritte rote für den Stab in der Mittel des Herzhügels, also für den Weltenbaum. Die werden alle innen in der Schwitzhütte aufgehangen – außer dem Weltenbaum-Beutelchen natürlich.“

„Aber wie kannst Du denn die Beutelchen in der dunklen Schwitzhütte unterscheiden?“

Großmutter lächelte verschmitzt. „Indem ich sie so zwischen die Finger meiner linken Hand stecke, daß ich sie in der Reihenfolge nehmen kann, wie ich sie brauche. Jeweils zwei zwischen zwei Fingern einer Hand ergibt acht – so weiß ich auch im Dunklen, wo ich welches Beutelchen habe. Aber erst einmal wird die Schwitzhütte noch mit Salbei gereinigt.“

Großmutter nahm eine handtellergroße Muschel und legte sie vor sich auf die Erde. Dann zerrieb sie zweimal Salbei zwischen ihren Händen bis er zu einem wolligen Klumpen geworden war und legte beide Klumpen aufeinander in die Wölbung der Muschel.

„Linnan, Tochter, holst Du mir ein Stückchen Glut?“

„Ja.“

„Wo habe ich denn meine Feder? Ah, da ist sie ja in meinem Beutel.“

Linnan kam mit einem kleinen Stück Glut, das sie auf einer Hirsch-Schulterblatt trug und legte es auf den Salbei in der Muschel.

„Reicht das, Mana?“

„Das ist gut so, Linnan.“

Großmutter blies auf die Glut und nach kurzer Zeit begann auch der Salbei rings um das Holzstückchen zu glühen und zu rauchen. Mana stand auf und ging mit der Muschel und der Feder in ihrer Hand zu der Schwitzhütte, beugte sich nieder, kroch durch den Eingang hinein und sprach dabei leise: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Maran konnte nicht sehen, was seine Großmutter tat, aber sie weihte wohl die Schwitzhütte mit dem Salbei, so wie sie es ganz am Anfang, noch bevor sie das Holz und die Steine in die Feuergrube gestapelt hatten, auch mit der großen Grube getan hatte. Nach einer Weile kam sie wieder hervor, sprach wieder den Gruß und ging zu dem Herzhügel mit dem Weltenbaum-Stab. Sie fächelte mit der Feder eine Weile Luft auf die Muschel bis der Salbei wieder stärker glimmte und rauchte. Dann fächelte sie den Rauch mit der Feder auf den Herzhügel und auf den Weltenbaum-Stab.

„Wenn ihr wollt, könnte ihr eure Amulette und was ihr sonst noch möchtet, auf den Herzhügel legen. Dann erhalten auch sie den Segen von Mutter Erde.“

Die meisten legten kleine Beutel oder kleine geschnitzte Tierfiguren oder eine Halskette auf den Herzhügel. Danach fächelte Mana noch einmal Salbeirauch auf den kleinen Hügel.

Sie blickte eine Weile auf den Herzhügel, die Schwitzhütte und die Feuergrube und war anscheinend zufrieden. Sie nahm die acht Salbei-Beutelchen, steckte sie sich zwischen die Finger ihrer linken Hand und ging wieder in die Schwitzhütte und sprach dabei wieder: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Nach einer Weile kam sie wieder heraus, sprach den Gruß und ging zu dem Herzhügel. Sie nahm das letzte Beutelchen, das noch zwischen dem Ringfinger und dem kleinen Finger ihrer linken Hand steckte und band ihn an den Weltenbaum-Stab.

Sie blickte zu den Männern, Frauen und Jugendlichen, die rings um das Feuer standen. „Wer möchte heute der Feuermann oder die Feuerfrau sein?“

„Das mach ich,“ sprach Brag, „schließlich ist mein Sohn heute das erste mal in der Schwitzhütte.“

Mana lächelte ihm zu. „Gut. Dann helft mir jetzt, die Schnur mit den Salbei-Beutelchen in die Schwitzhütte zu bringen. Und seid vorsichtig – beim letzten Mal habt ihr die Schnur beim Reinbringen ziemlich verknotet. Wißt ihr noch?“

Einige in dem Kreis lachten.

Auch Großmutter lächelte. „Zum Glück habt ihr dabei nicht gleich auch noch Knoten in eure Schicksalsfäden gemacht.“

Sie nahm das Ende der Schnur, an dem die hundertundacht Salbei-Beutelchen mit den Wünschen geknotet waren.

Linnan stellte sich zu der in einem mehrfachen Kreis auf dem Boden liegenden Schnur und blickte lächelnd zu ihrer Mutter: „Heute kein Wünsche-Knoten, Mana.“

Großmutter ging mit dem Ende der Schnur in die Schwitzhütte, während Linnan die Schnur vorsichtig Stück für Stück emporhob und sie von sechs oder sieben weiteren gehalten und weitergereicht wurde bis die Schnur in der Schwitzhütte verschwand. Es dauerte einige Zeit, bis die ganze Wünsche-Schnur in der Schwitzhütte war und Mana wieder hervorkam.

Dann setzte sie sich wieder auf den Felsblock, auf dem sie vorher gesessen hatte, und schaute in die Runde. „Es ist noch ein bißchen Zeit – die Steine glühen noch nicht. Wenn noch jemand etwas fragen will, dann könnt ihr das tun.“

Ein Mädchen, das wie Maran heute das erste Mal in die Schwitzhütte ging, kam herbei. „Was muß ich in der Schwitzhütte tun?“

„Nichts. Sei einfach da, Fani. Wenn es etwas zu tun gibt, sage ich das dann schon. Du brauchst Dir jetzt nichts zu merken. Sei einfach bei Dir und schau, was geschieht.“

Ein älterer Mann schaute stirnrunzelnd auf die Schwitzhütte. „Ist die Schwitzhütte auch dicht am Boden? Beim letzten mal zog kalte Luft unter den Fellen und Decken in das Zelt und ich habe einen kalten Hintern bekommen.“

Etliche der Umstehenden lachten und eine Frau rief: „Dir ist doch immer kalt.“

„Nun, Sama,“ sprach Großmutter, „heute hast Du ja mit den Fellen und Decken geholfen und wirst sie sicherlich unten mit Steinen beschwert und gut dafür gesorgt haben, daß da keine kalte Luft reinzieht, oder?“

„Hm … wird schon gehen … Aber mach's gut heiß heute, ja?“

„Immer so, wie's richtig ist. … Und Du, Maran, und Du, Fani – tretet nicht über die weiße Linie – sie ist das Rückgrat von Mutter Erde. Geht links von der Linie in die Schwitzhütte hinein und dann mit dem Sonnenlauf auf euren Platz. Und geht dann auf der anderen Seite wieder hinaus.“

Fani blickte ein wenig besorgt auf das Feuer und dann auf die Hütte. „Und was machen wir, wenn uns zu heiß wird?“

„Dann schau, was die Hitze mit Dir machen will. Und wenn es Dir zu viel wird, dann beuge Dich vor oder lege Dich hin. Und wenn das auch nicht hilft, dann sag mit Bescheid. Dann schauen wir, was wir tun. … Gut so?“

„Ja … gut.“

Nachdem alle eine Weile geschwiegen und dem Feuer zugeschaut hatten, frug Maran: „Warum sind es hundertundacht Beutelchen, Mana?“

„Das weiß ich nicht, es sind halt immer hundertundacht … das haben wir immer so gemacht.“

„Aber das muß doch einen Grund haben?“

„Wahrscheinlich ja, aber den weiß niemand mehr. Aber es ist richtig so.“

Maran blickte vor sich hin und sprach leise mit sich selber. „108 … 108 … was ist denn daran so besonders? … 108 … hm … das ist 9 mal 12 und 12 ist die heilige Zahl, aber die 9 … was soll denn da die 9? Das ist 3 mal 3. Und die 12? Das ist 3 mal 4 oder auch 3 mal 2 mal 2. … Hm, seltsam … das heißt, 108 ist 3 mal 3 mal 3 mal 2 mal 2. … Oh! Das läßt sich ja schön anordnen!“

„Du, Großmutter, 108 ist 1 mal 2 mal 2 mal 3 mal 3 mal 3! Also einmal die 1, zweimal die 2 und dreimal die 3! Soll die 108 die Verbindung von 1, 2 und 3 sein? Aber warum? Und was soll das bedeuten?“

„Was sagst Du da? 1 mal 2 mal 2 mal 3 mal 3 mal 3? Hm, stimmt … Vielleicht hast Du recht – das sieht ja schon so aus, als ob das so gewollt sei. Aber was das bedeutet, weiß ich nicht.“

Sie lächelte ihm zu. „Aber so neugierig wie Du bist, wirst Du das sicherlich noch herausfinden.“

Sie blickte zu dem Feuer hinüber. „Die Steine fangen an zu glühen – die oberen sind noch dunkelrot, aber die, die weiter unten und innen liegen, glühen schon schön hellrot. Laßt uns anfangen.“

Großmutter stand auf und zog sich ihre Kleider aus und legte sie auf den Felsen, auf dem sie gesessen hatte. Auch die anderen, die mit in die Schwitzhütte wollten, zogen sich aus – es waren mit Maran und Großmutter zwölfunddrei Männer, Frauen und Jugendliche.

Linnan trat zu ihrer Mutter und Mana nahm ihre Muschel mit dem Salbei und blies einmal hinein. „Ah, gut – es glüht noch.“

Dann fächelte sie ihrer Tochter Linnan mit der Feder Salbeirauch ins Gesicht, auf die Brust, den Bauch, die Arme und die Beine. Dann drehte Linnan sich um und Mana fächelte den Salbeirauch auf ihren Hinterkopf, den Rücken und Arme und Beine.

Mana sprach: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Linnan wiederholte den Gruß und stellte sich dann neben ihre Mutter und nahm die Muschel und die Feder und fächelte nun Mana den Salbeirauch rings um ihren Leib. Dann sprach sie den Gruß, gab die Muschel und die Feder an ihre Mutter zurück und ging in die Schwitzhütte.

Dann trat Sama vor Mana und sie fächelte seinem Leib Salbeirauch zu. Nach dem Gruß ging auch er in die Schwitzhütte. Nach und nach kamen alle herbei, ließen sich in Salbeirauch einhüllen und gingen dann in die Hütte.

Schließlich kam das Mädchen, das vorhin Großmutter danach gefragt hatte, was sie in der Hütte tun muß.

Maran war der letzte. Nachdem seine Großmutter ihn in Salbeirauch gehüllt hatte, ging er zu der Schwitzhütte, sprach den Gruß und trat ein.

Es war dunkel in der Hütte, aber durch den offenen Eingang leuchtete das flackernde Licht des Feuers noch ein wenig in das Innere der Hütte, in der alle im Kreis innen am Rand der Schwitzhütte saßen. Der Boden war mit Stroh und ein paar Decken belegt. In der Mitte war das Loch für die Steine – zwei Fuß tief und zwei Fuß breit.

Linnan flüsterte Maran zu: „Hierher, Maran, zwischen mich und Mana.“

Maran ging einmal im Kreis zwischen der Steine-Grube und den Füßen von denen, die in der Hütte saßen, bis zu seiner Mutter, die auf der Mittags-Seite der Hütte saß. „Hier, links neben mich.“

Kurz danach kam Mana in die Hütte. Auch sie ging im Sonnenlauf um die Steine-Grube herum und setzte sich dann direkt neben den Eingang. Sie schaute, was dort stand und sprach halblaut vor sich hin: „Der Wasserkrug, der Becher, die Trommel, der Beutel mit Salbei … ja, alles da.“

Dann rief sie zum Eingang hinaus: „Brag?“

„Ja?“

„Bring erst einmal zwölf Steine herein.“

„Ja, gut.“

Es dauerte eine Weile, während der man allerlei Geräusche hörte, die zeigten, daß Brag draußen am Feuer hantierte.

Schließlich kam er und hielt den Schulterblatt-Knochen eines Hirsches, auf dem er einen glühenden Stein trug. Mana nahm ihm das Schulterblatt ab und sprach „Willkommen, alle meine Verwandten!“ Dann ließ sie den glühenden Stein in die Grube in der Mitte der Hütte rollen und reichte Brag den Schulterblatt-Knochen.

Sie nahm etwas von dem zerriebenen Salbei und streute ihn über den glühenden Stein. Sofort stieg Rauch auf und erfüllte die Hütte mit seinem reinigenden, klärenden und belebenden Duft.

Je mehr glühende Steine in der Grube lagen, desto wärmer wurde es in der Hütte. Maran konnte in dem rötlichen Licht der glühenden Steine sehen, wer in der Hütte saß – links neben sich seine Großmutter Mana, auf der anderen Seite seine Mutter Linnan, weiter rechts der gutmütig-spöttische Sama, gegenüber Fani, die wie er selber auch das erste Mal in der Hütte war … Sie saßen hier alle dicht an dicht, die meisten im Schneidersitz, manche auch mit angezogenen Beinen. Marans linkes Knie lag an dem Oberschenkel seiner Großmutter und sein rechter Arm lehnte gegen den Arm seiner Mutter.

Schließlich brachte Brag den zwölften Stein auf dem Schulterblatt-Knochen herein, legte den Knochen vor die Hütte, kam herein und verschloß den Eingang mit den Decken, die dort hochgeschlagen gewesen waren.

„Dort drüben ist es noch nicht ganz dicht, Brag – dort unten.“

„Ah, ja. … Gut so?“

„Ich glaube schon.“

Brag setzte sich auf der anderen Seite neben den Eingang.

Einen Augenblick lang war es vollkommen still. Dann spürte Maran, wie Großmutter mit ihrer rechten Hand seine linke Hand suchte und auch seine Mutter seine rechte Hand ertastete und dann ergriff. In dem rötlichen Schein der glühenden Steine sah er, daß alle in dem Kreis die Hände hielten.

Dann sprach Mana: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Alle wiederholten den Gruß und drückten freundschaftlich die Hand von denen, die neben ihnen saßen und ließen sie dann wieder los.

Maran konnte spüren, wie sich etwas in der Hütte veränderte hatte, aber er konnte nicht recht sagen, was es war … die Stille war irgendwie dichter, es war, als ob etwas lauschen würde oder als ob er Wurzeln mitten in das Leben hinein erhalten hätte … es war sehr deutlich und zugleich ungewohnt und wie etwas, wonach er sich schon lange gesehnt hatte.

Nach einem Augenblick Stille goß Mana zwölfmal Wasser auf die glühenden Steine und zischend stieg Wasserdampf in der Hütte auf und erfüllte sie.

Da begann Mana zu singen – er ganz leise, dann allmählich lauter. Nach und nach fielen die anderen in den Gesang mit ein. Es war nur eine Strophe in einer etwas altertümlichen Sprache, die Maran nicht gleich ganz verstand.

Das Lied rief Mutter Erde herbei, es war ein Lied über einen Fluß, den Fluß des Lebens, der von der Quelle zum Meer floß und in dem alle Menschen und alle Tiere und Pflanzen mitschwammen.

Das Lied wurde jedesmal, wenn die Strophe zuende war, aufs Neue gesungen. Schließlich sang Mana wieder leiser und wurde nach und nach still. Das Innere der Hütte schien nun noch dichter und wärmer und lebendiger geworden zu sein. Die Wärme war fast wie eine Berührung, eine Umarmung, ein Eingehülltsein … Auf einmal hatte Maran das Gefühl, im Bauch seiner Mutter zu sein – wie ein ungeborenes Kind …

Er seufzte leise und aus seinem Leib wich eine Anspannung, die er vorher gar nicht bemerkt hatte. Er lehnte sich mit dem Rücken und dem Hinterkopf gegen die Wand der Schwitzhütte und spürte ein paar Tränen seine Wangen hinunterlaufen, die er gar nicht verstand.

Da goß Mana Wasser auf die glühenden Steine und begann zu sprechen.

„Sintela, Große Schlange – Danke, daß Du von Sonnenuntergang her zu uns kommst. Du zeigst uns das Kleine, das Verborgene, das Geheimnisvolle und das Unbekannte. Du führst uns zu den Quellen von Mea, zum Lebensfeuer. … Danke, Sintela! … Ho!“

Alle wiederholten das „Ho!“

Nach einem Augenblick Stille sprach Mana weiter:

„Matto, Großer Bär – Danke, daß Du von Mitternacht her zu uns gekommen bist. Du zeigst uns Stärke, Aufrichtigkeit, Durchsetzungskraft und Standfestigkeit. Du zeigst uns, wie wir unser Mea, unsere Lebenskraft bewahren können. … Danke, Matto! … Ho!“

Alle wiederholten das „Ho!“ und Mana goß wieder Wasser über die Steine, sodaß der Dampf zischend aufstieg. Inzwischen war es ganz dunkel in der Schwitzhütte geworden, da die Steine durch die Wassergüsse nicht mehr glühten.

„Wambli, Großer Adler – Danke, daß Du von Morgen her zu uns gekommen bist. Du bringst uns Weitblick, Übersicht und Klarheit. Du zeigst uns, wie wir das Mea, die Lebenskraft in der Welt und in uns lenken können. … Danke, Wambli! … Ho!“

„Ho!“

„Mamta, Große Weiße Kuh – Danke, daß Du von Mittag her zu uns gekommen bist. Du bringst Gemeinschaft und Vermehrung und Geborgenheit. Du lehrst uns, wie wir Mea, die Lebenskraft wachsen lassen können, sie annehmen und sie weitergeben können. … Danke, Mamta! … Ho!“

„Ho!“

Nun begann Mana auf ihrer Trommel einen gleichmäßigen Rhythmus zu schlagen und begann fast ohne Melodie die Namen der vier gerufenen Tiere zu singen. Nach und nach wurde der Gesang lauter und schneller und kraftvoller und auch das Trommeln wurde lauter und schneller und bekam nach und nach einen neuen, drängenden, rufenden Rhythmus.

Maran hatte das Gefühl, daß die Schlange, der Bär, der Adler und die Kuh in der Hütte waren – vor allem die Schlange schien in der Hütte umher zu kriechen, was Maran ein bißchen Angst machte. Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein und es war gar keine echte Schlange in die Hütte hineingekrochen.

Plötzlich endete der Gesang mit drei lauten Trommelschlägen und einem lauten „Ho!“ von Mana, das alle wiederholten.

Nach einem Augenblick der Stille goß Mana wieder Wasser über die Steine und begann wieder zu sprechen.

„Ma-Vana, Mutter Erde – Danke, daß Du immer da bist und uns trägst! Du gibst uns Vertrauen, Sicherheit und Halt. Du erinnerst uns wieder daran, daß wir loslassen können, um das zu sehen, was da ist – wir müssen uns dafür nicht anstrengen, sondern nur unsere Sinne öffnen und schauen. Dann werden wir den Fluß der Mea in allem sehen. … Danke, Ma-Vana! … Ho!“

„Ho!“

Wieder goß Mana Wasser über die Steine und es wurde immer heißer in der Hütte.

„Sa, Vater Sonne – Danke, daß Du jeden Morgen zu uns zurückkehrst! Du lehrst uns Verantwortung und zu entscheiden und die Dinge zu ergreifen. Dadurch können wir Mea, die Lebenskraft, in unserem Leben mitgestalten. … Danke, Sa! … Ho!“

„Ho!“

Nun goß Mana dreimal Wasser auf die Steine, sodaß es sehr heiß in der Hütte wurde. Einzelne in dem Kreis stöhnten leise genußvoll oder klagend auf und Maran hörte deutlich, wie Sama leise „Endlich!“ sagte.

„Wadan-Wer, Großes Geheimnis – Du bist in allen Dingen, die ruhen und die sich bewegen. Du bist Mea, die Lebenskraft, Du bist das Leben in allen Dingen: In uns, in unseren vierbeinigen und unseren geflügelten und unseren kriechenden Brüdern und Schwestern und in dem stehenden Volk – den Bäumen und Kräutern. Durch Dich leben wir; wir sind ein Teil von Dir. … Danke, Wadan-Wer! … Ho!“

„Ho!“

Mana goß noch einmal Wasser auf und begann dann ein Lied an die Sonne in der Mitte der Brust eines jeden Menschen zu singen und alle fielen mit ein. Das Lied war rhythmisch und fließend und Maran hatte das Gefühl, daß tatsächlich in der Mitte seiner Brust etwas warm wurde und zu strahlen begann.

Schließlich endete das Lied, aber Maran hätte dieses Lied gerne noch länger gesungen, denn dieses wärmende und strahlende Gefühl in der Brust war sehr angenehm – irgendwie wie Heimkommen.

Da reichten sich wieder alle die Hände und sprachen „Willkommen, alle meine Verwandten!“

„Brag – gehst Du neue Steine holen? Nochmal zwölf müßten reichen.“

„Ja, gut.“

Mana und Brag klappten die Decken über dem Eingang nach oben auf die Hütte, sodaß kühle Luft in die Hütte strömte und das Licht des Feuer in der Grube in die Schwitzhütte hineinschien. Das Feuer war inzwischen deutlich kleiner geworden.

Brag ging hinaus und trug nach und nach zwölf neue glühende Steine in die Hütte, die Mana jedesmal mit Salbei begrüßte: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Dann verschlossen Mana und Brag wieder den Eingang.

Nachdem die beiden sich gesetzt hatten, reichten sich alle wieder die Hände und sprachen den Willkommensgruß.

Mana goß zwölfmal Wasser auf die Steine und begann wieder das Lied an Mutter Erde zu singen und alle stimmten mit ein. Schließlich verklang das Lied wieder wie zuvor.

Mana goß dreimal Wasser auf die Steine.

„Spürt euren Leib … … … spürt die Sonne in der Mitte eurer Brust … … … steigt innerlich durch die Grube in der Mitte der Hütte hinab in die Erde bis zu dem Erdfeuer und bittet eine der Flammen des Erdfeuers, in euch emporzusteigen.“

Maran wußte nicht so recht, wie er das machen sollte, und daß er einige in der Hütte sehr tief atmen hörte, machte es auch nicht besser. Wie sollte das gehen? In die Erde hineingehen?

Schließlich stellte er sich vor, ganz klein zu werden und wie ein Regenwurm in die Grube hinein und zwischen den Steinen in ihr hindurch zu schlüpfen und dann in die Erde hinab zu kriechen. Erst war es völlig finster, doch dann wurde es immer wärmer und heller, als er weiter in die Erde hinabkroch – erst dunkelrot, dann rot, dann rot-gelb, gelb und schließlich fast weiß … Da bat er das Feuer in der Erde, ihm eine ihrer Flammen zu senden. Sofort stiegen gelbliche Flammen auf und zogen ihn wieder mit nach oben bis er wieder in seinem Leib angekommen war. Er fühlte sich mit Lebenskraft erfüllt.

Nach einer Weile goß Mana wieder Wasser auf die Steine und sprach:

„Spürt euren Leib … … … spürt die Sonne in der Mitte eurer Brust … … … steigt innerlich durch euren Scheitel in den Himmel zur Sonne hinauf. Geht zum Herzen der Sonne und bittet sie um Licht für die Sonne in eurem Herzen.“

Nun hatte Maran schon mehr Vertrauen, daß er das machen konnte, was seine Großmutter ihnen sagte.

Er stellte sich vor, wie ein Vogel durch seinen Scheitel empor zu fliegen. Schließlich kam er zur Sonne und bat sie um Licht für sich und für die anderen in der Schwitzhütte. Da floß gleißendweißes Licht aus der Sonne hervor und nahm ihn wieder mit hinab in seinen Leib in der Schwitzhütte und erfüllte ihn. Doch dieses Sonnenlicht fühlte sich anders an als das Erdfeuer: Es schien Maran, als ob das Sonnenlicht ihn heilen würde, indem es alles in ihm wieder zusammenwachsen und eins werden ließ.

Maran spürte, wie er zu lächeln begann.

Schließlich goß Mana wieder Wasser auf die Steine und begann zu singen. Diesmal war es ein Lied über den Weltenbaum, dessen Wurzeln bis zu dem Feuer der Erde hinabreichen und dessen Wipfel bis zu der Sonne hinaufreicht und dessen Stamm in den Herzen der Menschen ist.

Da mußte Maran an den Stab in dem Herz-Hügel vor der Schwitzhütte denken, über den er sich vorhin gewundert hatte – denn warum steckt ein Stab in einem Herzen? Aber wenn der Stab die Verbindung zum Erdfeuer und zum Sonnenlicht ist, dann war es gut, daß dieser Stab in dem Herz-Hügel war.

Als das Lied verklungen war, war es eine Weile ganz still und Maran spürte, wie sich Erwartung in der Schwitzhütte breit machte. Was mochte jetzt kommen?

Mana goß Wasser über die Steine und wieder steig Dampf in der Hütte auf – es war schon ziemlich heiß hier drinnen …

„Bittet nun das Wesen zu euch zu kommen, das euch hier und jetzt am meisten helfen kann. Bittet still für euch – jeder für sich. Schaut, wer zu euch kommt – die Schlange, die das Verborgene kennt, oder der weitblickende Adler; der Bär, der für sich kämpft, oder die Kuh, die die Gemeinschaft erhält; Vater Sonne oder Mutter Erde oder das Große Geheimnis; vielleicht auch die Weiße Wölfin oder Sissal, die listige Spinne; vielleicht auch Kernar, der gehörnte Bocksgott, oder Efonas, die Weiße Stute … Schaut einfach, wer zu euch kommt. … Hört zu, schaut hin … ihr könnt auch etwas fragen … Tut, was sich richtig anfühlt. … Laßt euch Zeit und sagt 'Ho!', wenn ihr fertig seid.“

Es wurde vollkommen still in der Schwitzhütte. Nur manchmal knackte einer der Steine in der Grube in der Mitte.

„Mehr Wasser!“ Das war Sama, der da gesprochen hatte.

Mana goß noch dreimal Wasser auf die Steine.

Maran war ein wenig unruhig. Wer mochte zu ihm kommen? Und was, wenn niemand kam? Durfte er dann nie wieder in die Schwitzhütte? Und was, wenn der wilde Agrak aus den Bergen kam und ihn durchschütteln wollte?

Doch plötzlich wurde es ganz still in Maran und er sah eine Gestalt vor sich … einen Mann, der in ein weißes Tuch gehüllt war. Er stand aufrecht und blickte Maran mit intensiven, aber zugleich freundlichen Augen an. Er sprach kein Wort, aber es war, als ob etwas Wichtiges von ihm zu Maran gelangen wollte. Doch es geschah nichts. Die Gestalt wurde ein wenig undeutlicher – so als ob das Bild in leichtem Nebel verschwimmen würde. Auch die Farben der Gestalt verblaßten ganz allmählich. Maran hatte noch nie eine solche Gestalt gesehen.

Sie trug auf dem Kopf eine Art Krone aus einer Korngarbe. In ihr steckten links und rechts je eine große Feder, die aussah, als ob sie ganz weich wäre, und da waren auch zwei Stierhörner, die aus dem Kopf des Mannes zu kommen schienen. Vorne auf seiner Korn-Krone ringelte sich eine Schlange herab. Er hatte einen geflochtenen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Rings um seine Augen war etwas gemalt – auf beiden Seiten dasselbe: die geschwungene Linie der Brauen, eine Art Zacken neben der Nase und eine Art Kringel auf der oberen Wange. Er hatte seine Arme vor seiner Brust gekreuzt und hielt in seiner rechten Hand einen Dreschflegel, der neben seiner rechten Brust hinunterhing, und in seiner linken Hand einen Hirtenstab, dessen Krümme über seine linken Schulter hinaufragte.

Doch das Auffälligste an der Gestalt dieses Mannes war die goldene Sonne, die auf der Mitte seiner Brust leuchtete.

Maran saß nur reglos da und schaute, wie die Gestalt allmählich undeutlicher wurde und verblaßte.

Da merkte er auf einmal, daß die anderen ein neues Sonnen-Lied sangen, aber er hörte kaum zu und sang auch nicht mit, weil er noch ganz von dem Bild des Mannes mit der Korn-Krone erfüllt war. Aber er hatte den Mann doch nur ganz kurz gesehen … und warum hatte Mana ihnen keine Zeit gelassen wie sie es zuvor getan hatte? Oder hatte er nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war, während er den Mann mit der Kornkrone angeschaut hatte?

Nachdem das Liedes geendet hatte, schlug Mana die Decken am Eingang zurück und wandte sich an Brag: „Hol noch mal Steine. Sieben müßten genug sein – es sind ja schon etliche in der Grube.“

Brag ging nach draußen, um die Steine zu holen und Maran genoß die kühle Luft, die in die Hütte hereinzog.

Als Brag alle Steine hereingebracht hatte und der Eingang wieder verschlossen war, stimmte Mana wieder das Lied an Mutter Erde an und alle stimmten in den Gesang mit ein. Schließlich verklang das Lied wieder ganz sanft.

„Ihr Ahnen, seid bei uns, sitzt im Kreis rings um unseren Kreis und gebt uns Halt so wie die Weidenstäbe der Schwitzhütte uns Halt geben. Seid bei uns, Großmütter und Großväter, Urgroßmütter und Urgroßväter, und helft uns, schützt uns, heilt uns, helft uns die Mea so zu lenken, daß wir leben, gesund sind und gedeihen. … Danke, ihr Ahnen!“

Mana ergriff die Hände von Maran und Brag und alle bildeten wieder den Hände-Kreis und sprachen gemeinsam: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Mana stimmte nun ein neues Lied an, das nur zwei Verse hatte, die sie längere Zeit wiederholten: „Öffne Deinen Geist, schau, was Du siehst; bring es heim in Dein Dorf.“

Als das Lied geendet hatte, sprach Mana: „Brag – fang Du an. Du kannst jetzt mit den Göttern und Geistern sprechen, die gekommen sind. Dann geht es reihum im Sonnenlauf weiter. Sag 'Ho!', wenn Du fertig bist.“

Brag schwieg eine Weile, dann begann er: „Großer Bär, gib mir Gesundheit. Weiße Kuh, gib meiner Familie Gedeihen. Mutter Erde, gibt unserem Dorf Glück. Danke. Ho!“

Als er zuende gesprochen hatte, goß Mana wieder Wasser über die Steine.

Nach einer kurzen Pause hörte Maran Vana sprechen, die in der Hütte wohnte, die dem Dorfbach am nächsten stand.

„Ihr alle – gebt unserer Sippe Gesundheit und genügend Korn. … Ho!“

Wieder goß Mana Wasser auf die Steine.

Dann war Fani an der Reihe. Sie sagte nur leise: „Danke. … Ho!“

Jedesmal, wenn einer in dem Kreis gesprochen hatte, goß Mana wieder Wasser auf die heißen Steine.

„Dann bin ich wohl dran. Ich bin Kartan und ich bin schon alt. Ich habe viel geträumt seit dem letzten Vollmond und es waren keine schönen Träume. Ich bitte Dich, Vater Sonne, löse diese Träume wie Morgennebel auf und laß andere Dinge geschehen als das, was ich geträumt habe. … Und ich danke Dir, Mutter Erde, daß Du meinen Sohn geheilt hast. … Ho!

„Ich bin Krad. Matto, Großer Bär, gib mir die meiste Kraft von allen! Wambli, Großer Adler, laß mich alle Dinge sehen, die da sind – auch die, die die anderen nicht sehen! Und Sa, Vater Sonne, laß mein Licht am hellsten strahlen! Ich bin Krad. Ho! … Jetzt bist Du dran, Linwe.“

„Mamta, Weiße Kuh, Danke, daß Du mich Larg als Mann hast finden lassen! Laß mich viele Kinder mit ihm haben. Ich danke Dir dafür, daß Du mir meinen Wunsch erfüllt hast – das, worum ich Dich am letzten Vollmond gebeten habe. … Ho!“

Als nächster sprach Dagoran. Er war leicht an seiner tiefen Stimme zu erkennen.

„Mamta, Große Weiße Kuh, bitte heile meine Mutter und meine Frau. Es geht ihnen Dank Deiner Hilfe schon wieder besser, aber sie sind noch nicht wieder ganz gesund. Sintela, Schwarze Schlange, hilf mir das Weidenkraut zu finden, von dem ich geträumt habe, daß es meiner Mutter helfen wird. Ho!“

„Es ist gut, wieder hier in Deinem Bauch zu sitzen, Mutter Erde – und heute zieht auch keine kalte Luft an meinen Hintern. Ich danke Dir, Matto, Großer Bär, daß Du meinen Rücken geheilt hast und daß ich noch immer genügend Kraft habe, um Stein und Holz zu formen. Danke, daß meine Frau Effin und meine Kinder gesund sind! Wenn Du, Vater Sonne, mir jetzt noch einen warmen Sommer sendest, habe ich alles, was ich mir wünsche. Ho!“

Maran hatte gesehen, daß neben Sama, der gerade gesprochen hatte, Prasie saß. Sie hatte schon vor langem ihren Mann verloren.

„Danke, Mutter Erde, daß Du mir immer alles bringst, was ich brauche! Und Danke euch allen im Dorf, daß ihr mir alle helft! Ho!“

In der Runde murmelten die meisten ein leises „Ho!“ als Antwort auf den Dank von Prasie und zur Bestätigung, daß sie ihr gerne halfen.

„Ich bin Taglane. Ich bin schon alt … nicht die Älteste im Dorf, aber doch schon ziemlich alt. Sintela, Schlange, Du kennst die Geheimnisse der Pflanzen und ihrer Beeren und Blätter und Wurzeln – Du kennst alles, was in der Erde verborgen ist und was aus der Erde aufsteigt. Du hast mir schon viele der Kräfte der Heilkräuter gezeigt, aber ich glaube, daß es da noch viel mehr zu entdecken gibt. Bitte zeige mir alles, was uns in unserem Dorf helfen kann. Und Matto, Großer Bär, gibt mir die Kraft, weiterhin in den Wälder und am Bachufer und auf den Bergwiesen nach den Heilpflanzen zu suchen. Und Sintela, Schlangen-Freundin, ich danke Dir, daß Du mir gezeigt hast, wie ich mit dem stehenden Volk sprechen kann – vor allem mit den Kräutern. Vielen Dank! … Na, ich habe mal wieder am längsten geredet … aber so bin ich nun mal … Ho! Jetzt hast Du lange genug gewartet, Gran, jetzt darfst Du etwas sagen.“

„Danke Taglane, daß Du mit Deinen Kräutern mein Bein geheilt hast.“

Ein allgemeines „Ho!“ erklang in der Hütte.

„Großer Bär, hilf mir bei der Jagd. In letzter Zeit habe ich nur wenig Glück gehabt. Und Wambli, Goldener Adler, hilf mir die richtigen Wege zu sehen und zu gehen. Ho!“

Da hörte Maran Fani sprechen – ziemlich leise und schüchtern. „Mana – mir wird zu heiß! Ich ertrage das nicht. Ich werde schon schwindelig!“

„Leg Dich auf die Erde. Das wird Dir guttun.“

„Ich liege schon, aber das hilft nicht.“

„Hm … ich spüre mal nach, was da bei dir los ist … Hm, wehrst Du die Wärme ab?“

„Ja, das ist zu viel.“

„Laß sie mal in Dich hinein und sammle sie in Deinem Unterleib. Bitte Sintela, die Erdschlange, daß sie dabei hilft. Ja?“

„Ja, gut – ich versuch's.“

Mana goß diesmal nur wenig Wasser auf die Steine.

Als nächste sprach Linnan, Marans Mutter.

„Weiße Kuh, bitte beschütze meine Familie und das ganze Dorf. Ho!“

Nun war Maran an der Reihe. Er war ein bißchen unruhig und wußte nicht so recht, wie er das sagen sollte, was er fühlte – und er war auch sonst nicht derjenige, der viel redet. Er hatte schon eine ganze Weile geschwiegen, aber die anderen warteten geduldig darauf, daß er zu sprechen begann. Da sah er wieder verschwommen das Bild des Mannes mit der Kornkrone vor sich und irgendwie machte ihm das das Sprechen leichter.

„Danke, Mutter Erde, daß ich hier in Deinem Bauch sein kann. Dich, Wambli, möchte ich bitten, mir alle Dinge zu zeigen, die für mich wichtig sind, und mir zu helfen, sie auch zu verstehen. Und Wadan-Wer, Großes Geheimnis – bitte hilf mir, das Herz aller Dinge sehen zu können. … Und Danke … für alles! Ho!“

Nach einer Weile des Schweigens begann Mana zu sprechen – die letzte in der Runde, die mit dem Feuermann begonnen hatte und nun mit der Wasseraufgießerin endete.

„Ich danke euch allen, daß ihr gekommen seid – meine Verwandten aus dem Dorf und euch vier Tieren, Mutter Erde und Vater Sonne und Dir, Großes Geheimnis. Helft allen, ihren Weg zu finden und in unserer Sippe einen Platz zu haben, an dem sie gedeihen können. Ho! …

Fani?“

„Ja?“

„Geht es Dir besser?“

„Ja – Sintela hilft mir. … Danke.“

„Gut.“

Mana begann wieder das Lied der Herz-Sonne zu singen und die anderen stimmten mit ein. Das Lied klang nun sehr viel kraftvoller als die beiden vorigen Male – so als ob alle eine etwas freiere Stimme hätten. Einmal konnte Maran sogar Fanis Stimme heraushören, obwohl Fani doch immer ziemlich leise sprach und sang. Die Schlange schien ihr gut zu tun.

Schließlich endete das Lied der Herz-Sonne.

„Brag?“

„Ja?“

„Hilf mir, den Eingang zu öffnen. Und hol noch einmal acht Steine … nein, lieber neun Steine – das paßt besser.“

Maran sah, wie Fani ein bißchen ängstlich auf die glühenden Steine blickte, die Brag hereinbrachte, während Sama seine Hände ausstreckte, um die Hitze der glühenden Steine besser zu spüren.

Als alle Steine in der Grube lagen und der Eingang wieder verschlossen war, begann Mana wieder das Lied an Mutter Erde zu singen, das von dem Fluß des Lebens erzählte.

Als das Lied geendet hatte, sprach Mana: „Spürt euren Leib … spürt die Erde, auf der ihr sitzt … spürt die Wärme in der Hütte … spürt die Arme und Beine von denen, die neben euch sitzen … spürt euren Atem … seid einfach da und seht, was ist … was in euch ist und was rings um euch ist … Wenn ihr ganz angekommen seid, dann sagt 'Ho!'.“

Maran spürte seinen Leib … er prickelte an manchen Stellen sonderbar – so als ob sich da etwas lösen würde und wieder fließen wollte … er spürte, wie er Anstrengungen losließ und einfach dasaß und es still in ihm wurde … keine leere Stille, sondern eine erfüllte Stille … da war eine Stille, die ein Lächeln in sich trug …

Als die meisten ihr „Ho!“ gesagt hatte, sagte auch Maran „Ho!“, obwohl er die ganze Nacht hier so hätte sitzen bleiben können.

Schließlich stimmte Mana ein neues Lied an: eine kurze Strophe, die sich an das Große Geheimnis in allen Dingen wandte.

Dann sprach Mana: „Wer noch etwas sagen möchte, kann das jetzt tun.“

Sama sprach sofort: „Danke für das Feuer und die Hitze, Sintela und Vater Sonne!“

Nach einer kurzen Pause sagte die alte Taglane: „Danke für das, was ich eben gesehen habe – wo ich nach Kräutern suchen muß. Ho!“

Als sonst niemand mehr etwas sagte, sprach Mana:

„Danke Sintela, Große Schlange, daß Du mit Deinem Wissen über verborgene Dinge zu uns gekommen bist.

Danke Wambli, Großer Adler, daß Du uns etwas von Deinem Weitblick gebracht hast.

Danke Matto, Großer Bär, daß Du uns Standfestigkeit lehrst.

Danke, Mamta, Große Kuh, daß Du unsere Gemeinschaft gedeihen läßt.

Danke, Ma-Vana, Mutter Erde, daß Du uns in Vertrauen trägst.

Danke, Sa, Vater Sonne, daß Du uns lehrst, Verantwortung für unser Leben zu tragen.

Danke, Wadan-Wer, Großes Geheimnis, daß Du in allen Dingen bist und alle Dinge lebendig sein läßt. …

Danke. … Ho!“

Alle antworteten mit einem „Ho!“

Nach einer kurzen Pause begann Mana wieder das Lied über die Herz-Sonne zu singen.

Als sie geendet hatten, reichte Mana Maran die Hand und er ergriff die Hand seiner Mutter, die rechts neben ihm saß. Als die Bewegungen in dem Kreis aufhörten und der Hände-Kreis zur Ruhe gekommen war, sprachen alle gemeinsam: „Willkommen, alle meine Verwandten!“

Mana öffnete die Decken über dem Eingang. „Wer hinausgehen möchte, kann das jetzt tun – wer noch hier drinnen bleiben möchte, kann das auch tun, solange er will.“

Brag und Fani gingen sofort hinaus – Brag ging zu dem Feuer, um zu schauen, wie es dort stand und legte etwas Holz nach; Fani war vermutlich froh, daß sie aus der Hitze hinausgehen konnte. Nach und nach gingen noch einige hinaus. Sama hatte sich gemütlich ganz nah an die Steine-Grube in der Mitte der Hütte gelegt und genoß die Wärme der Steine. Maran saß noch eine ganze Weile da und war einfach da ohne viel zu denken oder zu fühlen … es war einfach gut so.

Als er schließlich auch hinaus ging, lag nur noch Sama in der Schwitzhütte. Er sah auch nicht so aus, als ob so bald hinausgehen würde.

Mana, Brag und Linnan saßen mit den anderen, die in der Schwitzhütte gewesen waren, und mit einigen anderen aus dem Dorf rings um das Feuer oder lagen einfach auf der Erde. Einige hatten sich wieder angezogen, andere waren noch nackt.

Maran blickte auf seine Eltern. Sein Vater war kräftig und muskulös, aber er hatte ein kleines Bäuchlein bekommen – das war neu. Sein Haar war dunkel, aber ein bißchen schütterner als früher. Linnan war schlank und schön wie immer mit ihrem langen, zu Zöpfen geflochtenem Haar, ihren großen Brüsten und ihrer freundlichen, aber bestimmten Art. Sie war stets sorgfältig gekleidet und Maran hatte sich schon oft gewundert, wie sie bei all der Arbeit, die sie daheim und im Dorf verrichtete, immer solch saubere Röcke und Hemden haben konnte. So mancher Mann im Dorf blickte sich nach ihr um, wenn sie vorüberging, aber Brag lachte nur darüber – er hatte selber einen guten Blick für schöne Frauen.

Die Frühlingsluft war warm und das Feuer brannte noch immer – zwar mit kleineren Flammen, aber noch mit reichlich Glut.

Maran setzte sich an das Ufer des Baches und blickte auf die Wellen, in denen sich das Licht des Vollmondes spiegelte. Nachdem er dort eine ganze Weile gesessen hatte und die Stimmen am Feuer allmählich lauter geworden waren, ging auch er zum Feuer zurück, zog sich wieder an und setzte sich zu den anderen, die inzwischen Brot und Käse und Äpfel aßen und Wasser tranken.

Mana blickte zu ihrem Enkel hinüber und reichte ihm einen Tonbecher voll Wasser: „Hier, trink etwas – das tut gut nach dem Schwitzen.“

Maran nahm den Becher und trank. Er dachte über die Schwitzhütte nach und in ihm stiegen ein paar Fragen auf. Er ging hinüber zu seiner Großmutter und setzte sich neben sie.

„Na? Du siehst aus, als ob Du ein paar Fragen hättest. Ich kenne doch Dich und Deinen neugierigen Geist!“

„Hm, ja … Warum machst Du die Schwitzhütten immer an Vollmond? Das ist doch so, oder?“

„Ja, das ist so. An Vollmond tanzt Mea am wildesten – da ist die ganze Lebenskraft in Anspannung und das macht es einfacher, Dinge zu verändern. Und darum geht es ja meistens: Dinge zu verwandeln oder Dinge gedeihen zu lassen – was ja meistens auch eine Verwandlung ist.“

„Dann habe ich noch ein Frage: Als wir das Holz in die Feuergrube geschichtet haben und dann den kleinen Hügel aus den Steinen, die dann später geglüht haben, auf dem Holz in der Grube errichtet haben, da hast Du die acht Salbei-Beutelchen aus der vorigen Schwitzhütte genommen und sie genauso auf die Steine gelegt, wie sie in der Schwitzhütte gehangen haben. Und Du hast auch die Schnur mit den hundertundacht roten Salbei-Beutelchen aus der Schwitzhütte geholt und sie um die Steine gewickelt. Warum machst Du das so?“

„Das hat zwei Gründe. Zum einen sind die Beutelchen so etwas wie eine Nabelschnur zwischen der letzten und der heutigen Schwitzhütte.“

„Aber dann könnte man doch die Beutelchen einfach immer in der Schwitzhütte hängen lassen – irgendwann wäre sie dann voll von Salbei-Beutelchen.“

„Ja, das könnte man so machen, aber es gibt ja noch den zweiten Grund. Alle Dinge wandeln sich – Leben ist Wandel, Weiterentwicklung, Loslassen von Altem, Ergreifen von Neuem … Leben ist immer im Hier und Jetzt, und Leben ist niemals gleich. Daher würde die Lebenskraft in der Schwitzhütte erstarren, wenn wir alle Beutelchen immer in ihr hängenlassen würden. Wenn wir sie jedoch verbrennen, geht ihre Lebenskraft in die Steine über und die Glut der Steine geht dann in uns über, wenn wir in der Hütte in der Hitze der Steine sitzen. So geht die Lebenskraft in den Salbei-Beutelchen nicht verloren, aber kann sich weiterverwandeln und weiterentwickeln.“

Maran schwieg einen Augenblick.

„Singst Du deshalb mit uns jedesmal, wenn die Steine in die Schwitzhütte kommen, als erstes das Lied von dem Fluß des Lebens und von Mutter Erde?“

„Das habe ich so gelernt … aber Du hast recht, das paßt so zusammen. … Da habe ich jetzt von Dir etwas Neues über die Schwitzhütte gelernt.“

Mana lächelte Maran zu und Maran errötete.

„Ehm … ich habe noch mehr Fragen …“

„Dann frag – schließlich stellst Du gute Fragen.“

„Warum werden die Stäbe der Schwitzhütte in genau dem Muster zusammengebunden, wie Du das machst? Einfach damit es haltbar ist?“

„Ja, das ist der einzige Grund – zumindestens der einzige Grund, den ich kenne.“

„Und warum sitzt der Wasseraufgießer, wenn man von außen schaut, innen rechts neben dem Eingang und der Feuermann innen links neben dem Eingang?“

„Nun ja, der Feuermann sollte am Eingang sitzen, damit er leicht raus und rein kann. Und da wir in der Schwitzhütte immer im Sonnenlauf gehen und alles in der Schwitzhütte mit den glühenden Steinen beginnt, ist es passend, daß der Feuermann oder die Feuerfrau dort am Anfang dieses Kreises sitzt – also innen links am Eingang. So genau habe ich mir das bisher aber auch noch nicht überlegt gehabt. Und der Wasseraufgießer? Nun ja, bei manchen Schwitzhütten ist niemand draußen und da muß er sich selber neues Wasser holen, wenn sein Wasserkrug leer ist.“

„Wenn die vier Tiere aus den vier Richtungen kommen, sollten sich dann nicht diejenigen, die in die Schwitzhütte gehen, dorthin setzen, wohin das Tier kommt, dessen Hilfe sie brauchen?“

„Das stimmt schon, aber darüber brauchen wir nicht nachzudenken – Mea führt uns schon dorthin, wo unser Platz ist. Die Lebenskraft lenkt uns dorthin, wo wir am besten gedeihen können – oder wo wir etwas sehen könne, das wir vielleicht lieber gar nicht sehen wollen. Nur bei Heilungs-Schwitzhütten setzt oder legt sich der Kranke auf die Seite der Schwitzhütte, von der das Tier kommt, dessen Hilfe er braucht.“

„Hm, ja … Und der Gruß? Mit 'Verwandten' sind die Familie und das Dorf, aber auch die Götter und Geister und die Vierbeiner, die Gefiederten, die Kriechenden, die Sechsbeiner und das Stehende Volk des Waldes gemeint, oder? Das sind alles die Verwandten, die da gegrüßt werden, nicht wahr?“

„Ja, in ihnen allen fließt dieselbe Lebenskraft – wir sind wie ein einziger großer Leib und Mea ist der Lebenskraft-Leib von uns allen zusammen. Deshalb sind wir alle Verwandte – Mea ist wie das Blut, das durch unseren gemeinsamen Leib fließt.“

„Und Wadan-Wer ist dann die gemeinsame Seele von uns allen? Heißt er deshalb 'Großes Geheimnis'?“

„So habe ich das noch gar nicht betrachtet, aber das kann man so sagen … ja, das ist schon gut beschrieben. …

Hm … bist Du jetzt einfach nur so neugierig wie immer? Oder willst Du auch einmal Schwitzhütten leiten?“

„Was? Ich? Ich weiß nicht, ich kenne doch noch fast gar nichts vom Leben und von der Welt – wie soll ich da Schwitzhütten leiten? Und muß man dazu nicht ein Schamane sein?“

Mana lachte freundlich und legte ihren Arm um Maran: „Natürlich kannst Du jetzt noch keine Schwitzhütte leiten, aber wenn ich Dich so höre, bist Du jemand, der diesen Dingen auf den Grund gehen will – und die meisten, die das Herz dieser Dinge gefunden haben, wollen ihr Wissen nicht für sich behalten, sondern es auch anderen zeigen.“

So hatte Maran das noch nie betrachtet und er schwieg eine Weile und blickte dabei in das Feuer.

Als Sama aus der Schwitzhütte kam, winkte Mana ihm zu und er kam zu ihr und setzte sich auf der anderen Seite neben sie.

„Sama, wenn Du es so gerne warm hast, dann könntest Du Sintela bitten, das Feuer in Dir zu wecken – vielleicht schläft es in Dir ja noch, auch wenn es in Deiner Esse glüht.“

„Und wie geht das?“

„Bitte die Schlange einfach bei der nächsten Schwitzhütte, Dir das Geheimnis des Feuers zu zeigen.“

„Du kannst es mir nicht verraten? Du kennst es doch sicherlich, oder?“

„Ich denke, es wird wirksamer sein, wenn die Schlange es Dir selber zeigt. Sie weiß, wie Du es am einfachsten finden kannst – das weiß ich nämlich nicht. Wenn ich das wüßte, hätte ich es Dir schon längst gesagt.“

„Ja … Danke für den Rat, Mana. Und Danke für die Schwitzhütten, die Du für uns leitest – das ist immer wieder ein große Wohltat. Danach bin ich wieder mehr bei mir und weiß wieder besser, wer ich bin und fühle mich ausgeruht und genährt. … Und jetzt muß ich ein wenig essen.“

Sama stand auf und ging zu dem Felsen, auf dem das Brot, der Käse und die Äpfel lagen.

„Mana?“

„Ja, Maran?“

„Als Du uns gesagt hast, daß wir den rufen sollen, der uns gerade am meisten helfen kann, habe ich etwas gesehen.“

„Schön … und Du hast eine Frage dazu?“

„Ja.“

„Dann schau zuerst, ob es sich gut anfühlt, davon zu erzählen oder nicht.“

Maran hielt einen Augenblick inne. Dann sagte er: „Doch, Dir kann ich es erzählen.“

„Was ist es denn?“

„Ich habe einen Mann gesehen, aber ich weiß nicht, wer er ist. Er hatte Hörner und eine Krone aus Korn und zwei Federn und an der Krone war vorne eine Schlange. Er trug einen Dreschflegel und einen Hirtenstab und hatte die Arme gekreuzt. Um seine Augen war etwas gemalt und er trug ein weißes Tuch als Kleidung.“

„Hm … hat er etwas gesagt oder getan oder Dir etwas gezeigt?“

„Nein.“

„Diesen Mann kenne ich auch nicht und ich wüßte auch nicht, wer ihn kennen könnte. Aber die Korn-Krone, die Hörner und der Dreschflegel lassen mich vermuten, daß er ein Korngott gewesen ist – so wie unser Asar.“

„Wie sieht denn Asar aus?

„Er hat die Gestalt eines Mannes – nicht jung und nicht alt – mit Stierhörnern an seinem Kopf und Kornhaaren und er trägt eine flache Schale aus Weidenzweigen, in der Brot, Äpfel, Birnen, Haselnüsse und Käse liegen.“

„Das war nicht Asar, den ich gesehen habe.“

„Aber vielleicht so etwas wie ein Bruder von Asar?“

„Hm, ja … das könnte sein. Dann könnte ich ihn 'Asar-Bruder' nennen.“

„Du brauchst ihm keinen Namen zu geben – er wird sicherlich schon einen Namen haben. … Aber wenn Du ihn ansprechen willst, ist 'Asar-Bruder' sicherlich ganz hilfreich.“

„Warum sollte ich ihn ansprechen wollen?“

„Nun ja, wenn er Dir in Deiner ersten Schwitzhütte erschienen ist, wird er eine Bedeutung für Dich haben und vielleicht willst Du ihn ja irgendwann einmal danach fragen …“

„Ja … mal schauen … Danke, Großmutter.“

Mana lächelte ihrem Enkel zu und wandte sich dann an Fani, die sich zu ihr gesetzt hatte. Als Fani nur schweigend dasaß, warf Mana Maran einen bedeutungsvollen Blick zu. Er verstand sie und stand auf und setzte sich auf einen anderen Platz am Feuer.

Da hörte er Krad, der in der Nähe saß, sich damit brüsten, daß er in der Schwitzhütte jedesmal Agrak sah, den Wildnisgott und Herrn der Tiere.

„Agrak ist der Stärkste aller Götter! Und er kann den vier Tieren befehlen, denn er ist ja der Herr der Tiere. Und er tötet jeden Herbst bei der Ernte den Korngott Asar. Agrak ist der Größte und ich stehe unter seinem Schutz! Ha! – und Agrak hat den größten Penis aller Männer … und Asar den kleinsten. Nein, Asar hat auch einen großen, aber nicht so groß wie der von Agrak, denn Agrak hackt ihm ja jeden Herbst auch den Penis ab, wenn er den Korngott beim Sensen zerstückelt und ihn dann beim Dreschen noch einmal verprügelt.

Gut, daß ich nicht zum Clan des Asar gehöre! Wär das peinlich! Asar ist der Clan der Schwachen, die immer verdroschen werden und die nie eine Frau auf ihr Lager kriegen!“

Da blickte Sama zu Krad hinüber: „Nun laß mal gut sein. Wenn Asar nicht wäre, gäbe es kein Korn und dann gäbe es nichts zu essen.“

„Agrak kann jagen – er ißt eh lieber Fleisch als Brot. Getreide ist was für zarte Rehe – Agrak ißt lieber Reh-Lende als halb angekohltes Brot!“

„Gib Ruhe, Krad! Sonst kann es sein, daß Dich heute Nacht Wazlan mit seinem großen Schmiedehammer besuchen kommt!“

Da lachten einige der Umstehenden und Krad gab erst einmal Ruhe.

Maran stand auf und ging wieder zum Bach hinunter und setzte sich alleine auf einen Felsen am Ufer. Er lauschte dem Plätschern des Wassers und dachte nach.

„Ist Asar-Bruder wirklich Asars Bruder? Heißt das, daß ich ständig von anderen verprügelt werde und immer anderen gehorchen muß? Krad gehörte zum Agrak-Clan – das paßt wie die Faust aufs Auge! Und wie oft hat er mich schon verspottet, getreten oder sonst wie gedemütigt – das ist das, was Krad am liebsten tut … Soll das immer so weitergehen? Bin ich denn ein Stück Holz, auf dem man immer herumhackt?

Aber Asar ist friedlich, Asar ist kein Kämpfer – und dann wird auch Asar-Bruder wohl kaum anders sein. … Und Urat, meine jüngere Schwester ist ja auch fast wie jemand vom Agrak-Clan – ständig muß sie bestimmen und hat bei allem das Sagen … Zum Glück ist meine kleine Schwester Salge nicht auch so! Und mein kleiner Bruder Angan? Der ist der Spaßvogel, der Narr in der Familie – immer hat er Unsinn im Kopf, aber alle mögen ihn.

… Asar … oder Asar-Bruder … Warum gerade dieser Clan? Warum soll ich gerade zu denen gehören, die immer verprügelt werden? Wozu war die Schwitzhütte gut, wenn sie mir Asar zeigt?

Aber wie hat sich die Begegnung mit Asar-Bruder angefühlt? Eigentlich wie ein Versprechen, wie ein Geheimnis … Aber die Entdeckung eines Geheimnisses, das zeigt, daß ich mein ganzes Leben lang verprügelt werden soll und immer der letzte im Rudel sein soll – wozu soll das gut sein?

War Asar ein Einzelgänger? Ich habe nur wenige Freunde … nur Radalf aus der Nachbarhütte …

Stimmt das eigentlich alles? Gibt es überhaupt Clane?“

Maran dachte immer wieder über das nach, was er in der Schwitzhütte erlebt hatte und womit Krad sich gebrüstet hatte, aber schließlich begannen seine Gedanken zu kreisen und wurden wirr …

Nach einer Weile saß er gedankenverloren am Bach und begann mit einen Stöckchen in dem Ton am Bachufer, den er glattgestrichen hatte, zu zeichnen. Er hatte nichts Bestimmtes zeichnen wollen, er hatte das Stöckchen in die Hand genommen und mit dem Zeichnen begonnen, ohne es selber so recht zu merken.

Nach und nach bildete er die Schwitzhütte nach, das Muster der zusammengebundenen Äste, die Stein-Grube, den Herz-Hügel, die Feuer-Grube, die Haare von Mutter Erde und die vier Symbole der Himmelsrichtungen.

Schließlich blickte er zum Vollmond empor. „Weißt Du, was das alles soll?“

Aber der Vollmond schien nur gelassen auf Maran und die Schwitzhütten-Zeichnung herab und sagte nichts.

- Kapitel 2 -

Dinkel und Distel

Seit der Schwitzhütte zur Tagundnachtgleiche im Frühjahr waren drei Monde vergangen und das Korn auf den Feldern, die oberhalb des Dorfes am Bachufer lagen, war schon fast reif.

Maran ging bachauf um seinen Freund Radalf bei der Feldwache abzulösen und den Nachmittag zu übernehmen.

„Wie war's heute morgen? Viele Rehe oder Wildschweine?“

„Nein – es war ruhig. Nur ein paar Hasen haben versucht, Dinkel zu stehlen. Ich habe sie leider verfehlt – sie waren zu weit entfernt für meine Pfeile.“

Radalf hob seinen Bogen und seine Pfeile hoch und betrachtete sie.

„Vielleicht brauche ich mal einen stärkeren Bogen – diesen hier kann ich inzwischen mit Leichtigkeit spannen. Dann könnte ich die Hasen erwischen. … Na, dann wünsche ich Dir mal eine ruhige Feldwache – und hoffentlich scheint die Sonne nicht zu heiß. Heute sind nur wenig Wolken am Himmel. Bis später dann!“

„Bis später, Radalf!“

Maran kletterte auf die alte Weide, die oben drei Äste hatte, auf denen man bequem sitzen und das Kornfeld überblicken konnte.

Einige Vögel zwitscherten in den Büschen am Waldrand jenseits des schmalen Wiesenstücks, der das Kornfeld vom Wald trennte, und oben am Himmel kreiste ein Mäusebussard, der ab und zu mit seinem Schrei die sommerwarme Stille unterbrach.

Maran blickte den Bach entlang in die Richtung seiner drei Quellen, die weiter oben in den Bergen lag. Gleich hinter den Kornfeldern lag der See – die Sonne glitzerte auf den kleinen Wellen, wenn der Wind seine Oberfläche kräuselte. Maran ging innerlich den Bach aufwärts bis zu seinen Quellen und dann wieder abwärts bis weit unterhalb des Dorfes, wo er sich mit dem Weidenbach vereinte, der von oben von dem Wildbach-Dorf und vom Weidenbach-Dorf herabkam.

Auf der anderen Seite des Baches konnte er den Pfad sehen, der über die Berge zu den beiden anderen Dörfern hinüberführte. Manchmal erzählten die Älteren im Dorf von anderen Dörfern in den Bergen, aber wo die lagen, wußte Maran nicht.

Was es wohl noch jenseits der Drei Dörfer gab? Worauf schien die Sonne wohl gerade jetzt noch alles? Und wo war der Wind schon überall vorübergeweht, der jetzt sanft über Marans Gesicht strich?

Maran war ganz in seinen inneren Bildern versunken, in die Betrachtung der inneren Landkarte, die er von den drei Bächen und den Drei Dörfern in sich trug, als er plötzlich aufschreckte und sah, daß drei Rehe aus dem Wald getreten waren und sich offenbar an dem Korn vergreifen wollten. Ein lauter Schrei von Maran genügte jedoch um sie zu vertreiben. Bei Wildschweinen klappte das nicht immer, aber Rehe waren scheu – selbst wenn sie hungrig waren …

Eine Weile später kam der alte Kartan vorüber und trug seine Angel und zwei Reusen mit sich. Er blickte zu Maran hinauf und rief: „Kannst Du mir noch mal eine Reuse aus Weidenzweigen flechten? Deine Reusen sind die stabilsten, die ich habe – da bleiben die Forellen auch drin, wenn sie mal drin sind.“

„Mach ich, Kartan!“