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Maran lernt neue, fortgeschrittene Formen der Magie und neue Kulturen kennen. Dadurch wächst sein Verständnis für das Wesen der Heilung und für die Wege zum Glücklichsein ganz beträchtlich. Das ist sehr bereichernd, doch nicht immer einfach ...
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Seitenzahl: 2229
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1: Südland
Kapitel 2: Die Weisheits-Suche
Kapitel 3: Der Sonnensäulen-Platz
Kapitel 4: Das Streitgespräch der sieben Seiten
Kapitel 5: Der Sonnenweg
Kapitel 6: Tangu
Kapitel 7: Die acht Pfade des Tangaron
Kapitel 8: Magie in den Schneebergen
Kapitel 9: Betrachtungen
Kapitel 10: Im Oasenland
Kapitel 11: Kiran-San
Kapitel 12: Steppen-Trommeln
Kapitel 13: Heimwärts
Maran gähnte herzhaft und kratzte sich hinter seinem rechten Ohr. Die frühe Morgensonne schien durch das Ostfenster in sein Turmzimmer im Reiherhof herein – das laute Vogelgezwitscher hatte ihn geweckt, obwohl er noch müde war.
Heute würde er aufbrechen: mit einem Handelsschiff den Rhiannon hinabfahren, in Tol Agis am Rhiannon-Delta oder in Althafen auf Estragos nach einem Schiff zum Südland suchen und dann dorthin segeln. Was mochte er dort finden?
„Es war wirklich spät gestern Abend … erst noch lange mit Jergun geredet, dann noch alles für die Reise vorbereitet und gepackt …“
Er schaute durch das Fenster nach draußen und sah einige Spatzen, die an dem Wipfel einer Eiche vorüberflogen, aber er hörte auch einige Rotkehlchen und Buschrohrsänger durch das offene Fenster und in der Ferne rief ein Kuckuck.
„Ihr hättet mich wirklich noch schlafen lassen können! Die Sonne ist noch gar nicht richtig aufgegangen! … Oder ich hätte das Fenster gestern Abend schließen können …“
Maran blieb noch eine Weile liegen bevor er aufstand, und ging in Gedanken noch einmal durch, ob er alles in seinen Rucksack gepackt hatte. Es war seltsam, mal wieder so ganz ohne Pony und ohne Pferd loszuziehen.
„Da muß ich meine Harfe hier lassen – die kann ich nicht die ganze Zeit tragen … aber ich nehme die Flöte mit. … Brot hab ich, Trockenfrüchte und Nüsse auch, Wasserschlauch – den hab ich … Messer? Ja … Schnur? Heilkräuter? Verband? Wundsalbe? … Hab ich auch alles eingepackt …
Es ist schon eine Kunst, einen Rucksack zu packen – man will alles dabei haben, was man brauchen könnte, aber gleichzeitig sollte er möglichst leicht sein. Und wenn man einen Umhang gegen den Regen dabei hat, eine Schlafdecke und einen gut gefüllten Wasserschlauch, dann hat man schon einiges an Gewicht. Zum Glück habe ich in dem Kramladen am Hafen eine Schlafdecke gefunden, die ganz leicht, aber trotzdem warm ist. Ich wüßte wirklich gerne, woraus dieser Stoff, aus dem die genäht worden ist, eigentlich gewoben worden ist … solch einen Stoff habe ich vorher noch nie gesehen … aber die ist wirklich nützlich … Egal – jetzt habe ich auf jeden Fall weniger Gewicht zu tragen …“
Schließlich stand Maran auf, stellt sich vor den Tisch, auf dem er alles gut geordnet ausgebreitet hatte, was er mitnehmen wollte, und schaute noch einmal durch alles – vielleicht fehlte ja doch noch eine wichtige Kleinigkeit.
„Hab ich alles? … Das ist immer dieser Moment, an dem man dran denken muß – wenn man erst mal unterwegs ist, ist es zu spät … Gut – Goldmünzen, Silberlinge … alle an verschiedenen Stellen untergebracht und versteckt – man weiß ja nie, was man alles erleben wird …
Nadel und Faden! Die fehlen noch! Unterwegs muß man immer mal was stopfen oder wieder in Ordnung bringen … Nadel und Faden habe ich schon oft gebraucht – auch, um meinen Rucksack zu flicken …“
Maran holte zwei Nadeln und drei Sorten Faden und legte sie zu den anderen Dingen auf den Tisch.
Gut – das hab ich jetzt auch. … Pergament, Tinte, Feder … Schließlich muß ich mir alle Wege merken, die ich fahren, segeln oder gehen werde – König Glendin will eine Landkarte von dem Südland haben. … Sicher ist sicher – auch wenn ich alles auf der Landkarte in meine Hütte der Erinnerungen eintragen werde.“
Maran betrachtete die Dinge, die vor ihm auf dem Tisch langen, und ging sie noch dreimal durch, um auch wirklich ganz sicher zu sein, daß er nichts vergessen hatte.
„Ich sollte mir mal eine Liste machen, was ich bei einer Wanderung alles mitnehmen sollte – dann müßte ich nicht jedesmal wieder vor dem Tisch stehen und nachdenken, ob nicht doch etwas fehlt … Aber das denke ich jedesmal aufs Neue, wenn ich vor dem Tisch stehe und überlege, ob nach was fehlt …“
Schließlich zog er sich an und aß etwas Brot und einen schrumpeligen Apfel vom letzten Herbst. Dann nahm er sich einen kleinen Bogen Pergament, Tinte und Feder und begann aufzuschreiben, was alles vor ihm auf dem Tisch lag. Als er damit fertig war, legte er den Pergament-Bogen zur Seite und packte alles ordentlich in seinen Rucksack, in dem alles seinen festgelegten Platz hatte. Er hatte im Laufe der Zeit allerlei kleine Taschen und Schlaufen innen und außen an den Rucksack genäht, damit er in ihm Ordnung halten konnte.
„Eigentlich ist es viel zu warm für meinen Umhang … aber wenn's regnet? … Ich nehm ihn mit – besser ein wenig mehr tragen, als durchgeweicht wandern … Wobei ich bisher bei meinen Wanderungen eigentlich immer Glück gehabt habe und nur selten mal in einen heftigen Regen geraten bin – aber ich bin ja auch fast nur im Sommer unterwegs … außer auf dem Weg zwischen Sannaran und dem Eulenturm …“
Maran stand vor seinem gepackten Rucksack und hob ihn einmal hoch, um zu sehen, wie schwer er war.
„Das ist doch ganz in Ordnung so … Ich bekomme allmählich wirklich Übung mit dem Rucksack-Packen. … Mit Pferd kann man allerdings deutlich mehr mitnehmen …
Hm … Ich würde ja gerne Lanvar mit auf die Fahrt nehmen, aber der ist erst neun Jahre alt … und Urat würde das niemals zulassen … Nun ja – wenn ich das erste Mal in ein unbekanntes Land reise, ist es vielleicht auch nicht so geschickt, meinen Sohn mitzunehmen … Ich weiß ja nicht, was mich da erwartet …“
Maran schaute sich noch einmal in seinem Zimmer um, ob er nicht doch etwas vergessen hatte, setze seinen Rucksack auf und verließ dann sein Turmzimmer. Er stieg die Treppe hinab, ging durch den langen Flur im Hauptgebäude und trat dann in den Park hinaus und schaute zu den Teichen hinüber.
„Euch werde ich jetzt eine Weile nicht mehr sehen … und was ich an Neuem sehen werde, weiß ich noch überhaupt nicht … ein unbekanntes Land, eine unbekannte Sprache, unbekannte Menschen …
Egal – auf geht’s!“
Er packte die Trageriemen seines Rucksacks mit beiden Händen vor seiner Brust, lief den Parkweg zum Tor entlang und folgte dann dem Feldweg zur Auenstraße, die von Sannaran aus nach Westen führte. Nach und nach kam er Sannaran näher und wanderte durch die Armenstadt, die Außenstadt, die Innenstadt und die Königsstadt bis zum Sonnensäulen-Platz und dann geradeaus weiter auf der Hafenstraße bis er den Hafen erreichte.
Dort ging er an dem Kai entlang, den ihm der Schiffsführer genannt hatte, mit dem er vor drei Tagen gesprochen hatte. Endlich fand er den 'Braunen Aal' – wobei Maran fand, daß das Schiff eher wie ein ziemlich dicker Karpfen aussah als wie ein langer, dünner Aal. Er ging an Deck und suchte nach dem Schiffsführer, einem älteren Mann mit ergrauten Haaren und grauen Strähnen in seinem bräunlichen Bart.
Der Schiffsführer nickte Maran zu.
„Das seid Ihr ja endlich! Wir legen bald ab.“
Maran gab ihm die vereinbarten zwei Goldstücke für die Fahrt mit dem 'Braunen Aal' nach Tol Agis und der Schiffsführer zeigte Maran seinen Schlafplatz unten im Rumpf des Schiffes, der mit Kisten und Ballen und einer großen Ladung Bretter vollgestopft war, die vermutlich für die Schiffsbauer in Tol Agis bestimmt waren. Sein Schlafplatz bestand nur aus einer Wolldecke in der schmalen Lücke zwischen einem Stapel Bretter und dem Schiffsrumpf.
„Nicht sonderlich gemütlich … aber hier zu liegen ist angenehmer als zwölf Tage lang bis zum Delta des Rhiannon zu wandern … Wer weiß, wieviel ich auf dieser Reise noch laufen muß. … Und manchmal spüre ich ja auch schon ein wenig, daß ich nicht mehr 20 Jahre alt bin, sondern schon 50 Jahre …
Immerhin behandelt mich der Schiffsführer wie einen normalen Menschen und redet mich nicht mit 'Maran Tangaron' oder 'Magier des Königs' und dergleichen an. Das macht das alles deutlich einfacher …“
Maran legte seinen Rucksack zu der Wolldecke auf seinem Schlafplatz, zog seinen Umhang aus und legte ihn dazu, und stieg dann wieder die schmale Treppe zur Ladeluke hinaus. Einige Schauermänner trugen noch ein Dutzend Ballen und Säcke auf das Schiff und verstauten sie unter Deck und verließen dann das Schiff, nachdem der Schiffsführer ihnen ihren Lohn gegeben hatte.
„Leinen los!“
„Leinen sind los!“
„Zum Fluß staken!“
Maran schaute zu, wie sich das schwerbeladene plumpe Schiff langsam durch den Hafen in Richtung Bergfluß bewegte.
„Das ist wirklich etwas anderes als die wendige 'Seemöwe', die zwischen Tol Agis und Althafen auf Estragos hin- und herfährt … oder gar wie der schlanke, schnelle 'Schwertwal' der Brandakis, mit dem ich von Althafen nach Branda und wieder zurück gefahren bin … Nun ja – das hier ist ja auch ein Lastenkahn und keine Insel-Fähre und auch kein Kriegsschiff, mit dem man über die Hohe See zu fernen Ländern fahren kann …“
Schließlich erreichten sie den Eingang des Hafens und Maran blickte nach links den Bergfluß hinauf.
„Zwei Tageswanderungen dort hinauf liegt der Eulenturm … Wie lange bin ich jetzt schon wieder nicht dort gewesen?“
Da hörte er den Schiffsführer neue Befehle rufen.
„Ruder hart Steuerbord! Hißt das Segel! … Achtet auf den Fischer da drüben an Backbord! … Ruder geradeaus!“
Maran betrachtete das Segel, das sie gehißt hatten. Auf dem 'Schwertwal' hatten sie ein viereckiges Segel gehabt, und auf der 'Seemöwe“ zwei gleichgroße dreieckige Segel. Der 'Braune Aal' hatte nur ein großes, dreieckiges Segel.
„Wie viele verschiedene Segel-Arten mag es wohl geben? Ob sie im Südland noch andere Schiffsformen und Segelformen haben?“
Maran schaute sich die Bordwand genauer an. Es gab auch Ruderlöcher in der obersten Planke der Bordwand und nach kurzem Suchen entdeckte Maran auch gut ein Dutzend lange Ruder, die am Heck zusammengeschnürt lagen.
„Genug Ruderlöcher sind ja da – aber sind überhaupt ein Dutzend Männer an Bord? Das scheinen mir eher fünf oder sechs zu sein …“
Maran schaute zu, wie sie langsam den Bergfluß hinuntertrieben – das Segel hing noch ziemlich schlaff an der Rahe, da kein Wind blies. Auf der rechten Seite zogen langsam die Häuser von Sannaran vorüber. Schon bald sah er den alten Wachtturm auf der Landspitze zwischen dem Bergfluß und dem Rhiannon.
„Dort oben auf dem Turm habe ich schon oft gestanden …“
Als sie vom Bergfluß auf den Rhiannon hinaus fuhren, rief der Schiffsführer ständig neue Befehle, da die Strömung hier an der Mündung des Bergflusses in den Rhiannon sehr unruhig war, doch schließlich hatten sie die Mitte des breiten Rhiannon erreicht und es kam auch etwas achterlicher Wind auf, sodaß der 'Braune Aal' zügig flußabwärts fuhr. Maran sah eine Gruppe Männer, die am Südufer flußabwärts wanderten. Anscheinend fuhr der 'Braune Aal' gut doppelt so schnell wie diese Männer liefen …
„Dann werden wir in sechs Tagen in Tol Agis sein. Das ist schneller als ich gedacht habe – aber gerade haben wir auch guten Wind. Wie kommen die nur anschließend wieder flußaufwärts? Ganz nah am Ufer rudern, wo die Strömung langsamer ist? Segeln geht ja nur, wenn der Wind gut steht … Oder treideln? Ja – wahrscheinlich werden sie die Schiffe flußaufwärts treideln … Das habe ich ja hin und wieder schon mal gesehen – die Schiffe von Pferden und Eseln an Seilen flußaufwärts ziehen … Wie lange werden sie dafür wohl von Tol Agis bis nach Sannaran brauchen? Mindestens zwölf Tage – so lange wie ein Wanderer … oder noch länger …“
Das Schiff fuhr schnell dahin. Maran stand die meiste Zeit vorne am Bug und schaute auf die Felder und Weiden und die weiten Wälder an den beiden Ufern. Ab und zu sah er einen Wanderer oder einige Reiter oder einen Eselskarren auf einem der beiden Ufer-Wege, doch meistens waren sie ganz allein in dem Schiff auf dem Fluß. Nur das leise Rauschen des Wassers am Bug war zu hören, wenn der Wind kräftig von achtern blies. Doch wenn der Wind nachließ, trieb das Schiff völlig lautlos in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war, dahin.
Maran setzte sich schließlich auf ein Faß, daß vorne am Bug stand, und blickte über den Fluß dahin und dachte über vieles nach – wie er vor über 30 Jahren das erste Mal an dem Großen Fluß entlang nach Sannaran gekommen war, an seine Zeit als Zauberlehrling bei Arrel, an sein erstes Treffen mit Jergun, an seinen Sohn Lanvar, an König Glendin und an Gundalia, die nun tot war … vergiftet … Er dachte an die Entführung von Lanvar und Glendins Frau Gliane und an Ralkons Sohn, der bei der Befreiung der Entführten ermordet worden war …
„Ich weiß nicht, wie es mir gehen würde, wenn es Lanvar gewesen wäre, der damals gestorben ist … Das muß schrecklich für Ralkon gewesen sein … und das ist es vermutlich auch noch immer für ihn …“
Gegen Abend erreichten sie den See und zu Marans Verwunderung steuerten sie zur Seestadt hinüber und machten dort an einem Kai fest. Maran sah zu, wie einige Kisten entladen und anschließend einige Säcke auf das Schiff gebracht wurden.
„Eigentlich hätte ich mir denken können, daß wir nicht in einem durch bis nach Tol Agis fahren, sondern unterwegs an jeder Stadt und jedem größeren Dorf anhalten werden …“
Sie bleiben über Nacht am Kai und Maran und die Schiffsleute schliefen an Bord. Sobald die Sonne am Morgen aufgegangen war, lösten sie die Leinen und segelten langsam auf den See hinaus, auf dem noch dichter grauer Morgennebel lag. Der Schiffsführer stand neben Maran am Bug und schaute in den Nebel hinaus.
„Verdammter Nebel! Dick wie die Fischsuppe der Bauern am Delta! Man sieht weder das Ufer noch die Insel!“
Er wandte sich an einen der Schiffer.
„He, Trok! Steig zur Mastspitze hinauf! Vielleicht ist der Nebel flach genug, daß Du von da oben aus etwas sehen kannst!“
Nach einer Weile war Trok an der Mastspitze angekommen.
„Alles gut! Wir sind genau zwischen dem Ufer Steuerbord und der Insel backbord.“
„Bleib da oben und sag Bescheid, wenn wir den Kurs ändern müssen!“
Der Schiffsführer blickte in den Nebel vor dem Schiff hinaus.
„Ich hoffe nur, daß noch keine Fischer unterwegs sind …“
Maran schaute nach links in den Nebel. Dort mußte irgendwo die Insel sein, auf der das Hügelgrab von König Gillan dem Jungen lag …
„Für Gillan habe ich einst in seinem Grab Harfe gespielt … Wie lange ist das schon her!“
Da hatte er das Gefühl, innerlich ein Lächeln zu spüren.
„Ist das der Geist von König Gillan, der da lächelt? … Seid Ihr das, König Gillan?“
Doch Maran bekam keine Antwort und das Gefühl kam auch nicht wieder …
Es war ein wenig unheimlich, so mit dem Schiff durch den Nebel zu fahren ohne etwas zu sehen … Es war wie in einer grauen Kugel … still, dumpf, grau, ohne erkennbare Bewegung … nur Trok rief ab und zu etwas von der Mastspitze herab.
Als Trok rief, daß sie zu weit nach Steuerbord zum Ufer hin abtrieben, frug sich Maran, was sie jetzt eigentlich tun konnten – es wehte ja kein Wind, sodaß sie die Segel anders setzen konnten …
Doch die Antwort kam sofort.
„Alle außer dem Ausguck an die Ruder!“
Der Schiffsführer lief zum Heck und ergriff das Steuerruder und die Seeleute und Maran holten sich jeweils eines der Ruder, steckten sie in die Ruderlöcher und begannen das schwere, träge Schiff allmählich vom Ufer fort zu rudern – ohne irgendetwas außer dem Nebel zu sehen. Doch schließlich rief Trok vom Mast herab, daß das Schiff jetzt wieder auf Kurs sei. Da holten sie die Ruder wieder ein.
Allmählich wurde der Nebel ein wenig dünner und als die Sonne noch etwas höher gestiegen war, löste er sich schließlich nach und nach auf und hing nur noch in dünnen, langen Streifen hier und da in den Bäumen am Ufer. Da konnte Trok endlich wieder vom Mast herunterklettern.
Maran sah, daß sie schon das Ende des Sees erreicht hatten – dort, wo der See allmählich immer schmaler wurde und unmerklich in den Rhiannon überging. Er schaute sich um, und sah in der Ferne hinter sich die Insel, auf der das Hügelgrab des Königs Gillan lag.
Der Wind dreht im Laufe des Morgens von Westen nach Norden und dann nach Osten, sodaß er ihnen entgegenwehte und sie die Segel einholen mußten. Die meiste Zeit trieb das Schiff gemächlich den Fluß hinab … ab und zu mußten sie eine Weile rudern, um das Schiff in der Flußmitte zu halten. Manchmal hatte Maran jedoch den Eindruck, daß der Schiffsführer die Schiffsleute auch einfach nur deshalb rudern ließ, damit sie etwas zu hatten und sich anschließend nur ausruhen wollten – und nicht aus Langeweile Streit miteinander anfingen.
Gegen Abend fing es leicht zu regnen an und Maran war froh, daß er in dieser Nacht, als sie am Ufer vor Anker gegangen waren und ihr Schiff an einigen Bäumen vertäut hatten, unter Deck schlafen konnte.
Am nächsten Morgen war der Regen stärker geworden und am Nachmittag kam ein Gewitter auf. Schließlich schüttete es wie aus Eimern und Kübeln.
Der Schiffsführer schüttelte nachdenklich seinen Kopf.
„Seltsam – ein Gewitter in dieser Jahreszeit … die kommen doch sonst immer erst im Spätsommer …“
Als sie gerade an einer langgezogenen Insel vorüberfuhren, schlug ein Blitz in eine Pappel am Ufer ein, die krachend in den Fluß stürzte.
„Alle an die Ruder! Schnell! Ruder hart Backbord! Wir müssen an dem Baum vorbeikommen!“
Alle stürzten zu den Rudern und begannen aus Leibeskräften zu rudern, während der Schiffsführer zu dem Steuerruder rannte und dem alten Steuermann half, das Schiff nach Backbord zu lenken. Zum Glück war der Baum nicht direkt vor ihnen umgestürzt! So hatten sie noch Zeit genug gehabt, ihm auszuweichen.
Maran schaute auf die Krone des umgestürzten Baumes, als sie in sicherem Abstand an ihm vorüberfuhren.
„Was einem auf so einer Flußfahrt alles geschehen kann …“
Das Gewitter hörte bald danach wieder auf und auch der Regen ließ allmählich nach.
Am Abend des nächsten Tages erreichten sie das Blauwasser – den kreisrunden See, durch den der Rhiannon floß. Dort gingen sie am Ufer vor Anker.
Am nächsten Tag fuhren sie weiter ohne daß etwas Besonderes geschah – Wald und Bäume, Bäume und Wald, Gestrüpp und Lianen, Wasser und Schilf, Ufer und Inseln und dann wieder Bäume und Wald …
Hier von dem Deck des Schiffes aus wurde Maran noch einmal viel bewußter, wie groß dieser Wald im Osten des Mittleren Reiches eigentlich war – acht Tage Wanderung in der Länge und vier in der Breite …
Am Mittag des fünften Tag erreichten sie Brückendorf und legten dort am Kai an. Die Schiffsleute entluden einige Kisten und nahmen einige Säcke an Bord, während der Schiffsführer zu der Wirtschaft hinüber ging, aber schon bald wieder zurückkam.
„Leinen los!“
Sie ruderten zur Flußmitte hinaus, wo die Brücke über den Fluß so hoch war, daß sie, wenn sie den Mast nach hinten kippten, unter ihr hindurchfahren konnten. Maran frug sich, wie die Schiffer das hier an dieser Brücke wohl mit dem Treideln machten – hier mußte wohl gegen die Strömung gerudert werden …
Der Wald wurde allmählich lichter und hier und da waren Wiesen und wenig später auch vereinzelte Weiden. Am Abend des sechsten Tages erreichten sie schließlich die Letzte Fähre, die am Anfang des Rhiannon-Deltas über den Fluß führte. Die Fähre lag gerade am linken Ufer und wartete darauf, daß jemand übersetzen wollte.
Sie ruderten den 'Braunen Aal' in den linken, nördlichen Arm des Rhiannon und ließen sich noch ein Stückchen langsam nach Osten treiben, bevor sie vor Anker gingen. Maran blickte nach Norden über die Ebene – dort in der Ferne hatte die 'Sonnenaufgangs-Schlacht' stattgefunden, in der König Gond gefallen war, wodurch Glendin wieder zum König geworden war.
Gegen Mittag erreichten sie den Flußhafen von Tol Agis, der ein wenig weiter landeinwärts als der Seehafen lag – zwischen ihnen floß der nördliche Arm des Rhiannon noch eine Viertelmeile träge weiter Richtung Meer. Vom Flußhafen aus war es nicht weit bis zum Markt von Tol Agis.
Maran schulterte seinen Rucksack, grüßte den alten Schiffsführer noch einmal und ging dann über die Planken an Land. Knapp sieben Tage lang war er fast nie auf festem Boden gewesen … Er ging an dem Seitenarm des Rhiannon entlang in Richtung Seehafen. Er sah linker Hand das Gasthaus 'Grauer Stör' liegen, in dem er schon öfter übernachtet hatte und frug sich, ob dort noch immer derselbe alte Wirt bediente.
Schließlich erreichte er den Hafen und schaute sich um, ob er Schiffe sah, die fremdländisch aussahen oder die wenigstens so wirkten, als ob sie lange Seereisen unternehmen würden, doch es schienen nur Fischerboote und die 'Seemöwe' hier im Hafen zu sein – und ein paar Flußschiffe, die aus irgendeinem Grund nicht im Flußhafen, sondern hier im Seehafen angelegt hatten.
„Also gut – dann erst mal hinüber nach Althafen auf Estragos. Vielleicht habe ich da mehr Glück …“
Er ging zum Estragos-Kai, wo die 'Seemöwe' vertäut lag, und frug den Schiffsführer, wann sie nach Estragos ablegen würden.
„Gleich – es dauert nur noch so lange, wie ich brauche, um einen Räucherhering zu essen.“
„Dann komme ich ja gerade recht.“
Maran ging über die Planke an Bord, bezahlte für die Überfahrt und ging nach vorne zum Bug.
„Von wo kommt der Wind? … Von Süden … Na, dann müssen wir kreuzen – das wird dann ja eine ganze Weile dauern bis wir auf der Insel ankommen.“
Die Seeleute stakten die 'Seemöwe' aus dem Hafen und hißten an der Hafeneinfahrt das Segel. Maran mußte an den alten Wirkan Wellenreiter denken, dem das Schiff früher gehört hatte und der vor ein paar Jahren gestorben war.
„Ich mochte den alten Wirkan wirklich gerne … aber irgendwann müssen wir alle sterben … so ist nun mal der Lauf der Dinge … “
Der Schiffsführer rief immer wieder Befehle über das Schiff, woraufhin die Seeleute das Segel drehten. Der Schiffsführer selber stand am Steuerruder. So segelten sie mal nach Nordosten und dann wieder nach Südosten, dann Nordosten, Südosten … Das Kreuzen quer zum Wind ging doch schneller als Maran erwartet hatte. Anscheinend war der Schiffsführer ein fähiger Seemann.
„Nun, ja – wenn man täglich ein- oder zweimal zur Insel und zurück segelt, bekommt man wohl Übung … Trotzdem – das sieht wirklich gut aus, wie der das macht …“
Allmählich kam Estragos näher und Maran konnte schon die beiden Leuchttürme auf den beiden Ende der Molen, die den Hafen umgaben, sehen. Da es schon dämmerte, waren die Feuer auf ihnen entzündet worden. Sie brannten nur während der Abenddämmerung, da Nachts keine Schiffe mehr nach Althafen kamen und es auf der Insel auch gar nicht genug Holz gab um die Leuchtfeuer die ganze Nacht über brennen zu lassen.
Schließlich fuhren sie zwischen den beiden Leuchttürmen hindurch in das Hafenbecken hinein, refften das Segel, stakten die 'Seemöwe' zum Kai und vertäuten das Schiff an den Pollern vorne am Rand des Kais. Maran schulterte seinen Rucksack, winkte den Seeleuten zum Abschied noch einmal zu und ging von Bord. Er blieb einen Augenblick stehen und schaute sich um. Ein paar späte Seemöwen kreischte noch über dem ruhigen Wasser des Hafens und suchten nach etwas Freßbarem.
„Mein Großvater-Bruder Adi hatte wirklich recht: Wenn man einmal die Seemöwen gehört und Estragos gesehen hat, will man immer wieder ans Meer und zurück auf diese Schöne Insel … Und da bin ich nun wieder … Wie oft bin ich nun schon hier gewesen? … Sechsmal? … So ungefähr …“
Maran ging die Mole entlang und dann auf dem schmalen Weg unten an der hohen Felswand weiter. Dort oben auf den Felsen stand die Festung, in der vor Jahren das Treffen gewesen war, bei dem sie gemeinsam geschaut hatten, was eigentlich nach dem Tod geschieht.
Er ging über die kleine Zugbrücke zwischen dem Vorderhafen und dem Hinterhafen zu dem Marktplatz hinüber und dann nach links vorne zum 'Wasserdrachen'. Vor der Wirtschaft saßen noch viele Gäste und tranken und erzählten und lachten meistens ziemlich laut. Maran hielt Ausschau nach den Brandakis, aber er sah zwar viele auffällige Gestalten, die sicherlich keine Einwohner von Althafen waren, doch ein Brandaki war nirgendwo zu sehen. Auch im Hafen hatte er kein Brandaki-Schiff gesehen.
„Schade – mit denen wäre ich am liebsten weiter ins Südland gefahren. Dann muß ich morgen früh mal zu allen Schiffen im Hafen gehen und fragen, wer weiter nach Süden segelt.“
Maran ging durch die Tür ins Wirtshaus und frug nach einem Zimmer für die Nacht und bekam ein Zimmer zugewiesen. Maran ging schon bald schlafen – es war doch sehr angenehm, mal wieder in einem Bett in einem Zimmer und nicht auf auf einer Decke auf einem harten, schwankenden Schiffsboden zu schlafen …
Am nächsten Morgen ging er zum Hafen und frug bei allen Schiffen, die nicht sofort als Fischerboote erkennbar waren, ob jemand weiter nach Süden segelt, doch er fand niemanden. Anschließend ging er zum Hafenmeister und frug auch ihn und er ging sogar zum Wirt des 'Wasserdrachen', doch niemand wußte ein Schiff, das nach Süden segeln würde.
So vergingen einige Tage, an denen Maran immer wieder die Kais des Hafens entlangging und nach Schiffen suchte, die neu angekommen waren, doch niemand schien nach Süden zu fahren. Tagsüber ging er dann auf die Ebene hinauf zu dem Tempel des Meeresgottes San-Agis oder zu der Mondgrotte unten an dem Felsen unter der Festung oder er saß einfach nur ganz vorne auf der Mole und wartete auf neue Schiffe und spielte ab und zu auf seiner Flöte ein Lied für sich selber und für die Möwen.
„Eigentlich hätte ich mir das ja denken können … Wenn so wenig über das Südland bekannt ist, wird auch nicht oft jemand dort nach Süden segeln, denn sonst wüßten wir mehr über dieses Land … Da hast Du nicht zuende gedacht, Maran … Vielleicht wäre ein Ritt über die Brückenstraße nach Süden durch die Südberge geschickter gewesen … Na, ja – vielleicht … vielleicht aber auch nicht, denn was ich da finden würde, weiß ich ja auch nicht …“
Er saß Tag um Tag vorne auf der Mole oder wanderte auf der Insel umher und frug sich, was er am besten machen sollte.
„Zurück nach Tol Agis und dann an der Küste entlang? Aber gibt es da überhaupt einen Weg? Nach Norden führt eine der Straße, die König Gutton Langschwert hat bauen lassen, an der Küste entlang – zumindestens führt sie bis zu den Dörfern jenseits des Klippenwassers … Aber nach Süden? Da biegt die Küstenstraße doch kurz vor dem Vulkan nach Westen hin ab … Da habe ich nirgendwo einen Weg oder gar eine Straße weiter nach Süden hin gesehen … Also muß ich entweder mit einem Schiff an der Küste entlang nach Süden segeln oder zurück nach Sannaran wandern und mit Schneefell über die Südberge reiten … Es wäre mir ja schon lieber, an der Küste entlang zu segeln als über das Gebirge zu reiten – da weiß ich noch weniger, auf was ich da treffen werden – schließlich muß es doch einen Grund haben, daß niemand mehr die Brückenstraße benutzt, um das Südgebirge zu überqueren und ins Südland zu gelangen. … Nur – was mag dieser Grund sein? Wenn ich den wüßte, wäre ich klüger … und dann wäre die Entscheidung einfacher. … Ich tausche nicht gerne etwas Unbekanntes, das offenbar ein großes Hindernis enthält, gegen etwas Schwieriges, aber Mögliches ein … Also weiter warten …“
So vergingen wieder einige Tage und Maran frug sich, wie lange er hier noch warten konnte, ohne sein ganzes Gold und Silber für seine Übernachtungen im 'Wasserdrachen' auszugeben.
Doch eines Morgens, als Maran wieder einmal vorne auf der Mole saß und Flöte spielte, kam endlich ein Schiff von Süden her, das nicht wie ein Fischerboot aussah. Maran stand auf, steckte die Flöte in seine Tasche und schaute zu dem Schiff hinüber, das zügig näher gesegelt kam. Der Schiffsführer schien entweder sehr geschickt oder sehr wagemutig zu sein – oder beides. Das Schiff segelte hart am Wind und war sehr schnell und die Seeleute refften die Segel erst, als er schon zwischen den beiden Leuchttürmen am Hafeneingang hindurch war. Der Schiffsführer nutzte den Schwung seines Schiffes, um ohne zu staken gerade bis an einen freien Platz am Kai zu gelangen, wo die Seeleute das Schiff mit zwei Tauen an den Pollern festmachten.
Maran ging langsam zu dem Schiff hinüber und wartete erste einmal, bis der Schiffsführer den Hafenzoll bezahlt hatte und die Seeleute mit dem Ausladen der Waren begonnen hatten.
Maran sah, daß auf das Heck und vorne am Bug des Schiffes ein seltsames grünes Tier gemalt worden war, das ein bißchen wie eine plumpe Eidechse mit zu kurzen Beinen aussah. An irgendetwas erinnerte ihn dieses Tier, das er noch nie gesehen hatte – aber an was?
Schließlich ging er über die Planke an Bord und wandte sich an den schon recht alten und graubärtigen Schiffsführer, der ziemlich verschmitzt und ein bißchen verwegen aussah – wie ein Schlitzohr oder wie ein Jahrmarkt-Gaukler. Maran wußte nicht so recht, ob er ihm trauen konnte.
„Möge San-Agis stets mit Dir sein, Schiffer!“
Der Alte schaute Maran prüfend an. Er hatte eine lange Narbe quer über die rechte Wange.
„Mir wäre lieber, der Große Wandelstern wäre mit mir und würde meine Truhen mit Gold und Silberlingen füllen! Was willst Du hier an Bord des 'Krokodils'?“
„Ich will in das Südland und suche ein Schiff, das dorthin segelt – oder zumindestens mal ein Stück weit in diese Richtung.“
„Ins Südland … so, so … Und warum willst Du dahin? Ein paar Kräuter und Harze für Dich selber holen? Oder für den Markt in Sannaran? Wenn das Deine Absicht ist, dann vergiß es! Das ist mein Handel!“
„Kräuter? Harze? … Nein, ich habe nur so oft von diesem Land gehört, daß ich es endlich mal kennenlernen will.“
„Das Oasenland kennenlernen? Hast Du nichts Besseres zu tun?“
Der Schiffsführer sah Maran wieder prüfend an.
„Wie ein reicher Mann siehst Du nicht aus – die sind fast alle fetter um den Bauch herum. Du siehst recht schlank aus. Und Du hast gebräunte Haut und bist viel draußen. … Gut – ich glaube Dir erst einmal … vorläufig. Aber Du sagst mir ganz offensichtlich nicht alles, was Du vorhast, denn kein armer Bauer oder Handwerker hat die Zeit, einfach mal so in das Südland zu segeln. Und Du siehst zwar wie ein Schöngeist aus, aber trotzdem wie ein entschlossener Mann, wenn's drauf ankommt … Gib's zu – Du stehst in den Diensten des Königs, eh? Du bist einer seiner Boten oder seiner Schreiberlinge – eher ein Bote oder so was in der Art. Und was will der König, was Du im Oasenland tun sollte?“
„Würde ich Dir die Wahrheit sagen, wenn es wirklich so wäre, daß der König mich sendet?“
„Nein – wohl kaum.“
„Dann kannst Du also meiner Antwort auf Deine Frage, was ich im Oasenland will, nicht trauen – ganz egal, was ich sage. Daher scheint es mir besser, daß ich Dir nicht antworte, um mir den Verdacht, daß ich möglicherweise lüge, zu ersparen.“
Der Alte lachte.
„Jetzt hast Du mir Du Deine Antwort bereits verraten, daß Du in irgendeiner Weise ein Gelehrter bist und ein kluges Köpfchen hast. Ein kluges Köpfchen auf einem seltsamen Weg in ein unbekanntes Land – also ein Bote des Königs. … Du brauchst dazu nichts zu sagen. Ich habe meine Antwort ja schon erhalten, ohne das Du lügen mußtest, was Du anscheinend nicht gerne tust, da Du mit dem Vermeiden von Lügen meiner Frage ausgewichen bist. Also nicht nur ein kluges Köpfchen, sondern auch ein Mann von Ehre, ein Aufrichtiger, ein Ehrlicher … Und solche Leute schickt der König aus? Na, ja … man hört ja sonderbare Dinge über König Glendin den Schmied … Er soll ein Menschenfreund sein, was bei Königen ja nicht so oft vorkommt. Und er soll hier in Althafen auf Estragos als Schmied gearbeitet haben. Da sucht er vielleicht sogar die Nähe von aufrichtigen Männer – statt listigen Männern, wie sonst bei Königen meist üblich.“
Maran begann der Schiffsführer zu gefallen – er hatte einen wirklich scharfen Verstand.
Der Alte sah Maran eine Weile schweigend an.
„Also gut – ich glaube Dir, daß Du Dich nicht in meine Geschäfte einmischen willst. Ich werde übermorgen ablegen und wieder nach Süden ins Oasenland fahren. Für drei Goldstücke kannst Du mitkommen. Aber wenn's gebraucht wird, mußt Du mit anpacken auf meinem Krokodil!“
„Krokodil? Ist das der Name Deines Schiffes?
„Ja – ein Krokodil ist eine riesige, grüne Wasserechse, die in dem Yalal lebt – das ist der Große Fluß des Oasenlandes. Sehr gefährlich, sehr gefräßig … und heimtückisch …“
Der Alte lachte.
„Ein guter Beschützer für mein Schiff!“
Er reichte Maran die Hand.
„Einverstanden?“
Maran ergriff die schwielige, harte Hand des Alten.
„Einverstanden – Das Gold bekommst Du, wenn ich an Bord bin.“
Der Alte kicherte.
„Sehe ich so wenig vertrauenswürdig aus? Wahrscheinlich … aber immerhin bist Du so mutig, trotzdem mit mir zu segeln.“
Zwei Tage später verließ Maran frühmorgens den 'Wasserdrachen', lief zum Kai hinüber und ging über die Planke auf das 'Krokodil' und sah dabei die grüne Wasserechse, die vorne am Bug an die Bordwand gemalt worden war. Plötzlich erkannte er, warum ihm dieses Tier bekannt vorgekommen war.
„Das ist das Mea-Tier von Ralkon! Ralkon hat ein Mea-Tier, das in dem Oasenland lebt und nicht im Mittleren Reich! Kann das denn möglich sein, daß man ein Tier als Mea-Verbündeten hat, daß aus einem anderen Land stammt, das man überhaupt nicht kennt? … Nun, ja – manche Menschen haben ja auch Mea-Tiere wie diese riesigen, grauen Schlangennasen mit den langen gebogenen Zähnen und den Flügel-Ohren, die es gar nicht mehr gibt und die einst vor langer Zeit in der Schneezeit gelebt haben … Seltsam … was ich da im Oasenland wohl noch alles finden werde?“
Einer der Seemänner zeigte Maran seinen Schlafplatz unten im Laderaum – diesmal hatte er immerhin eine Hängematte, die in einer Lücke zwischen den Säcken und Kisten aufgespannt worden war. Er wunderte sich, daß in dem Laderaum nicht sonderlich viel an Säcken und Kisten gestapelt lag. Doch alles war sorgfältig festgezurrt, damit die Ladung bei Sturm nicht verrutschte und das Schiff dann Schlagseite bekam.
„Womit verdient der nur seine Silberlinge, wenn er halbleer zum Oasenland fährt? Lohnen sich die Gewürze und Harze so sehr, die er aus dem Süden holt, daß das für ihn als Verdienst reicht? Und hat das Oasenland schon alles, was er vom Mittleren Reich und von Estragos dorthin bringen könnte? Dann muß dieses Oasenland ja wirklich sehr reich sein …“
Maran sah, daß sie reichlich trockenes, zweifach gebackenes Brot in fest verschlossenen Holzkisten geladen hatten und auch Trockenfrüchte und Nüsse in Säcken sowie Räucherfisch und etliche Fässer mit Trinkwasser. Davon konnten sie ziemlich lange leben – mindestens 30 Tage, eher noch länger.
„Dauert die Fahrt zum Oasenland so lange?“
Maran stieg die Leiter durch die Ladeluke wieder nach oben und schaute sich das Schiff genauer an. Es war recht breit, aber nicht sehr lang und ganz anders gebaut als die Brandaki-Schiffe – es hatte auch zwei eher kurze Masten anstatt nur einen hohen Mast.
„Hm – das alles sollte eigentlich dafür sorgen, daß das Schiff zwar nicht sehr schnell ist, aber sicher im Wasser liegt und recht sturmfest ist.“
Maran nickte zufrieden, als er das Schiff betrachtete.
Zwei der Seeleute trugen noch ein paar Säcke vom Kai in den Rumpf des Schiffes hinab – zwei andere zogen die Planke aufs Schiff und banden sie fest an die Außenwand der Kajüte. Alles auf diesem Schiff schien gut verzurrt zu sein.
„Leinen los!“
„Leinen sind los!“
„Segel hissen!“
Maran wunderte sich, daß der alte Schiffsführer das 'Krokodil' nicht aus dem Hafen staken ließ, sondern gleich im Hafen eins der drei Segel setzen ließ. Offenbar vertraute er seinen Künsten als Schiffsführer und Steuermann. Maran beobachtete ihn genau – er schien wirklich genau zu wissen, was er tat, denn das 'Krokodil' fuhr genau in der Mitte zwischen den beiden Leuchttürmen hindurch aus dem Hafen hinaus.
„Kurs Oasenland! Möge San-Agis mit uns sein!“
Alle Seeleute und Maran antworteten ihm.
„Möge San-Agis mit uns sein!“
Die Sonne war zwar schon seit einer Weile aufgegangen, aber sie stand noch im Osten hinter der Insel Estragos verborgen. Doch schon nach kurzer Zeit waren sie so weit gesegelt, daß sie den Schatten der hohen Inselfelsen verlassen hatten und die Sonne im Osten kurz über dem Meer am Himmel sahen. Obwohl sie noch sie niedrig stand, waren ihre Strahlen schon recht warm.
Das 'Krokodil' segelte nach Südosten und näherte sich allmählich der Küste, von der bisher aber nur die Altstadt auf dem Felsen von Tol Agis und die Berge weit im Norden und weit im Süden zu sehen waren. Gegen Mittag war Tol Agis jedoch hinter ihnen verschwunden und sie konnten stattdessen die flache Küste zwischen Tol Agis und den Südbergen sehen. Gegen Abend erreichten sie die das Südende der Großen Ebene in der Nähe des Vulkans, der wie eine Halbinsel aus dem Meer emporragte. Maran mußte daran denken, wie unvorsichtig er dort gewesen war.
„Ich habe wirklich Glück gehabt, daß ich dort wieder heil heraus gekommen bin …“
Sie gingen in der Nähe der Küste vor Anker und aßen gemeinsam etwas von dem Brot und den Trockenfrüchten. Maran hatte auch etwas Käse dabei, den er unter dem Schiffsführer und den fünf Seemännern verteilte.
Ein alter, weißhaariger und weißbärtiger Seemann nickte nachdenklich.
„Käse … das werden wir so bald nicht wieder essen … erst wenn wir im Oasenland angekommen sind. Wobei der Käse dort an den Ufern des Yalal ganz anders schmeckt als hier.“
Er wandte sich an Maran, während die anderen gerade über ein paar Erlebnisse auf ihren früheren Fahrten erzählten.
„Ich heiße Ljunga – ich fahre schon seit über dreißig Jahren mit Pjarto zur See. Dein Name ist Maran, habe ich gehört?“
„Ja. Sag, ihr beide habt seltsame Namen – sie klingen ein wenig fremd in meinen Ohren. Darf ich fragen, von wo ihr kommt?“
„Pjarto und ich und auch die meisten anderen von uns kommen aus dem Dorf nördlich des Klippenwassers. Kennst Du das?“
„Ja – ich bin mal das Klippenwasser hinab gewandert und ich habe eure Dörfer auch mal von einem Schiff aus gesehen, mit dem ich dort an der Küste entlang gesegelt bin.“
Ljunga nickte.
„Das Schiff war ein Brandaki-Segler, nicht wahr? Ich habe schon an Deinem Umhang gesehen, daß Du ein Brandaki-Freund sein mußt. Die verkaufen ihre Umhänge nicht … die sind wirklich schön bestickt – mit Ranken und Tieren …“
„Und ihr handelt mit Gewürzen und Harzen? Das lohnt sich?“
„Ja, das lohnt sich! Sehr sogar! Wir bringen das meiste nach Tol Agis. Von da aus wird der größte Teil dann weiter nach Sannaran gebracht.“
„Gewürze und Harze … ich habe die da schon mal in einem Kramladen am Hafen gesehen.“
„Das soll einer unserer Haupt-Abnehmer sein, habe ich gehört …“
„Dann sind da wohl auch Gewürze mit besonderer Wirkung dabei, oder?“
Da stand der Schiffsführer Pjarto auf.
„Los, los! Alle in die Hängematten, damit ihr morgen ausgeschlafen seid! Ich halte die erste Wache – Du bist dann in der zweite Hälfte dran, Ljunga.“
Maran hatte das Gefühl, daß der Schiffsführer den alten Seemann Ljunga vor allem daran hindern wollte, noch mehr über den Handel, der mit dem 'Krokodil' gemacht wurde, zu erzählen. Maran war sich ziemlich sicher, daß er zufällig herausgefunden hatte, wie die ganzen 'Gewürze' und 'Harze' und sonstigen 'Kräuter', die nicht in der Großen Ebene und auch nicht in den Südbergen und in den Nordbergen wuchsen, ihren Weg nach Sannaran fanden.
„Wenn ich die Säcke und Kisten, die die in Althafen an Land gebracht haben, geöffnet hätte, hätte ich wohl die meisten dieser 'Gewürze' und 'Harze' wiedererkennen können und auch ihre Wirkung genau beschreiben können … Aber ich bin nicht hier, um den Handel mit diesen 'Gewürzen und Harzen' einzuschränken. Das hätte auch wenig Sinn, denn dann würden andere diesen Handel übernehmen … Es ist besser, wenn wir in Sannaran den Menschen die Wirkungen dieser 'besonderen Kräuter' erklären und ihnen zeigen, wie man ihre Wirkung auch ohne sie durch Schwitzhütten, die Traumreise zur eigenen Seele, die Begegnung mit der eigenen Gottheit und ähnliches erreichen kann. …
Na, gut … dann werde ich mich mal in meine Hängematte legen.“
Als Maran am nächsten Morgen erwachte, hörte an dem Klang der Wellen, die an den Bug schlugen, daß das 'Krokodil' nicht mehr nah an der Küste vor Anker lag, sondern bereits wieder unterwegs war. Er schwang sich aus der Hängematte und stieg die Leiter hoch und schaute sich oben auf Deck um.
Der alte Ljunga sah ihn schmunzelnd an.
„Gut geschlafen? Wie ein Kind in den Armen seiner Mutter? … Wir sind schon lange wieder auf Fahrt.“
„Ich seh's – der Vulkan ist kaum noch zu sehen … Geht ihr jede Nacht vor Anker?“
„Nicht jede Nacht – wenn nur wenig stetiger Wind aus einer guten Richtung weht und es sternklar ist oder der Mond hell scheint, dann segeln wir auch Nachts, aber wenn es dunkel oder stürmisch ist, dann gehen wir an der Küste in einer Bucht vor Anker – das ist sicherer.“
„Und wenn es keine solche Bucht gibt?“
„Es gibt genügend Buchten. Du mußt nur wissen, wo welche sind, und auch sehen, wie das Wetter wird, und dann rechtzeitig die letzte erreichbare Bucht vor dem Einbruch der Nacht ansteuern. Und wenn's stürmisch ist oder der Wind aus der falschen Richtung kommt, ist das alles nicht so einfach.“
Ljunga schmunzelte, als er sah, daß Maran ziemlich nachdenklich drein sah.
„Pjarto ist der beste Schiffsführer, den ich kenne. Ihm kannst Du vertrauen … Und wenn mal eine Flaute kommt, haben wir noch die Ruder. Damit kommen wir zwar nicht schnell voran, aber es reicht, um nicht gegen Felsen oder zurück nach Norden getrieben zu werden.“
Maran stand die meiste Zeit am Bug und betrachtete die Küste, die meist Zeit recht steil und zerklüftet war. Dort gab es mit Sicherheit keine Wege nah am Meer … Ab und zu ging er in den Schiffsrumpf hinunter und zeichnete wieder ein Stück der Küste auf einen seiner Pergamentbögen. Er fand es nicht einfach, die Entfernungen zu schätzen, die sie zurücklegten, aber eine grobe Skizze und grobe Entfernungsangaben waren besser als gar keine Landkarte …
Einmal frug er Ljunga danach, wie viele Meilen das 'Krokodil' an einem Tag bei gutem Wind segeln konnte.
„Wie viele Meilen? Hm … ich denke, das werden im Sommer von Morgen bis Abend bei gutem Wind 50 bis 60 Meilen sein …“
Maran nickte.
„Von Althafen bis zum Vulkan haben wir von Morgens bis Abends gebraucht und hatten leidlich guten Wind – und das müssen ungefähr 50 bis 60 Meilen gewesen sein.“
„Ja – wir sind nicht gleich los gesegelt und wir sind früh vor Anker gegangen.“
Maran dachte daran, daß der 'Schwertwal' der Brandakis 100 Meilen am Tag zurücklegen konnte – aber das war bei einem Gemisch aus gutem und schlechtem Wind und bei Fahrten auch in der Nacht … und häufigem Rudern …
Der Alte sah Maran aufmerksam an.
„Ihr kennt euch ein wenig aus mit der Seefahrt, wie mir scheint.“
„Nicht viel … ich bin nur mal mit einem Brandaki-Schiff gefahren.“
„Die sind schneller als unser 'Krokodil' – aber unser Schiff liegt sicherer im Wasser, das kentert nicht so schnell. Um einen Drachen der Brandakis zu steuern, muß man schon ein sehr guter Seemann sein … das ist nicht einfach. Ich habe ein paarmal Brandaki-Schiffe im Hafen auf Estragos gesehen – schlank, leicht, flach, hoher Mast, breite Segel – da muß man wirklich sehr gut aufpassen, daß das nicht kippt. Das ist mir unser 'Krokodil' lieber … ein wenig träge, aber dafür sicher … Das ist kein Rennpferd wie die Brandaki-Schiffe, sondern ein kräftiges Kutschpferd …“
Da rief Pjarto laut über Deck und unterbrach ihr Gespräch.
„Alle an die Ruder! Dieser schwache Wind wird allmählich zu einer Flaute …“
Maran setzte sich wie alle anderen Seeleute auch an eines der Ruderlöcher an der Bordwand und begann zu rudern. Das war zwar eintönig und nach einer Weile bekam er die ersten Blasen an den Händen, sodaß er sich seine Hände beim nächsten Rudern mit Stoff umwickeln mußte, aber es tat auch gut, sich zwischendurch einmal anzustrengen – nur an Bord sitzen oder in der Hängematte liegen konnte auf Dauer ziemlich eintönig werden …
Nachdem sie schon fünf Tage unterwegs gewesen waren, stand Maran wieder einmal an Deck und betrachtete die anscheinend endlose Steilküste. Einmal waren sie in einer kleinen Bucht vor Anker gegangen, in die ein kleines Flüßchen mündete, und hatten ihre Fässer mit frischem Wasser gefüllt – sonst waren sie jeden Tag und auch die meisten Nächte ununterbrochen nach Süden gesegelt.
Auch am nächsten Tag sah Maran nur das weite Meer und rechter Hand die Steilküste, die soweit reichte, wie man sehen konnte. Sie hatte hier und da mal eine Bucht und hin und wieder war ihr auch mal eine kleine Felseninsel vorgelagert, die man wegen ihrer steilen Ufer nicht betreten konnte, aber die bei den Seevögeln sehr beliebt waren.
Am nächsten Tag und am übernächsten Tag war es nicht anders – acht Tage waren sie schon unterwegs. Maran hatte nicht geahnt, daß die Südberge hier derart breit waren … Immerhin kamen sie an diesem Tag noch einmal an eine Bucht, in die ein Bach mündete. Dort gingen sie vor Anker und fuhren mit dem kleinen Beiboot zu dem schmalen Strand in dieser Bucht, der sich vor der engen Schlucht gebildet hatte, durch die der Bach floß. Dort füllten sie ihre Fässer wieder mit frischem Wasser.
Einen Tag später fand Maran, daß die Steilküste deutlich flacher wurde und am übernächsten Tag ging sie allmählich in Wald-bewachsene flache Berge über.
Pjarto zeigte zu der Mündung eines Flüßchens hinüber.
„Das dort ist das letzte Wasser, an dem wir unsere Fässer auffüllen können bevor wie den Yalal erreichen.“
Maran rechnete nach, wie lange sie schon unterwegs waren.
„Das ist doch heute erst der zehnte Tag – dann müßten doch noch fünfzehn Tage vor uns liegen.“
„Ja – fünfzehn Tage ohne Bach und Flüßchen und Brunnen …“
Maran frug sich, wie es ein so langes Stück Küste ohne jeden Bach geben konnte.
Sie legten an dem Sandstrand an und füllten noch einmal ihre Wasserfässer. Maran sah, daß er zwar einige Bäume in diesem Wald kannte – vor allem die Weiden und Erlen am Ufer des Flüßchens, aber daß er die meisten dieser Bäume noch nie gesehen hatte. Nur die Akazien kannte er auch – die waren in der Großen Ebene sehr selten, aber hier war jeder dritte Baum eine Akazie …
Während sie noch die Fässer füllten, hörte er auf einmal Schreie oben in den Bäumen und sah so etwas wie kleine Fell-bedeckte Menschen. Erschrocken sprang er ein paar Schritte zurück,
Ljunga lachte gutmütig.
„Diese kleinen Baummenschen brauchst Du nicht zu fürchten, Maran – die sind neugierig, aber friedlich. Die springen da nur von Ast zu Ast und machen ein wildes Geschrei, wenn ein Dutzend oder mehr von ihnen zusammen sind. Es soll hier auch große Waldmenschen geben – fast so groß wie wir – aber die habe ich noch nicht gesehen. Ob das wirklich Menschen sind, weiß ich nicht – und eigentlich will ich's auch gar nicht wissen, denn die sind mir ein wenig unheimlich.“
Maran frug sich, ob Ljunga die Waldmenschen meinte, die er selber im Nordosten des Klippenwassers kennengelernt hatte – aber das klang eigentlich nicht danach.
„Sollen das richtige Menschen sein – so mit Werkzeugen und Kleidung und Sprache? Oder eher die großen Brüder von diesen Baummenschen da oben?“
„Eher Brüder von denen da oben.“
Maran nickte.
„Ich habe nicht gewußt, daß es solche Wesen gibt … ich weiß gar nicht, ob ich die 'Tiere' nennen soll, weil die doch fast wie Menschen sind …“
„Das kann ich Dir auch nicht sagen … Auf meinen Fahrten habe ich gemerkt, daß es vieles gibt, was ich mir vorher nicht habe vorstellen können … Wie z.B. die Krokodile, nach denen unser Schiff benannt worden ist.“
„Die sind hier aber nicht im Meer, oder?“
Maran schaute sich vorsichtig am Strand um, ob er irgendwo etwas entdeckte, das wie ein umgefallener, bemooster Baumstamm aussah, aber sich bewegte.
„Nein, nein – die leben nur in Flüssen und Seen und Kanälen – die mögen kein salziges Wasser …“
Maran schaute in die Bäume zu den Baummenschen hinauf, die neugierig zu ihm herabschauten, und frug sich, was er auf dieser Reise noch alles sehen würde.
Nachdem die Fässer alle gefüllt waren, segelten sie weiter. Der Wald ging allmählich in Grasland über und nach zwei Tagen war kein einziger Baum mehr am Strand zu sehen – nur Gras – eine endlose Graslandschaft. Doch nach drei weiteren Tagen endete auch das Gras und sie sahen nur noch Sand und hier und da auch mal ein paar Felsen. Der Himmel war fast immer wolkenlos und es wurde immer heißer.
Maran bemerkte auch, daß die Sonne mittags immer höher am Himmel emporstieg. Das hatte er sich ja schon auf der Fahrt nach Branda überlegt, daß das so sein mußte – aber trotzdem … Das jetzt hier wirklich auch zu erleben, war noch mal etwas anderes …
„Was ist das nur für ein Land? Wie soll man hier leben können? Man kann doch keinen Sand essen!“
Schließlich wandte er sich an den alten, weißhaarigen Ljunga.
„Wie leben die Menschen in dem Oasenland eigentlich? Und was ist eigentlich eine Oase?“
„Wovon die leben? An den Ufern des Yalal sind fruchtbare Felder – aber der Streifen mit diesen Feldern ist sehr schmal. Das ist das Oasenland, das sie auch 'Schwarzes Land' nennen – im Gegensatz zu dem 'Roten Land', wie sie die Wüste wegen des rötlichen Sandes nennen. Und eine Oase ist ein Ort in dieser Wüste, an dem es Wasser gibt – meist ist das ein tiefes Tal zwischen Felsen. Da wohnen dann ein paar Menschen zwischen den wenigen Palmen, die dort wachsen.“
„Palmen?“
„Ja – eine Art Baum … aber das sind ziemlich seltsame Bäume … Na – Du wirst sie ja in zehn Tagen sehen. Das Flußtal ist sozusagen die 'Große Oase', weshalb sie das Land dort meistens 'Oasenreich' nennen. Na, ja – die Bauern sagen eher 'Schwarzes Land', weil denen die fruchtbare schwarze Erde wichtig ist.“
Maran versuchte an den folgenden Tagen die Küste auf seinen Pergament-Bogen aufzuzeichnen, aber es gab einfach nicht viel aufzuzeichnen – und ob sie jetzt genau nach Süden segelten oder einfach in langgezogenen Bögen an der Küste entlang, konnte er nicht sagen, denn es gab nichts, woran er das hätte feststellen können. Es mußte grob Richtung Süden sein, weil die Mittagssonne immer ziemlich genau vor dem Bug des 'Krokodils' stand.
Vier Tage später stand Maran morgens an das Schifferhäuschen in der Mitte des 'Krokodils' gelehnt und schaute nach vorne nach Süden und hielt nach irgendetwas anderem als nach endlosem Wasser und endlosem Sand Ausschau – aber da war einfach nichts zu anderes sehen …
„Wer ist bloß als erster auf den Gedanken gekommen, hier an der Küste dieses Landes, in dem es keinerlei Leben gibt, zu segeln? Der kann doch gar nicht gewußt haben, ob da irgendwann noch mal was anderes als Sand und Hitze kommt … Hm … Und wenn da niemand als erstes von der Großen Ebene zum Oasenland gesegelt ist, sondern jemand vom Oasenland zur Großen Ebene? Das wäre dann was anderes – sie hätten nach zwölf Tagen den Bach und den Wald gefunden, an dem wir gewesen sind und hätten dann gewußt, daß es da im Norden noch andere Orte geben muß, an denen man leben kann … Ja – vermutlich haben die Oasen-Leute uns entdeckt und nicht wir die Oasenleute.“
Plötzlich zuckte er heftig zusammen, weil da fünf große Vögel – oder waren das Fische? – vor ihm über das Schiff geflogen waren. Er schaute ihnen verdutzt hinterher. Sie flogen auf der anderen Seite des Schiffes noch ein langes Stück weiter bevor sie wieder in das Wasser tauchten.
Da hörte er hinter sich jemanden lachen und dreht sich um – es war Pjarto.
„Das waren fliegen Fische – das ist hier ganz normal …“
„Fliegende Fische?“
„Ja – ich vermute, daß die fliegen, wenn sie verfolgt werden … Dann können die Haie oder wer auch immer da gerade Hunger hat, ihnen nicht folgen … Geschickt, nicht wahr?“
Pjarto lachte noch einmal über Marans Gesicht – er sah ziemlich verwirrt aus.
„Fische mit Flossen so breit wie Flügel – und sie können fliegen … und das waren mindestens 800 Schritt, was die da geflogen sind …“
An den nächsten Tagen sah Maran noch zweimal fliegende Fische, aber nicht mehr von so Nahem wie beim ersten Mal.
Sie segelten an der Küste entlang – Tag für Tag – und nichts schien sich zu ändern: Wasser und Sand, Sand und Wasser …
Maran saß an der Bordwand und ruderte wieder einmal, da der Wind nur ganz schwach blies. Er schaute immer wieder mal zu der eintönigen Küste hinüber.
„Warum leben da eigentlich Menschen? Was hält sie da? Warum ziehen die nicht in ein Land weiter im Norden, wo es mehr Regen und mehr Pflanzen gibt und fast alles grün ist? … Aber ich habe ja schon überlegt, daß es wahrscheinlicher ist, daß die Menschen von dem Oasenreich in die Große Ebene gewandert sind und nicht von der Großen Ebene ins Oasenland … Sind die Menschen im Oasenland dann unsre Vorfahren? Oder waren schon immer überall Menschen? … Zumindestens einst in der Schneezeit hat es schon Menschen in der Großen Ebene gegeben – und das ist ziemlich lange her … Und es gibt sie heute immer noch, diese Schneezeit-Menschen – das sind die Waldmenschen …
Was damals gewesen ist und wer da von wo in ein neues Land gekommen ist – wie soll man das jemals herausfinden? … Vielleicht ist hier in der Schneezeit nicht einmal eine Wüste gewesen? Damals muß es ja deutlich kälter als heute gewesen sein, da es sonst gar keine Schneezeit gegeben haben könnte … Dann hat es damals vielleicht auch hier geregnet und vielleicht ist dann hier auch was gewachsen …“
Sie segelten jetzt auch des Nachts, da Pjarto wußte, daß es hier keine Felsen im Wasser gab und die Küste auch in der ersten Hälfte der Nacht im Schein des zunehmenden Mondes gut zu sehen war. Sie gingen dann erst um Mitternacht, wenn der Mond im Westen versank, vor Anker.
Maran wunderte sich, welche Sternbilder er des Nachts am Himmel sah – viele davon kannte er noch überhaupt nicht.
„Ich bin wirklich ganz woanders als in der Großen Ebene … Auch in Branda standen andere Sterne am Himmel …“
Allmählich wurde ihm die Fahrt lang. Es gab wenig, was man an Bord tun konnte außer gelegentlich rudern. Er hatte den alten Ljunga gefragt, ob er ein paar Worte aus der Sprache der Menschen im Oasenreich sprechen konnte, doch er kannte nur gut fünfzig Worte, die Maran schnell gelernt hatte. Er wünschte, daß es mehr Worte gewesen wären – dann wäre die Fahrt weniger eintönig gewesen und er hätte etwas Sinnvolles tun können. Die anderen Seeleute kannten die Oasenland-Sprache nicht und der Schiffsführer Pjarto konnte sie zwar sprechen, aber er hatte keine Lust, sie Maran beizubringen.
Daher stand Maran wie so oft vorne am Bug und schaute in die Ferne.
„Der wievielte Tag ist das heute? … ein Tag mittleres Reich, neun Tage Steilküste, zwei Tage Waldberge, drei Tage Steppe, schon acht Tage lang Wüste … dann ist heute der dreiundzwanzigste Tag dieser Schifffahrt nach Süden … und ein Ende dieser eintönigen Wüste ist nicht abzusehen.“
Doch am nächsten Tag rief der alte Ljunga auf einmal voller Freude zu den anderen auf dem Schiff.
„Ein Baumstamm an Backbord! Und noch ein paar Äste! Wir nähern uns dem Delta des Yalal!“
Am Morgen des nächsten Tages sah Maran eine kleine Flußmündung und ein paar Häuser – und die Erde war schwarz statt rötlich-gelb wie der Sand der Wüste!
Sie segelten an dem Delta entlang, das wie ein großer Halbkreis in das Meer hinausragte. Hier und da sah Maran weitere kleine Flüßchen, die alle Arme des Yalal sein mußten. An den Ufern standen Bäume, die Maran noch nie gesehen hatte – hoch und ohne Äste und sie hatten nur ganz oben zwei Dutzend riesige Blätter. Das mußten die Palmen sein, von denen Ljunga gesprochen hatte. Fast überall waren Felder und vereinzelt sah er auch kleine Dörfer und Menschen. Die Rinder, die dort grasten, hatten seltsame Buckel und einmal hörte Maran auch einen Esel laut schreien.
Sie segelten noch bis fast um die Mittagszeit weiter, bis sie einen etwas größeren Fluß erreichten. Dort war eine große Stadt erbaut worden und Maran sah einen Hafen mit mehreren Molen und einem Leuchtturm, der deutlich größer war als die in Tol Agis oder in Althafen.
Sie segelten in einen der kleineren Häfen. Maran sah viele Schiffe, die fast alle auf eine fremdartige Weise gebaut worden waren. Einige schienen sogar statt aus Holz aus Schilfrohr gefertigt worden zu sein … Er sah auch einige Schilfflöße. Maran hatte den Eindruck, daß das hier kein Hafen für große Handelsschiffe oder Kriegsschiffe war, sondern eher ein Hafen für kleine Händler und für Fischerboote.
Der Hafen für die größeren Schiffe lag im Süden neben diesem kleinen Hafen – Maran konnte dort jenseits der Mole, die die beiden Häfen trennte, deutlich größere Schiffe sehen.
„Wohin mögen die eigentlich segeln? Nicht nach Norden, denn dann hätten wir die in Tol Agis und in Estragos schon mal gesehen … Noch weiter nach Süden? Oder ins Meer hinaus zu diesen Inseln, von denen mir Ljunga ein paarmal erzählt hat? … Ich bin hier schon so weit von daheim entfernt – und trotzdem geht das hier immer noch weiter ins Unbekannte … Wie groß ist die Welt bloß? … Das habe ich zwar mal in einem der Gespräche mit Tanros von Branda ausgerechnet auf unserer Fahrt nach Branda – aber was sind Zahlen im Vergleich zu dem unbekannten Land, wenn man es vor sich sieht?“
Maran wunderte sich über die fremdartige Kleidung, die die Leute hier trugen – meistens nur einen Schurz um die Lenden. Selbst die meisten Frauen trugen nur diesen Wickelrock aus weißem Stoff … und einige Männer arbeiteten ganz nackt auf den Schiffen und auf dem Kais.
Das 'Krokodil' trieb langsam auf eine Lücke am Kai zu und legte schließlich dort an und die Seeleute vertäuten das Schiff an zwei Pollern. Kurz darauf kam ein Mann über die Planke, die sie zum Kai hinüber ausgelegt hatten, an Bord und sprach in der Oasenland-Sprache mit Pjarto, der dem Mann einige Goldmünzen gab. Es gab also auch hier einen Hafenzoll – in der Fremde ist doch nicht immer alles anders als daheim …
Maran schaute vorsichtig über die Bordwand in das Wasser hinab, um zu schauen, ob er dort hungrige Krokodile sah. Ljunga deutete seine Blicke richtig und lachte freundlich.
„Die Krokodile leben nur im Süßwasser – und das hier ist Salzwasser. Hier findest Du höchstens mal ein paar Haie, aber keine Krokodile … wobei die Haie natürlich genauso gefräßig sein können wie die Krokodile …“
Maran dachte daran, daß er auf der Fahrt hierher keine anderen Schiffe gesehen hatte. Also mußte er mit demselben Schiff zurückfahren.
Maran ging zu Pjarto hinüber.
„Wie lange bleibt ihr hier in diesem Hafen?“
„Wahrscheinlich fünf, sechs Tage – vielleicht auch etwas länger. Die Seeleute gehen hier gerne zu den Wilden Frauen …“
Maran schaute ihn eine wenig ratlos an.
„Die wirst Du auch noch kennenlernen. … Es dauert ein Weilchen, hier Harze und Gewürze und Kräuter zu kaufen – man muß vergleichen und handeln … feilschen können die hier wirklich gut! Und wir müssen auch Brot und Trockenobst für die Rückfahrt besorgen. Komm am besten jeden Abend auf's Schiff zurück – das ist am sichersten.
Was willst Du hier eigentlich tun?“
„Mich umschauen, ein wenig mit den Leuten reden … mal sehen … Wie heißt diese Stadt eigentlich?“
„An-Djura.“
„Kann man das übersetzen?“