Maror - Lavie Tidhar - E-Book

Maror E-Book

Lavie Tidhar

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Beschreibung

Eine Autobombe in einer Seitenstraße von Tel Aviv. Ein Diamantenraub in Haifa. Bürgerkrieg im Libanon. Rebellenkämpfer im kolumbianischen Dschungel. Ein Doppelmord in Los Angeles.
Wie hängt das alles zusammen? Das weiß nur Cohen, ein Mann, der sein Land liebt.
Ein vernünftiger Mann für unvernünftige Zeiten.
Maror ist die Geschichte eines Krieges um die Seele eines Landes ‒ es ist eine wahre Geschichte. All diese Dinge sind passiert.

»Alle paar Jahre veröffentlicht ein israelischer Autor ein Blockbuster-Buch, das die Leser bei den Ohren packt und das, was sie über den jüdischen Staat wissen ‒ oder zu wissen glauben ‒, neu justiert. Großartig.« Jenni Frazer, The Jewish Chronicle

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Seitenzahl: 770

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Cover

Titel

Lavie Tidhar

Maror

Thriller

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5397.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © Lavie Tidhar, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagillustrationen: Bloomsbury Publishing, London (Kraut); FinePic®, München (Handgranate)

eISBN 978-3-518-77889-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

1 »Ist das Herz krank, folgt der Körper«. 2003

1Infected Mushroom

2Dorn und Stechstrauch

3Süßwasseraale

4Es kommt noch schlimmer

5Palestine, Texas

6Auch Bullen rauchen Gras

7Schön ruhig

8Schöne Grüße an Maya

9Alte Freunde

10Ein notwendiges Übel

11Die Abadis

12Autopsie

13Blühender Mohn

2 Das Mädchen am Strand. 1974

14Frühling

15Die Mühlen der Justiz

16Rutenberg

17Im Tunnel

18Tel Aviv

19Schlaf gut, Wachtmeister!

20Die Beerdigung

21Die Schlägerei

22Wieder zu Hause

3 Mein Name ist Elisha Barnea. 1974

23Der Verdächtige

24Das Date

25Der zweite Tag

26Die Schuhe

27Er ging in die Felder

4 Kleinganoven. 1976

28Waterloo

29Operation Entebbe

30Schlaf gut, Wachtmeister!

5 »Der Wächter ist rein in Tat und Gedanke«. 1976

31Ein guter Tag

32Warten

33Polizei

6 »Ihr werdet in diesem Land nicht atmen« . 1977

34Die Party

35Das Tabu

36Das Land

37Die Glocke

38Die Story

39Die Bar

40Das Geld

41Der Agent

42Die Jagd

43Das Treffen

7 Libanon. 1982

44Hold Back the Rain

45Anyone Out There

46Hungry like the Wolf

47Rio

48Careless Memories

8 Hava. 1985

49Mela

50Die Frage

51Aviva

9 Night Train to Cairo. 1986

52Sunstroke

5:00 Uhr

5:30 Uhr

6:00 Uhr

7:00 Uhr

8:00 Uhr

9:00 Uhr

10:00 Uhr

10:35 Uhr

11:10 Uhr

11:40 Uhr

12:15 Uhr

13:05 Uhr

14:25 Uhr

15:25 Uhr

16:45 Uhr

17:55 Uhr

19:45 Uhr

20:00 Uhr

22:00 Uhr

23:00 Uhr

00:41 Uhr

10 Kippy. 1987 Los Angeles

53Bagdad Café

54Enrique Gonzales

55Drogen und Murder Inc.

56So eine Bande

57Das Bonaventure

58Epitaph

11 Puerto Boyacá. 1989 Kolumbien

59Flussabwärts

60Esel

61Der Mexikaner

62Nilpferde

63Der Vogel

64Zuhause

12 Unter den Kiefern . 1993

65Auf der Jagd nach einer Story

13 High Rollers and Happy Pills. 1994

66Eine Faust voll Ecstasy

67Das große Spiel

68Party People

69Der Schuldeneintreiber

14 Kaviar. 1994

70Gewöhnliche Leute

23 Uhr

5 Uhr

6:30 Uhr

9:30 Uhr

12:30 Uhr

13 Uhr

14 Uhr

15 Uhr

16:15 Uhr

19:30 Uhr

22:30 Uhr

00:00 Uhr

15 Arad 95. 1995

71Take the Nineties

17. Juli 1995: Tagsüber

17. Juli 1995: Nachts

18. Juli 1995: Tagsüber

18. Juli 1995: Abends

16 »Drei Schüsse aus nächster Nähe« . 1995

72Eis am Stiel

17 Zimmer 816. 2001 Jerusalem

73Unerledigte Geschäfte

18 Tod in Cancún. 2008 Mexiko

74Unabhängigkeitstag

Informationen zum Buch

Maror

1

»Ist das Herz krank, folgt der Körper«

2003

1Infected Mushroom

»Niemand weiß was, niemand hat was gesehen, und auf den Friedhöfen liegen lauter Unschuldige.« – Natasha

Als das Telefon klingelte, lag Avi mit Natasha im Bett.

In seinem Kopf hämmerten noch die Beats von Infected Mushroom. Gestern Nacht im Barbie. Stroboskoplicht und eine riesige Wolke aus Zigarettenqualm. Ecstasy. Keine Waffe, sondern eine Flasche Goldstar in der Hand. Er war zwar nicht im Dienst gewesen, die Ersatzpistole hatte er aber trotzdem hinten in seinem Hosenbund dabeigehabt.

Gestalten im diesigen Licht, ihre Gesichter waren kaum zu erkennen gewesen. Nur deshalb hatten sie sich so in der Öffentlichkeit treffen können. Natasha hatte natürlich trotzdem mal wieder einen echten Auftritt hingelegt. Wie immer. War im Pelzmantel direkt auf ihn zugekommen und hatte ihn auf die Lippen geküsst, ihm ihre Zunge in den Mund gestoßen, eine Pille dabei rübergeschoben und gelacht. Er hatte sie gierig zurückgeküsst. Er konnte gar nicht genug von ihr kriegen.

Das Telefon klingelte immer weiter.

Avi tastete nach dem Hörer und sagte: »Was?«

Im Zimmer war es dunkel, vereinzelt drang Licht durch die Ritzen der Jalousie. Draußen hupten Autos, Presslufthämmer ratterten auf dem Asphalt, rissen die Straße auf. Die Stimme am anderen Ende klang kurz angebunden. Avis Mund schmeckte nach Aschenbecher. Er knirschte mit den Zähnen. War am Durchdrehen.

»Was ist?«, fragte Natasha, drehte sich um und presste sich an ihn. Ihre Haut glühte. Avi sagte: »Okay«, und legte auf. Dann: »Ich muss los.«

Natasha schmollte. Sie griff ihm zwischen die Beine und grinste, als er einen Steifen bekam, bewegte die Hand rauf und runter. »Bist du sicher?«, fragte sie.

Avi knirschte wieder mit den Zähnen. Natasha rieb weiter. Avi tastete nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

Sirenen, Schaulustige, ein eingestürztes Gebäude, die verkohlte Karosserie eines ausgebrannten Wagens. Armee und Polizei riegelten die Umgebung ab. Ein Reporter mit Mikro. Avi drehte lauter.

»In der Yahuda Halevy Street ist heute am frühen Morgen eine Autobombe explodiert«, berichtete der Reporter. »Kinder befanden sich unbekümmert und nichtsahnend auf dem Weg zur Schule, als es vor einem Grillrestaurant, das erst wenige Minuten zuvor geöffnet hatte, zur Tragödie kam.«

In Avis Kopf hämmerte es. Natasha fragte: »Was …?«

Sie ließ von seinem Schwanz ab, zog die Hand weg.

»Die mit einer riesigen Sprengladung versehene Autobombe ging in einem gewaltigen Feuerball auf«, fuhr der Reporter fort. Er sprach in dem typischen, monotonen Singsang, betonte jedes Wort gleichmäßig bis auf die vorletzte Silbe, der er umso mehr Nachdruck gab. Tragödie er-EIG-nete. Feu-ER-Ball. Avi atmete stoßweise.

»Inmitten der Trümmer Verletzte, Sterbende und Tote.« Der Reporter legte eine Kunstpause ein.

Und Tote.

»Unter den Opfern befinden sich auch zwei Kinder. Insgesamt kamen fünf Menschen ums Leben, weitere wurden bei dem abscheulichen Anschlag verletzt.«

Natasha setzte sich auf, schlug die Hand vor den Mund.

»Das ist ja schrecklich«, sagte sie, drehte sich um und sah Avi an, als hätte er die Menschen retten können. Unmöglich, ihrem Blick zu entkommen, sie strahlte. Ihre Augen erinnerten an das Tote Meer bei Sonnenuntergang.

Er sagte: »Ich bin verrückt nach dir, Tash.«

»Polizei und Magen David Adom Rettungswagen waren innerhalb weniger Minuten vor Ort. Bislang hat sich noch keine Terrororganisation zu dem Anschlag bekannt. In Jerusalem kündigte der Premierminister an, man werde nichts unversucht lassen, um die Täter …«

Avi riss sich schweren Herzens los. Er tastete nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus, sagte: »Ich muss los.«

»Ist nicht weit von hier«, meinte Natasha.

Avi schnappte sich seine Jeans vom Boden, zog in Papier eingewickelte Pillen aus seiner Gesäßtasche, schluckte eine davon trocken runter. Das schrille Jaulen in seinem Kopf wurde zum Bienensummen. Er schlüpfte in ein Hemd. Zog sich an. Steckte seine Pistole ein.

»Wozu brauchen die dich?«, fragte Natasha.

»Weiß ich nicht.«

Er ging in die Knie, um sie noch einmal zu küssen. Sie schlang die Arme um ihn. »Geh hinten raus«, sagte sie. »Und pass auf, dass dich keiner sieht.«

»Weiß doch niemand was von der Wohnung«, erwiderte Avi.

»Niemand weiß was, niemand hat was gesehen«, sagte Natasha, »und auf den Friedhöfen liegen lauter Unschuldige.«

Klang wie ein Spruch von einem ihrer Brüder – beim Gedanken an Natashas Brüder wurde das Summen in Avis Kopf wieder lauter.

»Ich pass auf«, sagte er.

Er ging, ließ sie dort zurück, nahm zwei Stufen auf einmal. Am Notausgang blieb er stehen, zog ein kleines schwarzes Filmdöschen aus der Tasche und hob den Deckel ab, schüttelte sich ein kleines Häufchen Pulver auf die Faust und schniefte es.

Das Licht wurde heller, die Geräusche lauter. Er stieß die Tür auf, die Sonne blendete ihn, so dass er seine Sonnenbrille aufsetzen wollte. Die Presslufthämmer weiter oben an der Straße bohrten sich direkt in sein Gehirn. In der schmalen Gasse neben dem Haus war niemand. Er ging nach vorne zur Straße und sah keine verdächtig geparkten Fahrzeuge, niemanden auf Beobachtungsposten. Er ging zwei Straßen weiter, wo sein eigener Wagen stand. Stieg ein. Schob eine Kassette in die Anlage und drehte die Lautstärke hoch, ein Techno-Remix aus Beethovens »Für Elise« pumpte los. Stammte wohl aus der Türkei, jedenfalls hatte das der Bootleg-Verkäufer am Zentralen Busbahnhof behauptet, dem er das Tape abgekauft hatte. Die Beats und Klavierklänge übertönten den Lärm in Avis Kopf und überführten ihn in reine Musik. Sie versetzte ihn zurück in die Zeit, als er, wie alt war? Elf oder zwölf? Jeden Donnerstagnachmittag hatte er Klavierunterricht bei Mrs Idelovich gehabt, die Hebräisch mit breitem ungarischem Akzent sprach, dünne Mentholzigaretten rauchte und ihn piesackte, obwohl er doch eigentlich nur draußen sein wollte. Das war der Sommer, in dem sein Vater einen Schlaganfall erlitt. Der Sommer, in dem Avi zum ersten Mal den Goldins begegnete.

Er trat aufs Gas und raste die Straße entlang, vorbei an den Bauarbeitern, deren Presslufthammerlärm sich mit den elektronischen Beats seines Tapes mischte. Auf der Har Ziyon Avenue herrschte reger Verkehr. Avi trat auf die Bremse, als ein Taxi und ein Egged-Bus einander direkt vor ihm nur knapp verfehlten. Der Taxifahrer lehnte sich aus dem Fenster und fuchtelte wütend mit einer Zigarette Richtung Busfahrer.

»Pass doch auf, wo du hinfährst!«, schrie er.

»Hast deinen Führerschein wohl im Lotto gewonnen!«, brüllte der Busfahrer stinksauer zurück. »Scheiß Taxis, ihr seid wie Ungeziefer hier in der Stadt!«

Er sprach im Tonfall eines ehemaligen rabbinischen Schülers. Avi drückte auf die Hupe. Beide Fahrer sahen ihn böse an, vereint in ihrem Hass. Avi hielt ihnen sein Dienstabzeichen entgegen.

»Polizei!«, schrie er, drückte erneut auf die Hupe und schob sich an dem Bus vorbei, kaum dass sich dieser wieder in Bewegung gesetzt hatte – dicht genug, um den verdutzten Gesichtsausdruck des Fahrers zu seiner Rechten zu sehen, dann trat er aufs Gas, bis er die Levinsky Street mit den Flüchtlingen rechts hinter sich gelassen und mit quietschenden Reifen scharf um die Kurve auf die Menachem Begin Road abgebogen war.

Laster, Taxis und Fahrradkuriere, die Luft war heiß und stickig. Avi schnitt durch den Verkehr, bog rechts ab und überfuhr eine rote Fußgängerampel. Er brüllte vor Lachen, als die Passanten auseinandersprangen. Dann wieder rechts, und da war schon die unvermeidliche Polizeiabsperrung. Mit quietschenden Reifen kam er zum Stehen und stieg schwankend aus dem Wagen. Allmählich wirkten die Pillen.

Kurz ließ er sein Dienstabzeichen aufblitzen und sagte »ja, ja«, als ihn ein uniformierter Polizist aufhalten wollte.

»Was ist los?«, fragte Avi.

»Keine Ahnung«, erwiderte der Uniformierte. »Ich regle nur den Verkehr.«

»Das machen Sie gut«, lobte Avi ihn, klopfte ihm auf die Schulter und schlenderte weiter. Er sah sich auf der Straße um. Es wimmelte vor Polizisten, den Kollegen vom Sprengstoffkommando, Sanitätern und Journalisten. Unverletzt gebliebene Anwohner streckten die Köpfe zu den Fenstern der oberen Stockwerke hinaus und beobachteten das Geschehen unten.

Der explodierte Wagen stand am Bordstein. Mehr als das rußschwarze Fahrgestell war nicht übrig. Die Scherben der zersprungenen Fensterscheiben lagen auf dem Boden. Blut trocknete auf dem Asphalt. Detectives sprachen mit Zeugen. Der Wagen stand vor einer Geldwechselstube, deren Ladentür sich nach innen gewölbt hatte, die Außenmauer war eingestürzt, aber das Schild noch zu erkennen. Links der Geldwechselstube befand sich ein Lebensmittelladen und rechts ein Grillrestaurant, so eins ohne Schnickschnack mit Serviettenspendern auf den Tischen, wo man sich satt essen konnte und auf einen Fünfziger sogar noch Wechselgeld herausbekam.

Irgendwie fühlte Avi sich durch all das an etwas erinnert, aber auf keine gute Art. Sein Kopf hämmerte, und er knirschte immer noch mit den Zähnen. Ronen kam und drückte ihm einen Plastikbecher Kaffee in die Hand, schnupperte Richtung Avi und sagte: »Du stinkst wie eine Nutte.«

Avi nahm einen Schluck. Der Kaffee war heiß, süß und schwarz, brannte in seiner Kehle. Er sagte: »Was machen wir hier, Ronen?«

»Sag du’s mir, Avi.«

»Eine Autobombe«, erwiderte Avi. »Terroristen?«

Ronen zuckte mit den Schultern. »Kann sein«, meinte er.

»Was denn sonst?« Avi fiel etwas anderes ein, das ihn beunruhigte. Er fragte: »Woher wusstest du, wo du mich findest?«

»Ich hab’s nicht gewusst«, sagte Ronen. »Cohen hat mir die Nummer gegeben und gesagt, ich soll dich herbestellen.«

»Cohen?« Das ungute Gefühl verschlimmerte sich. Eigentlich hätte niemand wissen dürfen, wo er war. Niemand hätte die Telefonnummer haben dürfen. »Scheiße.«

Ronen nickte in Richtung der Kamera-Crews, die sich in respektvoller Entfernung zum Tatort, aber noch in Sichtweite versammelt hatten. »Gleich gibt’s eine Pressekonferenz, müsste jeden Augenblick losgehen.«

»Was will er von mir?«, fragte Avi. Er hatte sich während seiner gesamten Dienstzeit möglichst von Cohen ferngehalten.

»Ich bin kein Orakel, Avi. Komm schon.« Ronen nickte zur wartenden Presse. »Vielleicht erfahren wir ja beide was.«

»Hast du mir ein Sandwich mitgebracht?«

»Ich hab dir kein Sandwich mitgebracht. Hier.« Er zog ein verkrumpeltes Päckchen Noblesse aus der Tasche und klopfte damit auf seinen Handballen, bis eine Zigarette hervorlugte. Avi nahm sie und ließ sich Feuer geben. Er sog den Rauch ein und trank den türkischen Kaffee.

»Danke, Ronen.«

»Ruhe! Die fangen an.«

Ruhe war gut. Genau das, was er brauchte. Inzwischen wirkten die Pillen. Der elektronische Drum Beat hämmerte beständig weiter in seinem Kopf. Der Wagen schwelte noch. Verletzte Zeugen mit verbundenen Armen oder Beinen sprachen mit Polizisten. Kameras blitzten. Er merkte, dass die Journalisten stiller wurden, folgte ihren Blicken, dann sah er ihn.

Groß, adrett, ungefähr Ende fünfzig. Graue Augen, so kalt wie das Meer in einem fernen Land. Ganz bestimmt nicht das Mittelmeer. Es hieß, sein Blick sei kalt, sein Blut aber heiß. Und angeblich war er klug. Für einen Polizisten jedenfalls zu klug.

Die Journalisten waren jetzt leise. Alle schalteten einen Gang runter und verstummten. Avi erstarrte, nur sein Herz schlug noch im Rhythmus der Musik. Er schüttelte den Bann von sich ab, zog noch einmal an der Zigarette und hustete. Seine Hand mit dem Kaffee zitterte. Cohen drehte sich um, sah ihn an und erkannte ihn. Er nickte, dann ging er zu den Pressevertretern.

»Chief Inspector Cohen«, stellte er sich vor. »Aber Sie kennen mich.«

Er wartete. Hinter ihm der ausgebrannte Wagen.

»Ein Bombenanschlag«, fuhr Cohen fort. »Fünf Tote, darunter zwei Kinder.« Er blickte finster in die Kameras. »Mal wieder ein grausames Attentat, das mal wieder Schlagzeilen machen wird.«

Er schüttelte theatralisch den Kopf.

»Nein!«, donnerte er. »Was sich heute hier ereignet hat, übersteigt das Maß des Erträglichen. Es handelt sich um einen kriminellen Terrorakt.«

»Was?«, fragte Avi

»Was?«, fragte Ronen.

»Der Wagen war mit Sprengstoff beladen«, sagte Cohen. »Er wurde in den frühen Morgenstunden direkt vor der Wechselstube abgestellt, die der Unternehmer Aryeh Rubenstein kurz vor der Explosion noch besucht hatte.«

Avi wurde kalt. Der Beat stampfte. Die Journalisten brüllten Fragen. Cohen stand stolz und erhobenen Hauptes da.

»Laut Augenzeugenberichten hielt sich Rubenstein zirka fünfzehn Minuten in der Wechselstube auf. Die Bombe explodierte, in dem Moment, in dem er sie verließ. In der kurzen Verzögerung, die der Detonation unmittelbar vorausging, gelangte Rubenstein bis an seinen Wagen, der zwei Parklücken weiter auf ihn wartete. Er wurde nur geringfügig verletzt und wird derzeit wegen kleinerer Blessuren am Arm im Krankenhaus behandelt.«

»Wollen Sie sagen, der Anschlag galt ihm? Wollte ihn eine andere kriminelle Familie töten?«, schrie ein Reporter von Channel 2 News.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir nichts ausschließen«, erwiderte Cohen. »In Absprache mit der Armee und dem Grenzschutz behandeln wir den Anschlag als kriminelle Tat. Ich denke, dass es sich um ein Attentat auf Mr Rubenstein handelt. Er hatte Glück – die Mitarbeiter der Wechselstube nicht. Als die Bombe explodierte, kam zufällig eine Gruppe Kinder auf dem Weg zur Schule vorbei. Ein Junge und ein Mädchen starben sofort. Ein anderes Kind befindet sich noch in kritischem Zustand im Krankenhaus.«

Cohen versagte die Stimme. »Auf unseren Straßen sterben Kinder!« Er fuchtelte zornig mit dem Finger in die Kameras. Die Reporter wichen zurück. »Ich versichere Ihnen, die Polizei wird nichts unversucht lassen, bis die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.« Er hielt inne, ließ seinen Arm sinken und sagte: »Ich stehe Ihnen jetzt für Fragen zur Verfügung.«

Die Reporter schrien ihre Fragen. Avi drehte sich um, er hatte genug gesehen. Er ließ den leeren Kaffeebecher fallen und schnippte die Zigarette von sich.

»Rubenstein, hm?«, sagte Ronen. »Damit wäre eine Grenze überschritten. Ein Bombenattentat an einem öffentlichen Ort wie diesem hier? Das ist krimineller Terror.«

Avi wunderte sich nicht darüber, wie schnell Ronen sich den neuen Begriff angeeignet hatte. Krimineller Terror. Wer hatte sich das ausgedacht?, fragte er sich. Vermutlich Cohen höchstpersönlich.

Was wollte der von ihm? Was hatte Cohen gegen ihn in der Hand?

Er dachte an das schwarze Filmdöschen in seiner Tasche, er würde sonst was geben für eine schnelle Line. Stattdessen folgte er Ronen zu dem Zeugen aus dem Grillrestaurant.

Der Mann war Araber und sehr nervös – aus gutem Grund. Unter diesen Umständen war’s nicht gut, Araber zu sein. Und auch sonst nicht.

»Und?«, fragte Avi. »Was haben Sie gesehen?«

»Das hab ich dem anderen doch schon erzählt«, erwiderte der Mann. Er sah Ronen flehend an. »Was soll ich denn machen?«, fragte er. »Wenn das Restaurant nicht geöffnet ist, werde ich nicht bezahlt.«

»Sie können von Glück sagen, dass Sie in keiner Zelle sitzen«, sagte Ronen.

»Einer Zelle? Wieso in einer Zelle? Ich hab Ihnen doch gesagt, ich arbeite bloß in der Spülküche.«

Ronen seufzte, zog eine Noblesse aus dem Päckchen und bot auch dem Zeugen eine an. Der nahm sie dankbar entgegen, gab sich selbst Feuer. »Schrecklich war das, wirklich«, sagte er. »Die Kinder, die kommen jeden Tag zur selben Zeit hier vorbei. Ich hätte mir das niemals vorstellen können. Ich hab den Wagen gesehen, aber bloß gedacht … na, ich hab mir gar nichts gedacht. War ja bloß ein Auto.«

Avi trat von einem Fuß auf den anderen, bediente sich an Ronens Zigaretten und sagte: »Vergessen Sie die Kinder. Erzählen Sie mir was über den Mann im Wagen.«

»Über den?« Jetzt guckte der Tellerwäscher noch nervöser. »Ein großer Kerl mit einer dicken Wampe, kam in einem schwarzen Mercedes an und ist hinten ausgestiegen, also muss er einen Fahrer gehabt haben. Der ist aber im Wagen geblieben. Außerdem war noch ein anderer dabei, der die ganze Zeit vor der Tür stehen geblieben ist, so lange, wie er drinnen war.«

»Wieso haben Sie das alles gesehen?«, fragte Avi.

»Ich hab eine geraucht. War früh dran, die Küche hatte noch nicht geöffnet.«

»Haben Sie ihn erkannt?«, fragte Avi.

»Wen?«

»Den Mann.«

»Ich weiß von nichts«, erwiderte der Tellerwäscher.

»Ja oder nein?«, fragte Avi mit einem Hauch Schärfe in der Stimme.

»Vielleicht, keine Ahnung. Manchmal kommt er her. Ungefähr einmal die Woche. Geht mit leeren Händen rein und kommt mit einer Tasche wieder raus.«

»Was ist in der Tasche?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte der Tellerwäscher zurück und zeigte auf die zerstörte Ladenfront. »Das ist eine Wechselstube«, sagte er. »Was haben die denn außer Geld?«

»Was ist passiert, als der Mann rauskam?«, fragte Avi.

»Nichts. Er ist zu seinem Wagen gegangen, und sein Leibwächter ist ihm gefolgt. In dem Moment kamen die Kinder vorbei. Ich hatte fertig geraucht, wollte rein und sauber machen. Ungefähr zwei Sekunden später ist die Bombe hochgegangen.« Er sah Avi an mit dem Blick eines verwundeten Vögelchens. »Ich habe Glück, dass ich noch lebe«, sagte er.

»Gilt das nicht für uns alle?«

»Ich vermute mal, der Typ hatte auch Glück«, sagte der Tellerwäscher.

»Vermutlich schon«, entgegnete Avi. Jemand rief seinen Namen, und er drehte sich um.

Cohen bedeutete ihm, zu ihm zu kommen.

»Danke«, sagte Avi zu dem Tellerwäscher.

»Wofür?«, fragte er, aber Avi hörte schon nicht mehr hin.

Er ging zu Cohen, stand stramm und salutierte.

»Stehen Sie bequem!«, sagte Cohen. »Ist doch kein Appell hier.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Detective Avi Sagi? Ich bin Chief Inspector Cohen.«

»Ich weiß, wer Sie sind.«

Cohen sah ihn amüsiert an. »Und ich weiß, wer du bist«, erwiderte er.

»Ja, Sir.«

»Ich habe deine Berichte gelesen.«

Avi schwitzte.

»Ja, Sir«, sagte er.

»Hör auf damit. Sag ruhig Cohen.«

Avi nickte.

»Wieso bist du nie zu mir gekommen?«, fragte Cohen und klang beinahe gekränkt. »In meinem Team ist immer Platz für gute Leute. Und ich habe gehört, du bist gut, Avi.«

Gute Leute.

Avi knirschte mit den Zähnen. Cohen nickte, als hätte er etwas entschieden.

»Komm«, sagte er.

»Wohin?«, fragte Avi, obwohl er glaubte, es längst zu wissen.

2Dorn und Stechstrauch

»Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen ?« – Shylock

In dem Sommer, in dem Avi bei Mrs Idelovich Klavierstunden nahm und er die Goldin-Brüder kennenlernte, erlitt Avis Vater einen Schlaganfall. Avi erinnerte sich an das Krankenhaus: an den Linoleumboden, der quietschte, wenn man darüber ging, an das viel zu grelle Licht, die rauchenden Männer in den Gängen und daran, wie erschrocken er war, wenn er aus einem der Zimmer ein Weinen oder Schluchzen hörte. Die Wände waren noch genauso schmutzig weiß gestrichen, aber jetzt hingen überall neue »Rauchen verboten«-Schilder und vor Aryeh Rubensteins Tür standen zwei bewaffnete Polizisten.

Cohen und Avi hatten sich am Krankenhauseingang getroffen. Sie waren in getrennten Fahrzeugen hergekommen, was Avi eine kurze Schonfrist verschafft hatte, für die er dankbar war. Auf der Fahrt hatte er ein Pfefferminz gelutscht und das Lenkrad fest umklammert.

»Ein abscheuliches Verbrechen«, sagte Cohen jetzt. Er sah Avi so ungerührt an wie ein Biologielehrer, der vor versammelter Klasse einen Frosch seziert. »Es wird nicht ungesühnt bleiben. Vergeltung, Detective Sagi. ›Die Rache ist mein‹, sagt der Herr. Fünftes Buch Mose 32:35. ›Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen.‹ Erstes Buch Mose. Weißt du, dass ich eine Enkeltochter habe, die so alt ist wie die toten Kinder?« Er packte Avi an den Schultern. Avi zuckte zusammen.

»Und wenn ihr uns beleidigt«, sagte Cohen leise, »sollen wir uns nicht rächen?«

»Zweites Buch Mose?«, riet Avi.

»›Kaufmann von Venedig‹«, erwiderte Cohen. »Shakespeare.«

»Ah.«

»Wer auch immer das getan hat, ich werde ihn finden, Detective Sagi.«

»Verstehe.«

»Wirklich?«, fragte Cohen. »Verstehst du das?«

Avi starrte Cohen in die Augen, sah die kalte Unerbittlichkeit darin.

Er schluckte.

Und sagte: »Ja.«

»Dann komm.« Cohen ließ Avis Schulter los.

Sie gingen die Treppe nach oben und mehrere Gänge entlang. Eine Tür stand halb offen, dahinter sah Avi ein kleines Mädchen auf einem Bett, umringt von Monitoren. Er sah ihren Herzschlag, die gezackte rote Linie. Eine Schwester im Raum sah ihn böse an und schloss die Tür.

Sein Vater verbrachte den Sommer damals im Wohnzimmer, er saß reglos in dem Sessel, in dem er früher immer Zeitung gelesen hatte. Das Haus war so still, dass man nichts hörte, außer dem Klavier, wenn Avi stockend »Clair de Lune« und »Für Elise« spielte. Das verdammte Klavier. Im Haus war es viel zu still. Die Rollläden waren permanent heruntergelassen, und nur seine Mutter ging ein und aus. Avi wollte nur noch weg. Am liebsten hätte er irgendwas kaputt geschlagen.

»Stehen Sie bequem, Gentlemen«, sagte Cohen. Die beiden Polizisten, die vor der Tür Wache hielten, sahen ihn und rührten sich. Cohen steckte einem von ihnen ein frisches Päckchen Marlboro zu.

»Geht rauchen«, sagte er.

»Wir dürfen nicht …«, sagte der andere, aber sein Partner packte ihn am Arm und zog ihn weg.

»Danke, Cohen.«

»Lasst euch ruhig Zeit«, sagte Cohen und stieß die Tür auf, Avi folgte ihm ins Zimmer.

»Bleiben Sie …«, sagte ein stämmiger Mann und wollte sich ihnen in den Weg stellen. Cohen boxte ihn in die Magengrube, und als er zu Boden sackte, rammte er ihm ein Knie unters Kinn. Avi hörte Knochen brechen und zuckte zusammen.

»Hey, was … ach, du bist das, Cohen.«

Der Leibwächter stöhnte und blieb liegen. Avi half ihm auf.

»Zum Glück sind wir im Krankenhaus«, sagte er.

»Geh, bring dich in Ordnung, Semyon«, sagte der Mann im Bett. Rubenstein. Er sah Cohen böse an. »Was willst du? Und wer ist der andere?«

»Der gehört zu mir.«

Semyon, der Leibwächter, ging aus dem Zimmer. Jetzt waren sie zu dritt, aber eigentlich wäre Avi lieber gar nicht dort gewesen. Er hatte das Gefühl, das hier einiges aus dem Ruder lief und das möglicherweise schon seit geraumer Zeit.

Avi war noch ein Kind gewesen, als er Rubenstein zum letzten Mal persönlich begegnet war – in der Nacht, in der Shai Goldin angeschossen wurde.

»Hör zu«, sagte Rubenstein. »Ich hatte nichts damit zu tun, Cohen. Die Wichser wollten mich umbringen!«

»Wegen dir steh ich jetzt saublöd da, Aryeh«, sagte Cohen, »eine Bombe in einer Wohngegend. Zivile Opfer. Du hast die Situation nicht mehr im Griff.«

Rubenstein erhob sich wütend. Avi sah, dass er nur geringfügig verletzt war, ein Kratzer an der Wange und ein Arm in einer Schlinge. »So was lasse ich mir nicht bieten, Cohen. Das ist eine Kriegserklärung.«

»Ich kann keinen Krieg gebrauchen, Aryeh.«

Rubenstein zuckte mit seiner schiefen Schulter. »Das haben du und ich nicht mehr zu entscheiden, Cohen«, erklärte er. »Jetzt liegt es an Gott.«

»Du unternimmst nichts«, befahl Cohen. »Ist das klar?«

»Willst du mir jetzt Vorschriften machen?« An Rubensteins Hals traten Adern hervor. »Du vergisst, wer du bist.«

»Wir finden eine saubere Lösung.«

»Sauber«, sagte Rubenstein, als hätte er das Wort nie zuvor gehört und als würde es ihm ganz und gar nicht gefallen. »Hör zu«, sagte er. »Selbst wenn ich wollte, die Jungs sind stinksauer, die wollen was unternehmen.«

»Dann nimm sie an die Leine.«

»Ich kann dir ein paar Tage geben«, sagte Rubenstein. »Eine Woche vielleicht. So eine Scheiße ist schlecht fürs Geschäft, aber ich will Köpfe rollen sehen.«

»Haben Sie denn eine Ahnung, wer das war?«, fragte Avi. Seine Stimme kam ihm eingerostet vor, weil er so lange nichts gesagt hatte. Rubenstein drehte sich zu ihm um.

»Ich bin Geschäftsmann«, sagte Rubenstein. »Ich habe keine Feinde.«

»Na schön«, sagte Cohen. »Ich will, dass du den Ball eine Weile flach hältst. Mach Urlaub in deinem Haus auf Zypern.«

»Oh, glaub mir, eine solche Chance biete ich denen kein zweites Mal«, sagte Rubenstein.

»Lass uns mal kurz allein, Avi«, sagte Cohen.

»Klar.«

Avi ging raus, machte die Tür zu, lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Seine Hände zitterten. In seiner Tasche vibrierte etwas. Er fischte sein Handy heraus, klappte es auf. Zwei Nachrichten, eine von Natasha – Muss dich sehen. Die andere von Benny, der um ein Treffen bat.

Scheiße, und Scheiße. Er durfte unter gar keinen Umständen auch nur in der Nähe von Natasha gesehen werden, jetzt erst recht nicht. Er folgte den Schildern Richtung Toiletten, vergewisserte sich, dass die Kabinen leer waren, zog eine Line und dachte, scheiß drauf, dann zog er noch eine. Mehr war in dem Filmdöschen nicht drin. Er zog sein Hemd aus und wusch sich mit Papiertüchern unter den Achseln, fing Wasser aus der Leitung und trank. Dann trocknete er seine Hände unter dem Gebläse.

Als er zurückkam, stand die Tür offen, der Leibwächter war mit einem Pflaster und Groll im Gesicht zurück. Cohen wollte gerade gehen. Die beiden Polizisten waren immer noch in der Zigarettenpause.

»Was ist mit meinem Polizeischutz?«, fragte Rubenstein.

»Ich bin dein Polizeischutz«, sagte Cohen.

Avi lief hinter ihm her, holte ihn im Gang ein, ihre Schritte hallten, als sie an Krankenschwestern, Ärzten und besorgten Angehörigen vorbei nach draußen in die heiße, schwüle Luft eilten. Avi roch Benzin, Zigaretten und Meer.

»Ich hab deinen Vater gekannt«, sagte Cohen.

»Wirklich?«

»War ein guter Mann. Ehrlich.«

»Das war er.«

»Wirklich schlimm, was ihm passiert ist.« Cohen schüttelte den Kopf. »›Verflucht sei der Acker um deinetwillen‹«, sagte er. »›In Beschwer sollst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dorn und Stechstrauch lässt er dir schießen.‹« Er blickte Avi fragend an. »›Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.‹«

»Zweites Buch Mose«, sagte Avi. Ein bisschen was wusste er noch aus dem Bibelunterricht. Plötzlich hatte er ein Déjà-vu, als hätte er diesen Moment schon einmal erlebt.

»Ich will, dass du die Männer findest, die das getan haben, Avi. Mach’s richtig. Sei schnell. Bevor Rubenstein seine Hunde von der Leine lässt und meine Stadt in Flammen aufgeht. Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Klar«, sagte Avi. Jede andere Antwort wäre falsch gewesen, das wusste er. Dorn und Stechstrauch, dachte er.

»Ich habe bereits mit deinem Vorgesetzten gesprochen«, sagte Cohen. »Du wirst bis auf Weiteres in meine Einheit beim Dezernat für Schwerverbrechen versetzt, bis ich was anderes sage. Trotzdem wird das ein Alleingang für dich. Halte mich über deine Fortschritte auf dem Laufenden, aber nur mich.« Er reichte ihm ein Handy. Avi nahm es wortlos entgegen.

»Und, Avi?«, sagte Cohen.

»Ja?«

»Wenn du die Täter findest und sie dir Ärger machen … dann weißt du, was du zu tun hast.«

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, schluckte sämtliche Schatten.

Avi spürte seine Pistole im Kreuz.

Er sagte: »Klar, Cohen.«

»Bist ein guter Mann, Avi.« Cohen klopfte ihm auf den Rücken.

Avi starrte ihm hinterher. Wieder klingelte sein Handy.

Er klappte es auf.

»Ja?«

»Nicht am Telefon«, sagte Benny.

Avi seufzte, fuchtelte mit dem Handy.

Und sagte: »Bin in fünfzehn Minuten da.«

3Süßwasseraale

»Man fängt keine Schlägerei an, die man nicht gewinnen kann.« – Benny

Benny Pardes saß dort, wo er heutzutage immer saß, am Tisch in dem alten persischen Restaurant, das es länger gab, als Avi auf der Welt war. Promifotos aus früheren und besseren Zeiten, als das Shiraz noch total angesagt war, hingen an den Wänden. Gesichter, an die Avi sich vage aus den Achtzigern erinnern konnte: ein Moderator aus dem Kinderfernsehen, der sich breit grinsend mit dem Restaurantinhaber ablichten ließ, ein paar Politiker, Generäle in Uniform, ein ehemaliger Premierminister.

Jetzt war nur Benny hier. Tapete löste sich von der Wand und in den Ecken sammelte sich Staub. Ein einsamer Kellner hielt sich bereit, verschwand aber schnell wieder in die Küche.

»Und nu?«, fragte Benny. »Das ist ein schlechtes Geschäft.«

»Allerdings«, sagte Avi. Er kam sich verwegen vor. »Hast du Kaffee?«

»Yossi, bring Kaffee!«, schrie Benny. Avi fragte er, »Willst du was essen?«, und schrie, »Yossi, bring was zu essen!«, ohne die Antwort abzuwarten.

»Setz dich, setz dich«, sagte er. »Wieso stehst du?«

Benny war eigentlich kein außergewöhnlich schlechter Mensch. Der Kellner kam mit schwarzem Kaffee und einer Portion Lammgulasch auf Reis. Avis Magen ver- und entknotete sich sofort wieder. Er schnappte sich eine Gabel und machte sich über das Essen her, ohne zu warten. Er schmeckte Limette, Petersilie, Frühlingszwiebeln und Lamm und schlang alles heiß in sich hinein. Benny grinste.

»Das ist Gormeh Sabzi wie von deiner Mutter«, sagte er.

Avi antwortete nicht. Er kaute Fleisch und Bohnen. Benny sah ihm beim Essen zu. Es hatte etwas Beunruhigendes, sich von Benny beim Essen zusehen zu lassen.

»Du bist zu dünn«, sagte Benny. »Du musst mehr essen. Und du brauchst ein Mädchen, das sich um dich kümmert, Avi.«

»Ich brauche kein Mädchen«, murmelte Avi.

»Nein?« Benny sah ihn an. »Ich hab aber gehört, du hast eins.«

Avi verschluckte sich und Benny schrie: »Yossi, Wasser!«

Der Kellner kam mit einer Karaffe und Gläsern, die er auf dem Tisch abstellte.

»Iss langsamer«, sagte Benny.

Avi trank Wasser und fragte: »Was für ein Mädchen?«

»Woher soll ich das wissen? Dein Mädchen.«

Avi zuckte mit den Schultern. »Gibt halt Mädchen, na und?«, sagte er.

»Ich bin jetzt fast dreißig Jahre verheiratet«, erwiderte Benny. »Was weiß ich über Mädchen?«

»Hör auf mit dem Scheiß, Benny«, sagte Avi. Er legte Messer und Gabel ab, der Teller war leer. »Was willst du?«

»Ich hab einen Job für dich.«

»Jetzt?«

»Gibt’s einen besseren Zeitpunkt? Die fleißigen Bienchen sind alle anderswo beschäftigt.«

»Ich kann nicht. Ich ermittle in einem Fall, Benny.«

»Du? Wieso du?«

Warum ich, dachte Avi, und antwortete: »Befehl von oben.«

»Von wem?«, wollte Benny wissen.

»Cohen«, sagte Avi. »Cohen gibt die Befehle.«

Benny schrie: »Yossi, Gebäck!« Der Kellner war schon mit einem Teller und einer Kaffeekanne unterwegs. Er schenkte ihnen beiden nach. Avi nahm ein Gebäckstück.

»Schmeckt gut«, sagte er mit vollem Mund.

»Das will ich meinen, dass das gut schmeckt. Du bist hier ja auch im besten persischen Restaurant des ganzen Landes«, behauptete Benny. »Was will Cohen?«

»Er will den Täter fassen. Hast du eine Ahnung, wer’s war?«

Benny machte eine finstere Miene. »Ich hab dir gesagt, du sollst dich von Cohen fernhalten.«

»Hab ich ja versucht. Er ist zu mir gekommen.«

»Hat er was gegen dich in der Hand?«

Avi antwortete nicht. Benny sagte: »Mir würden ein paar Namen einfallen. Könnten die Goldins gewesen sein, Aharoni, Bogdan oder die verfluchten Russen.«

»Bogdan? Ich dachte, du arbeitest mit ihm.«

»Manchmal, ja. Persönlich liebe ich den Frieden. Man fängt keine Schlägerei an, die man nicht gewinnen kann, nur so bleibt man im Geschäft. Aber zwischen ihm und Rubenstein gibt’s böses Blut und die Russen haben keinen Codex. Trotzdem. Ich weiß nicht.«

»Komm schon, Benny, rück was raus.«

»Ich brauch dich für den Auftrag. Dieselbe Bezahlung wie beim letzten Mal. Und guck mich nicht so an, Avi. Heb dir die schönen Augen für deine Freundin auf.«

Avi trank Kaffee und dachte nach.

»Sag mir, wen du kennst, der so was durchziehen könnte«, sagte er.

»So einen Anschlag?« Benny rieb sich über das Gesicht. »Die Abadis in Jaffa. Abu-Ramzi, der Vater von denen, der hatte eine Baufirma, und der älteste Bruder, Ramzi, hat schon mit Nitroglyzerin gespielt, bevor er lesen konnte. Der hat echtes Talent dafür. Die jüngeren Brüder, Ahmad und Fuad, haben im Familienunternehmen mitgeholfen.«

»Kennst du sie?«

»Ich hab für Bomben nichts übrig«, sagte Benny. »Da kann viel zu viel schiefgehen. Du musst dich weiter umhören.«

»Na gut.«

»Was hältst du von Cohen?«, fragte Benny unerwartet.

Avi dachte nach. »Als ich klein war«, sagte er, »haben wir manchmal meine Cousins im Kibbuz besucht. Ich weiß nicht, ob es meiner Mutter dort besonders gefallen hat, aber mir und meinem Vater schon. Ich war noch klein, und der Kibbuz lag auf einem Hügel, und wenn man runter ins Tal gefahren ist, war da ein Schwimmbecken. Ein richtig großes, wie bei Olympia, und außerdem ein Kinderbecken mit Wasserrutsche, da sind wir samstags immer hin. Die Erwachsenen haben geredet und geraucht, und ich hab mit meinen Cousins gespielt. Das war schön.«

Benny betrachtete ihn amüsiert. »Willst du auf was Bestimmtes raus?«, fragte er.

»Das Schwimmbecken befand sich an einem Wadi, und durch das Wadi floss ein Bach. Als das Schwimmbecken gebaut wurde, haben die das Wasser umgeleitet, aber man konnte noch sehen, wo es sich früher in einer Art Felstümpel gesammelt hatte und den ganzen weiten Weg bis ins Meer geflossen ist. Da war es kühler, dort im Schatten, abseits von dem Schwimmbecken, und deshalb sind wir manchmal dorthin, haben uns einfach hingestellt und aufs Wasser gestiert. Und eines Tages waren da lauter dunkle Schatten im Wasser. Die waren vom Wasserfall in den Felstümpel geschwommen und sind dort immer im Kreis herum und haben das Wasser aufgewühlt. Sie waren lang und dünn, und wenn man einen fangen wollte, ist er einem durch die Finger geglitscht und abgehauen.«

»Aale«, sagte Benny.

»Genau, Aale«, sagte Avi. »Ich habe gelernt, dass die im Salzwasser geboren werden, aber wenn sie sich der Küste nähern, verändern sie sich, und wenn sie in einem Fluss ankommen und stromaufwärts schwimmen, dann sind sie Süßwasseraale. Sie schwimmen einfach immer weiter stromaufwärts. Über Dämme, Wehre und Wasserfälle. Und dabei jagen sie ununterbrochen. Sie verstecken sich und lauern ihrer Beute auf. Das sind Killer. Und immer, wenn man dachte, jetzt hat man einen erwischt, hat er sich gewunden und ist abgehauen, und irgendwann ist einem klargeworden, dass man sich die ganze Zeit nur eingebildet hat, man wüsste, was die da machen. In Wirklichkeit hat man nur das eigene Spiegelbild auf dem Wasser angestarrt.«

»Wie alt warst du damals?«, fragte Benny.

»Weiß nicht mehr. Ungefähr sechs.«

Benny schüttelte den Kopf. »Und du meinst, so ist Cohen?«, fragte er.

»Denke schon. Eigentlich kenn ich ihn kaum.«

»Na ja, er kennt dich«, erwiderte Benny. »Also machst du dich besser an die Arbeit. Die Anweisung von oben lautet, unauffällig verhalten und abwarten.«

»Von oben«, dachte Avi, also von Rubenstein.

»Und das heißt, ich hab niemanden, den ich arbeiten lassen kann«, sagte Benny. »Kennst du den Club in der Allenby Street?«

»Der neben dem Striplokal?«

»Genau der.«

»Ah ja, denn kenne ich.«

»Mach’s kurz«, sagte Benny. Er zog einen dicken Umschlag aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. »Das ist nur ein Vorgeschmack, Avi. Der Rest kommt, wenn der Auftrag erledigt ist. Du kennst das ja.«

Avi öffnete den Umschlag. Bargeld und ein Foto von einem Mann. Er betrachtete das Foto, schob es wieder in den Umschlag und steckte das Geld ein.

»Na gut. Und danke für den Tipp.«

»Man hilft, wo man kann, Officer«, sagte Benny. »Alles, was Sie brauchen.«

Avi trat hinaus in die Sonne, ging an Bennys Leibwächtern vorbei, die am Eingang des Shiraz standen. Er nickte ihnen zu, sie nickten zurück. Benny hielt Anteile an fast allem im Tel Aviver Süden: Wechselstuben, Schutzgelderpressung, Bordelle, Casinos, Drogen. Sogar schwarz gehandelte Spenderorgane, das war eine echte Wachstumsbranche und eigentlich auch eher eine Grauzone als ein Schwarzmarkt, denn es gab gar kein Gesetz, das den Handel damit verbot. Außerdem hatte er noch alle möglichen legalen Unternehmen wie Schawarma- und Saftstände, das Striplokal in der Allenby Street sowie mehrere Obst- und Gemüsestände auf dem Karmel-Markt. Alles, wo bar bezahlt wurde, so dass man dort schmutziges Geld waschen konnte. Nur mit dem Flaschenrecycling wollte er nichts zu tun haben. In Tel Aviv starben inzwischen mehr Menschen wegen leerer Flaschen als früher am Fieber. Nein, den Krieg hatten Lior und Yair Goldin für sich entschieden, und es hatte sie einiges gekostet.

Er fragte sich, ob sie auch den Anschlag auf Rubenstein in Auftrag gegeben hatten. Wäre die naheliegendste Vermutung.

Aber eigentlich war es ihm egal.

Das iranische Lammgericht hatte ihn satt gemacht, der schwarze Kaffee aufgekratzt, er hatte Bargeld in der Tasche und ein leeres Filmdöschen, das aufgefüllt werden musste, wenn auch nicht mit einer Filmspule. Er trat hinaus in die Sonne, in die Fußgängerzone von Neve Sha’anan, wo sich früher lauter gute alte Geschäfte befunden hatten, Druckereien oder Schuhmacherwerkstätten. Und Ideologen mit utopischen Träumen, die Jaffa den Rücken gekehrt hatten, um eine neue Stadt zu errichten, wo vorher keine war.

Jetzt war das Viertel voller afrikanischer Flüchtlinge und asiatischer oder osteuropäischer Einwanderer, die Schuhe, billige Kleidung und billiges Gemüse verkauften. In den zweiten und dritten Stockwerken der Gebäude hing Wäsche von den Balkonen, und in den kleinen Wohnungen lebten viel zu viele Menschen zusammengepfercht. Illegal kopierte DVDs und Kassetten lagen auf Decken ausgebreitet auf dem Bürgersteig. Avi kannte die Hälfte der Titel nicht. Er kaufte ein Päckchen Zigaretten von einem alten Somali und ging zu dem stillgelegten Busbahnhof. Die meisten Bussteige waren verschwunden, aber ein paar gab es noch, auch wenn sie nicht mehr in Betrieb waren. Er ging vorbei an der Metzgerei »Kingdom of Pork« und bog links ab, dann weiter bis zur Fein Street.

Avi war sich bewusst, dass er beobachtet wurde. Als der Bahnhof noch in Betrieb war, befanden sich die Büros der Egged-Bus Company im Haus mit der Nummer eins. Inzwischen wurde der gesamte Komplex von Dealern, Zuhältern und Prostituierten okkupiert, und wenn man einen Schuss oder einen günstigen Blowjob brauchte, war man hier richtig. Avi ließ vorsichtshalber im Vorbeigehen seine Dienstwaffe aufblitzen, und die Junkies, die sich vor dem Haus tummelten, zeigten ihm ihre Mittelfinger, aber das war’s auch schon.

Er wusste, dass man ihn hinter heruntergelassenen Jalousien beobachtete und registrierte, aber in der Fein Street Nr. 1 machte sich eigentlich niemand ernsthaft Gedanken wegen der Polizei. Wenn es eine Razzia gab, wurden vorübergehend ein paar Leute verhaftet, aber anschließend machte man sich einfach wieder an die Arbeit. Die Polizei war wie Regen, hieß es, hin und wieder wurde man nass, aber der Ernte konnte das nichts anhaben.

Avi ging vorbei an heruntergekommenen Peepshowläden und Wohnblocks, wo trotz allem noch Menschen lebten, und plötzlich hörte er Geschrei. Ein Mann rannte mit heruntergelassener Hose durch eine Gasse, sein Schwanz schlackerte hin und her, er brüllte aus voller Kehle und versuchte, eine Frau mit langen verfilzten Haaren einzuholen, die offenbar gerade mit seiner Lederbrieftasche türmte. Sie kam direkt auf Avi zu, er ballte eine Faust, und als sie auf seiner Höhe angekommen war, schlug er ihr schnell und fest auf die Nase.

Die Frau ging zu Boden. Avi nahm ihr die Brieftasche ab, sah hinein und entdeckte amerikanische Hundertdollarscheine. Wer lief an so einem Ort mit so viel Geld herum? Jetzt kam der Mann keuchend an.

»Hat sie dir wenigstens noch schnell einen geblasen?«, fragte Avi.

Der Mann sah ihn finster an. »Nein«, sagte er. »Die wollte die Kohle vorher bar auf die Hand.«

»Das ist viel Geld. Zieh deine Hose hoch.«

»Ach, ja.« Der Mann zog seine Hose hoch.

Die Frau beschwerte sich: »Du hast mir meine scheiß Nase gebrochen!«

»Ich brech dir deine verfluchte Nase gleich wirklich«, sagte der Mann und drehte sich zu Avi um. »Gib mir die Brieftasche.«

Avi ließ seine Dienstmarke aufblitzen. Der Mann plusterte sich auf, sagte: »Also dann, herzlichen Dank, Officer. Dürfte ich bitte meine Brieftasche wiederhaben?«

»Du bist Bulle?«, fragte die Prostituierte. »Na toll.«

»Wie viel sind da drin, zwölfhundert?«, fragte Avi. »Wer bist du denn? Ein hohes Tier?«

»Ich mache Geschäfte, wieso?«, sagte der Mann.

»Und du hattest einfach mal Lust auf einen kleinen Ausflug und eine Runde Blindekuh?«

»Ich wollte nur …«

»Vergiss es«, sagte Avi. »Hier. Das ist für dich.« Er gab der Frau hundert Dollar.

»Super«, sagte sie.

»Hey!«, maulte der Mann.

Avi zog zwei weitere Scheine aus der Brieftasche, überlegte kurz, nahm noch einen dritten und steckte sie in die eigene Tasche.

»Für die Steuer«, sagte er.

»Was für eine Steuer?!«, fragte der Mann.

»Das ist wohl deine«, sagte Avi und gab ihm die Brieftasche zurück. »Hat noch jemand ein Problem?«

»Ich nicht«, sagte die Frau. »Danke, Officer.«

Der Geschäftsmann starrte Avi an, dann sah er Avis Pistole und nickte zögerlich.

»Kein Problem«, sagte er.

»Genau«, sagte Avi. »Also, dann seht zu, dass ihr Leine zieht, alle beide.«

»Für fünfzig blas ich dir einen«, sagte die Frau.

»Ein anderes Mal«, erwiderte Avi. Er ging weiter und gelangte an einen kleinen Laden mit einem Schild über dem Schaufenster mit der Aufschrift Bentovich Books. Im Fenster lagen verstaubte Lehrbücher, Geografiebände des lange verstorbenen Y. Paporish mit Karten von Ländern, die gar nicht mehr existierten. Avi drückte auf den Summer. Ein altes verlebtes Gesicht spähte zwischen den Gitterstäben der Sicherheitstür hervor.

»Ach, du bist’s.«

Die Tür ging auf. Avi trat ein.

Im Laden war es dunkel und staubig. Überall stapelten sich Bücher, Taschenbücher in englischer und französischer Sprache konkurrierten mit vergessenen hebräischen Romanen. Uralte Comics baumelten an Schnüren von der Decke. Aus einem Radio im Regal dudelte Dudu Zakai, er sang »Elad Went Down to the Jordan«. Die langsame, altmodische Musik versetzte Avi vorübergehend in ein anderes Jahrzehnt.

An der Wand hing die detailreich illustrierte Vorstellung eines Künstlers des Tel Aviver Zentralen Busbahnhofs der Zukunft. Ein eleganter Turm erhob sich gen Himmel, ein für die fünfziger Jahre futuristisch anmutendes Gebäude mit Wendeltreppen und schwimmenden Blumenbeten, glücklichen, wohlgenährten und gut gekleideten Anwohnern, Männern in Krawatte und Anzug, Frauen in geblümten Kleidern, alle lächelten, hielten sich an den Händen und bestaunten das Wunder moderner Baukunst.

»Zum Heulen, oder?«, meinte der Ladenbetreiber. Er zeigte auf die Straße hinter dem Gitter draußen. »Erst letzte Woche wurde direkt gegenüber jemand ermordet. Alles geht vor die Hunde, Avi, und ich bin der Einzige, der noch übrig ist. Aber wovon soll ich die Miete zahlen?«

»Ich bin sicher, dir fällt was ein, Bento«, sagte Avi.

»Mr Bentovich für dich«, sagte der Mann. Er war klein und rundlich, blickte hitzig durch dicke Brillengläser. »Was kann ich für dich tun, Motek? Willst du Pornos? Hab gerade was Deutsches reinbekommen, sehr roh, sehr sadistisch. Mit Peitschen und Ketten und so.«

»Was? Nein.«

»Japanische hab ich auch, mit Anpinkeln, wenn dir das lieber ist.« Bento betrachtete ihn traurig und ohne große Hoffnung. »Ich nehme nicht an, dass du wegen einem Buch hier bist.«

»Bin ich nicht.«

»Das war mal ein richtiges Geschäft«, erklärte Bento. »Die Kinder aus dem Viertel haben ihre Schulbücher hier gekauft. Ich hatte Literatur auf Lager. Alle sind sie hergekommen, Hanoch Levin ist in der Gegend aufgewachsen, der war ständig hier.«

»Wirklich?«, sagte Avi. Die Musik ging ihm auf die Nerven und Bento auch. Hanoch Levin interessierte ihn einen Scheiß. Er zog hundert Schekel aus der Tasche und wedelte damit vor der Nase des Buchhändlers.

»Was hast du da, Bento?«

»Na schön, Avi.«

Bento ging um seinen Schreibtisch herum, drückte auf einen Knopf, und eine Schublade sprang auf. Bento betrachtete deren Inhalt durch seine Brillengläser. Avi sah allerhand verschiedene kleine Päckchen.

»Wonach steht dir der Sinn, Avi? Ich hab Haschisch aus Ägypten, Marihuana aus dem Libanon, Ecstasy aus Holland, wirklich allerbeste Qualität. Ich hab auch Khat, hast du das mal probiert? Da standen die alten Jemeniten während der Operation Magic Carpet drauf, in den Vierzigern.«

»Das Zeug, das man kaut?«, fragte Avi.

»Genau. Bringt dich hoch.«

»Nein. Ich will dasselbe wie immer.«

»Koks und Speed«, sagte Bento, »das Polizisten-Special. Na klar. Hab ich da.«

Er nahm eine Schachtel Pillen aus der Schublade und ein Tütchen mit Pulver.

»Hör mal Bento«, sagte Avi. »Verkaufst du auch an Araber?«

»An Araber? Was soll ich mit Arabern?«

»Araber aus Jaffa«, sagte Avi.

»Hör mal, Bubeleh«, erwiderte Bento. »Da mach ich keine Unterschiede. Ich fühl den Leuten nicht auf den Zahn, wenn du verstehst, was ich meine? Jude, nicht Jude, was interessiert mich das? Hast du dich in letzter Zeit mal hier im Viertel umgesehen? Ich verkaufe Meth an Thais, Hasch an Somalis, Gras an reiche weiße Jugendliche aus Ramat Gan und Koks an alle, die’s bezahlen können. Das Einzige, wovon ich die Finger lasse, ist H. Den Ärger kann ich nicht gebrauchen. Siehst du, was da draußen los ist? Das ist ein Dschungel. Vom H lass ich die Finger. Hier, alles wie bestellt.« Er schob die Drogen über den Schreibtisch.

»Danke«. Avi legte ihm das Geld hin und steckte die Ware ein.

»Willst du eine Party feiern?«, fragte Bento. »Mit dem Zeug bleibst du tagelang wach.«

Die Radiomusik verstummte, zum Glück, und es folgten Nachrichten. »Armee-Einheiten durchsuchten heute die palästinensischen Autonomiegebiete, nachdem am Morgen im Zentrum von Tel Aviv eine Autobombe explodiert war«, sagte der Nachrichtensprecher. »Bislang hat sich noch keine Organisation zu dem Anschlag bekannt. Die Polizei schließt nicht aus, dass es sich um einen gescheiterten Mordversuch in Unterweltkreisen handelt, aber das Division Brigadier General’s Office von Judäa und Samaria hat bestätigt, dass die Armee aktiv terroristische Zusammenhänge prüft und Massenverhaftungen in den Autonomiegebieten durchführt. Eine Reihe schwer verletzter Opfer befindet sich zur Stunde noch im Krankenhaus, darunter eine Person in kritischem Zustand. Während sich die Suche nach Saddam Hussein intensiviert, dauern die Kämpfe der amerikanischen Streitkräfte im Irak an. Die Weltgesundheitsorganisation warnt vor einem neuen tödlichen Virus, das sich zurzeit in Asien verbreitet. SARS hat seinen Ursprung in China und …«

»Schrecklich, das ist schrecklich«, sagte Bento. »Die armen Kinder.«

Avi legte noch ein paar Scheine auf den Tisch. Bento folgte dem Geld mit Blicken. »Arabische Kunden«, sagte er leise. »Aus Jaffa.«

Bento schluckte. »Das musst du schon ein bisschen weiter einschränken«, bat er. »Hast du einen Namen?«

»Ramzi Abadi«, sagte Avi.

»Abadi, Abadi«, wiederholte Bento. »Nein, mit dem hab ich nichts zu tun, Avi, tut mir leid.«

»Wer denn?«

»Hör mal, worum geht es eigentlich?«, fragte Bento. »Ich will keinen Ärger, verstehst du?«

»Du kriegst keinen Ärger«, beschwichtigte ihn Avi.

»Ein Mann namens Chamudi, er arbeitet für die Goldins. Und alle möglichen anderen Leute. Auch aus Gaza, wenn du verstehst, was ich meine? Wenn du in Jaffa auch nur drei Gramm verkaufen willst, muss das über ihn laufen. Okay? Ich bin bloß ein kleiner Fisch, Motek. Ich kann’s nicht gebrauchen, dass mir jemand meinen Laden in die Luft jagt.«

»Verstanden«, sagte Avi. Bento nahm das Geld vom Tisch.

»Dabei hasse ich den Laden«, sagte er. »Weißt du das?«

»Das weiß ich«, sagte Avi.

»Früher hab ich mal Bücher verkauft.«

»Wie auch immer, Bento. Wir sehen uns.«

»Übertreib’s nicht mit dem Zeug, Motek.«

4Es kommt noch schlimmer

»Kein Sterbenswörtchen.« – Avi

Den ganzen Sommer über Klavierstunden und drückende Stille in dem Haus mit den heruntergelassenen Rollläden … Avi verzog sich, wann immer er konnte. Er trieb sich einfach irgendwo im Viertel herum, weil es niemanden gab, der es ihm hätte verbieten können. Er wollte nur noch weg.

Er spielte mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft, aber die hatten alle ein behütetes Zuhause, in das sie zurückkehren konnten, ein geordnetes Leben, an dem er keinen Anteil mehr hatte. Sie gingen im Kinneret oder dem Sakhne schwimmen oder fuhren mit ihren Eltern nach Eilat, besuchten die Drusendörfer in Karmel, gingen ins Kino oder in den Safari Park in der Nähe.

Avi machte nichts davon.

Hin und wieder spielten sie auf der Straße, die das Viertel vom nahegelegenen Givat Shmuel trennte. An den meisten Tagen kam noch eine andere Gruppe von Kindern aus der entgegengesetzten Richtung angelaufen, und wenn sie Avi und seine Freunde sahen, brachen sie in wildes Kriegsgeheul aus und stürmten über die Straße, schwangen Stöcke, und Avi und seine Freunde rannten weg. Eines Tages stand Avi allein dort auf dem heißen Asphalt und sah die Jungs mit Stöcken auf sich zukommen, lief aber nicht weg. Er wusste nicht, warum. Er hatte es satt, wegzulaufen. Er wollte, dass etwas passierte – irgendwas. Die anderen Jungs umzingelten ihn.

»Was ist das?«, sagte einer und piekte ihn mit einem Stock.

»Kann es sprechen?«

Sie lachten. »Hey, Goldin! Goldin, komm sieh dir das an!«

Sie machten Platz, als ein Junge ungefähr im selben Alter wie Avi lässig heranschlenderte. Er war kleiner als Avi, trug eine Brille und hatte seine dunklen Haare zum Igelschnitt kurzgeschoren. Er sah Avi neugierig an.

»Wieso bist du nicht weggelaufen?«, fragte er.

»Warum sollte ich?«, fragte Avi zurück.

Der Junge schlug Avi blitzschnell und fest in die Magengrube. Avi krümmte sich. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen, aber er weinte nicht, nicht vor denen. Langsam richtete er sich wieder auf.

»Deshalb«, sagte der Junge.

Avi blinzelte die Tränen zurück.

»Du schlägst zu wie ein Mädchen«, sagte Avi.

Jemand aus der Bande lachte, und ein anderer schlug ihm auf den Hinterkopf, befahl ihm, die Klappe zu halten, aber weder Avi noch der andere Junge beachteten ihn.

»Wie heißt du?«, fragte der Junge.

»Avi. Und du?«

»Lior.«

»Goldin, komm schon!«

»Wir sehen uns«, sagte Lior Goldin. Dann rannte er mit seiner Bande davon.

Avi zündete sich eine Zigarette an und ging zum Wagen zurück. Gestern Nacht hatte Spaß gemacht, tanzen mit Natasha im Barbie. Gestern Nacht war das Leben noch schön und er hatte keine Sorgen gehabt. Dann kam der Morgen und trat ihm in die Eier, so dass es weh tat. Er musste die Situation erst mal einschätzen, fand er. Nichts daran war okay, aber er wusste nicht, was er machen sollte, außer den Weg zu gehen, der sich vor ihm auftat. Er wollte Natasha anrufen. Wollte sie treffen.

Er lehnte sich an die Motorhaube seines Wagens und dachte nach. Rauchte. Viele hätten Rubenstein gerne tot gesehen – das stand mal fest. Jemand musste den Befehl gegeben und vermutlich einen privaten Subunternehmer mit der Ausführung beauftragt haben. Er kannte diese Abadis nicht, vermutete aber, dass Bento ihm den Namen nicht serviert hätte, wenn nichts dran wäre.

Also ging er der Sache lieber nach.

Er überlegte, ob er noch eine Pille einwerfen sollte, aber sein Herz raste und seine Sicht verschwamm. Avi blinzelte, bis er die Welt wieder scharf sah. Nein. Lieber eine Weile clean bleiben. Wasser trinken. Es war heiß. Er blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Schrecklich, was da passiert ist, dachte er. Vom Verstand her wusste er das. Das Blut auf dem Boden, der zerstörte Laden, das Entsetzen in den Augen des Zeugen. Lauter Einzelheiten.

»Der ist okay«, verkündete Lior Goldin, als Avi zum dritten Mal nicht davonlief. Und das war’s. An diesem Tag schloss er sich ihnen an. Sie rannten runter zum Bach, Frösche fangen. Einer der Jungs hatte ein halb leeres Zigarettenpäckchen dabei, das er seinem Vater geklaut hatte, und sie rauchten abwechselnd, husteten und lachten. Dann warfen sie Steine in den Bachlauf.

Niemanden interessierte, dass Avis Vater Polizist war oder was ihm passiert war, und niemand fuhr nach Eilat zum Schwimmen. Sie waren einfach da, es war ein perfekter Sommertag, und sie hatten ihn ganz allein für sich. Avi vergaß Zuhause, für kurze Zeit konnte er mit seinen neuen Freunden er selbst sein.

Das war ein guter Tag.

Er schnippte die Zigarette weg, klemmte sich hinters Steuer, trat aufs Gas und fuhr dieselbe Strecke zurück, bis er wieder auf dem Krankenhausparkplatz ankam. Seine Benommenheit wich rasendem Zorn, der ihm zu mehr Klarheit verhalf. Klarheit war gut. Fast rannte er in das Gebäude. Zurück zu dem Zimmer, in dem das kleine Mädchen gelegen hatte und die Schläge ihres mühsam pochenden Herzens auf einem Bildschirm angezeigt wurden. Als er das Zimmer fand, war es leer.

»Wo ist sie?«, fragte er eine Krankenschwester. »Wo ist sie?«

Die Krankenschwester ließ ihn abblitzen. »Im OP«, behauptete sie. Er zeigte ihr seine Dienstmarke.

»Sie dürfen da nicht rein«, sagte sie.

»Was ist mit ihr?«

Die Krankenschwester sah ihn unentschlossen an. »Ihr Zustand hat sich verschlechtert«, erklärte sie. »Die Ärzte tun, was sie können.« Sie fasste ihn sachte an der Schulter, fast schreckte er vor der Berührung zurück.

»Ich hoffe, dass Sie die Täter fassen«, sagte sie. »Diese Bestien.«

»Darf ich das Mädchen sehen?«

»Tut mir leid. Zurzeit darf niemand zu ihr.«

Sie stierte ihn noch einen Augenblick länger an, drehte sich um und ging. Er starrte ihr nach. Als er wieder aus dem Gebäude trat, sah er Cohens Wagen in eine Parklücke gleiten. Cohen schälte sich vom Fahrersitz.

»Was machst du hier?«, fragte er Avi, als er ihn sah.

»Sie ist im OP.«

Cohens Züge wurden milder. »Ich weiß«, erwiderte er. »Ich bin sofort losgefahren, als ich’s gehört habe.«

»Ich werde die Täter schnappen«, behauptete Avi.

»Das weiß ich. Ich verlasse mich auf dich.«

Avi ging zu seinem Wagen, stieg ein, starrte aufs Steuer und flüsterte: »Dann geh endlich und schnapp sie.«

Auf der Fahrt durch die Stadt hörte er keine Musik. Er ließ die Scheibe runter, heiße Luft wehte an sein Gesicht, und er dachte an das kleine Mädchen, das im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte. Er fuhr durch die Allenby Street und hielt schließlich vor der angegebenen Adresse. Er nahm die Pistole aus dem Handschuhfach. Am besten, man macht kurzen Prozess. Er ging durch die Gasse hinter das Haus. Hier standen Mülltonnen, eine Ratte von der Größe einer kleinen Katze ergriff die Flucht. Die Tür war unbeschriftet. Avi presste sich flach an die Wand, zog eine Skimaske und Handschuhe über und wartete.

Die Tür ging auf, und ein Mann mittleren Alters kam heraus. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd, das er straff in die Jeans gesteckt hatte, sein Bauch quoll über den Gürtel. Der Mann hatte gute Laune und sang leise »Hava Nagila«, machte ein paar kleine Tanzschritte dazu. Er roch nach Alkohol. Avi stahl sich rein.

Draußen vor dem Haus herrschte Mittagshitze, drinnen hätte es auch jede andere Zeit sein können. Der Türsteher saß mit dem Rücken zur Wand. Er würde sich nicht wehren. Er zog dem Türsteher den Griff seiner Pistole über und flüsterte: »Kein Sterbenswörtchen.« Auf der anderen Seite des Vorraums befand sich ein Perlenvorhang, dahinter hörte Avi Jetons klappern und Männer leise miteinander sprechen. Er roch Zigaretten. Dann stahl er sich auf die andere Seite und spähte hinein. Es gab keine Fenster und auch keine Bar, aber hinten im Raum stand ein Tisch mit einer Flasche Whiskey, daneben Tee, Kaffee und Plastikbecher sowie ein Samowar. Es gab mehrere Tische im Raum, aber um die Uhrzeit waren nur zwei besetzt. Avi sah den Mann, wegen dem er hier war. Der Mann hatte einen Stapel Jetons vor sich und betrachtete seine Karten mit gerunzelter Stirn.

Avi ging hinein. Er beeilte sich nicht, ging aber auch nicht langsam. Er hielt dem Mann die Pistole an den Kopf und drückte ab. Der Knall war so laut, dass die Männer auf beinahe komische Art erstarrten, dann knallte der Kopf des Mannes auf die Tischplatte und sein Blut lief über die Karten. Avi verschwand blitzschnell. In der Gasse zog er die Maske ab, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Fertig. Sein Herz raste wie verrückt. Er schrie und schlug aufs Steuer. Er schaltete das Kassettendeck ein und drehte die Lautstärke hoch.

In Florentin bog er auf einen Schrottplatz ein, wo keine Fragen gestellt wurden. Er ging zur Verbrennungsanlage und warf die Waffe ohne Munition hinein, dann die Maske und die Handschuhe. Auf solchen Schrottplätzen konnte man praktisch alles verschwinden lassen.

Dann fuhr er zu jemandem, den er kannte.

5Palestine, Texas

»Hier gibt’s gar keine anderen Zeiten, außer guten alten.« – Farooq

Mohammed Farooq war ein großer und meist heiterer Mann. Als er aber Avi in seinen Kiosk kommen sah, verging ihm das Grinsen. Avi hatte in der Nähe vom Bloomfield Stadion geparkt. Nicht weit davon entfernt befand sich eine Großbaustelle, wo das neue Polizeipräsidium entstand. Er ging an der Bibliothek und einem ausgebrannten Restaurant vorbei. Als er noch Uniform getragen hatte, war er in Jaffa Streife gelaufen und Mohammed Farooq dabei zum ersten Mal begegnet.

Mohammed hatte eine Nichte, die er abgöttisch liebte, und eines Tages war diese Nichte am Alma Beach von einem einheimischen, der Polizei bereits bekannten Sexualstraftäter, der sich am Strand herumtrieb und kleine Mädchen begaffte, überfallen worden. Farooq hatte besagten Straftäter ausfindig gemacht, und Avi hatte Farooq dabei erwischt, wie er ihn zu Brei prügelte. Avi schaltete die Sirene und das Blaulicht ein, aber das schien Farooq nicht im Geringsten abzuschrecken, bis Avi ihn ansprach und sich erkundigte, worum es eigentlich ging. Als Farooq es ihm erklärte und ausführte, dass die Polizei nichts unternommen hatte, weil der Sexualstraftäter Jude und mit einem der Captains auf der Wache befreundet war, sogar regelmäßig Shesh Besh mit ihm spielte, hatte Avi vollstes Verständnis. In diesem Fall, erklärte er, sei er ihm gerne behilflich. Farooq und er sorgten nun also gemeinsam dafür, dass der Mann nie wieder gehen konnte, und schlugen ihm darüber hinaus auch noch den Großteil seiner Zähne aus. Anschließend erklärte Avi dem Mann behutsam, dass es ihm nicht gut bekommen würde, zur Polizei zu gehen, und er ihn umbringen würde, sollte er ihn noch einmal irgendwo antreffen. Seitdem hatte Avi Farooq hin und wieder als vertraulichen Informanten zu Rate gezogen, was sehr praktisch war in einer Stadt wie Jaffa, in die sich weder jüdische Polizisten noch jüdische Verbrecherfamilien trauten.

»Mister Policeman«, sagte Farooq, als er ihn sah. »Ich wollte gerade schließen.«

Avi sagte: »Du schließt doch nie.«