Maroulas Geheimnis - Peter Pachel - E-Book

Maroulas Geheimnis E-Book

Peter Pachel

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Beschreibung

Die griechische Insel Paros ist ein beschaulicher Ort, um Urlaub zu machen, und so trifft sich dort jedes Jahr aufs Neue eine eingeschworene Gemeinschaft, die bestens vertraut ist mit der Insel, ihren Einwohnern und Eigenheiten. Doch in diesem Sommer wird die Idylle im geruhsamen Inselstädtchen Naoussa zerstört: Der allseits und besonders bei den Frauen beliebte Kellner des Café Aliportas wird erhängt aufgefunden. Als dann auch noch Katharina Waldmann, die deutsch-griechische Chefin der Mordkommission Athen, zur Amtshilfe auf die Insel gerufen wird, ist jedem klar, dass ein Mord aufgeklärt werden soll. Peter Pachel inszeniert die beliebte griechische Kulisse aus Urlaub und Gastfreundschaft neu, bettet seine Charaktere zwischen Tradition und Tourismus ein und lässt sie über Homosexualität und Natur stolpern. Seine Romane sind eine Hommage an Paros und die ägäische Küche, die er mit verführerischen Köstlichkeiten und Kochrezepten beschreibt.

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Peter Pachel

Maroulas Geheimnis

Kommissarin Katharina Waldmannermittelt auf Paros

Krimi

Für alle Langzeit-Griechenland-Begeisterten und alle, die es werden wollen.

»Willkommen in Griechenland Gastfreundschaft ist sehr wichtig für die Griechen. Es ist das, was Griechenland ausmacht. Ohne die unbeugsame Freundlichkeit der Griechen wäre Griechenland ein ganz anderer Ort. Ihre Lebensfreude, Neugier und herzliche Gastfreundschaft sind die wesentlichen Bestandteile der Griechen, die den Urlaub für jeden Besucher zu einem unvergesslichen Erlebnis machen. Trotz aller Schwierigkeiten schaffen es die Griechen, ihre Lebensfreude, Spontanität und Optimismus zu bewahren …«

Zitat von der Webseite der Fa. Mouzenidis Travel GmbH,

München/Thessaloniki

www.mouzenidis.com

Eine Erfahrung, die ich selbst immer wieder erlebt habe und die dieses wunderbare Land so liebenswert macht.

Peter Pachel

Inhalt

EINE GEBURT ATHEN, MÄRZ 1973

STEPHAN KÖLN, MAI 2011

MAROULA APOSTOLOPOULOU NAOUSSA, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS MYKONOS

JANNIS KOSTATIDIS ATHEN

KATHARINA WALDMANN ATHEN, POLIZEIPRÄSIDIUM

JANNIS KOSTATIDIS ATHEN

STEPHAN ANREISE, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS MYKONOS

MAROULA APOSTOLOPOULOU NAOUSSA, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS MYKONOS

JANNIS KOSTATIDIS ANREISE, PAROS

EINE DUNKLE GESTALT LAGERI, PAROS

JANNIS KOSTATIDIS LAGERI, PAROS

MAROULA APOSTOLOPOULOU LAGERI, PAROS

KATHARINA WALDMANN ATHEN, POLIZEIPRÄSIDIUM

STEPHAN ANKUNFT, PAROS

KATHARINA WALDMANN LAGERI, PAROS

STEPHAN NAOUSSA, PAROS

MAROULA APOSTOLOPOULOU LAGERI, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

STEPHAN ALIPORTAS, NAOUSSA

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS ALIPORTAS, NAOUSSA

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

STEPHAN NAOUSSA, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

ANNA VOLITATI P.E.A. PAROS

STEPHAN LAGERI, NAOUSSA

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN DRIOS, PAROS

ANNA VOLITATI P.E.A. NAOUSSA

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

STEPHAN ALIPORTAS, NAOUSSA

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS MYKONOS

FILIPPOS PANOS PARIKIA, PAROS

STEPHAN NAOUSSA, PAROS

NORA PARAKOUDI AMBELAS, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS PARIKIA, PAROS

KATHARINA WALDMANN PARIKIA, PAROS

STEPHAN LEFKES, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

ANNA VOLITATI P.E.A.

KATHARINA WALDMANN LEFKES, PAROS

STEPHAN NAOUSSA, PAROS

KATHARINA WALDMANN ALIPORTAS, NAOUSSA

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN DRIOS, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN LAGERI, NAOUSSA

STEPHAN NAOUSSA, PAROS

FILIPPOS PANOS MYKONOS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS LEFKES, PAROS

KATHARINA WALDMANN LEFKES, PAROS

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS AMBELAS, PAROS

KATHARINA WALDMANN AMBELAS, PAROS

STEPHAN ALIPORTAS, NAOUSSA

PERSONEN & LOKALES

PAROS LANDKARTE

EINE GEBURT ATHEN, MÄRZ 1973

Sie hatte sich bewusst für eine Hausentbindung entschieden, damit die Geburt schnell und ohne großes Aufsehen über die Bühne geht. Die Adresse lag am Stadtrand von Athen in einer schäbigen Seitenstraße, wie es unzählige in Athen gibt. Sie hatte keine Fragen gestellt, sie wollte es einfach über sich ergehen lassen und dann vergessen. Es war heiß in dem stickigen Zimmer. Die anwesende Hebamme war mürrisch, aber sie strahlte eine gewisse Art von Vertrauen aus. Wie oft hatte sie wohl schon in die verzweifelten Augen der Mütter geschaut, die keinen anderen Ausweg mehr sahen? Es wurde nicht viel gesprochen, ihre Stimme wirkte jedoch beruhigend, und das half der Gebärenden in ihrer verzweifelten Situation. Alle notwendigen Papiere hatte sie bei der Ankunft unterschrieben; sie würde ihr Kind erst gar nicht zu Gesicht bekommen. Der Gedanke daran ließ sie schier verrückt werden, aber sie hatte die Situation hundertfach durchgespielt. Es gab keinen anderen Ausweg, und jetzt war es ohnehin zu spät. Sie hatte nie damit gerechnet, dass ihr zukünftiger Gatte ihr diesen Fehltritt verzeihen würde – jetzt zahlte sie den Preis dafür.

Es war eine verdammt harte Zeit für sie gewesen; als schließlich auch die weite Kleidung ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte, war sie von Paros nach Athen gegangen, wo sie niemand kannte. Einsam und verlassen hatte sie sich in den letzten Wochen oft gefühlt, aber das musste sie jetzt durchstehen, und mit ihren 33 Jahren war sie noch nicht zu alt für weitere Kinder. Sie war eine Persönlichkeit auf Paros, da hätte dieses Kind einfach nicht hinein gepasst. Das war der Deal, den sie mit ihrem Verlobten geschlossen hatte, und nur sie beide teilten dieses Geheimnis. Zunächst war sie ihm zutiefst dankbar für seine Großzügigkeit gewesen, jetzt aber spürte sie ihre innere Zerrissenheit.

Die Hitze in dem kleinen Entbindungszimmer war kaum auszuhalten, es roch so stark nach Desinfektionsmitteln, dass ihr fast übel wurde. Die starken Schmerzen der sich ankündigenden Geburt verstärkten diesen Eindruck noch, sie wäre fast ohnmächtig geworden, als es endlich soweit war.

Unmittelbar nach der Geburt flehte sie die Hebamme an, wenigstens für einen Moment ihr Kind spüren zu dürfen, doch stattdessen gab man ihr ein starkes Beruhigungsmittel. Dann nahm sie nur noch wie aus der Ferne die Schreie des Neugeborenen wahr, die sich für immer in ihr Gedächtnis einbrennen sollten.

STEPHAN KÖLN, MAI 2011

Stephan lag bereits wach in seinem Bett, als gegen drei Uhr morgens der Wecker schrillte, und er brauchte nicht lange, um aufzustehen. Es hatte die ganze Nacht geregnet, die Sehnsucht nach Sonne war riesengroß. Davon würde er ja genug bekommen in den nächsten drei Wochen, da war er sich ziemlich sicher; er ist bei all seinen Griechenlandreisen noch nie enttäuscht worden. Er hatte unruhig geschlafen, die Vorfreude auf Urlaub hatte ihn immer wieder wach werden lassen. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert, so wie sich auch nichts an den Unannehmlichkeiten der Anreise zu seiner geliebten Insel geändert hatte. Es war schon mühsam, nach Paros zu gelangen, der kleinen griechischen Insel inmitten der südlichen Kykladen, der er schon so lange verfallen war. Irgendwie gehörte diese lange Anreise auch dazu, sie trennte die Spreu vom Weizen, was die Besucher betraf. Denn längst nicht jeder war bereit, diese Mühen auf sich zu nehmen. Dabei war es doch gerade das, was er an diesem Land so liebte und was ihn seit dreißig Jahren immer wiederkehren ließ: Griechenland bedeutete für ihn, drei Wochen lang den deutschen Perfektionismus zu vergessen, alle Fünfe gerade sein zu lassen, sich der Muße des griechischen Alltags hinzugeben und sich von dem goldenen Licht der Ägäis verwöhnen zu lassen. Langeweile war dabei auch nach so langer Zeit nie aufgekommen, dazu kannte er einfach viel zu viele Leute, Griechen und die kleine Touristen-Familie, die sich jedes Jahr aufs Neue aus aller Herren Länder dort einfand und für einige Wochen eine eingeschworene Gemeinschaft bildete.

Gut gelaunt packte er die letzten Sachen zusammen und schaltete seine Nespresso-Maschine ein, um noch schnell einen Kaffee zu machen und etwas in Schwung zu kommen. Während er Wasser in den Vorratsbehälter goss, dachte er schon mit Freuden an einen richtig guten griechischen »Kafé Metrio« oder einen »Frappé«, den man in Griechenland zu jeder Tages- und Nachtzeit genießt.

Ein Blick in den Spiegel zeigte seine momentane Verfassung: Er sah blass und abgespannt aus und brauchte dringend Erholung. Der Job fraß ihn zunehmend auf, eine Besserung war nicht in Sicht. Mit seinen 50 Jahren wurde er zwar häufig jünger geschätzt und sah auch recht sportlich aus, aber der äußere Schein trog. Die sich immer schneller drehende Welt und der zunehmende Druck im Betrieb hatten ihm sichtlich zugesetzt. Er war dünnhäutiger und verletzlicher geworden und spürte, dass ihm langsam das Alter zu schaffen machte. Stephan hatte stets gehofft, ab 50 etwas weniger arbeiten zu können, aber genau das Gegenteil war der Fall. Seit der Betrieb zu einem globalen Unternehmen umgebaut worden war, gab es keine Regeln mehr. Immer mehr wurde er zum Spielball irgendwelcher Aktionspläne, auf die er kaum noch Einfluss hatte. Gerne erinnerte er sich an die Zeit, als er für ein gesundes Familienunternehmen tätig gewesen war, aber in den Zeiten einer globalisierten Welt hätte dieses wohl kaum eine Überlebenschance gehabt.

Das alles war auf Paros bislang noch nicht angekommen. Dort lief das gesamte Leben noch in ruhigeren, überschaubaren Bahnen, auch wenn erste Zeichen der Krise nicht zu übersehen waren. Entspannung pur, das war Stephans Plan, ohne zu diesem Zeitpunkt auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben, was ihn auf Paros erwarten würde.

Bei einer Tasse kräftigen Ristrettos schaltete er ein letztes Mal sein Notebook ein, um seine E-Mails zu checken. Er hoffte, dass sich Alexandros, der Sohn seiner griechischen Vermieter, mittlerweile gemeldet hatte, um ihm mitzuteilen, dass er ihn in der quirligen Inselhauptstadt Parikia, abholen würde. Doch vergebens, in seinem Posteingang war keine Info von ihm. Was ihn auch gewundert hätte; bestimmt hatte dieser es wieder einmal vergessen, schließlich war es ja auch eine ganze Weile her, dass er die Ankunftszeit durchgegeben hatte. Es wurde langsam Zeit, die deutsche Gründlichkeit abzulegen und sich auf die griechische Gelassenheit einzustimmen, dachte er. Doch er wusste, dass es wie jedes Jahr ein paar Tage dauern würde, bis ihm das gelingen würde. Über sich selbst schmunzelnd wollte er gerade sein Notebook wieder ausschalten, als ihm eine Nachricht von Hannah ins Auge fiel:

»Hallo Stephan, ich bin in einer furchtbaren Verfassung. Es scheint etwas Schreckliches passiert zu sein. Ich weiß noch nichts Genaues. Bitte melde dich sofort, wenn du angekommen bist. Gute Reise, Hannah.«

Stephan stutzte einen Moment, griff hinter sich an die Stuhllehne, und stolperte fast, als er sich hinsetzen wollte. Diese Mail traf ihn vollkommen unvorbereitet in seiner fröhlichen Aufbruchsstimmung. Er begriff nicht, was Hannah damit meinte. Warum hatte sie nicht mehr dazu geschrieben? Mehrfach las er den kurz gehaltenen Text, in der Hoffnung, doch noch etwas heraus zu interpretieren. Ob vielleicht jemand einen Unfall hatte, kam ihm spontan in den Sinn. Das passierte auf den sandigen und oft nassen Küstenstraßen immer mal wieder, besonders wenn Touristen mit überhöhter Geschwindigkeit über die Insel rasten. Unmut machte sich in ihm breit, er wollte doch seinen Urlaub nicht mit irgendwelchen Horrormeldungen beginnen. Er schüttelte seinen Kopf, so als wollte er das gerade Gelesene abschütteln, sich nicht weiter damit belasten. Doch es fiel ihm schwer, denn obwohl er wusste, dass Hannah leicht zu Übertreibungen neigte, besonders wenn sie ein Glas Wein zu viel hatte, musste hier schon etwas Ernsthaftes vorgefallen sein. Automatisch griff er zu seinem Handy, er wollte telefonieren, wollte jetzt wissen, was passiert war. Erst als er schon Hannahs Nummer suchte, fiel ihm ein, wie spät es war. Kurz vor vier zeigte seine Uhr, sein Taxi musste jeden Moment kommen; jetzt war keine gute Zeit zum Telefonieren. Die Vorfreude auf den ersten gemeinsamen Abend im Familiennest trübte sich ein. Was würde ihn wohl im Aliportas erwarten? Dieser magischen Lokalität in der Nähe des Busbahnhofs von Naoussa, dem idyllischen Ort im Norden der Insel Paros. Das Café hatte sich seit vielen Jahren zum ständigen Treffpunkt der ›Familie‹ entwickelt und würde auch in diesem Jahr wieder zum Dreh- und Angelpunkt der nächsten drei Wochen werden.

Dort war ständig etwas los, dort kam man an, verabredete sich während des Urlaubs, und von dort reiste man mit viel Gezeter wieder ab, so als ob es ein nächstes Mal nicht mehr geben würde. Das Aliportas war die Kommunikationszentrale jener ›Familie‹, die sich zwischen Anfang Mai bis Mitte Juni regelmäßig in Naoussa versammelte, um hier für ein paar Wochen Ferien zu machen. Alle hatten sich in das ehemalige Fischerdorf verliebt und kamen mindestens einmal im Jahr hierher. Ein bunt zusammen gewürfelter Haufen von Individualisten, von denen viele mindestens 20 Jahre Paros-Erfahrung aufwiesen. Wiederholungstäter oder wie sie so schön zu sagen pflegten: »Infected by the Paroan Virus«. Obwohl man sich eigentlich gar nicht richtig kannte, wurde man jedes Jahr mit neuen Facetten der einzelnen Familienmitglieder überrascht. Meistens dauerte es ein paar Tage, bis sich bei den Neuankömmlingen eine Art Wohlfühlklima einstellte, aber wenn sich erst einmal die grauen, abgearbeiteten Gesichter langsam erhellt und der Teint ein leichtes Braun angenommen hatte, wurde die Zunge locker und sich so manches Geheimnis von der Seele geredet.

Die meisten Familienmitglieder wohnten privat, und das in ganz Naoussa verstreut. Daher war das Aliportas irgendwann zum ›Familiennest‹ auserkoren worden, seitdem traf man sich zu jeder Tages- und Nachtzeit, sei es zum Frühstück, zum Kaffee, nach dem Strand oder zum ersten Ouzo am Abend.

So verbrachte jedes Mitglied etliche Stunden während seiner Urlaube an diesem entspannten Ort, und wie oft hatten sie schon bei dem Gedanken gelacht, das Aliportas zum Therapiezentrum erklären zu lassen. Jannis, den quirligen Kellner des Cafés, hatten sie zu ihrem Therapeuten ernannt, denn dieser war stets damit beschäftigt, die richtigen Leute zusammen zu bringen und sie alle mit reichlich Wein zu versorgen. Nur so war sichergestellt, dass auch ein sonst schweigsames Mitglied zum unterhaltsamen Plauderer wurde.

Grübelnd, was da wohl in Naoussa passiert sein könnte, wurde Stephan vom Klingeln des Taxifahrers unterbrochen. Das Taxi, welches ihn zum Flughafen Köln-Bonn bringen sollte, hatte er für vier Uhr bestellt. Er war auf der Germanwings-Maschine um kurz nach sechs nach Athen gebucht, dem einzigen Direktflug von Köln nach Athen, das war abgesehen von der frühen Flugzeit das Bequemste und ersparte eine Zwischenlandung in München oder Frankfurt. Stephan lebte seit über 20 Jahren in Köln und mochte die Leichtigkeit dieser Stadt. Die Mentalität der Menschen hier entsprach seinem Naturell, und die Stadt hatte weit mehr zu bieten als nur Kölsch und Karneval.

Schnell raffte er seinen Koffer, schaltete die Kaffeemaschine aus, und eilte zum Taxi herunter. Hannahs Mail ließ ihn nicht mehr los, er hielt es kaum noch aus, endlich mehr zu erfahren. Es sollten drei spannende Wochen auf Paros werden.

MAROULA APOSTOLOPOULOU NAOUSSA, PAROS

Maroula Apostolopoulou lag schweißnass in ihrem alten Bett und wälzte sich schwerfällig hin und her. Sie hatte wieder eine dieser schlaflosen Nächte, obwohl sie mittlerweile das Morphin regelmäßig nahm. Es wirkte zwar gegen die Schmerzen, ließ aber keinen erholsamen Schlaf mehr zu. Dazu kam die unerträgliche Hitze, die auch durch den langsam rotierenden Deckenventilator kaum gelindert wurde. Ihr schulterlanges Haar klebte an ihrer Kopfhaut, und sie konnte sich in diesem Zustand kaum ertragen.

Dabei brauchte sie so dringend Schlaf, um Energie für den nächsten Tag zu tanken, denn ihr gingen all die Dinge durch den Kopf, die es noch zu erledigen galt, um endlich reinen Tisch zu machen. Sie war realistisch genug und wusste, dass es Zeit wurde; das hatte ihr Dr. Spanopoulos bei seiner letzten Untersuchung eindeutig zu verstehen gegeben. Morgen wollte sie eine lang aufgeschobene wichtige Entscheidung treffen. Morgen früh würde sie ihren langjährigen Freund und Anwalt Manolis anrufen, um alles in die Wege zu leiten. Lange hatte sie mit sich gerungen, es immer wieder verdrängt, aber der fortschreitende Verfall ihres Körpers ließ keinen weiteren Aufschub zu. Sie wollte diese Entscheidung bei noch klarem Verstand umsetzen.

Vor acht Monaten hatte man bei ihr Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert, es gab bereits Metastasen in der Leber. Maroula selbst war über diese Nachricht weit weniger geschockt als ihr gesamtes Umfeld, sie war eine starke Frau und machte sich nichts vor. Sie war nun 71 und hatte ihr Leben lang geraucht. Selbst nach der Diagnose mochte sie auf ihre geliebte Zigarettenmarke Karelia nicht verzichten. Wer sollte ihr jetzt noch irgendwelche Vorschriften machen? Es war allein ihre Entscheidung. Wenn nur diese Schmerzen nicht wären, aber dafür hatte Dr. Spanopoulos sie ja mit dem Morphin versorgt.

Maroula Apostolopoulou war eine mächtige Frau auf Paros; ihrer Familie gehörten seit Generationen einige Filet-Grundstücke auf der Insel, die man ihr seit Jahren abzukaufen versuchte. Aber das war mit Maroula nicht zu machen, sie war auf das Geld nicht angewiesen, und es war für sie unvorstellbar, dass man auf einem ihrer geliebten Grundstücke irgendwelche Hotelbauten hochzöge. Dazu war Maroula viel zu stolz. Ihr Umfeld schätzte sie besonders wegen ihrer Geradlinigkeit. Wie konnte sie es nur schaffen, dass auch nach ihrem Tod diese wunderschönen Fleckchen Erde so erhalten blieben wie sie seit Jahrtausenden existierten?

Sie hatte einen Plan, den es nun endlich umzusetzen galt.

Diese Idee war ihr schon lange in ihrem Kopf herumgegangen, und dabei ging es nicht nur um die Erhaltung ihres Grund und Bodens. Nein, sie wollte damit auch eine Schuld begleichen, die sie seit vielen Jahren mit sich trug.

GEORGIOS APOSTOLOPOULOS MYKONOS

Anfang Mai ticken die Uhren auf Mykonos noch relativ langsam, bevor dann ab Juni die Insel buchstäblich überrollt wird. Wie die Heuschrecken fallen Touristen aus aller Welt ein und verwandeln dieses bezaubernde Eiland in einen einzigen Partyzirkus. Das vorwiegend schwule internationale Publikum trägt dann alle Labels dieser Welt zur Schau, die Kosmetikbranche könnte sich keinen besseren Platz zu Werbezwecken wünschen. Besonders an den Schwulen-Stränden Super Paradise und Elia gilt vor allem Sehen und Gesehenwerden. Mann trägt die neuesten Badeshorts der Saison, für alle Körperpartien liegt die richtige Sonnencreme bereit. Auf engstem Raum wird geflirtet, was das Zeug hält, denn es gilt hier, den nächsten Lover für den kommenden Abend aufzureißen. Dabei spielt natürlich das Outfit eine wichtige Rolle.

Georgios Apostolopoulos war süchtig nach diesem Spektakel, und wusste genau, wie er sich zu präsentieren hatte. Er war sich seiner Ausstrahlung bewusst. Mit seinem schwarzen Haar, dem markanten Gesicht, und seinen dunklen, tiefliegenden Augen wusste er, dass er besonders bei Nordeuropäern gut punkten konnte. Es war jedes Mal aufs Neue aufregend für ihn und ein Ausbruch aus seiner verzweifelten Lage, eine Flucht aus der Realität. Von Parikia bis nach Mykonos dauerte es nur 40 Minuten mit der Schnellfähre, und schon war man in einer anderen Welt. Oft setzte er so zur Nachbarinsel über, wenn er verzweifelt war, wenn er dringend Koks oder eine geile Nacht brauchte. Und das brauchte er jetzt unbedingt, er fühlte sich wieder einmal einsam und vollkommen unverstanden.

Die zunehmende Kälte seiner Mutter hatte ihm am Anfang schwer zu schaffen gemacht, war sie doch für ihn lange eine wichtigere Bezugsperson gewesen als sein verstorbener Vater, umso schmerzlicher war es für ihn. Georgios war ein sehr sensibler Mensch, er hatte schon lange bemerkt, dass sich ihr Verhältnis verändert hatte. Es war ein schleichender Prozess gewesen, mit dem sich seine Mutter von ihm verabschiedet hatte, und obwohl nie darüber gesprochen wurde, kannte Georgios die Antwort längst.

Sie akzeptierte seine Art zu leben nicht und konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass er Männer liebte. Sie hatte ihn einfach fallen lassen, ihn aus ihrem Leben gestrichen, nur weil sie nicht über ihren Schatten springen konnte. Er war zutiefst verletzt. In seiner Verzweiflung ertränkte er seine traurige Seele zu oft mit zu viel Alkohol. Wie ein angeschossenes Tier verkroch er sich stundenlang in seinem Zimmer, und häufig schlug sein Kummer auch schon mal in Hass um. Als die Spannungen schließlich immer größer geworden waren, hatte sie ihm nahegelegt auszuziehen und ihm am Anfang sogar finanzielle Unterstützung angeboten. Dass sie ihm nach kurzer Zeit dann endgültig den Geldhahn zudrehte, war ein zusätzliches Ärgernis für ihn. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte er sich mit den monatlichen Überweisungen einen recht aufwändigen Lebensstil leisten, damit war schlagartig Schluss gewesen. Seitdem lebte er von der Hand in den Mund. Sein mehr schlecht als recht laufendes kleines Geschäft mit griechischen Töpferwaren ließ ihn zwar überleben, aber es reichte bei weitem nicht aus.

Als ihm die Krebserkrankung seiner Mutter über Umwege vor einigen Wochen zugetragen wurde, hatte ihn das zunächst wenig berührt. Ganz im Gegenteil, endlich sah er Licht am Ende des Tunnels. Er war der einzige Erbe des gesamten Imperiums, und er alleine würde entscheiden, welche Grundstücke endlich zu Cash gemacht werden sollten. Wie oft hatte er schon davon geträumt, endlich aus dem Vollen schöpfen zu können, und so wie es aussah, sollte er bald in der Lage dazu sein. Diese Idee beflügelte ein Mitarbeiter der Dreamroom GmbH, Frank Felten, der ihm seit einiger Zeit an den Fersen hing. Dieser windige Immobilienhändler hatte ihn schon mehrfach angesprochen, nachdem er bei seiner Mutter Maroula wieder und wieder abgeblitzt war. Im Grunde genommen konnte er diesen Typen nicht ausstehen, doch er wusste, dass er ihn brauchte, um das Geschäft abzuwickeln. Allerdings gab es noch einiges nachzuverhandeln; so einfach würde er es dem Immobilienhai nicht machen.

JANNIS KOSTATIDIS ATHEN

Jannis lag niedergeschlagen auf seinem Bett und dachte über den gestrigen Abend nach. Er hatte sich mit Freunden zum wiederholten Mal zu Protestaktionen auf dem Syntagma-Platz getroffen, um gegen die Sparmaßnahmen zu demonstrieren. Nach der mittlerweile dritten Steuererhöhung in einem Jahr war das Ende der Fahnenstange erreicht, so konnte es nicht weiter gehen. Was war nur aus seinem Land geworden? Die Wiege Europas drohte wegen jahrelanger Unzulänglichkeiten der Regierung zu zerbrechen. Die Bevölkerung war in einer verzweifelten Lage, man wusste nicht, wie man aus dem Dilemma heraus kommen sollte. Er hoffte innig, dass es in Athen nicht wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen würde, er war ein friedfertiger Mensch und glaubte noch an eine gute Lösung. Das hatten ihm seine Eltern in all den Jahren mit auf den Weg gegeben. Obwohl immer häufiger die Wut über all die Versäumnisse in ihm hochkochte, hielt er doch an seiner Grundeinstellung fest. Jannis war froh, erneut den Vertrag mit Angelos aus dem Aliportas verlängert bekommen zu haben. Allerdings hatte er das auch nie ernsthaft bezweifelt. Dass er diesen Job vor Jahren bekommen hatte, war ein Glücksfall für beide Seiten gewesen, für ihn selbst genauso wie für Angelos, etwas Besseres für den Sommer konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er verstand sich blendend mit Angelos sowie dessen Frau und gehörte mittlerweile fast zur Familie. Als seine Eltern damals ihr kleines Stadthotel verkauften, war Jannis auf die beiden in Naoussa aufmerksam geworden. Sie suchten gerade einen neuen Kellner für ihr gut laufendes Café, und für ihn war es seinerzeit eine gelungene Abwechslung.

Angelos wusste genau, wer den Umsatz in den Sommermonaten ankurbelte. Nächsten Freitag würde er wie all die letzten Jahre zuvor nach Paros aufbrechen und bis Ende Oktober dort im Aliportas arbeiten und Spaß haben. Er liebte diesen Job, auch wenn es harte Arbeit war, als Everybody’s Darling die Touristen bei Laune zu halten. Und das konnte er, und nicht nur das. Jannis ließ nichts anbrennen und kümmerte sich besonders gern um die attraktiven, allein reisenden Damen, die aus allen Ecken der Welt auf die Insel kamen. Diese hatten selten einer heißen griechischen Nacht etwas entgegenzusetzen, für Jannis war es ein immer wiederkehrendes Spiel und vollkommen unkompliziert. Nach zwei bis drei Wochen zogen die Urlauberinnen wieder Richtung Heimat, und er hatte keinerlei Verpflichtungen.

Bei Nora war das anders; das ging jetzt schon die dritte Saison und wurde ihm langsam zu kompliziert. Er musste aufpassen, denn mit Noras Ehemann war nicht zu spaßen. Es könnte in einer Tragödie enden, wenn dieser von der Liaison erfuhr.

Die Vorfreude auf den bevorstehenden Sommer erhellte sein Gemüt, und er begann fröhlich seinen Koffer mit all den Dingen zu packen, die er auf Paros benötigte. Er würde wieder das Apartment beziehen, das ihm Angelos für die Zeit seines Aufenthaltes zur Verfügung stellte. Es war klein und lag zur Rückseite des Cafés im ersten Stock des Aliportas. Aber es war auch seine Rückzugsoase, und was er besonders schätzte: Es kostete ihn nichts. Falls er noch weitere Dinge benötigte, war er ja nicht aus der Welt, er konnte jederzeit nach Athen fahren oder sich Sachen schicken lassen. Am kommenden Montag sollte es wieder losgehen mit seiner Arbeit auf Paros. Nora hatte ihm schon mehrfach eine SMS geschickt, um zu erfahren, wann er denn endlich käme. Aber er hatte sich bislang noch nicht zu einer Antwort durchringen können. Eigentlich wollte er schon letztes Jahr einen Schlussstrich ziehen und das Verhältnis beenden, aber er hatte es immer wieder hinaus geschoben, weil er die Reaktion von Nora nicht einschätzen konnte. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Er musste wieder an eines ihrer letzten Treffen denken, als sie beide an ihrem geheimen Treffpunkt durch ein Geräusch aufgeschreckt worden waren. Sie hatten damals gehofft, dass es kein heimlicher Zuschauer war, der sie in ihrem Liebesnest beobachtet hatte. So etwas konnte auf Paros schnell die Runde machen und dann Gute Nacht. Die Rache von betrogenen griechischen Ehemännern konnte böse enden, dafür gab es einige Beispiele auf der Insel.

Jannis zerstreute die Gedanken schnell wieder, er wollte den Teufel nicht an die Wand malen. Falls sie beobachtet worden wären, hätten sie längst davon erfahren. Er zündete sich eine Zigarette an und vergaß einen Moment die aktuellen Probleme. Seine Gedanken wanderten nach Paros, in eine andere Welt, weg von dem Moloch Athen, umgeben von gutgelaunten Touristen, die ihn alle mochten. Er schätzte sich glücklich, der trübsinnigen Lage der Hauptstadt für einige Zeit zu entkommen.

KATHARINA WALDMANN ATHEN, POLIZEIPRÄSIDIUM

Katharina Waldmann saß mit besorgter Miene über den Protokollen der gestrigen Vernehmungen. Ihr machte die zunehmende Gewalt bei den Protestkundgebungen anlässlich der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Lage große Sorgen. Bis dato unbescholtene Bürger lebten ihren Frust zunehmend auf der Straße aus, weil sie mit den immer neu beschlossenen Kürzungen einfach nicht mehr zurechtkamen. Auch ihre Abteilung hatte die Sparmaßnahmen bereits zu spüren bekommen, denn ihr gesamtes Team wurde nun auch für Delikte dieser Art mit eingespannt, obwohl sie damit eigentlich nichts zu tun hatte.

Ihr Ressort war die Mordkommission, und da gab es weiß Gott genug zu tun in Athen. Gerade im letzten Jahr war ein rasanter Anstieg der Kapitalverbrechen zu verzeichnen gewesen. Den Leuten ging es schlecht, das machte sich auch in der Kriminalstatistik bemerkbar. Gedankenversunken ging sie zum Fenster, um es zu öffnen. Es wurde endlich warm in Athen, nach einem furchtbar kalten und regnerischen April, den man so heftig noch nie erlebt hatte. Jetzt wehte draußen ein angenehm lauer Wind, der Hoffnung auf besseres Wetter aufkommen ließ. Eigentlich sollten die Athener glücklich über die kühlen Temperaturen sein, denn heiß würde es noch früh genug werden, dann wünschten sich alle wieder kühleres Wetter. Von draußen drang der Lärm vom nahegelegenen Monastiraki-Platz herüber, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas los war. Es war der zentrale Platz in Athen, besonders für Touristen, um einen Bummel in die Plaka oder nach Psiri zu starten. Seit der Olympiade hatte sich in Athen vieles zum Besseren gewandelt, und die Stadt war wieder attraktiv geworden.

Das Polizeikommissariat lag in der Athinas Straße unweit des Monastiraki, so dass man von dem belebten Platz beinahe alles mitbekam. Ein Hauch von Frühling drang durch das offene Fenster und verdrängte die stickige Luft ihres spartanischen Büros. Die Kommissarin hasste im Sommer die Enge ihres Arbeitsplatzes, denn wenn es draußen nahezu vierzig Grad waren, schaffte die veraltete Klimaanlage es nicht, für eine angenehme Raumtemperatur zu sorgen. Dann blieb ihr nur die Flucht auf die Inseln; zum Glück gab es davon genug, nach nur ein paar Stunden auf dem Schiff war man in einer weit angenehmeren Umgebung. Ihre Lieblingsinsel war seit langen Jahren Paros, und so wie es die Wochenenden zuließen, machte sie sich auf, um ein paar Tage der Enge und Schwüle Athens zu entkommen.

Zu Paros hatte sie ein besonderes Verhältnis, hier hatte sie die Trennung von ihrem Ehemann Dimitri verarbeitet und hier hatte sie die letzten Jahre viele Freundschaften geschlossen. Darunter auch mit vielen Touristen aus aller Welt, die immer wieder kamen genau wie sie selbst.

Katharina wirkte auf viele, die sie nicht kannten, eher etwas schrullig. Mit ihrem Kurzhaarschnitt, der großen, strengen, schwarzen Brille und einer Größe von lediglich 1,65 traute man ihr die Leitung der Athener Mordkommission im ersten Augenblick nicht wirklich zu. Sie brachte für den Polizeidienst auch ein paar Pfund zu viel auf die Waage, was ihr schon so manche Schelte von ihrem medizinischen Betreuer eingebracht hatte. Doch der erste Eindruck täuschte gewaltig, denn sobald man mit Katharina ins Gespräch kam, spürte man, dass sie eine blitzgescheite Frau war, die mit beiden Beinen im Leben stand. Ihre wachen, braunen Augen und ihre analytischen Fähigkeiten halfen ihr, in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken. Da machte ihr so schnell keiner etwas vor, und das hatte ihr letztlich auch bei der Karriere geholfen. Es waren trotzdem lange harte Jahre gewesen, die sie hinter sich hatte, bei all den Machos im griechischen Polizeiapparat. Aber die Kommissarin besaß zum Glück eine gute Portion Hartnäckigkeit. Auf Grund ihrer hohen Aufklärungsquote hatte sie es schließlich geschafft, die Leitung des Kommissariats zu bekommen. Mit 54 Jahren war sie nun endlich da, wo sie hin wollte, auch wenn sie viele Opfer hatte bringen müssen, ihre kaputte Ehe war nur eines davon. Analytischer Scharfsinn gepaart mit großer Gelassenheit waren ihr Markenzeichen, damit knackte sie jede Fassade potenzieller Verbrecher. Die Gabe, sich in das Innerste fremder Seelen hinein zu versetzen, hatte sie von ihrem feinfühligen deutschen Vater geerbt, der lange Zeit als Polizeipsychologe gearbeitet hatte und dessen Rat sie auch heute noch gern einholte. Die Gelassenheit kam mehr von ihrer griechischen Mutter, einer gestandenen Frau, die stets der Rückhalt ihrer gesamten Familie gewesen war. Sie empfand es als etwas Besonderes, ein Kind von Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen zu sein, davon konnte man ein Leben lang profitieren. Katharina war zweisprachig aufgewachsen und sprach fließend Deutsch und Griechisch, was ihr viele Türen öffnete. In ihrer Brust schlugen zwei Herzen, ein deutsches und ein griechisches, die Kombination wusste sie geschickt einzusetzen. Sie konnte im Job gnadenlos sein, wenn Kollegen undiszipliniert bei der Arbeit waren und sie hinter ihrem Rücken dann »The German Master« nannten. Darüber konnte sie innerlich nur schmunzeln, schließlich hatte sie lange genug daran gearbeitet, sich in dieser Männerwelt Respekt zu verschaffen. Privat war das ganz anders, da ließ sie das Leben laufen und hatte selten einer durchtanzten Nacht etwas entgegenzusetzen.

Tief versunken in die Vernehmungsprotokolle wurde sie vom Klopfen an ihrer Bürotür unterbrochen. Ohne abzuwarten wurde die Tür aufgerissen und ihr Assistent Filippos steckte seinen wuscheligen Kopf zur Tür herein.

»Kalimera, Katharina, schön dich zu sehen. Warum gehst du nicht ans Telefon? Dein Freund Adonis hat heute schon mehrfach versucht, dich zu erreichen, es scheint etwas Dringendes zu sein. Er bittet heute noch um Rückruf.« Ohne auf eine Reaktion von Katharina zu warten, legte er ihr einen Zettel mit Adonis Handynummer auf den Tisch und verschwand so schnell wie er gekommen war.

Das war typisch für Filippos, doch sie mochte ihn mit seiner schlaksigen Art, die für viele oft oberflächlich wirkte. Er musste noch viel lernen, aber dafür waren ja genug erfahrene Kollegen und Kolleginnen zur Stelle. Filippos war 32 Jahre alt und hatte erst vor einem Jahr sein Kriminalistik-Studium abgeschlossen. Danach war er Katharinas Team zugewiesen worden, und mittlerweile wollte sie auf ihn nicht mehr verzichten. Ein richtiger Wirbelwind, den sie oft bremsen musste, wenn er zu forsch vorging. Manchmal musste sie sich dabei zurücknehmen, um nicht zu sehr die Übermutter zu geben. Am Anfang hatte sie den Altersunterschied eher als negativ empfunden, aber mittlerweile wusste sie den anderen Blickwinkel eines jüngeren Kollegen durchaus zu schätzen. Zwischen ihnen lagen mehr als zwanzig Jahre, und besonders bei jüngeren Straftätern hatte er ihr schon so manch einen guten Tipp gegeben.

Adonis bat also dringend um Rückruf – was war denn da so eilig? Sie würden sich doch sowieso in zwei Wochen sehen, denn dann plante sie so wie jedes Jahr ihren wohlverdienten Jahresurlaub auf Paros. Adonis war der Leiter der Polizeistation in Parikia, sie kannten sich schon eine Ewigkeit. Als sie noch mit ihrem Mann zusammen war, hatten sie während der gemeinsamen Urlaube auf Paros viele Abende bei Adonis und dessen Frau in Drios verbracht. Nektaria war eine begnadetet Köchin und Katharina erinnerte sich gerne an die ausschweifenden Abende mit den beiden. Jedesmal wenn sie dort zu Gast war, gab es diese wunderbaren Dolmadakia, die keiner so zubereiten konnte wie Nektaria. Sie hatte ein spezielles Rezept, was die kleinen gefüllten Weinblätter zu einem kulinarischen Erlebnis machten. Dafür wurden diese, sobald sie fertig gefüllt und gewickelt waren, im Backofen zusammen mit etwas Brühe und unzähligen Kräutern und Tomaten gegart. Das gab ihnen einen leicht fruchtigen Geschmack, der zusammen mit der Reis-, Kräuter- und Hackfleischfüllung einfach göttlich war. Der Kontakt war seit der Scheidung etwas eingeschlafen, aber wenn Katharina in Naoussa ihren Urlaub verbrachte, traf man sich, und Katharina beneidete Adonis oft um seinen doch eher ruhigen Dienstalltag.

Im Winter passierte fast nichts auf Paros, im Sommer gab es gelegentlich ein paar Diebstähle aufzuklären. Da war der Job in Athen schon ein anderes Kaliber. Vielleicht wollte Adonis an die alte Tradition wieder anknüpfen und sie zum Essen einladen? Bei dem Gedanken an Nektarias gefüllte Weinblätter lief ihr schon jetzt das Wasser im Mund zusammen. Nein, es musste ein anderer Grund vorliegen; wegen einer Einladung zum Essen würde Adonis nicht um dringenden Rückruf bitten. Je mehr sie darüber nachdachte, desto neugieriger wurde sie und nahm sich fest vor, Adonis in der nächsten Stunde anzurufen.

JANNIS KOSTATIDIS ATHEN

Jannis dachte ständig an Noras SMS, er musste sich melden, denn sie würde nicht locker lassen. Er wusste, wie sehr sie jeden Ausbruch aus ihrer eingefahrenen Situation ausnutzte. Wie sehr sie den nahenden Sommer herbeisehnte, um endlich wieder ab und zu begehrt zu werden. Und da war ihr Jannis gerade recht, denn sie hatte schnell durchschaut, dass er keine feste Beziehung wollte. Er war ihr Abenteurer und kein Mann fürs Leben. Den hatte sie, auch wenn da lange schon nichts mehr lief zwischen ihr und Erasmos. Doch da waren auch noch ihre zwei Kinder, die ihre Eltern brauchten. Nora war vor 22 Jahren auf Paros geblieben, nachdem sie ihren Mann Erasmos kennen gelernt hatte. Nach der anfänglichen Verliebtheit und dem Glücksgefühl von Sonne, Meer und Strand, hatte sie die Realität recht schnell wieder eingeholt. Dennoch hatte sie sich damals für Erasmos und für Paros entschieden, und sie hatte hart daran gearbeitet, in all den Jahren als Ausländerin auf der Insel akzeptiert zu werden und ihr soziales Netzwerk aufzubauen. Das war ganz wichtig, besonders im Winter, wenn keine Touristen mehr da waren und auch viele Inselbewohner oft in ihre Wohnungen nach Athen zogen. Dann konnten die Tage und vor allem die Abende furchtbar lang werden. Wenn es dann noch tagelang stürmte, brauchte man dringend Menschen um sich herum.

Doch das war eine andere Geschichte, und sie gehörte längst zur Insel, die verbissene Niederländerin, mit der man sich besser nicht anlegte. Nora war eine Kämpfernatur, wenn es um ihre eigenen Belange ging, aber jeder im Ort kannte auch Erasmos, ihren aufbrausenden Gatten. So blieb es vielen in Naoussa nicht verborgen, wenn Nora mal wieder für ein paar Tage zu einer Freundin ausgerissen war, weil Erasmos einen seiner Wutausbrüche an ihr ausgelassen hatte.

Nora liebte ihre beiden Kinder, und die hingen auch an Erasmos, ansonsten hätte sie schon längst das Weite gesucht. Ihr war vollkommen klar, mit welchem Feuer sie da spielte, aber die sommerlichen Abenteuer mit Jannis waren oft ihr einziger Lichtblick. Sie spielte gerne mit ihm, wenn sie im Aliportas saß und ihm bei der Arbeit zusah. Sie beobachtete genau, wie er mit seinem Charme die Touristinnen umgarnte, die dann meistens auch an den folgenden Urlaubstagen ihren Kaffee oder ihr Glas Wein im Aliportas tranken. Sie steckte ihm heimlich kleine Zettel zu, mit kurzen Liebesbotschaften oder Terminen, wo ihr nächstes Treffen stattfinden sollte. Jannis hatte sich an diese Spielchen gewöhnt und war stets darauf bedacht, dass die anderen Gäste im Café nichts davon mitbekamen. Er war hin und hergerissen, wie er auf die SMS antworten sollte, kam jedoch letztendlich zu der Erkenntnis, dass er Nora sowieso nicht widerstehen konnte. Sie war hinreißend und der Sex mit ihr wild und hemmungslos. Das lag wohl auch an der Geheimnistuerei, die sie an den Tag legen mussten, um nicht die Auswirkungen eines gehörnten Ehemanns zu spüren zu bekommen.

Die letzten zwei Sommer hatten sie sich in einem abgelegenen Steinhaus oberhalb des Lageri-Strandes getroffen, ein ruhiger, abgelegener Strand nordwestlich von Naoussa, der bisher noch nicht von Strandtavernen und Hotelbauten zugebaut worden war. Dort hatte Nora für sie ein kleines Liebesnest eingerichtet. Das Haus lag geschützt in einem Olivenhain und wurde als Geräteschuppen während der Olivenernte von der auf dem Hügel ansässigen Familie Apostolopoulou genutzt. Im Sommer kam so gut wie nie jemand her, der Schuppen war somit ideal für ein umtriebiges Liebespaar. Das Haus lag weit genug weg von Maroulas Anwesen, dass mit keinen fremden Besuchern gerechnet werden musste. Der Gedanke an das kleine Liebesnest erregte Jannis, und allen Zweifeln zum Trotz freute er sich jetzt schon auf das nächste Treffen mit Nora. Damit war die Entscheidung getroffen, es würde also so sein wie die letzten Jahre auch. Sofort griff er nach seinem Handy und verschickte eine SMS:

»Komme Samstag mit der Blue Star Naxos, Jannis.«

Damit war das dann auch geregelt, und er konnte sich nun auf seine Abreise vorbereiten.

STEPHAN ANREISE, PAROS

Die Fahrt zum Flughafen verlief reibungslos, denn um diese Zeit war Köln noch im Tiefschlaf und der Taxifahrer konnte ungehindert durch die dunkle Stadt fahren. Da Stephan bereits übers Internet eingecheckt hatte, brauchte er nur noch sein Gepäck am Drop Off-Schalter abzugeben, ging zum Gate und scannte die Mitreisenden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein alter Paroaner die gleiche Maschine gebucht hätte. So hatte er auch vor Jahren Hannah kennen gelernt, die er zwar flüchtig von vielen Paros-Urlauben kannte, aber erst als sie sich eines Morgens auf dem Flughafen Köln-Bonn begegnet waren, kamen sie ins Gespräch. Damals reisten sie zusammen bis nach Paros, und Stephan lernte eine ganz andere Hannah kennen. Die bis zu diesem Zeitpunkt eher unnahbare Frau hatte munter drauflos geplaudert. Er erfuhr einige Neuigkeiten über die kleine, eingeschworene, immer wiederkehrende Familie, die er bis dahin noch nicht so gut gekannt hatte. Es war eine kurzweilige Anreise nach Paros gewesen und eine informative noch dazu.

Sie hatten natürlich auch einen gemeinsamen Nenner, und der hieß Köln. Das verband sie, auch wenn sie ansonsten nicht viel gemein hatten. Hannah war das erste Mal Ende der Siebziger auf Paros gewesen, hatte schon mal längere Zeit dort gelebt und sprach auch ganz gut Griechisch. Da war sie noch mit einem Griechen liiert, der dort ein Haus besaß. Sie kannte die gesamte Familie und diese kannte Hannah, vor allem ihre Ausfälle, die sich nach reichlich Wein gewöhnlich einstellten. Die letzten beiden Jahre war Hannah stets mit einer Freundin aus Wien unterwegs, die dann auch am späten Abend dafür sorgte, dass Hannah ihr eigenes Bett fand. Hannah war bereits seit einer Woche auf Paros und wusste, dass Stephan an diesem Wochenende anreisen würde. Er musste sie unbedingt noch heute treffen, um zu erfahren, was so Schreckliches passiert war.

Diesmal war leider keiner im Abflugbereich, den er kannte. So nahm er sich vor, während des Fluges ein wenig zu schlafen. Es waren ja nur knapp drei Stunden Flugzeit von Köln nach Athen, und das war der durchaus angenehmste Teil der Anreise. Wie jedes Jahr war er neugierig, was sich so alles im Ort verändert hatte, der erste Gang durch Naoussa förderte meistens einige Überraschungen zutage. Während des Winters wurde wild gebaut und umgestaltet, und die Lizenzen für die begehrten Bars und Restaurants im alten Hafen wurden jedes Jahr neu ausgehandelt. Da war man froh, dass es ein paar feste Größen wie das Aliportas gab, die sich schon über Jahrzehnte behaupteten. Denn jeder neue Restaurantbesitzer war auch ein Risiko. Der häufige Wechsel lag ganz einfach daran, dass die Hausbesitzer mittlerweile ihren Marktwert erkannt hatten. So wurden häufig die Bewerber genommen, die die höchste Miete zahlten, ohne besonderen Wert auf die gastronomischen Qualitäten zu legen. Die Mieten hatten es in sich, und es gehörte schon ein gutes Konzept dazu, in der immer kürzer werdenden Saison das Geld wieder einzuspielen. Der Zeitraum, in dem es richtig brummte, dauerte von Anfang Juli bis Mitte September, dann kamen auch die zahlungskräftigsten Besucher, meistens aus Frankreich und Italien. Doch auch viele Griechen hatten in den letzten Jahren Paros entdeckt und überfielen buchstäblich an manchen Wochenenden die Insel. Und sie waren sehr beliebt, gaben sie doch wie alle Südeuropäer weit mehr Geld fürs Essen aus als die Nordeuropäer. In dieser Zeit war es in Naoussa noch teurer, besonders im alten Hafen. Stephan ging schon seit mehreren Jahren nur noch ganz selten hier essen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmte einfach nicht mehr, und oft hatte er den Eindruck, dass hier das zweite Mykonos geschaffen werden sollte.

Mit Wehmut dachte er oft an den Anfang der Achtziger, wo es im alten Hafen nur ein paar urige Tavernen und schräge Bars gegeben hatte, so wie das Remisso an der hinteren Kaimauer. Hier traf man sich zum letzten Absacker und trank Kamikaze bis zum Morgengrauen. Diese Zeit war längst vorbei, aber zum Glück gab es auch heute noch genügend Tavernen vom alten Schlag, in denen man bei griechischer Musik wunderbar in alten Erinnerungen schwelgen konnte. Als dann das Remisso einer stylischen Bar weichen musste, wurde es Zeit, sich nach einem neuen Treffpunkt umsehen, und so war Stephan damals im Aliportas gelandet. Keine schlechte Alternative, wie er sehr schnell erkannte, hier war jederzeit Leben, und das auf ganz unterschiedliche Art.

Ob sich die Dorffrauen nach einer Beerdigung zum Kaffee trafen oder ein Geburtstag gefeiert wurde, die Touristen saßen mitten drin, und er hatte nie das Gefühl, fremd zu sein. Nach all den Jahren hatte er mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis zu den Besitzern Angelos und Maria. Das lag wohl auch daran, dass er schon deren Eltern gekannt hatte, die das Aliportas aufgebaut hatten. Maria kam aus Athen, nach der Hochzeit mit Angelos hatte sie sich schnell in das gutgehende Café eingearbeitet. Sie war eine geborene Geschäftsfrau und ein Glücksgriff für Angelos. Sie verstand es, allen Gästen ein gutes Gefühl zu vermitteln, so dass jeder gerne wiederkam. Maria war es auch, die recht schnell Jannis Talent erkannt hatte und genau beobachtet, wie er auf die Gäste wirkte. Vor allem wie er die Frauen im Aliportas umgarnte, und nach zwei Tagen auf Probe war Jannis fest eingestellt. Für Maria war Jannis zudem eine wunderbare Ergänzung, denn ihr Mann Angelos hielt sich lieber im Hintergrund auf. So konnte sie zusammen mit Jannis vor jeder Saison neue Ideen besprechen und seine Erfahrung und das Feedback der Gäste nutzen.

Stephan wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Steward mit dem Getränkewagen vorbei kam und nach Essenswünschen fragte. Er hatte keinen Hunger auf einen Happy Snack, der ihm bestens empfohlen wurde, zumal das ja alles mittlerweile bezahlt werden musste. So vertrieb er sich lesend die verbleibende Flugzeit, und pünktlich um 09:55 Uhr landete die Maschine auf dem internationalen Athener Flughafen Eleftherios Venizelos. Nachdem der Airbus seine Parkposition erreicht hatte, dauerte es noch ein paar Minuten, bis die Kabinentür geöffnet wurde. Sofort spürte man den warmen Luftzug, der durch die geöffnete Tür einströmte. Es lag zwar ein leichter Kerosingeruch in der Luft, aber es roch auch angenehm nach Sommer. Der Flughafenbus brachte ihn schnell zum Ankunftsbereich, in dem er seinen Koffer in Empfang nehmen konnte. Er hatte alle Zeit der Welt, denn die Fähre von Piräus ging erst um 17:30 Uhr. Vorher war leider um diese Jahreszeit nichts zu machen, später in der Hauptsaison gab es mehrere Boote am Tag. Das hatte mit dem schweren Fährunglück vom September 2000 zu tun. Damals war die Express Samina vor Paros im Sturm gesunken, und man hatte über 80 Tote zu beklagen. Nach diesem Unglück wurden viele alte Fähren überprüft und aus dem Verkehr gezogen.