Tödlicher Honig - Peter Pachel - E-Book

Tödlicher Honig E-Book

Peter Pachel

0,0

Beschreibung

In einer Altbauwohnung in Berlin Charlottenburg wird ein Pensionär tot aufgefunden. Er wurde brutal ermordet, die Todesumstände entsetzen selbst hartgesottene Kriminalbeamte. Erste Hinweise führen zu einem kleinen Küstenstädtchen auf einer Insel in der südlichen Ägäis. Filippos Panos, der Polizeichef von Paros, wird zur Unterstützung des deutsch-griechischen Ermittlerteams nach Amorgos beordert. Was hat der alte Mann kurz vor seinem Tod dort gewollt, nachdem er der Insel vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hatte? Schnell steht fest, dass er nicht nur wegen seines Urlaubs auf der Insel war, und längst Vergessenes rückt in den Fokus der Ermittlungen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 342

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Pachel
Tödlicher Honig
Ein Ägäis-Krimi
Griechenland-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Tödlicher Honig

Widmung

Amorgos, Südliche Ägäis, November 1994

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Filippos Panos –

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, Anfang September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, Anfang September 2019

Kai Langer –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Filippos Panos –

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, September 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, Anfang September 2019

Kai Langer –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Filippos Panos –

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, September 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Evangelos Domakis –

Paros, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019

Katharina Waldmann –

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Vicky Plomaros –

Kyklades Best

GmbH, Paros, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, September 2019

Vicky Plomaros –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Kai Langer –

Berlin-Charlottenburg, September 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, September 2019

Vicky Plomaros –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Katharina Waldmann –

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, September 2019

Florian König –

Berlin-Charlottenburg, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Kyriakos Stasmatis –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Marie Berger –

Berlin-Charlottenburg, September 2019

Irini Panou –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Vicky Plomaros –

Kyklades Best GmbH, Paros, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Irini Panou –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Christos Xanthopoulos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Filippos Panos –

Ägiali,Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Christos Xanthopoulos –

Ägiali, Amorgos, Südliche Ägäis, September 2019

Personen und Lokales

Rezepte (für 4 Personen)

Horta Mira

Parischer Kapernsalat

Linsen–Garnelen-Salat mit Feta

Ofen-Sardinen mit Gemüse

Pasta Kyklades

Fava mit geschmortem Gemüse

Feta Drimakis

Fisch-Salat Irini

Garnelen–Zitronen-Pilafi à la Kyriakos

Milo Melo

Danke!

Der Autor

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Cover

Für alle Langzeit-Griechenland-Begeisterten
und alle, die es werden wollen.
Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger.
Johann Wolfgang von Goethe
Handlungen, alle agierenden Personen und Namen der Lokalitäten und Unternehmen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Amorgos, Südliche Ägäis, November 1994

Dunkle Wolken zogen schon seit Tagen über Ägiali, den kleinen Hafenort an der Nordküste von Amorgos, der östlichsten Insel des Kykladen Archipels. Ein kräftiger Nordwind peitschte sie vor sich her und ließ die oberhalb des Dorfes liegenden Siedlungen Tholaria, Langada und Potamos in den grauen, feuchten Schwaden untertauchen. Die in den Sommermonaten weiß strahlenden Fassaden der Häuser wirkten bei diesem Novemberschauspiel trist und wenig einladend. Ein rauer Herbst hatte die Insel fest im Griff.
So trüb wie das Wetter war auch die Stimmung bei den wenigen festen Einwohnern der Dörfer, die auch während der unfreundlicheren Jahreszeit dort lebten. Die engen, verwinkelten Gassen waren verlassen, der anhaltende starke Regen ließ sie die meiste Zeit in ihren Wohnungen verweilen.
Das dörfliche Leben beschränkte sich für die älteren Männer in diesen Monaten auf die Besuche im Kafenion, jene traditionellen Kaffeehäuser, wo sie Tavli spielten und stundenlang ihre Kombolois durch die Hände gleiten ließen. Die Frauen des Dorfes trafen sich zum gemeinsamen Kochen, oder bei ihren regelmäßigen Kirchgängen. Die Bevölkerung war auf ein Minimum geschrumpft, ganz anders als im Sommer, wenn zahlreiche Gastarbeiter mithalfen, die Touristenströme bei Laune zu halten. Viele jüngere Einheimische, die fünf Monate lang rund um die Uhr im Einsatz waren, zog es im Herbst in die weite Welt hinaus, um sich von den Strapazen der Feriensaison zu erholen.
Amorgos, früher ein Geheimtipp für Individualreisende, hatte längst Blut geleckt und mischte mittlerweile auch im Touristikgeschäft kräftig mit. Das Klientel war zwar anders, als es auf den bekannteren Inseln wie Mykonos, Santorin oder Paros der Fall war, aber auch Reisende, die mehr Wert aufs Wandern und das Erkunden der Natur legten, erwarteten gut organisierte Hotels und ein vielfältiges Angebot in der Gastronomie.
Kostas Xanthopoulos und seine Frau Anastasia lebten in Potamos schon eine halbe Ewigkeit. Kostas war auf Amorgos geboren und seine Frau war direkt nach ihrer Heirat von Naxos zu ihrem Mann gezogen. Das war schon über 30 Jahre her, beide hatten das 50. Lebensjahr bereits überschritten. Dem mürrischen Mann machte der unfreundliche November weniger aus als vielen anderen Bewohnern des Dorfes, mit dem Trubel während der Sommermonate war er nie so richtig vertraut geworden. Er schätzte die ruhigere, melancholische Zeit auf seiner Insel, und dem tat das schlechtere Wetter keinen Abbruch. Seine Frau hingegen blühte auf, wenn sie mit den Fremden ins Gespräch kam. Sie sehnte sich jetzt schon nach dem nächsten Frühling.
In diesem Herbst war alles anders. Den halben Sommer über war Kostas zur Behandlung einer Krebserkrankung in einem Krankenhaus in Athen gewesen, um dann nach Wochen einer quälenden Chemotherapie die Behandlung abzubrechen. Der heimtückische Feind hatte längst unbemerkt das Regime in seinem ahnungslosen Körper übernommen. Auf eigenes Risiko war er zurück in seinen Heimatort gekehrt, nachdem die Ärzte ihm reinen Wein eingeschenkt und wenig Hoffnung auf Heilung gemacht hatten. Mit den Worten seiner Ärzte, die verbleibende, kurze Zeit zu nutzen, um all die Dinge zu regeln, die es noch zu erledigen gab, war er verbittert zurückgekehrt.
Die Aussage hatte Kostas sich zu Herzen genommen und einen Plan gefasst, den ganz Potamos so schnell nicht mehr vergessen sollte. Zu viel war passiert im letzten Jahr, als dass sie ihr Leben wie gewohnt weiterführen konnten. Die Krebserkrankung hatte seinen Entschluss gefestigt. Der aufkeimende Gedanke, seinen Sohn Christos zu kontaktieren, war schnell vom Tisch. Sie hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen. Er war schon in jungen Jahren von Amorgos weg, und nachdem er sein Studium zum Schiffingenieur beendet hatte, war er die meiste Zeit auf den Weltmeeren unterwegs. Nur noch selten ließ er sich auf der Insel blicken, dafür pflegte er aber regelmäßigen telefonischen Kontakt mit seiner Mutter. An ihr hing sein Herz. Sie kümmerte sich um die Vermietung seiner Ferienwohnungen, in die er sein erstes Geld angelegt hatte.
Anastasia hatte ihre Hoffnung aber nie aufgegeben, dass er irgendwann wieder die Liebe zu der Kykladen Insel entdecken würde, doch die Anzeichen dafür standen denkbar schlecht.
Kostas Xanthopoulos war ein wortkarger Zeitgenosse, der seit seiner Diagnose noch weniger sprach, was für seine Frau eine schwer zu ertragende Last darstellte. Schon länger war ihre Beziehung abgekühlt und ihr Leben verlief mehr nebeneinander als miteinander. Das machte sich besonders in der trüben Zeit des Herbstes und Winters bemerkbar, für Kontakte außerhalb ihrer Gemeinschaft boten sich wenige Gelegenheiten. Auf Anastasia warteten in der unfreundlicheren Jahreszeit viele Entbehrungen. So fehlten ab Ende Oktober die Touristen, bei denen sie sich die Wertschätzung einholen konnte, die ihr Mann ihr verweigerte. Beim Umgang mit den Mietern der Ferienwohnungen blühte sie auf und holte sich die ein oder andere Streicheleinheit, um das Defizit ihres Gefühlshaushaltes etwas auszugleichen. Viele Gäste kamen schon viele Jahre, und das verbuchte sie als ihren persönlichen Erfolg. Sie brauchte den Kontakt zu den Urlaubern, besonders seitdem die Gespräche mit ihrem Gatten immer einsilbiger geworden waren. Kostas, der seine Frau im Auge behielt, hatte das lange mit Argwohn beobachtet, ihm war der Umgang mit den Fremden zu eng und seine Eifersucht war häufig Anlass zum Streit. Jetzt, wo ihn das Schicksal so hart herausforderte, würde ihm ganz einfach die Kraft dazu fehlen. Düstere Szenarien beherrschten von da an seinen Geist, die er mit niemandem teilte. Nur in seinem abgegriffenen Tagebuch, welches ihn seit vielen Jahren begleitete, konnte man die dunklen Gedankengänge Kostas in dieser Zeit erahnen.
So hatte sich Anastasia an jenem tragischen Tag auch nichts dabei gedacht, als er sein altes Jagdgewehr aus dem Schrank geholt und es stundenlang geputzt hatte. Er hing wohl alten Gewohnheiten nach, vermutete sie. Für einen Ausflug zum Kaninchenjagen war er jedoch viel zu schwach. Sie ließ ihn gewähren und war irgendwann zu Bett gegangen, nachdem eine lähmende Müdigkeit sie überrascht hatte. Kostas verfolgte die Entwicklung an diesem Abend genau und wartete noch eine Weile, bevor er aufstand.
Stoisch, nur noch seinen düsteren Gedanken folgend, lud er sein Gewehr mit zwei 7 x 65 mm Büchsenpatronen und schritt zum Schlafzimmer. Ein leises Röcheln zeugte vom Schlaf seiner Frau, sie nahm nicht wahr, wie er das Zimmer betrat. Kaltblütig setzte er die Waffe an und zielte auf ihre Stirn, der kalte Lauf der Büchse ließ sie vor Schreck kurz die Augen öffnen. Dann drückte er ab. Das gurgelnde Geräusch des letzten Atemzugs von Anastasia verdrängte er, ebenso die Blutlache, die sich in ihrem langjährigen, gemeinsamen Bett ihren Weg bahnte. Zu sehr war er mit der Vollendung seines Plans beschäftigt. Wie ferngesteuert setzte er die Waffe ein zweites Mal an, jetzt galt sie ihm. Fest umschlossen seine spröden Lippen den eisernen Lauf, er zögerte keine Sekunde.
Aufgeschreckt durch zwei Schüsse, die in der Nacht durch Potamos krachten, hatten sich Anwohner auf die Suche nach der Ursache gemacht. Nachdem ein Nachbar die beiden Leichen entdeckt hatte, erfuhren die schockierten Dorfbewohner von der Verzweiflungstat. Für Nikos Drimakis eine seiner schlimmsten Erfahrungen, die er bis dato in seinem Leben gemacht hatte. Noch am Morgen hatte er zusammen mit Kostas einen Kaffee getrunken. Sie waren im gleichen Alter und wohnten viele Jahre Haus an Haus. Er konnte ganz gut mit dem Sonderling, weil er ihn so akzeptierte, wie er war. In Kato Potamos, dem unteren Teil des Dorfes, lagen ihre Häuser, sie kamen ohne große Worte miteinander aus. Es lag wohl an der gemeinsamen Leidenschaft, die sie teilten und die sie ihre Alltagssorgen für eine Weile vergessen ließ.
Nikos Drimakis war bekannt für seinen köstlichen Wildhonig, der weit über Ägiali hinaus gerühmt wurde, Kostas war irgendwann bei ihm in die Lehre gegangen. Von da an hatte diese Passion auch ihn in seinen Bann genommen. Eine solche Tat hätte Nikos Drimakis seinem Freund und Nachbarn niemals zugetraut.
Wilde Spekulationen machten seitdem die Runde und im Dorf klaffte das schreckliche Ereignis lange Zeit wie eine eiternde Wunde. Erst im Laufe der Jahre kehrte wieder Ruhe ein, aber die wahren Beweggründe für seine Tat hatte Kostas Xanthopoulos mit in sein Grab genommen.

Florian König

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019
Florian König lockerte seinen Krawattenknoten. Die Hitze in dem überfüllten Besprechungsraum der Berliner Bank war kaum noch auszuhalten, nachdem sich ihre Klimaanlage gestern Nachmittag ohne Vorankündigung verabschiedet hatte. Berlin ächzte seit Wochen unter einer spätsommerlichen Hitzewelle, und dies war das Todesurteil für viele veraltete Kühlaggregate. Der kurzfristige Versuch, ein mobiles Gerät zu beschaffen, war an der zu spät erteilten Genehmigung der Filialleitung gescheitert, die Preise für die Leihmodule waren in den letzten Wochen explodiert. Mit vielen kühlen Getränken hatten sie sich durch den Tag geschwitzt. Trotz der erschwerten Bedingungen hatte die Vorstandssitzung auch noch länger gedauert als geplant. Er würde sich sputen müssen, um noch pünktlich zum Sundowner in der hippen Weinbar am Walter-Benjamin-Platz zu erscheinen. Sie war der coole Treffpunkt, wo sich die gut situierten Bewohner aus dem Charlottenburger Kiez zum abendlichen Drink trafen. Dem pfiffigen Besitzer des angesagten Restaurants nebst Bar war es gelungen, auf dem freien Platz nahe der Wielandstraße einen viel besuchten Treffpunkt zu erschaffen. Der kleine kioskähnliche Pavillon auf dem Terrain war zu einer Cocktailbar umfunktioniert worden.
Florian König spurtete aus der Filiale seiner Bank in der Wilmersdorfer Straße ins Freie. Als er den Bürgersteig betrat, schlug ihm der stickig penetrante Geruch des Feierabendverkehrs entgegen. Bis zu seiner Wohnung in der Schlüterstraße brauchte er gute zehn Minuten, Marie, seine Lebensgefährtin, wartete bestimmt schon auf ihn. Nach nur wenigen Minuten stand er in seinem eigenen Saft, sodass er sich sehnlichst eine kalte Dusche herbeiwünschte. Und einen kühlen Drink zum Sonnenuntergang im Kiez, was sich in diesem Sommer zu einer Art Ritual entwickelt hatte. Viele ihrer Freunde versuchten, wenn sie nicht gerade dienstlich unterwegs waren, zu erscheinen. Zusammen ließ man den Tag bei einem kühlen Wein oder einem Cocktail ausklingen.
Während er sich geschickt durch die aufgeheizte Stadt schlängelte, ließ er den Tag Revue passieren. Dabei wurde ihm noch heißer, als ihm ohnehin schon war. Sechs weitere Filialen sollten kurzfristig geschlossen werden, so die heutige Entscheidung. Ihm stand ein heißer Herbst bevor.
Schon lange haderte der gelernte Bankbetriebswirt mit seinem Job, der ständige Krisenmodus seines Arbeitgebers zerrte an seinen Nerven. Die gesamte Bankenlandschaft stand unter einem enormen Kostendruck und die größten Einsparungen waren nun mal beim Personal zu erzielen. Das gesamte Filialnetz befand sich auf dem Prüfstand und brauchte dringend eine Generalüberholung. Außerdem nutzten viele jüngere Kunden mittlerweile das Online Banking.
Sorgfältig waren sie alle in Frage kommenden Niederlassungen durchgegangen, um letztendlich für sechs der Zweigstellen das Aus zu beschließen. Eine Liste aller betroffenen Mitarbeiter lag bereits vor. Ihm graute es schon vor den nächsten Tagen, wenn die Kündigungsschreiben bei den Adressaten eintrudeln würden.
Fast hatte er seine Wohnung erreicht, die im Vorderhaus eines erst kürzlich renovierten Altbaukomplexes lag. Mit sechzehn Parteien eine überschaubare Wohngemeinschaft, die bis auf wenige Ausnahmen gut miteinander harmonierte und sich in unregelmäßigen Abständen traf. Zu den wenigen Ausnahmen zählte Dr. Römer, ein älterer Herr Mitte 80, der von den meisten Bewohnern als mürrisch und unnahbar beschrieben wurde, obschon die wenigsten mit ihm je ein Wort gewechselt hatten. Soziale Kontakte schienen ihm nicht wichtig und im Haus galt er als Einzelgänger.
Florian König war anderer Meinung, ihn faszinierte der gebildete, feinfühlige Mann, und im Laufe der Zeit hatte sich zwischen dem Enddreißiger und dem alten Mann eine zarte Freundschaft entwickelt. Er lebte allein, da seine Frau schon in jungen Jahren verstorben war. Weitere Angehörige schien es nicht zu geben. Sogar einen Wohnungsschlüssel hatte Römer ihm übergeben, falls er sich einmal aussperren sollte. Florian stufte diese Geste als ein Zeichen höchster Vertrauensbekundung ein. Kennengelernt hatten sie sich vor gut zwei Jahren, als der Bankangestellte zahlreichen Kollegen und Kolleginnen seines Geldinstitutes den Verlust ihres Arbeitsplatzes erklären musste und er sich am Abend betrunken hatte. Völlig aufgelöst und ohne Haustürschlüssel war er losgezogen. Marie war beruflich unterwegs, sodass er nicht in die Wohnung gekommen war. Dr. Römer hatte ihn spät in der Nacht schlafend im Treppenhaus aufgegriffen und mit in seine Wohnung genommen. Es war ihm furchtbar peinlich, als er am nächsten Morgen mit einem Kater auf dessen Sofa aufgewacht war und im ersten Moment nicht wusste, wo er sich befand. Ohne Vorwürfe oder lästige Fragen hatte der betagte Nachbar ihm ein Frühstück serviert, bevor Florian König sich kleinlaut davongeschlichen hatte.
Florian war in der Schlüterstraße angekommen. Als er seinen Hausschlüssel in das Schloss des großen Eingangsportals steckte, musste er spontan an den alten Mann denken. Schon länger hatte er nichts mehr von ihm gehört, daher wurde es Zeit, sich wieder einmal bei ihm zu melden. Als er die schwere Tür einen Spalt weit aufzog, drang kühle Luft nach draußen. Florian König liebte den Altbau mit seinen hohen Decken und der stilvollen Fassade, wie es sie in dem beliebten Berliner Stadtteil vielfach gab und die Charlottenburg seinen besonderen Charme verlieh. Die liebevoll restaurierte schmiedeeiserne Tür des antiken Aufzugs wartete im Erdgeschoss, aber er entschied sich für die Treppe. Seine Wohnung lag im zweiten Stock, direkt über der Wohnung von Dr. Römer.
Mit Schwung setzte er zu den letzten Stufen an, als er kurz innehielt. Schon gestern hatte ihn ein merkwürdiger Geruch beim Betreten des Treppenhauses irritiert. Er schob es auf die Müllabfuhr, die dagewesen war und die Tür zum Keller offengelassen hatte. Jetzt roch er es wieder. Er öffnete das Fenster auf dem Podest zu seiner Wohnung, Marie stand in der Tür und gab ihm einen Kuss.

Filippos Panos

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, Anfang September 2019
Filippos Panos startete an diesem Morgen besonders gut gelaunt zu seinem Arbeitsplatz in die Polizeidienststelle nach Parikia. Der Gedanke, dass er in zwei Tagen seinen verdienten Urlaub antreten und mit seiner Frau Irini und seinem vierjährigen Sohn Dimitri ein paar Tage ausspannen konnte, trieb sein Stimmungsbarometer seit geraumer Zeit in die Höhe. Es war seine erste Verschnaufpause nach einem arbeitsreichen Sommer. Wie jedes Mal kurz vor den Ferien sorgte die Vorfreude für besonders gute Laune, und ein erhabenes Gefühl beflügelte ihn, dem Verbrechen für zwei Wochen den Rücken zu kehren.
Sein Team war informiert und vorbereitet. Bei Katharina Waldmann, seiner Stellvertreterin, wusste er die Truppe in guten Händen, hatte sie doch selbst mehrere Jahre die Leitung der Polizeibehörde innegehabt.
Die Sommermonate waren zwar recht hektisch verlaufen, aber spektakuläre Kriminalfälle waren der Polizei auf Paros in diesem Jahr erspart geblieben. So hatte er die Zeit genutzt, sein Team neu zu strukturieren. Das war notwendig geworden, nachdem man ihm trotz intensiven Bemühungen keine Ersatzstelle für Takis genehmigt hatte, der schon gut ein Jahr sein Rentnerdasein genoss. Es war eine Herausforderung für seine Mitarbeiter Spyros und Konstantinos, die die Arbeitspakete von Takis zusätzlich übernehmen mussten. Eine Alternative gab es nicht und zu seiner Freude waren sich alle darüber bewusst, dass die Herausforderungen nur gemeinsam gelöst werden konnten.
Erschwerend hinzu kam seine Berufung in das Sondereinsatzkommando für außerordentliche Ermittlungen auf den kleineren Inseln der Kykladen, in der er schon im letzten Jahr mitgearbeitet hatte. Zunächst als Übergangsregelung angedacht, zeigte die Bezirksregierung auf Syros keinerlei Anzeichen, diese Gruppe wieder aufzulösen, oder durch Neuanstellungen aufzustocken. Dazu fehlten ihnen leider die finanziellen Mittel. Dass man gerade ihn in die Mannschaft geholt hatte, war kein Zufall. Seine mehrjährige Arbeit in der Mordkommission in Athen prädestinierte ihn für diese hoheitliche Aufgabe, so die Argumente der Polizeidirektion in Ermoupoli. Außerdem stünde ihm mit Katharina Waldmann eine befähigte Vertreterin zur Seite, die seinen Einsatz außerhalb Paros durchaus rechtfertigte.
Filippos nahm es gelassen. Irgendwann würde die Krise schon vorbei sein, und dann würde es auch wieder Gelder für neues Personal geben. Bedauerlich war nur, dass sich diese außerordentlichen Arbeitspakete kaum in seiner Gehaltsabrechnung bemerkbar machten. Aber nüchtern betrachtet war die Arbeitsbelastung durch die Task Force bisher zum Glück in einem überschaubaren Rahmen geblieben. Nur einen Einsatz hatte es im Mai auf Koufonissi gegeben, als ein Engländer tot in seiner Ferienwohnung aufgefunden wurde und zunächst die Todesumstände nicht geklärt werden konnten. Filippos fungierte bei diesen Einsätzen, so wie bei allen anderen auch, als Koordinator zwischen der lokalen Polizeistation und den Beamten in Athen. Man half den Kollegen vor Ort bei der Einleitung der richtigen Schritte. Schnell hatte sich herausgestellt, dass der Engländer eines natürlichen Todes gestorben war.
Eine herbe Enttäuschung für seine Frau Irini, die zu gerne bei Kapitalverbrechen mitmischte, nachdem sie ihr kriminalistisches Talent schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte. Sie lechzte förmlich nach brisanten Kriminalfällen, um ihre Thesen in die Ermittlungsarbeiten einbringen zu können.
Irinis Übereifer wirkte auf Filippos manchmal befremdlich. Besonders in diesem Jahr war ihm ihre ständige Fragerei nach hochkarätigen Straftaten gehörig auf die Nerven gegangen. Er könne sich keinen Mord aus den Rippen schneiden, hatte er ihr mehrfach entgegengehalten und als kleines Zugeständnis einer monatlichen kulinarischen Runde mit Irini und seinem Team zugestimmt. So war zumindest der Kontakt zwischen ihr und seinen Leuten sichergestellt. Seine Mannschaft freute das, denn Irinis Kochkünste kamen in der Dienststelle sehr gut an.
Filippos war am Ortseingang in Parikia angekommen und näherte sich dem städtischen Krankenhaus. Von hier aus waren es nur noch ein paar Meter bis zu der Polizeibehörde.
Eine durchweg normale Saison bislang, resümierte der Polizeichef, als er seinen Dienstwagen parkte. Er konnte getrost für zwei Wochen seinen wohlverdienten Urlaub antreten.
Obwohl, so ganz normal war der Sommer dann doch nicht verlaufen. Er musste schmunzeln, wenn er an Anfang Juni dachte. Da gab es einen Einsatz der ganz besonderen Art. Die Gerüchte waberten schon länger über die Insel, im Juni wurde es zur Gewissheit. Es war eine Katastrophe für viele Langzeittouristen, denen man den Boden völlig unerwartet unter den Füßen weggezogen hatte. Das Aliportas, unangefochtener Treffpunkt der bunten Paros-Gemeinde aus aller Welt, hatte seine Pforten wegen Umbau geschlossen, nachdem das Lokal an einen neuen Betreiber verkauft worden war. Ein Aufschrei der Empörung war durch Naoussa geeilt, denn für viele Urlauber war es unverständlich, ihnen den liebgewonnenen Platz mitten im Sommer einfach so wegzunehmen und einer Neugestaltung zu unterziehen. Der Schock saß tief, als über Nacht plötzlich der vertraute Treffpunkt fehlte, der über die Jahre vielen als eine feste Anlaufstelle und Kommunikationszentrale ans Herz gewachsen war. Ein liebgewonnenes Ritual war von jetzt auf gleich zerstört worden und wie traumatisiert waren einige Besucher in den ersten Tagen in Naoussa hilflos umhergeirrt.
So schnell fand sich keine geeignete Alternative. Weder gab es ein Lokal mit geeigneter Größe noch stand vertrautes Personal zur Seite, das sich den allabendlichen Themen der Paros Gemeinde annehmen konnte.
Wie und wo sollte jetzt der regelmäßige Austausch der Tagesereignisse stattfinden? Wie und wo konnte jetzt über die unterschiedlichen Feriengäste abgelästert werden?
Eine ausweglose Situation, die in den ersten Tagen nach der Misere schwer zu händeln war. Das Ganze ging so weit, dass eine spontan anberaumte Demonstration, vor der zu einem coolen Café umgebauten neuen Location, von der Polizei aufgelöst werden musste. Der neue Betreiber wusste sich keinen anderen Rat mehr, als die aufgeheizte und alkoholisierte Menge kurz vor dem Sturm des Lokals stand. Ohnmächtig hatte er um die Hilfe der Polizei gebeten. Katharina Waldmann, selbst gute Kundin des Aliportas und bestens vertraut mit vielen der Touristen, hatte die Idee gehabt, die Meute zu besänftigen. Gemeinsam mit den früheren Betreibern Angelos Aliportas und seiner Frau gelang es ihnen, die Wogen zu glätten, indem sie die Gründe der Schließung öffentlich machten.
Es war ein normaler Vorgang, wie es bei vielen Betrieben der Fall war. Die Eheleute, mittlerweile selbst Anfang 50, hatten das beliebte Café auf der Platia in Naoussa mehrere Jahrzehnte betrieben, jetzt fehlte ihnen ein Nachfolger. Ihre Kinder, beide mitten im Studium, hatten anderes mit ihrem Leben vor, als sich von Mai bis Oktober um Touristen zu kümmern. Eine Realität, die für die meisten Urlauber schwer nachzuvollziehen war. Auch für die Kommissarin war der Verlust des Aliportas ein Stich ins Herz. Der freundliche zentrale Anlaufpunkt inmitten von Naoussa war für sie immer eine gute Quelle für ihre Polizeiarbeit gewesen. Sie ließ sich bei ihrem Einsatz davon jedoch nichts anmerken. Als enge Vertraute der Besitzer verstand sie deren Entscheidung, diese wollten sich jetzt mit aller Kraft auf das zum Café gehörige Hotel Liprando konzentrieren.
In der Dienststelle duftete es nach frischem Kaffee, da Xenia wie immer auf das Wohl der gesamten Mannschaft bedacht war. Ein guter Kaffee zum Start in den Tag war die halbe Miete, so ihre Devise. Filippos wusste das zu schätzen und war froh, dass die zweite weibliche Kollegin in der Dienststelle sich für diese Arbeit nicht zu schade war. Sie war seit Jahren die unangefochtene Chefin des Sekretariats und in den letzten beiden Jahren über sich hinausgewachsen. Inzwischen übernahm sie auch Aufgaben, die weit über denen einer Sekretärin hinausgingen. Ohne die feinsinnige Intuition seines Damentrios, bestehend aus Katharina, Xenia und inoffiziell seiner Gattin Irini, wären einige Kriminalfälle so schnell mit Sicherheit nicht aufgeklärt worden.
Filippos hörte Xenia lautstark telefonieren, ihre hohe Stimmlage verhieß nichts Gutes. Etwas Wichtiges musste anliegen, zu so früher Stunde. Wenige Minuten später kannte er den Anlass des Telefonats und seine Stimmung sank augenblicklich gegen Null.

Florian König

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019
Florian konnte den Abend mit seinen Freunden nicht wirklich genießen, zu sehr hingen seine Gedanken bei den bevorstehenden Veränderungen in der Bank. Mittlerweile war es ein Dauerzustand, bei dem kein Ende abzusehen war. Er war zu sensibel, um die von seinem Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen einfach so zu akzeptieren. Aber darauf nahm leider keiner Rücksicht. Die ständige Prahlerei seiner Bekannten über die neuesten Coups im Job und ihre gutgemeinten Geheimtipps für neue Aktien, waren ihm ganz besonders auf die Nerven gegangen. Vielleicht lag es an seiner momentanen Verfassung, hatte er den Abend ad acta gelegt. Immer häufiger verspürte er schon morgens einen Druck in seiner Magengegend. Dies war kein Zustand, den man länger hinnehmen sollte.
»Du brauchst dringend eine Auszeit«, hing ihm Marie schon länger in den Ohren. Er selbst spielte auch mit diesem Gedanken. Aber sie hatte leicht reden, Berlin war ein teures Pflaster geworden und der kostspielige Lebenswandel musste bezahlt werden. Allein die Miete für die schicke Altbauwohnung verschlang einen großen Teil ihrer beider Einkommen.
Auch an diesem Abend war er schlecht in den Schlaf gekommen. Das ständige Kopfkino und ein paar Drinks zu viel beim Sundowner verhinderten seine wohlverdiente nächtliche Erholungsphase. Die langanhaltende Hitze­welle machte sich mittlerweile auch in der Wohnung bemerkbar, was alles noch erschwerte.
Abgespannt und viel zu spät war er aus dem Bett gekommen, völlig aussichtslos, noch pünktlich im Büro zu erscheinen. Im Laufschritt hastete er das Treppenhaus hinunter, vorbei an den Briefkästen im Foyer. Auf dem Weg nach draußen bemerkte er den überquellenden Postkasten von Dr. Römer. Kurz hielt er inne. Hier stimmte etwas nicht, doch jetzt war keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Hektik im Büro ließ ihn seine Beobachtung vergessen, erst auf dem Nachhauseweg erinnerte er sich an seinen betagten Nachbarn. Der Mann war äußerst fit für sein Alter. Auf diese Weise verdrängte Florian König den Gedanken, ihm könne etwas zugestoßen sein. Der länger nicht geleerte Briefkasten widersprach dem jedoch eindeutig. Während er sich schwitzend durch die aufgeheizte Stadt quälte, suchte er in seinem Handy nach Römers Telefonnummer, da ihm die Entdeckung am Morgen jetzt keine Ruhe mehr ließ. Der Ruf ging durch, es klingelte mehrfach, bevor der Anrufbeantworter ansprang.
Bestimmt ist er ein paar Besorgungen machen oder zu einem Spaziergang aufgebrochen, beruhigte sich König. Dr. Römer legte viel Wert darauf, auch in seinem hohen Alter sein Leben alleine zu bewältigen. Das hatte er Florian klar zu verstehen gegeben, als er sich angeboten hatte, ein paar Einkäufe zu erledigen.
Der junge Bankangestellte passierte gerade die Leibnizstraße, als er sich überlegte, was er tun könne, wenn der Briefkasten immer noch nicht geleert worden wäre. Ein beunruhigendes Gefühl beschlich ihn. Er hatte einen Schlüssel, und soweit ihm bekannt war, nur er alleine. Schon deshalb fühlte er sich für den alten Herren verantwortlich.
Der Schweiß rann ihm den Nacken hinunter, die Hitze in der Stadt war unerträglich. Er wollte sich nicht vorstellen, dass Römer etwas passiert sein sollte, vielleicht schon länger hilflos in der Wohnung lag. Spontan dachte er an den Hausmeister. Den könnte er bitten nachzuschauen, aber das sähe dann so aus, als wolle er sich aus der Verantwortung stehlen. Verschwitzt stand er vor der Haustür und zog mit einem Ruck die schwere Haustür auf, sogleich schlug ihm wieder dieser Geruch entgegen. Florian glaubte, dass er seit gestern noch stärker geworden war.
Sein erster Blick im Treppenhaus galt Römers Briefkasten, der unverändert überlief. Entschlossen klingelte er Sturm, doch hinter der dicken Wohnungstür seines Nachbarn rührte sich nichts. Ohne lange zu überlegen sprang er eine Etage höher. Mit Römers Wohnungsschlüssel in der Hand rannte er zurück in die erste Etage. Mit einem heftigen Klopfen und erneutem Rufen nach dem alten Nachbarn steckte er den Schlüssel ins Schloss. Die Tür war nicht abgeschlossen, ein weiteres Indiz dafür, dass er sich in seiner Wohnung aufhalten musste.
Florian König zitterte, als er die schwere Tür aufdrückte, ein nach draußen dringender Luftzug ließ ihn erschaudern. Augenblicklich begann er zu würgen, ein bestialischer Gestank nahm ihm schlagartig den Atem. Auf das Schlimmste vorbereitet stieß er die Tür weiter auf. Ein starkes Summen drang in seine Ohren, bevor ihm ein schwarzer Schwarm Fliegen die Sicht nahm. Aus einem Reflex heraus hielt er sich schützend seine Hände vors Gesicht. Während er sich in der Wohnung weiter vorwagte, erbrach er sich im Flur.
Dann sah er Römer. Es war ein Anblick, den er so schnell nicht wieder vergessen würde. Ein winziger Augenblick genügte und für ihn war klar, dass er unverzüglich die Polizei verständigen musste. Panisch trat er den Rückzug an, vor der zugeknallten Wohnungstür sank er leichenblass in sich zusammen.
»Nu ma janz langsam, junger Mann, ick schick gleich mal ne Streife vorbei«, versuchte der Beamte in der Polizeidirektion Bismarckstraße Florian zu beruhigen.
Der Notruf über die 110 war bei ihm eingegangen, für den Polizisten war das aber kein Grund zur Aufregung. Tote, die länger in der Wohnung gelegen hatten, kamen in der knapp vier Millionen Einwohner zählenden Metropole ständig vor. Auf den Zustand der Leiche, die der junge Bankangestellte völlig aufgelöst versucht hatte, dem Beamten zu erklären, war er überhaupt nicht eingegangen. Dementsprechend behäbig erschien wenig später ein Streifenwagen, der sich in der Gegend aufgehalten hatte. Mit einem Mundschutz in der Hand betraten eine junge Polizistin und ein untersetzter älterer Kollege das Treppenhaus. König mit ein paar neugierig gewordenen Bewohnern des Hauses erwarteten sie bereits.
»Haben Sie uns angerufen«, fragte der dickliche Beamte den Bankangestellten, der ihnen aufgewühlt entgegengeeilt war.
»Ja, hab ich. Sind Sie von der Kripo?« Königs Stimme überschlug sich.
»Kripo? Wat soll denn hier die Kripo?« Der Polizist schüttelte ungläubig seinen Kopf. »Wenn, dann brauchen wir nen Amtsarzt, aber det entscheiden wir später«, beschwichtigte er. Seine junge Kollegin nickte zustimmend.
»Da bin ich anderer Meinung«, empörte sich König, dessen Zustand sich wieder stabilisiert hatte. »Ich habe Ihrem Kollegen in der Zentrale versucht, das zu erklären. Aber der hat mir nicht richtig zugehört.« Der Polizeibeamte machte eine abweisende Handbewegung und stieg zusammen mit der Kollegin die Stufen zu Römers Wohnung hinauf. Schweißflecken drangen durch sein blaues Uniformhemd, auch ihm setzten die hohen Temperaturen zu.
»Wenn wir bei jedem toten Rentner in einer Wohnung die Kripo einschalten würden, na dann Mahlzeit«, brummte er vor sich hin, während sie sich vor Römers Wohnungstür den Mundschutz anlegten und ein paar Handschuhe anzogen.
»Nu jeht mal schön wieder alle in eure juten Stuben, gleich gibt’s was auf das Näschen«, wies er die umherstehenden Nachbarn an, zurück in ihre Wohnungen zu verschwinden.
Es schien nicht der erste Einsatz dieser Art für die Polizisten zu sein. Florian reichte den Beamten den Wohnungsschlüssel, trat einen Meter zurück und unterdrückte einen aufkommenden Brechreiz bei dem Gedanken, was die beiden erwartete. Beherzt wurde die Wohnungstür geöffnet und die beiden Staatsdiener zogen die Haustür direkt wieder hinter sich zu. Florian wartete im Treppenhaus, hörte aber, wie die jüngere Polizistin mehrfach laut aufstöhnte. Die Frau schien nicht so hart gesotten wie ihr älterer Kollege zu sein, was Florian ihrer fehlenden Erfahrung zuschrieb. Dann vernahm er, wie Türen aufgestoßen und telefoniert wurde, kurze Zeit später erschienen die Beamten zurück vor der Wohnungstür.
»Hast recht jehabt Jungschen, det is wirklich wat für die Kripo.« Die Stimme des Polizisten klang ernst. »Der is nicht freiwillig aus dem Leben geschieden.« Der Mann wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Die jüngere Beamtin war weiß wie eine Kalkwand. Florian holte den beiden eine Flasche Wasser und zwei Gläser.
»Ick hab schon einiges gesehen, aber det toppt alles«, nahmen sie dankbar das Angebot an.
»Sag ich doch. Und ist die Kripo informiert?«
»Schon unterwegs, müssen jeden Moment hier eintreffen.« Der Polizist ließ sich erschöpft auf eine der Treppenstufen sinken. Der Anblick des Toten und der beißende Leichengeruch schienen ihm ziemlich zuzusetzen.
Nur wenige Minuten später rückte ein Team der Mordkommission an, deren Zentrale in der Keithstraße ansässig war. Die Abteilung des LKA 1 waren für alle Delikte am Menschen zuständige, dazu gehörten Tötungsdelikte jeglicher Art.
»Na dann zieht euch mal warm an, det is keen schöner Anblick«, begrüßte der Streifenpolizist die Truppe, die mit insgesamt vier Technikern und mehreren Koffern Equipment im Treppenhaus standen. »Aber die Wohnung is sauber. Bis uff det Opfer sind keene weiteren Personen vorhanden«, ergänzte er noch.
Ohne groß darauf einzugehen zogen sich alle vier ihre weißen Schutzanzüge sowie Überzieher für ihre Schuhe an und verschwanden in der Wohnung. Paul Reuter, der die Leitung der KTU bei diesem Einsatz innehatte, zückte sogleich sein Diktiergerät. Routiniert begannen seine Beobachtungen hinter der Wohnungstür.
»… Wohnungstür zeigt keinerlei Einbruchsspuren … Flur sieht sehr aufgeräumt auf … Frisch Erbrochenes rechts neben der Kommode …« Die drei Mitarbeiter seines Teams folgten ihm, wobei zahlreiche Fotos gemacht wurden.
»… Bewege mich jetzt auf die einzige offene Tür zu, alle weiteren vom Flur abgehenden Türen sind angelehnt … Fortgeschrittener Verwesungsgeruch und Madenbefall … Opfer muss schon mehrere Tage tot sein … Der Tote trägt eine beige Shorts und ein Unterhemd, seine Füße sind nackt.« Reuter korrigierte den Sitz seines Mundschutzes. »… Das Opfer sitzt auf einem Küchenstuhl in der Küche … Er ist mit beiden Beinen an den Stuhl gefesselt … Seine Arme sind hinter der Stuhllehne gekreuzt … mit einem weiteren Strick ist sein Oberkörper an dem Stuhl fixiert.« Der mit einer Kamera bewaffnete Techniker riss ein Fenster auf, woraufhin Schwärme von Fliegen ins Freie flogen. Paul Reuter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ein Schwall frischer Luft durchmischte den süßlichen Geruch des Todes.
»… Der Kopf des Opfers ist vornübergekippt … Großflächige Blasenbildung der Oberhaut an den Extremitäten und im oberen Brustbereich … Bereits stark ausgebildet aufgrund der sommerlichen Hitze.«
Behutsam näherte sich der Techniker der Leiche und betrachtete sie von Nahem. Er beugte sich nach unten, um den Kopf von Dr. Römer genauer unter die Lupe zu nehmen.
»… Aufgedunsenes Gesicht mit punktförmigen schwarzen Flecken, vermutlich ältere Blutungen … Vereinzelte Hautablösung und starker Pilzbefall im gesamten Gesicht des Opfers … auf den ersten Blick keine Anzeichen von Gewaltanwendung im Kopfbereich …«
Vorsichtig drückte er den schlaff zur Seite hängenden Kopf des Toten ein wenig nach oben und betrachtete ihn eine Weile intensiv. Irgendetwas irritierte ihn.
»Reicht mir mal eine Pinzette«, rief er ganz in seinem Element einer Kollegin zu. Der halb geöffnete Unterkiefer des Opfers hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Mit Hilfe der Technikerin spreizte er den Kiefer auseinander. »Halt den Oberkiefer mal nach oben«, bat er seine Kollegin, während er mit der Spitze einer langen Pinzette den Rachenraum des Toten inspizierte.
Die beiden anderen Beamten traten neugierig näher. Dann ging ein Raunen durch die Küche. Fassungslos betrachten die vier Mitarbeiter der KTU, was Reuter aus der Mundhöhle des alten Mannes gefischt hatte. Erst bei näherem Hinsehen war es für alle ersichtlich. Zwischen den Spitzen der Pinzette klemmten zwei tote Bienen.

Kyriakos Stasmatis

Kyklades Best GmbH, Paros, Anfang September 2019
Kyriakos Stasmatis zog sich eine dicke Daunenjacke an und lief aufgebracht zu der großen Kühlhalle auf dem weitläufigen Gelände seines Lebensmittelhandels. Sein Lagerverwaltungsproramm wollte ihm tatsächlich weismachen, dass der Bestand ihrer Fetakäse-Vorräte auf null war. Mit seiner eigenen Statistik stimmte das in keinster Weise überein. Obwohl das Programm zur Verwaltung seiner Warenbestände schon fast ein Jahr in Betrieb war, traute er den angezeigten Daten nicht. Daher führte er, so wie er das immer getan hatte, parallel ein simples handschriftliches Kontrollbuch. Zugegebenermaßen konnte er mittlerweile nicht mehr alle Produkte überwachen, dafür war das Sortiment in den letzten Jahren zu stark gewachsen. Aber für die gängigsten Artikel ließ er sich diese von seinen Mitarbeitern als Antiquar bezeichnete Form der Kontrolle nicht nehmen.
In dem aktuellen Fall klaffte zwischen dem Programm und seinen Aufzeichnungen eine beträchtliche Lücke von 120 Kisten des geschätzten Käses. Es wäre nicht das erste Mal, dass aus dem Lager eine größere Palette bei Nacht und Nebel verschwunden war. Alleine schon deswegen hielt der Chef des erfolgreichen Feinkostversandhandels Kyklades Best GmbH an seiner altmodischen Erfassung fest. Auch wenn viele seiner zahlreichen Mitarbeiter darüber lächelten, verstanden sie das Zeichen: Hier passte jemand auf!
Kyriakos Stasmatis hatte schon einiges in seiner langjährigen Tätigkeit im Handel mit Lebensmitteln erlebt. Eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit war ihm dabei durchaus behilflich gewesen. Angefangen vor mehr als dreißig Jahren mit dem Verkauf von Olivenöl und Kräutertee von den Kykladen war es ihm gelungen, einen großen Betrieb aufzubauen. Mittlerweile bot seine Firma in ganz Europa Produkte von der Inselgruppe an. Seine Abnehmer waren in der Anfangszeit vorrangig griechische Restaurants gewesen, die ihren Kunden authentische Produkte aus ihrer Heimat anbieten wollten. Der Anteil an Privatkunden lag dem gewieften Geschäftsmann aber vielmehr am Herzen. Hier konnte er mehr Geld verdienen, und deshalb steckte er viel Energie in den Ausbau dieses Geschäftszweiges.
So war für ihn die Kundenpflege ein ganz persönliches Anliegen. Mindestens einmal im Jahr versuchte er, bei seinen Premiumkunden in Europa persönlich vorzusprechen. Es war eine gute Gelegenheit, sie für neue Produkte zu begeistern.
Er zog sich seine Kapuze über, als er die schwere Stahltür zu der Kühlhalle erreichte. Es war ein seltsames Bild bei einer Außentemperatur von nahezu dreißig Grad. Aber Stasmatis wollte kein Risiko eingehen und sich eine Erkältung zuziehen. Den Standort auf der Kykladen Insel Paros gab es nun schon einige Jahre und er hatte in die Niederlassung kräftig investiert. Die zentrale Lage und der Ausbau des Flughafens 2016 waren ausschlaggebend für diese Entscheidung gewesen.
Als er den Hebel der dick isolierten Tür öffnete, strömte ihm sofort die kühle Luft entgegen. Er trat schnell ein und beeilte sich, die Tür schnell wieder hinter sich zu schließen. Ein Blick auf das Thermometer zeigte eine Temperatur von 5°C. Zufrieden steuerte er auf den Gang mit dem Fetakäse zu. Im Hintergrund dröhnte der starke Kompressor, der zur Aufrechterhaltung einer konstanten Temperatur zwischen vier und fünf Grad rund um die Uhr im Einsatz war. In einer hinteren Ecke der Halle befanden sich mehrere Tiefkühlzellen, die zur Lagerung von Tiefgefrorenem dienten. Ein separat abgetrennter Bereich mit einem zweiten Zugang diente der Lagerung von Spirituosen.
Vorbei an Regalen mit Kapern, Oliven, Olivenöl, Konfitüre, Honig, Kisten mit verschiedenem Gemüse und sonstigen Lebensmitteln sah er schon von weitem die Lücke, wo nach seinen Berechnungen noch 120 Kisten Feta lagern sollten. Doch anstatt eines der bekanntesten Lebensmittel aus Griechenland vorzufinden, blickte er auf das dunkle Holz einer leergeräumten Palette.
Wut stieg in dem cleveren Betriebsleiter auf, hatte er doch wieder einmal den richtigen Riecher gehabt.
Sein Atem ging stoßweise und hinterließ kleine, weiße Wölkchen, während er sich auf den Rückweg ins Büro machte. Bis auf wenige Ausnahmen arbeitete er mit Aushilfen. Er brauchte dringend einen Überblick, wer die letzten Tage Schicht hatte.
»Ich brauche alle Auslieferungen unserer Fetakäse-Bestellungen der letzten Woche«, knurrte er seine Sekretärin an. »Da scheint sich wieder jemand bedient zu haben.« Er schmiss der Angestellten die Kladde mit seinen persönlichen Aufzeichnungen auf den Tisch. »Das sind meine Abnahmemengen. Die müssen mit den Bestellungen abgeglichen werden. Und kein Ton zur Belegschaft. Ich muss mir erst sicher sein, dass ich mich nicht verrechnet habe.«
Die Frau hob kurz ihren Kopf und nickte beiläufig. Sie war eine seiner wenigen Festangestellten und Vertraute. Eine Zeit lang war ihre Beziehung nicht nur rein geschäftlicher Natur gewesen. Kyriakos Stasmatis hatte das vor gut einem Jahr aber beendet, nachdem ihm seine Frau die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Eine sofortige Kündigung der langjährigen Angestellten war die spontane Forderung seiner erzürnten Gattin gewesen. Das war jedoch schnell vom Tisch, weil die Sekretärin über Insiderwissen verfügte, was die Abläufe im Betrieb anging. Zähneknirschend musste sich das sogar Stasmatis Ehefrau eingestehen, denn eine Gefährdung ihres Unternehmens wollte sie auf keinen Fall riskieren.
Vicky Plomaros war sich ihrer Überlegenheit bewusst und auf die kleinen Abenteuer mit ihrem Chef konnte sie gut verzichten. Der fraß ihr auch so aus der Hand, da er genau wusste, dass sie über die nicht immer ganz sauberen Geschäfte der Kyklades Best GmbH, voll im Bilde war.
»Mach ich dir fertig, sobald es meine Zeit zulässt«, antwortete Vicky selbstbewusst. »Hast du schon einen Verdacht?«
»Leider nein, aber den kriege ich schon«, grummelte er verärgert.
Da war sich die Sekretärin sicher und es wäre nicht der erste Rausschmiss eines Mitarbeiters wegen Diebstahls.
Das meiste Personal wurde im Versand benötigt und war schlecht bezahlt. Da kam es durchaus vor, dass sich einer der Angestellten schon mal mit Naturalien aus dem Lager das schmale Gehalt aufbesserte.
Kyriakos Stasmatis spielte schon länger mit dem Gedanken, eine Überwachungskamera in seinem Kühlhaus zu installieren, die Prospekte dazu lagen seit Wochen auf seinem Schreibtisch. Es wäre leicht, die Halle über sein Handy zu überwachen, so die Aussagen des Herstellers. Wenn es sich wie vermutet tatsächlich um einen Diebstahl handeln sollte, würde er das schnellstens in Angriff nehmen.
Der Betrieb war auf halber Strecke zwischen Parikia, der Inselhauptstadt, und dem Flughafen angesiedelt. Ein freies Grundstück hatte er einem Bauern nach harten Verhandlungen abgerungen. Von dort aus konnte er in knapp zehn Minuten seine Waren zum Airport liefern.
Stasmatis widmete sich seinem Computer, da eine Anfrage zur Lieferung einer großen Menge an Olivenöl soeben bei ihm eingetroffen war. Die Preisvorstellung des Kunden ließ seinen Blutdruck jedoch augenblicklich in die Höhe schnellen.

Kai Langer

Berlin-Charlottenburg, Ende August 2019
Das Team der Berliner Spurensicherung konnte so schnell nichts aus der Fassung bringen. Ihre langjährige Arbeit in der Mordkommission hatte sie mit allen Abscheulichkeiten menschlicher Abgründe vertraut gemacht, und das ging oft weit über die Vorstellungskraft eines Normalbürgers hinaus. Nur ein über die Zeit gewachsener Schutzpanzer schützte sie davor, dass die Tragödien sie nicht zu einem seelischen Wrack verkommen ließen.