Schweigende Boote - Peter Pachel - E-Book

Schweigende Boote E-Book

Peter Pachel

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Beschreibung

Die Corona-Pandemie hat auch die ägäischen Inseln erreicht. Ein Sommer ohne Touristen bedeutet für viele Insulaner eine wirtschaftliche Katastrophe. Um die fehlenden Einnahmen zu decken, verkaufen einige Fischer sogar ihre traditionellen Kaiki-Boote. Für den jungen Biologen Elias ist daher der Job auf einer modernen Aquakultur-Fischfarm die sichere Wahl in der Krise. Als er jedoch bei einem Routinetauchgang eine Leiche in unmittelbarer Nähe zu einem der Aufzuchtbecken entdeckt, gerät er in ungeahnte Schwierigkeiten. Ein neuer Sondereinsatz für Filippos Panos, dessen Ermittlungen ihn diesmal von Paros zu der kleinen, malerischen Insel Serifos führen. Ein vergessenes Kykladen-Eiland, das hinter verträumten Dörfern, einsamen Kapellen und sterbenden Fischerbooten, gefährliche Geheimnisse verbirgt.

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Peter Pachel

Schweigende Boote

Ägäis-Krimi Bd. 3

Paros-Krimi

Für alle Langzeit-Griechenland-Begeisterten und alle, die es werden wollen.

Das Flüstern des Windes, das Rauschen der See schenken einem das Glück, einfach zu existieren.

(n.n.) (aus Seefahrt Zitate | Van der Rest Sail Charter (restchart.com)

Handlungen, alle agierenden Personen und Namen der Lokalitäten und Unternehmen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Inhalt

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, Mai 2020

Dimitris Somaris

Paros, Südliche Ägäis, vier Wochen vorher

Filippos Panos

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, Mai 2020

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, ein Tag zuvor

Vangelis Kasparos

Naoussa, Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Parikia, Paros, Südliche Ägäis

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, ein Tag zuvor

Robert Wagner

Bayern, Anfang Mai 2020

Kostas Kasparos

Naoussa, Paros, Südliche Ägäis

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis

Robert Wagner

Paros, Südliche Ägäis

Kostas Kasparos

Serifos, Westliche Ägäis

Filippos Panos

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis

Robert Wagner

Paros, Südliche Ägäis

Kostas Kasparos

Serifos, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Robert Wagner

Serifos, Westliche Ägäis

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis

Wut

Serifos, Westliche Ägäis

Elias Nikoladis

Serifos, Livadi, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Elias Nikoladis

Serifos, Westliche Ägäis

Kostas Kasparos

Serifos, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Eleni

Paros, Südliche Ägäis,

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Wut, Serifos

ein Tag zuvor

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Eleni

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Wut

Serifos, ein Tag zuvor

Stavros

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Serifos, Westliche Ägäis

Katharina Waldmann

Paros, Südliche Ägäis

Filippos Panos

Parikia, Paros, Südliche Ägäis

Personen und Lokales

Rezepte

›Gebackener Schafskäse mit Mango und Rote Bete‹

›Marinierter Thunfisch mit Fenchel, Tomaten und Chili‹

›Lamm mit Auberginen und Kichererbsen‹

›Gemüse Dip mit Joghurt und Minze‹

›Suzukakia‹

›Frittierte Sardellen (Gavros)‹

›Griechischer Linsensalat‹

›Auberginen mit Honig‹

Danke

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, Mai 2020

Elias Nikoladis fuhr erschrocken hoch. Das schrille Klingeln seines Smartphones riss ihn nun schon zum dritten Mal unsanft aus seinen Träumen. Diesmal konnte er den Weckruf nicht mehr ignorieren, es wurde höchste Zeit aufzustehen. Noch während er schlaftrunken nach seinem Telefon suchte, entschied er, sich einen freundlicheren Alarm einzustellen. Der aktuelle Weckton drohte, seinem Trommelfell ernsthaften Schaden zuzufügen. Fluchend drückte er die Stummtaste und ließ den gestrigen Abend Revue passieren. Es war spät geworden im Takami, seiner Lieblingstaverne, viel zu spät, um heute pünktlich an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Mit dröhnendem Schädel mühte er sich aus seinem Bett. Den letzten Ouzo hätte er besser weggelassen, überlegte er reumütig, aber keiner in der Runde hatte Anstalten gemacht, nach Hause zu gehen. Sie alle hatten den Abend laufen lassen und die ausgelassene Stimmung genossen, nach langen Wochen voller Entbehrungen. Strikte Ausgangssperren hatte die Regierung verhängt und die wurden selbst hier auf Serifos akribisch von der Polizei überwacht. Bei Nichteinhaltung drohten hohe Bußgelder. Das einzige Mittel, die Bevölkerung in Schach zu halten. Trotz erster, leichter Lockerungen jetzt im Mai war das gewohnte Leben immer mehr auf der Strecke geblieben, seit das Virus selbst in den entlegensten Ecken des Landes in aller Munde war.

Auch in Livadi, dem wichtigsten Hafenstädtchen an der Südostseite der Insel, war man vorsichtiger geworden, nachdem die schaurigen Bilder aus Bergamo mit unzähligen Corona-Toten um die ganze Welt gegangen waren. Ein Umdenken war überall zu spüren, obwohl es immer noch genug Menschen gab, die diese neue, unbekannte Gefahr herunterspielten. Auch Elias war lange der Meinung gewesen, ihm könne auf ihrer Insel nichts passieren. Erst als ihm Freunde aus Athen über zunehmende Erkrankungen in der Hauptstadt berichteten, hatte er sein Verhalten geändert. Wenn auch nur unwesentlich, schließlich spielte sich das Leben mit Beginn des Frühlings wieder zum größten Teil draußen an der frischen Luft ab. Tagsüber, wenn er seiner Arbeit nachging, kam er zwar zwangsläufig mit anderen Menschen in Berührung, aber auch in seinem Job bewegte er sich überwiegend außerhalb geschlossener Räume. Die Zentrale seines Arbeitgebers hatte vorbildlich reagiert und klare Verhaltensregeln für alle Mitarbeiter festgelegt, zumindest auf dem Papier. Ob sie in der Praxis wirklich eingehalten wurden, war nur schwer zu kontrollieren. Das neue Kleidungsstück eines Mund–Nasen-Schutzes erinnerte ihn seitdem stets an die gefährliche Krankheit. Eine nie gekannte Unsicherheit schwang seit dieser Zeit in seinem Leben mit. Das war bestimmt auch der Grund, warum er gestern zu später Stunde so zögerlich reagiert hatte. Und das, obwohl er so nahe am Ziel gewesen war und Lia ihm eindeutige Signale gegeben hatte. Die Studentin aus Tel Aviv, die eigentlich nur ein paar Wochen Urlaub auf der Ky­kladeninsel verbringen wollte, dann aber kurzerhand ihren Aufenthalt verlängert hatte. Sie war zu dem Entschluss gekommen, so lange auf Serifos zu bleiben, bis ihr Land wieder ein einigermaßen normales Leben zuließ. Israel, und ganz besonders Tel Aviv, wurde von der Seuche im Frühjahr ziemlich heftig erwischt und da waren die Lebensbedingungen auf einer griechischen Insel doch weitaus angenehmer als in der Enge einer sich im Lockdown befindlichen Großstadt. Seitdem gehörte die gutaussehende Schönheit an drei Tagen der Woche zum festen Bestandteil von Elias’ Lieblingstaverne. Ihr war es gelungen, Jannis, dem Besitzer des Takami, so lange in den Ohren zu liegen, bis er ihr einen Aushilfsjob angeboten hatte, obwohl das Lokal in den letzten sechs Wochen ausschließlich Essen to go anbieten konnte. Der in normalen Zeiten ab Anfang Mai beginnende Tourismus war bislang ausgeblieben.

Corona hatte die Lebensbedingungen und damit verbunden auch das Reiseverhalten in vielen Ländern auf den Kopf gestellt und niemand konnte sagen, wie sich die Situation entwickeln würde. Das machte sich nun auch auf Serifos bemerkbar. Das karge Eiland, vielfach noch als Geheimtipp gehandelt, verzeichnete in den vergangenen Jahren zwar einen stetig steigenden Besucherstrom, aber der große Run wie auf den bekanntesten Kykladeninseln war bislang ausgeblieben.

Elias schaute entsetzt auf seine Uhr. Er wollte wenigstens versuchen, noch vor seinem Chef an seiner Arbeitsstelle zu erscheinen, der großen Fischfarm in der Nähe von Spathi ganz im Süden der Insel. Von seiner Wohnung aus waren es mit dem Motorrad gute zwanzig Minuten bis zu der versteckten Stamata Bucht, in der die Andromiko Sea Food Group schon seit vielen Jahren die große Zuchtstation betrieb.

Elias war schon fast zwei Jahre bei dem renommierten Unternehmen angestellt, welches in verschiedenen Ländern Aquakulturen betrieb und seinen Hauptsitz in Paiania, in der Nähe von Athen besaß. Nach seinem Studium in Heraklion auf Kreta hatte er zunächst eine kurze Zeit am Griechischen Zentrum der Meeresforschungen, dem HCMR gearbeitet. Der Wunsch, auf seine Heimatinsel Serifos zurückkehren zu können, hatte ihn zu dieser Firma geführt. Eigentlich war er Biologe, aber als die Firma einen Ingenieur zur Wartung der umfangreichen Fischfarm suchte, war sofort klar, dass er sich bewerben würde. Den Zuschlag erhielt er noch in derselben Woche. Das war nun schon eine geraume Zeit her und mittlerweile war er mit den vielfältigen technischen Gerätschaften bestens vertraut. Er war einer der wenigen Angestellten, der neben einem breiten technischen Wissen noch Expertise im Fach Biologie aufweisen konnte. Eine hervorragende Kombination, um in dem Unternehmen weiter Karriere machen zu können.

Heute musste er den Wagen nehmen, in dem er sein Tauchequipment immer einsatzbereit mit sich führte. Bei gutem Wetter nahm er ansonsten sein Motorrad. Einem jährlich festgelegten Wartungsintervall folgend, stand in dieser Woche die Überprüfung der zahlreichen, im Meer verankerten Fischzuchtkäfige auf dem Plan. Dazu würde er den größten Teil des Tages unter Wasser verbringen müssen, was Elias als durchaus angenehm empfand. Der Besitz eines Tauchscheines war Bedingung für seine Anstellung gewesen und auch, wenn die Inspektionstauchgänge heute in erster Linie seiner Arbeit galten, konnte er so sein Hobby mit dem Beruflichen verbinden. Bei den im Mai noch recht kühlen Wassertemperaturen war ein Neoprenanzug unbedingt erforderlich. Seinem Kopf würde eine Erfrischung an diesem Vormittag guttun. Schnell hangelte er sich durch das Bad, steckte sich noch einen griechischen Sesamring – Koulouri – ein und machte sich auf den Weg. Einen starken Kaffee würde er sich vor Ort kochen.

Die Strecke führte aus Livadi eine steil ansteigende Straße hinauf gen Süden, in Richtung der winzigen Ortschaft Ramos. Vorbei an einem lieblichen Kirchplatz erreichte man am Ausgang der Ansiedlung eine staubige Piste. Dort hielt er sich links und folgte der unbefestigten Straße. Sie schlängelte sich durch die karge Landschaft hinunter bis in die Stamata Bucht. Die Strecke war frei und lediglich ein laues Lüftchen sorgte für eine angenehme Frische an dem frühsommerlichen Morgen. Mit heruntergekurbelten Fenstern genoss Elias den Fahrtwind und ärgerte sich erneut, der schönen Studentin nicht näher gekommen zu sein. Zum Glück war sie ja nicht aus der Welt, und wie es aussah, zog sich ihr Aufenthalt noch in die Länge.

Er war fast am Ziel. Nach der letzten Kuppe ging es bergab und erst jetzt konnte man die mehr als vierzig Zuchtbecken umfassende Anlage sehen, die wie überdimensionale Schwimmbecken im Meer schaukelten. Die kreisförmigen Käfige hatten unterschiedliche Durchmesser, die größten davon, zur Aufzucht von Dorade und Wolfsbarsch, maßen bis zu vierzig Meter. Alle Becken waren wie Perlen an einer Kette aneinandergereiht und hingen bis zu zwanzig Meter tief im Meer. Elias parkte seinen Wagen vor dem Wirtschaftsgebäude, das man durchaus mit einer Technikzentrale vergleichen konnte. Die effiziente Aufzucht von Fischen bedurfte einer lückenlosen Überwachung und dazu wurde hochwertige Messtechnik benötigt. Elias atmete auf. Sein Boss war noch nicht eingetroffen, also brauchte er sich wenigstens nicht für sein spätes Erscheinen zu rechtfertigen. Mehrere Angestellte, die größtenteils für Routinearbeiten gebraucht wurden, winkten ihm aus der Ferne zu. Sein erster Weg führte ihn in die winzige Kaffeeküche. Er brauchte jetzt dringend einen starken griechischen Kaffee – Ellinikó. Danach würde er dort weitermachen, wo er gestern aufgehört hatte. Gut die Hälfte der Käfige waren schon inspiziert worden und heute würde er die verbleibenden Becken auf eventuelle Beschädigungen kontrollieren. Die Bucht lag zwar gut geschützt vor den Tücken der oft rauen Ägäis, aber eine regelmäßige Sichtkontrolle der Netze gehörte zur Routine. Zu Beginn seiner Tätigkeit bei der Andromiko Sea Food Group hatte er sich in seinem Freundeskreis vielen kritischen Fragen stellen müssen, denn die Firma war nicht bei allen Insulanern gern gesehen. Fragen, die er sich oft selbst gestellt hatte. Aber die zunehmende Nachfrage nach bezahlbarem Fisch bei gleichzeitig stark überfischten Weltmeeren machte eine alternative Aufzucht von Meerestieren unabdingbar. »Wenn ich an der Quelle bin, kann ich mich einbringen, was die Nachhaltigkeit der Fischzucht betrifft«, hatte er seinen Freunden immer geantwortet. Jetzt, nach fast zwei Jahren in dem Betrieb, hatte er bereits mehrere Gespräche zu dem Thema mit der Zentrale geführt.

Die Ägäis war schon lange leergefischt, was jeder Tourist, der frischen Fisch liebte, schmerzlich in seinem Geldbeutel zu spüren bekam. Diesen Trend beobachtete man schon sehr lange und für viele traditionelle Fischerfamilien bedeutete diese Entwicklung den schleichenden Tod ihres seit Generationen ausgeführten Berufsstandes. Die ganze Misere wurde von der EU noch angetrieben, indem man seit den 1980er-Jahren eine Verschrottung der klassischen griechischen Fischerboote, den Kaikia, subventionierte. Mit dieser Aktion wollte man der Überfischung des östlichen Mittelmeeres entgegenwirken. Was der Verlust dieser alten Tradition für die Familien bedeutete, spielte dabei keine Rolle. Aber es gab sie noch, die kleinen Familienverbände, die mit den geschichtsträchtigen Booten ihren Lebensunterhalt verdienten, und der Widerstand gegen die Ausrottung der geliebten Holzboote wurde immer größer. In der seit Jahren anhaltenden Krise war bei der lokalen Bevölkerung eine Rückbesinnung zu alten Traditionen deutlich erkennbar, und der Erhalt der Kaikia war eine davon. So organisierten sich zunehmend Bootsbesitzer mit Medienaktionen, um dem Verschwinden ihrer Lebensgrundlage entgegenzuwirken. Kein leichtes Unterfangen, gegen die großen Fischereiflotten und die modernen Aquakulturen mit ihrem weltweiten Netzwerk, aber ein Anfang, der Mut machte. In Elias’ Brust schlugen zwei Herzen. Einerseits erschien ihm die Notwendigkeit neuer Aufzuchtmethoden durchaus einleuchtend, andererseits kannte er Familien auf den Inseln, die diese Technik als eine große Konkurrenz betrachteten. Hinzu kam, dass die großen Fischfarmen mittlerweile zu einem enormen Business gewachsen waren, von dem letztendlich auch die meisten Bewohner auf Serifos profitierten.

Elias biss herzhaft in seinen Sesamkringel und schlürfte an dem Ellinikó. Dann schlüpfte er in den Neoprenanzug und holte die Tauchausrüstung aus seinem Wagen. Ein Steg, der weit ins Meer hineinragte, bot ihm Gelegenheit, auch an die weiter vom Ufer entfernt gelegenen Käfige trockenen Fußes zu gelangen. Sitzend zog er sich seine Flossen an und prüfte ein letztes Mal seinen Sauerstoffvorrat. Ein Routinecheck, der für ausgiebige Tauchtouren zwingend vorgeschrieben war. Bei seinen Kontrollgängen tauchte er maximal bis auf fünfzehn Meter ab. Keine Tiefe, aus der man nicht auch ohne Luft wieder problemlos aufsteigen konnte. Wie erwartet war mit seinem Equipment alles in Ordnung und er setzte die Maske auf. Dann glitt er sanft in das tiefblaue Nass nahe des zu prüfenden Zuchtbeckens. Sogleich kam Unruhe in dem gut gefüllten Bassin auf und Schwärme von Doraden schossen in ihrem beengten Gefängnis wild hin und her. Elias war mit dem Verhalten der Zuchtfische vertraut und startete unbeirrt seine Kontrolle. Dabei drehte er zunächst knapp unter der Oberfläche eine Runde um das gesamte Becken. Sein Augenmerk galt den Befestigungen des Netzes an dem auf der Oberfläche schwimmenden Abschlussring. An dieser Stelle traten erfahrungsgemäß die häufigsten Beschädigungen auf. Dort waren die Netze der ständigen Dynamik der auslaufenden Dünung ausgesetzt und hier waren die Zugkräfte besonders hoch. Mit jeder Umrundung tauchte er tiefer ab, bis er schließlich den Boden des Käfigs erreichte. Eine mit allerlei Bewuchs besiedelte Kette führte zu einem im Meeresgrund verankerten Betonklotz und war damit fest verbunden. Eine zusätzliche Sicherung für das wuchtige Becken. Elias war an der tiefsten Stelle angelangt. Die Sicht war hier nicht mehr ganz so unbeeinträchtigt wie kurz unter der Oberfläche, aber immer noch klar genug, um eine ordentliche Prüfung vornehmen zu können. Sorgfältig ließ er den Blick schweifen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Alles schien okay. Er setzte an, um wieder aufzutauchen, als ein Gegenstand hinter der massiven Betonverankerung seine Aufmerksamkeit erregte. Zwei seichte Flossenschläge ließen ihn näher an die Stelle gleiten. Ein schroffer Felsbrocken befand sich direkt hinter dem künstlichen Betonblock. Der unbekannte Gegenstand schien sich zu bewegen, beobachtete Elias, als er genauer hinschaute. Zu seiner Überraschung erkannte er aber, dass es unzählige Krebse waren, die darauf herumkrabbelten. Er änderte seine Position, um mit seiner Maske noch näher heranzukommen. Dann stockte ihm der Atem. Unter den gefräßigen Schalentieren erkannte er einen Schuh, aber nicht nur das. In dem Schuh steckte ein Fuß, der unterhalb der Wade abgetrennt worden war. Zwischen dem Gewusel der Meeresbewohner blitzten die weißen, kalten Flecken menschlicher Haut hervor. Elias wurde schlagartig übel. Dann stieß er sich ab und tauchte auf.

Dimitris Somaris

Paros, Südliche Ägäis, vier Wochen vorher

Dimitris Somaris hatte mehrere Tage seinen neuesten Coup gefeiert, was in diesen Zeiten nur ganz wenigen Inselbewohnern vorbehalten war. Die Stimmung auf der beliebten Kykladeninsel hatte sich in wenigen Wochen merklich eingetrübt, seit Ende Februar auch in Griechenland ein erster Fall von Covid-19 offiziell erfasst worden war. Eine Frau aus Thessaloniki wurde am 26. Februar erstmals positiv auf das Virus getestet, nach einem Aufenthalt in Norditalien. Die Reaktion der Regierung kam postwendend und schon einen Tag später wurden alle Karnevalsfeiern im gesamten Land vorsorglich abgesagt. Ein erstes Zeichen der sich anbahnenden Katastrophe. Aber Thessaloniki war weit weg und viele Bewohner der Insel erlagen zu diesem Zeitpunkt noch der Illusion, dass ihnen schon nichts passieren könne. Ein fataler Irrtum, wie sich schnell herausstellen sollte, denn schon am 10. März veranlasste die Regierung die Schließung aller Bildungseinrichtungen. Das war dann auch für die Landbevölkerung ein harter Eingriff in den Alltag. Einen Tag zuvor war zudem ein erster Fall auf Lesbos aufgetaucht. In nur wenigen Wochen war nichts mehr wie es war und spätestens als Ende März strenge Ausgangsbeschränkungen beschlossen wurden, zeichneten sich die Auswirkungen von Corona immer deutlicher ab.

Ein böses Erwachen vor allem für Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Tourismus bestritten. Die ansonsten in dieser Jahreszeit so positiv empfundene Aufbruchstimmung war plötzlich dahin und eine große Lähmung erfasste die Bevölkerung. Der große Frühjahrsputz kam jäh zum Stillstand und als klar war, dass selbst ihr geliebtes Osterfest den Corona-Schutzmaßnahmen zum Opfer fallen würde, wurde die ganze Tragweite für alle drastisch spürbar.

Eine Tatsache, die Dimitris Somaris kalt ließ, denn Familie war noch nie seine Passion gewesen. Und nach der Trennung von seiner Frau pflegte er kaum noch Kontakt zu seinen Verwandten. Kinder hatte er keine und seine Ex war nach der Scheidung zurück nach Amerika gegangen. Das war bei den meisten griechischen Familien völlig anders, schließlich war das Paskafest zu Ostern die größte Festlichkeit der Griechen. Nur die Ankündigung hoher Geldstrafen, bei Nichteinhaltung der Regeln, hielt die Menschen davon ab, sich über die beschlossenen Maßnahmen hinwegzusetzen. Keine rosigen Zeiten für Normalbürger. Für Dimitris Somaris stellte sich die Situation trotz dieser einschneidenden Ereignisse jedoch etwas anders dar. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die der neuen Bedrohung durchaus auch etwas Positives abgewinnen konnten. Peinlichst darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen, spielte er verschiedene Szenarien der möglichen Entwicklung durch. Dabei kam er zu dem Schluss, dass sich bestimmt noch weitere lukrative Geschäfte für sich und seinen Geschäftspartner im fernen Deutschland durch die Krise anbahnten.

Dem hatte er gestern noch ganz euphorisiert von seinem letzten Erfolg berichtet. Ein Fehler, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte. Robert Wagner hatte aufmerksam zugehört und war immer unruhiger geworden. Jetzt witterte auch er das ganz große Geschäft. Das gipfelte darin, dass er ab sofort täglich einen Lagebericht von dem Griechen verlangte. Eine engere Abstimmung aller weiteren Aktivitäten könne nur von Vorteil sein und nur so sei die Ausarbeitung einer angepassten Strategie möglich, waren seine Worte. Somaris hatte ihn reden lassen. Er saß eindeutig am längeren Hebel und gab die Regeln vor. Außerdem war die Geschäftsverbindung zu Robert Wagner nicht seine einzige Einnahmequelle. Gleich zwei Erfolge galt es in diesen Tagen zu feiern, wobei die Übernahme eines angesagten Cafés eher durch einen Zufall zustande gekommen war. Das verdankte er seinem guten Netzwerk auf der Insel. Das Gerücht hielt sich schon lange und durch Corona wurde es schnell zur Gewissheit. Der Pächter eines im Herzen von Naoussa liegenden Cafés namens Platanos hatte sich im vergangenen Jahr völlig überschuldet mit dem Umbau des Lokals und alle Karten auf eine gutgehende Saison 2020 gesetzt. Mit einer Berechnungsgrundlage aus den letzten beiden sehr erfolgreichen Jahren hatte er auch seine Bank überzeugen können und einen großzügigen Kredit erhalten. Jetzt, nachdem es ein Sommergeschäft 2020 nicht geben würde, hatten sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt.

Über einen guten Bekannten war Somaris über die Nöte des Mannes informiert worden und der geschäftige Grieche aus Parikia hatte dem verzweifelten Betreiber postwendend ein Angebot gemacht. Nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, hatte er ihm die Übernahme des Cafés sowie der gesamten Einrichtung angeboten, zu Konditionen, die weit unter dem Verkehrswert der Lokalität lagen. Somaris hätte nie damit gerechnet, dass der Wirt so schnell darauf eingehen würde, aber seine Bank hatte dem verzweifelten Gastronomen dringend dazu geraten. Die Überschreibung war bereits veranlasst worden, nun wartete er nur noch auf die Dokumente, die der ehemalige Besitzer ihm zusammen mit den Schlüsseln des Objektes aushändigen sollte. Seit diesem Deal führte Somaris eine Liste weiterer Restaurants und Ladenlokale mit sich, die sich in einer vergleichbar prekären Lage befanden. Ganz besonders Geschäfte, die Ende 2019 den Besitzer gewechselt und viele Investitionen getätigt hatten, waren in seinem Fokus. Die Dorftrommeln funktionierten, gerade wenn es um die heißumkämpften Lokalitäten ging, mit denen man während der Hochsaison enorm viel Geld verdienen konnte. So versprach die ganze Krise doch noch etwas Gutes zu bewirken, zumindest für Dimitris Somaris.

Er war bekannt für sein gutes Näschen, wenn es um gewinnträchtige Geschäfte ging. Viele sahen in ihm einen skrupellosen, windigen Halsabschneider, der ohne Rücksicht auf Verluste die Situation in Not geratener Menschen ausnutzte.

Ihn selbst störte das wenig und er hob stets die Vorteile der Betroffenen hervor, die es ohne seinen Einsatz noch wesentlich schlimmer erwischt hätte. Diese Strategie verfolgte er auch sehr erfolgreich mit seinem Haupt-Business, auf das er durch einen Gast aufmerksam geworden war. Damals betrieb er eine eigene Taverne, war aber schon länger auf der Suche nach einem zweiten Standbein. Robert Wagner kam da gerade zur rechten Zeit mit seiner Idee, und ihre Zusammenarbeit war schnell besiegelt. Die beiden Männer kannten sich flüchtig, wenn der Deutsche aus einem kleinen Dorf in Süddeutschland auf Paros Urlaub machte und in Somaris’ Taverne war. Dort hatte er dem Wirt auch erstmals von seiner Geschäftsidee erzählt, nach einer gemeinsamen Karaffe Souma. Somaris war von Anfang an begeistert gewesen von dem Gedanken, hatte sich aber auch darüber geärgert, dass ein Fremder diesen genialen Einfall vorbrachte.

Angetan von der sorgfältigen Vorbereitung des Deutschen, und einem guten Gefühl für die außergewöhnliche Idee, hatte er ihm am nächsten Tag einen Vorschlag gemacht.

Ohne die Hilfe eines Partners vor Ort wäre er auf verlorenem Posten, hatte er Wagner eindeutig zu verstehen gegeben und sich als Juniorpartner angeboten. Dieses Geschäft wäre mit sehr vielen Emotionen verbunden und verlange größtes Einfühlungsvermögen, hatte Somaris schwadroniert. Voraussetzungen, die einem Nichtgriechen ganz einfach fehlten. Wagner hatte es nach einigen Erläuterungen verstanden und damit die Geburtsstunde ihres gemeinsamen Geschäftsmodells eingeläutet.

Die Idee, alte Fischerboote aufzukaufen und sie nach Deutschland und andere Länder in Europa zu verschicken, war in der Tat ein heikles Thema, was seit dem Beginn der Achtzigerjahre die Gemüter auf den Inseln erregte. Geboren war der Plan bei Robert Wagner, als er bei einem seiner Aufenthalte auf den Kykladen von der bestehenden EU-Maßnahme erfahren hatte. Den Beamten in Brüssel waren die zahlreichen traditionellen Fischerboote – die Kaikia – schon lange ein Dorn im Auge und sie hatten damit begonnen, die Verschrottung der Boote zu subventionieren. Ihr Plan, damit die Überfischung der Ägäis aufzuhalten, fand nicht überall Anklang, zumal ein Kaiki für die Griechen viel mehr war als nur ein schnödes Fischerboot. Es war ihr zweites Zuhause und gleichzeitig ihre Arbeitsstätte, mit der der Lebensunterhalt ganzer Familien gesichert wurde. Dabei waren die traditionell gebauten Boote aus Holz der ganze Stolz des Familienoberhauptes, die an die Kinder weitergegeben wurden, und das seit Generationen. Schon lange kämpften die kleinen Familienbetriebe ums Überleben, und das nicht nur wegen der schwindenden Fischbestände in der Ägäis. Auch die zunehmend wachsende Flotte der Großtrawler mit ihren riesigen Fangnetzen machte ihnen das Leben schwer. Eine traurige Entwicklung, die kaum aufzuhalten war. Da kam die Verschrottungsprämie der EU wie ein Brandbeschleuniger erschwerend hinzu. Um ihr karges Einkommen etwas aufzubessern, boten sich die Fischer in den Sommermonaten oft als Zubringer von Touristen zu entlegenen Stränden an, aber das konnte den Verlust ihrer eigentlichen Passion nicht ersetzen. Die Urlaubssaison war kurz und das linderte die Not nicht wirklich. Schweren Herzens waren in den vergangenen Jahren viele Fischer auf das Angebot der EU eingegangen, meist wenn die Nachkommen nicht mehr bereit waren, unter den widrigen Umständen ihrer Eltern zu arbeiten und ihre Heimatinseln verließen. Diese traurige Entwicklung setzte sich viele Jahre fort und die einheimischen Fischer fühlten sich der Situation hilflos ausgeliefert. Robert Wagner zusammen mit Dimitris Somaris kannten die Nöte der Betroffenen ganz genau und führten ein Register, in denen auf den einzelnen Inseln potenzielle Verkäufer gelistet waren. Es waren Familien, die ein Kaiki ihr Eigen nennen konnten, jenseits der Siebzig und ohne Nachkommen, die für eine Übernahme der Boote bereitstanden. Somaris hatte an den Profilen der Familien kräftig gearbeitet und wusste ganz genau, wann die Zeit für ein Angebot gekommen war.

Die grandiose Idee seines deutschen Geschäftspartners war ihm dabei sehr hilfreich.

Robert Wagner war gelernter Möbelbauer und hatte ein Konzept erarbeitet, aus den antiken Booten prunkvolle Einzelstücke zu erschaffen, die er in Luxusgärten in ganz Europa verkaufte. Zu wissen, dass ihr Boot erhalten blieb, wenn auch zweckentfremdet, war für die einstigen Fischer eher zu ertragen, als es zu verschrotten.

Wagners Geschäftsidee boomte seit fast zehn Jahren, dank der akribischen Zuarbeit von Somaris auf Paros. Doch in letzter Zeit zogen immer mehr dunkle Wolken auf. Die Auswirkungen der langanhaltenden Wirtschaftskrise waren auch daran zu erkennen, dass viele junge Griechen ihre alten Traditionen wiederentdeckten. Dazu gehörte neben der Rückbesinnung auf die griechische Musik und deren Tänze auch die Bedeutung der klassischen Kaikia. So hatte eine Online-Kampagne mit dem Titel Save Kaikia der Traditional Boat Association of Greece der Verschrottung der alten Boote erst neulich den Kampf angesagt. Die beiden Geschäftsleute beobachteten die Aktion schon länger mit Sorge und befürchteten langfristig negative Auswirkungen auf ihr Geschäft. Auf der anderen Seite spielte ihnen die Errichtung von neuen, groß angelegten Aquakulturen durch Firmen wie die Andromiko Sea Food Group weitere Bootsverkäufer in die Hände.

Besonders auf Serifos, wo sich eine der größten Fischfarmen befand, war Somaris in der Vergangenheit erfolgreich gewesen. Der Fisch aus den Aufzuchtstationen war für die Restaurants um einiges günstiger, und das drückte zusätzlich auf die Preise der klassischen Fischereibetriebe. So war auch sein letzter Vertrag mit einer alteingesessenen Familie in Livadi geschlossen worden. Unter vielen Tränen hatte er das betagte Boot dort abholen lassen und es wartete nun in einer Werft auf Paros auf seine Reise ins weit entfernte Süddeutschland. Wagner, der bereits einen gutbetuchten Käufer für das Einzelstück gefunden hatte, drängte seitdem auf die Überführung. Schon seit drei Tagen hatte er von seinem Partner in Griechenland nichts mehr gehört. Das war ungewöhnlich und hatte schon zu mehreren Wutausbrüchen bei dem Deutschen geführt. Über die Zeit war er zwar gelassener geworden, was die Zuverlässigkeit der Hellenen betraf, aber so lange hatte er noch nie auf eine Rückmeldung gewartet. Ein weiterer potenzieller Kunde hätte Dimitris Somaris zu einem erneuten Besuch nach Serifos veranlasst, hieß es aus seinem Umfeld. Mittlerweile wurde der Mann aber auch dort vermisst. Wagners Geduld war zu Ende. Wenn er in naher Zukunft von Somaris kein Lebenszeichen erhalten sollte, würde er sich gezwungenermaßen auf den Weg nach Griechenland machen müssen.

Filippos Panos

Parikia, Paros, Südliche Ägäis, Mai 2020

Auch in der Polizeistation in Parikia auf Paros hatte sich der Arbeitsablauf seit Beginn der Pandemie grundlegend geändert. Filippos Panos, der Polizeichef der Insel, sah sich und sein Team ganz plötzlich mit völlig neuen Aufgaben konfrontiert, die sich zum Leidwesen der Truppe fast täglich änderten. Mittlerweile hatte er diese neue Situation, die ihn, wie viele andere auch, völlig unvorbereitet getroffen hatte, ganz gut im Griff. Eine ganz neue Erfahrung, mit deutlicher Mehrbelastung für die ganze Dienststelle, die er seit seiner Ernennung zum Chef der Behörde so noch nicht kannte. Zum Glück konnte er auf ein erfahrenes Team zurückgreifen, doch in Zeiten mit so vielen Unbekannten war einmal mehr seine starke Führung gefordert, damit die Mannschaft unbeschadet durch diese Krise kam. Katharina Waldmann, die deutsch-griechische Kommissarin und frühere Leiterin der Polizeidienststelle, stand ihm dabei hilfreich zur Seite. Die Polizei war von höchster Stelle dazu verdonnert worden, die ständig wechselnden Corona-Schutzmaßnahmen in der Bevölkerung zu kontrollieren. Ein Ordnungsamt, wie man es in Deutschland kannte, gab es in Griechenland nicht. Keine leichte Aufgabe für Filippos und sein Team mit der dünnen Personaldecke, aber auch wegen der fehlenden Einsicht vieler Gastronomen und Hotelbesitzer. Viele wollten immer noch nicht begreifen, dass sich eine ganze Urlaubssaison gerade in Luft auflöste. Den enormen wirtschaftlichen Schaden und den damit verbundenen Frust der Besitzer bekamen die Beamten der Polizeibehörde immer häufiger zu spüren.

Hinzu kamen die vielen gestrandeten Saisonarbeiter, die regelmäßig zu Beginn der Hauptreisezeit angeheuert wurden und jetzt ohne Einkommen auf der Straße standen. Den Anstieg von Wohnungseinbrüchen, in die meist leerstehenden Ferienhäuser, führte die Polizei auf diese Entwicklung zurück. Seit Anfang März traf sich die Truppe jeden Morgen zu einem kurzen Briefing, um über die aktuelle Corona-Lage auf Paros sowie über die von der Regierung festgelegten neuen Beschlüsse zu beraten.

Xenia, die langjährige Büroleiterin, bereitete dazu stets die vom Gesundheitsministerium aktuellen Informationen für die Runde vor.

An diesem Morgen versprühte sie erstmals nach Wochen strenger Restriktionen etwas Hoffnung auf Erleichterung. Nicht nur wegen der geplanten Lockerungen, sondern auch, weil sie wieder arbeiten durfte. In den beiden vergangenen Wochen musste das Team auf Xenia verzichten. Die engagierte Kollegin hatte selbst ihre Erfahrung mit dem teuflischen Virus gemacht. Vierzehn Tage Quarantäne, obwohl sie nur leichte Symptome zeigte. Ihren Gatten hatte es wesentlich schlimmer erwischt. Nach ein paar Tagen gemeinsamer Isolation ging alles ganz schnell. Plötzliche Atemnot mit Todesangst hatte ihre anfängliche Langeweile beendet und ein Medizinschiff hatte ihren Mann eiligst nach Syros in die Klinik gebracht. Filippos’ Angebot, sich für die nächste Zeit freizunehmen, hatte sie abgelehnt, zumal sie sowieso keinen Zutritt in die Klinik bekommen hätte. Beschäftigung war die beste Ablenkung in der beängstigenden Situation, also hatte sie sich wie gewohnt in die Arbeit gestürzt. So pendelte sie am Wochenende zwischen Paros und Syros, um wenigstens ihrem Liebsten mental etwas näher zu sein.

Mit einem Tablett Kaffee in der Hand betrat sie den Balkon in der ersten Etage des Polizeigebäudes und blickte in vier mit Masken verhangene Gesichter. Man hatte sich darauf verständigt, alle Meetings im Freien abzuhalten, da in dem beengten Besprechungsraum kaum der geforderte Abstand zwischen den Teilnehmern eingehalten werden konnte. Xenia wedelte mit den aktuellen Berichten der Behörde aus Athen und trotz ihrer Vermummung glaubte das Team, in ihren Augen etwas Erhellendes zu erkennen.

»Es tut sich was in der Hauptstadt«, begrüßte sie Spyros, Konstantinos und Katharina, die drei Polizeibeamten in der Dienststelle. Filippos nickte ihr aufmunternd zu, mit ihren Neuigkeiten loszulegen.

»Man denkt tatsächlich über eine Öffnung nach«, gab Xenia die neuesten Entwicklungen zum Besten. »Als Termin ist Anfang Juni im Gespräch«, ergänzte sie und hielt einen Ausdruck hoch, auf dem ein Datum fett markiert war.

»Wenn das mal nicht nach hinten losgeht«, kommentierte Katharina spontan, die die scharfen Beschränkungen der griechischen Regierung von Anfang an begrüßt hatte.

Aus ganz Europa war in den zurückliegenden Wochen viel Zustimmung gekommen, mit welcher Konsequenz das ganze Land unmittelbar nach Beginn der Pandemie reagiert hatte. Gerade von Griechenland hatte man solch ein rigoroses Vorgehen nicht erwartet. Mitsotakis nutzte die Gunst der Stunde und präsentierte daher mit Stolz regelmäßig pressewirksam die aktuellen Zahlen des Landes. Seitdem waren seine Zustimmungswerte stetig gestiegen.

»Ich glaube denen kein Wort«, ereiferte sich Konstantinos jedes Mal, wenn wieder einmal vom Krisenstab in Athen die derzeitigen Daten gezeigt wurden. »Die stehen derart unter Druck, dass die öffnen müssen. Das hat aber nichts mit den niedrigen Zahlen zu tun. Wo wenig getestet wird, findet man auch wenige Infektionen.« Diese Meinung vertrat er schon länger.

»Wie dem auch sei. Ich verstehe es zunächst nur als Ankündigung. Für uns ändert sich im Moment erst einmal gar nichts, oder?«, fragte er in die Runde.

»So ist es. Aber ich wollte euch die positive Entwicklung nicht vorenthalten, zumal die Geschäftsleute das ja auch bereits mitbekommen haben und euch darauf ansprechen werden.«

Ein kluger Gedanke von Xenia, denn sie befürchtete, dass die gebeutelten Betreiber von Tavernen und Clubs es schon als beschlossene Sache betrachteten. Sie war strikt dagegen, und ihr privates Schicksal schwang bei ihren Ausführungen immer mit.

»Das bedeutet für uns, keine Lockerungen und weiterhin strenger Lockdown. Ohne Wenn und Aber«, sagte Filippos zu der Diskussion, der gleichermaßen bei einigen Gastronomen mit einer Fehlinterpretation der angedachten Erleichterungen rechnete. »Ich möchte von jedem gröberen Verstoß unterrichtet werden. Und versucht es den Leuten zu erklären. Nur wenn wir weiter konsequent handeln, können wir vielleicht doch noch für ein paar Wochen unseren Tourismus retten.«

Das war das oberste Ziel, und in diesem Punkt waren sich alle einig. Paros brauchte, wie viele andere Inseln, dringend die Urlauber. Nach der langen Durststrecke der anhaltenden Wirtschaftskrise und einem positiven Trend in den letzten beiden Jahren, drohte Corona jetzt alles wieder zunichtezumachen. Keiner wollte sich die Konsequenzen ausmalen, falls die Pandemie noch lange anhalten sollte.

»Die ersten Opfer haben wir schon zu beklagen«, mischte sich Spyros ein, der von dem Besitzerwechsel des Platanos gehört hatte. »Die haben letztes Jahr ganz viel Geld in die Neueröffnung gesteckt. Jetzt hat der Besitzer das Handtuch geschmissen«, wusste er zu berichten.

»So schnell? Das ist aber schade.« Katharina kannte die Entwicklung des Lokals sehr gut. Sie war mit den ehemaligen Besitzern eng befreundet. »Und woher hast du die Information?«, wollte sie wissen.

»Hat mir ein Bekannter gesteckt, der wiederum Dimitris Somaris kennt. Der hat den Laden für kleines Geld übernommen.«

Ein Raunen durchdrang die morgendliche Runde. Den Namen Somaris kannten sie alle. Sein Handel mit den alten Fischerbooten hatte ihn weit über Paros hinaus bekannt gemacht.

»Dealt der jetzt auch noch mit Immobilien?«, hakte Filippos nach.

»Der beschäftigt sich mit allem, was nach Geld riecht. Und im Moment gibt es Immobilien günstig wie nie.«

Nicht nur Geschäftsleute waren in Bedrängnis geraten, auch viele Griechen, die ihre Ferienhäuser nicht mehr vermieten konnten, hatten vereinzelt damit begonnen, die Objekte zu verkaufen.

»Das passt zu Somaris. Sobald der einen Profit wittert, ist der dabei. Bin mal gespannt, wie Angelos seinen neuen zukünftigen Nachbarn einschätzt.« Katharina ließ kein gutes Haar an dem Geschäftsmann und würde Angelos, den früheren Besitzer des Lokals, dazu befragen. Zu dieser Zeit hieß das Café noch Aliportas und war der zentrale Treffpunkt in Naoussa.

»Je nachdem wie lange die Seuche anhält, wird es wohl noch weitere Pleiten geben. Den Leuten steht jetzt schon das Wasser bis zum Hals. Es fehlen die Umsätze des entgangenen Ostergeschäftes und ab jetzt zählt jeder Tag. Versucht daher, die Nöte der Menschen zu verstehen«, sensibilisierte Filippos noch einmal seine Mitarbeiter. Er sah sich und sein Team als Vermittler in einer schweren Zeit, auch wenn ein strenges Durchsetzen der Schutzverordnung von ihnen verlangt wurde. Dabei unterschied er ganz klar, ob es sich um einen geschäftlichen Verstoß gegen die Regeln handelte, oder ob es im Privatbereich zu einer Nichteinhaltung der Schutzverordnung kam. Letzteres kam immer wieder vor, häufig bei den betagteren Bewohnern der Insel, die mit den ganzen Maßnahmen völlig überfordert waren. Hier drückten die Beamten oft ein Auge zu, immer mit dem Anspruch, gerade die Älteren auf die unsichtbare Gefahr stärker hinzuweisen.

»Italienische Verhältnisse müssen unbedingt vermieden werden«, war stets Filippos’ Spruch, denn sie alle wussten von den bescheidenen Möglichkeiten des städtischen Krankenhauses. Ein flächenmäßiger Ausbruch bei der alten Landbevölkerung wollte sich keiner vorstellen.

Das laute Klingen von Filippos’ Handys unterbrach die Diskussion des Teams. Ein Blick auf das Display versprach nichts Gutes. »Ermoupoli«, flüsterte er seinen Leuten zu und verließ die Runde in Richtung seines Büros.

Schon die Stimme des Anrufers hatte den Polizeichef von Paros in Alarmbereitschaft versetzt. Sie war markant und vermittelte unmissverständlich eine hohe Dringlichkeit. Petros Pallantos war kein großer Plauderer, wenn er zum Telefon griff war stets Eile geboten. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, kam er recht schnell auf den Punkt. Und so war es auch diesmal.

»Es gibt einen Toten auf Serifos«, nannte er ohne Umschweife den Grund seines Anrufes. Filippos wusste sofort, was er damit meinte. Dem Anrufer aus Ermoupoli unterstand das 2018 gegründete Sondereinsatzkommando für Kapitalverbrechen auf den kleineren Inseln der Kykladen, dem er nun bereits fast zwei Jahre angehörte. Eine Gruppe ausgewählter Kriminalisten, die vom Polizeipräsidium in Athen berufen und von der Bezirksregierung in Ermoupoli geführt wurden.

»Können Sie morgen vor Ort sein?«, forderte der Beamte eine schnelle Antwort und ergänzte: »Ich schicke Ihnen die Details wie immer per E-Mail. Die Leitung der Polizeidienststelle in Livadi wartet schon dringend auf Ihren Anruf.«

Filippos musste zweimal schlucken, bevor er sich ein zerknirschtes Nai – Ja – abrang, aber er hatte auch keine andere Wahl.

»Gut! Die Unterlagen sind schon unterwegs. Ich verlasse mich auf Sie. Und passen Sie auf sich auf«, hörte er noch. Dann hatte Petros Pallantos aufgelegt.

Elias Nikoladis

Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, ein Tag zuvor

Panisch riss sich Elias Nikoladis die Maske vom Kopf und atmete mehrfach tief durch. Dann hangelte er sich hastig am Rande des Beckens bis zum Steg entlang, stemmte sich aus dem Wasser und schleuderte seine Flossen zur Seite. Noch während er barfuß auf das Betriebsgebäude zu rannte, rief er den Namen seines Chefs. Die Anwesenheit seines Wagens zeigte, dass er mittlerweile eingetroffen war.

Aufgeschreckt von den Rufen seines Mitarbeiters wartete Ares Vlathos, der Betriebsleiter, mit einer Tasse Kaffee in der Hand irritiert an der Eingangstür. Er kannte Elias als einen besonnenen Menschen, so aufgebracht hatte er ihn noch nie erlebt.

»Was ist denn los mit dir? Du bist ja kreidebleich«, empfing er seinen nach Luft ringenden Kollegen.

»Da unten liegt ein Fuß … ein Fuß in einem Schuh«, überschlug sich Elias und begann zu würgen.

»Was sagst du da? Ein Fuß?« Ares stellte abrupt seine Tasse ab und suchte nach den richtigen Worten. »Bist du ganz sicher? Ein menschlicher Fuß … sonst nichts? Oder ist da noch mehr?«, fragte er schließlich und blickte sich ängstlich um.

»Ich habe nur einen Fuß gesehen, bin dann sofort wieder nach oben. Mir ist furchtbar schlecht geworden bei dem Anblick«, sagte Elias angewidert.

»Und du bist ganz sicher, dass es ein menschlicher Fuß ist?«, wiederholte sein Chef leise, darauf bedacht, dass keiner der Arbeiter etwas davon mitbekam.

»Hundertprozentig. Da gibt es keinen Zweifel.« Ein heftiges Nicken unterstrich die Aussage des Biologen.

»Komm, zeig mir, wo er liegt. Und kein Wort zu den Angestellten. Bevor ich die Polizei informiere, will ich mir selbst ein Bild von der Lage machen.« Ares Vlathos drehte sich um und ging zurück in das Technikgebäude. Flink entledigte er sich seiner Kleidung und holte seinen Neoprenanzug von einer Leine.

»Glaubst du mir etwa nicht?« Elias starrte ihn entgeistert an.

»Doch! Ich glaube dir. Nur sollten wir deinen Fund sichern, bevor er von der Strömung weggespült wird und wir der Polizei nichts zeigen können«, befand Ares und kramte sich sein restliches Tauchgerät zusammen. »Wir gehen da jetzt zusammen runter und sichern uns das Beweisstück.« Er zeigte auf einen größeren Kescher, den sein Mitarbeiter mit auf den Tauchgang nehmen sollte.

Elias stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihm grauste bei dem Gedanken, mit den Überresten eines menschlichen Körperteils wieder aufzutauchen. Er wünschte sich plötzlich ganz weit weg von seinem Arbeitsplatz in eine angenehmere Umgebung, am liebsten zusammen mit Lia. Sein Chef drängelte und holte ihn in die Gegenwart zurück. Mit einem mulmigen Gefühl ging er voraus an die Stelle des Steges, von wo aus er heute Morgen seinen Kontrollgang begonnen hatte. Ares folgte ihm, wild entschlossen, der grausigen Entdeckung auf den Grund zu gehen. Nach einem eindeutigen Okay-Zeichen glitten sie in das tiefblaue Wasser der Ägäis. Elias schwamm mit dem Kescher in der Hand entlang des Beckens bis zu der besagten Stelle und zeigte mit dem Daumen nach unten, das Signal zum Abtauchen. Ares folgte ihm in kurzem Abstand. Mit ein paar kräftigen Flossenschlägen näherte Elias sich zügig dem Fundort, bis er die Verankerungskette erreichte, dann hielt er inne. Ares schwebte direkt neben ihm und wartete auf ein Handzeichen. Elias zeigte weiter nach unten, das blubbernde Geräusch der ausgeatmeten Atemluft war kräftiger geworden. Er war aufgeregt und sein Atem ging stoßweise, als er sich dem Felsbrocken näherte, der in einer Spalte die Überreste der menschlichen Gliedmaße beheimatete. Mit dem Kescher stocherte er vorsichtig in diese Richtung und unzählige Krebse und Seesterne stieben aufgeschreckt auseinander. Jetzt hatte auch Ares die Situation erfasst und er schob sich vorsichtig näher an den Fundort heran. Vor ihm ein blauer Herrenturnschuh, fest verschnürt mit den kärglichen Resten eines männlichen Unterschenkels. Fleischfetzen an der Bruchstelle flatterten in der seichten Strömung hin und her. Ohne lange zu fackeln griff er nach dem Kescher und versuchte das Objekt mit dem Netz einzufangen, doch das Ende eines Schnürsenkels hatte sich in der scharfkantigen Felsspalte verfangen. Als mehrere Anläufe scheiterten, den Schuh samt Inhalt aus seiner Zwangslage zu befreien, drückte er Elias den Kescher in die Hand und zückte sein Tauchermesser aus einem am Bein befestigten Holster. Der Biologe beobachtete mit Ekel, wie sein Boss nun ganz nah zu der Stelle vortauchte, beherzt das Messer ansetzte und den Schnürsenkel mit einem gut platzierten Schnitt kappte. Auffordernd warf er seinem Mitarbeiter einen Blick zu, als der Fels endlich das Beweisstück freigab. Elias hatte nur darauf gewartet, und mit einer hastigen Bewegung stieß er mit dem Netz vor, um das unliebsame Teil einzufangen. Dabei war er eine Spur zu forsch und verfehlte den Schuh um wenige Zentimeter. Ausgelöst durch die Wasserbewegung des Keschers, drohte der Leichenteil hinter dem Felsbrocken zu verschwinden. Geistesgegenwärtig setzte Elias nach, tauchte um den Felsen herum und nahm einen zweiten Anlauf. Dann hielt er stolz das Fundstück sicher im Netz. Ares machte erleichtert ein Handzeichen zum Auftauchen, als er plötzlich das panische Atmen seines Mitarbeiters bemerkte. Elias schien zu hyperventilieren, das war kein gutes Zeichen. Zum Glück waren sie gerade einmal auf siebzehn Metern. Unverzüglich bewegte er sich auf Elias zu und schaute ihn an. Sein Gesicht hinter der Maske war wie versteinert. Was war nur los mit ihm? Er packte ihn resolut am Arm und zeigte nach oben. Sie mussten schleunigst an die Oberfläche, raus aus der Gefahrenzone, bevor Elias vollkommen die Kontrolle verlor. Doch er riss sich los und deutete hektisch hinter den Felsen auf eine sandige Mulde am Meeresgrund. Ares folgte ihm und seine Augen scannten konzentriert die Gegend ab, seinen Mitarbeiter dabei stets im Blick behaltend. Jetzt begriff auch er, was ihn so aus der Fassung brachte.

Beschwörend mahnte er Elias mit sanften Handbewegungen zur Ruhe und wartete einen Moment, bis sich dessen Atmung wieder beruhigt hatte. Dann näherte er sich der sandigen Vertiefung. Versteckt hinter dem Felsen lag eine Leiche, umwickelt mit einem Strick, der am Ende an einem alten Anker verknotet war. Dieser diente zum Beschweren des Opfers und hatte sich zwischen den Felsvorsprüngen verkeilt. Darauf achtend, möglichst wenig vom Meeresgrund aufzuwirbeln, tauchte Ares langsam um das Bündel herum. Der Leichnam schwebte kurz über dem Boden, sein Gesicht zeigte nach unten. Der Körper des Opfers wiegte sich sanft im Rhythmus der Meeresströmung. Die Hände und ein Bein strichen dabei wie von Geisterhand bewegt sachte über den sandigen Grund. Die Leiche musste schon einige Zeit hier liegen, vermutete Ares, als er die zahlreichen Abschürfungen an den Extremitäten wahrnahm. Eine Hand des Toten wurde nur noch durch ein paar Sehnen zusammengehalten. Die Reste des zweiten Unterschenkels waren völlig zerfetzt, hier mussten sich ein paar größere Aasfresser schon reichlich bedient haben. Das war wahrhaftig kein schöner Anblick. Ares tauchte etwas auf und drehte sich kurz zu Elias hin, der wie erstarrt in seiner Position verharrte. Mit einem Handzeichen signalisierte Elias ihm aber, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte. Erleichtert nahm Ares noch einmal allen Mut zusammen. Im Zeitlupentempo glitt er zurück zu dem Fundort, dicht an der Felswand entlang, bis er sich auf gleicher Höhe mit der Wasserleiche befand. Mit seiner rechten Flosse stieß er behutsam das Menschenpaket von der Seite an, so lange, bis das Bündel sich langsam zur Seite drehte. Das schwarze Kopfhaar des Opfers bewegte sich dabei schwingend von der einen Seite zur anderen. Obwohl die Wassertemperatur im Mai lediglich mit sechzehn Grad aufwarten konnte, war ihm heiß. Er schwitzte unter seinem Neopren, was der extremen Anspannung geschuldet war. Mit seinem Rücken drückte er sich jetzt fest an den Felsen, denn die Leiche war durch die Bewegung noch näher an ihn herangerückt. Ein letzter vorsichtiger Stoß und das Opfer lag so weit auf der Seite, dass er jetzt dessen Gesicht erkennen konnte. Der Abstand zwischen ihnen betrug lediglich dreißig Zentimeter. Augenblicklich wurde auch ihm schlecht. Er blickte in das aufgedunsene, fahle Gesicht eines Mannes, dessen Stirn zahlreiche Hautablösungen aufwies. Bis auf ein abgerissenes Ohr war der Kopf aber unversehrt. Eine ganze Weile konnte er seinen Blick nicht von dem Toten lösen. Erst als er Elias näherkommen sah, ließ er los. Während sie zur Oberfläche aufstiegen, wurde ihm etwas klar. Der Mann war ihm kein Unbekannter, irgendwo hatte er ihn schon getroffen. Nur wo und wann, daran konnte er sich gerade nicht erinnern.

Vangelis Kasparos

Naoussa, Paros, Südliche Ägäis