Martin Walser - Ilka Scheidgen - E-Book

Martin Walser E-Book

Ilka Scheidgen

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Beschreibung

Zum 95. Geburtstag von Martin Walser erscheint dieses aktuelle Porträt des Dichters, der zeit seines umfangreichen schriftstellerischen Schaffens "auf der Suche nach gar allem" war und ist, wie die Autorin Ilka Scheidgen an Hand von Gesprächen und Werkanalysen herausarbeitet."Ich weiß, dass ich weiß, was ich weiß. Um mich herum oder sogar in mir alle Grammatiken der Welt. Sogar alle Wörter. Anwesenheit. Gegenwart. Fülle. Reichtum. Überfluss. Pracht."So kann nur einer schreiben: Martin Walser. Der Dichter von gar allem. Fast ein Jahrhundert Leben! "Die Gegenwärtigkeit von allem. Kein Vorher. Kein Nachher. Alles zugleich. Ein Zugleich von gar allem."Martn Walser selbst hat über den Portätband "Martin Walser - der weise Mann vom Bodensee" (2017) an die Verfasserin geschrieben: "Es gibt kein so von Licht durchflutetes Gespräch wie dieses."

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Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier: Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.

Angelus Silesius

Inhalt

Vorwort

Erster Teil

Biografisches

Mein erster Besuch bei Martin Walser

Nach meinem Besuch

Ein liebender Mann

Zweitausendacht

Weiterschreiben

Zweitausendzwölf

Zweitausendvierzehn

Zweitausendfünfzehn

Zweitausendsechzehn

Zweitausendsiebzehn

Gedanken zum Schluss

Zweiter Teil

Einladung an den Bodensee

In Gott kommt die Sprache zu sich selbst

Zu Besuch im Hause Walser

Zweitausendundachtzehn

Zweitausendundneunzehn

Zweitausendundeinundzwanzig

Schlusswort

Veröffentlichungen

Pressestimmen

Vorwort

Fast ein Jahrhundert Leben!

„Ich weiß, dass ich weiß, was ich weiß. Um mich herum oder sogar in mir alle Grammatiken der Welt. Sogar alle Wörter. Anwesenheit. Gegenwart. Fülle. Reichtum. Überfluss. Pracht.“

So kann nur einer schreiben: Martin Walser. Der Dichter von gar allem. „Die Gegenwärtigkeit von allem. Kein Vorher. Kein Nachher. Alles zugleich. Ein Zugleich von gar allem.“

Zu seinem 95. Geburtstag am 24. März 2022 erscheint dieser neue Porträtband, der in seinem ersten Teil das Porträt „Martin Walser – Der weise Mann vom Bodensee“ aus dem Jahr 2017 sowie im zweiten Teil meine neue Begegnung mit Martin Walser in seinem Haus am Bodensee und weitere Arbeiten über ihn und seine Bücher beinhaltet.

Martin Walser ist mit der Fülle an Veröffentlichungen, mit vielen der wichtigsten Preise ausgezeichnet, in der Tat ein Jahrhundert-Autor mit einem fast siebzig Jahre umspannenden Werk.

„Dem, was kommt, nur die Hand leihen.“ So hat Martin Walser in unserem ersten Gespräch im Jahr 1995 sein Leben und Schreiben beschrieben. „Die richtigen Namen zu nennen, das ist für mich die Sehnsucht nach dem, was Sie vorhin Kosmos genannt haben“, sagte Martin Walser in diesem Gespräch.

Und noch immer – wahrscheinlich bis zu seinem letzten Atemzug ist dieser große Schriftsteller „auf der Suche nach gar allem“.

Erster Teil

Martin Walser

Der Romanautor, Dramatiker und Essayist Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee als Sohn eines Gastwirts geboren. Als 16-Jähriger wurde er als Flakhelfer eingezogen und kam bei Kriegsende in Gefangenschaft. 1946 konnte er das Abitur ablegen. Walser studierte in Tübingen und Regensburg Germanistik, Geschichte und Philosophie und promovierte 1951 über Franz Kafka. Schon während seines Studiums arbeitete Walser beim Süddeutschen Rundfunk, für den er bis 1957 tätig war. In dieser Zeit begann er aber auch schon zu schreiben und wurde ab 1953 zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen.

1950 heiratete Walser die Pianistin Katharina Neuner-Jehle, mit der er gemeinsam vier Töchter hat. Das Ehepaar lebt in Nußdorf am Bodensee.

Martin Walser hat eine Fülle von Romanen geschrieben, die fast sämtlich das Scheitern so genannter kleiner Leute am Leben behandeln. Ironisch-sarkastisch, aber nicht ohne Mitgefühl beschreibt Walser deren Glücksverlangen, den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und die Überforderungen durch eine rücksichtslose Leistungsgesellschaft.

Martin Walsers Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1957 mit dem Hermann-Hesse-Preis, 1981 mit dem Georg-Büchner-Preis, 1996 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis und 1998 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

Mit seiner Dankesrede zu diesem Preis, in der er von einer ‚Instrumentalisierung des Holocaust’ sprach, löste er die so genannte Walser-Bubis-Debatte aus, in der Ignatz Bubis Walser vorwarf, Auschwitz zu verharmlosen. Walser hat sich auch schon vor dieser Kontroverse wiederholt gegen den Terror von Meinungen gewehrt.

Später bedauerte Walser seine Aussagen ausdrücklich: „Das Ausmaß unserer Schuld ist schwer vorstellbar. Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“

2015 erhielt Walser den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden „Pour le Mérite“ ausgezeichnet und zum „Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres“ ernannt.

Mein erster Besuch bei Martin Walser

Ein sonniger Septembernachmittag. Nußdorf – ein ruhiger Ort am Ufer des Bodensees, wenige Kilometer vom geschäftigen Überlingen entfernt und auf Sichtweite der barocken Klosterkirche Birnau. Weinstöcke und Obstbäume stehen in Reih und Glied.

Die Sonne und eine leichte Brise verlocken Tausende von Segelbooten dazu, sich auf dem Wasser zu verteilen, und verleihen ihm ein heiter getupftes Aussehen zu.

Straßennamen wie Zur Forelle, Zum Hecht, Zur Barbe, Zum Stichling lassen den See auch auf dem Trockenen allgegenwärtig sein.

Mit dem Besuchstermin bei Martin Walser hat es etwas gedauert, denn als ich ihn zum ersten Mal anrief, war er noch mitten in der Arbeit an seinem neuesten Roman und bat mich zu warten, bis er ihn beendet hätte.

Dann noch einmal ein Aufschub. Walser war zwischenzeitlich erkrankt. Doch dann ist es so weit, dass ich ihn in seinem Haus am Bodensee besuchen kann.

Das Haus von Martin Walser, schindelbedeckt, weinlaubumrankt. Die Klingel am Gartentor von Stauden überwuchert.

Frau Walser empfängt mich und führt mich hinauf ins Arbeitsreich ihres Mannes.

Es ist unter dem Giebel des großzügigen Einfamilienhauses eingerichtet. Der Blick geht hinunter zum See, an dessen schilfbestandenem Ufer das Grundstück unmittelbar angrenzt.

Hier lebt Martin Walser mit seiner Familie seit 1968.

Und er schätzt es, in so unmittelbarer Nähe des Bodensees zu wohnen, der ihn seit seiner Kindheit wie eine Selbstverständlichkeit begleitet.

Nach einer herzlichen Begrüßung setzen wir uns auf die bequemen Sessel unmittelbar vor dem großen Giebelfenster mit Blick auf Garten und See. Hier also wirkt Martin Walser.

Der Bodensee, an dem Walser 1927 in dem Ort Wasserburg geboren wurde, hat ihn, wie er mir erzählt, nicht losgelassen. Nach seinem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Tübingen und Regensburg und seiner Beschäftigung beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart ist er mit Beginn seiner Laufbahn als freier Schriftsteller 1957 an ihn zurückgekehrt. Der See ist Walser-Lesern aus seinen Romanen bestens vertraut. Ohne ihn als Hintergrund scheint Walser auch beim Schreiben nicht auskommen zu können.

Sein Schreibtisch und das Regal mit seinen Arbeitsbüchern (allesamt mit der Hand geschrieben und ordentlich nummeriert, damit er sich aus ihnen für seine Romane ‚verproviantieren’ kann) stehen in einer Nische des hohen hellen Raumes, am weitesten entfernt vom Fenster.

Zurzeit schaut man von hier oben vorwiegend auf Bäume, die, jetzt noch im vollen Laub, den See und die Sonnenreflexe auf dem Wasser nur spärlich freigeben. Man muss nah ans Fenster treten oder auf den angrenzenden Balkon, um das Ufer des Sees zwischen den mächtigen efeubewachsenen Stämmen von Eichen und Kiefern hindurchsehen zu können. Dort liegt das Ruderboot, selten genutzt, wie mir Martin Walser erzählt und ein altes Surfbrett, das inzwischen abgelöst wurde von einem besseren, moderneren, welches er häufiger benutzt. Aber am liebsten das pure Element Wasser! Nichts geht darüber: Schwimmen im See. Und nicht nur mal kurz, sondern eine Stunde lang. Erst dann wird es richtig wohltuend. Man lässt alles hinter sich, ist frei. Der See - ohne ihn kann Walser sich ein Wohnen nicht vorstellen.

Frau Walser tritt noch einmal diskret ins Reich ihres Mannes, bringt uns Kaffee und Kuchen und ist so unauffällig, wie sie eingetreten ist, wieder zur Tür hinaus. Kurz darauf begehrt der Hund, der elfjährige Appenzeller „Robbi“, Einlass. Martin Walser öffnet ihm, bedenkt ihn mit einem zärtlichen Blick. Er wird die ganze Zeit anwesend sein, ohne zu stören.

Martin Walser, einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Gegenwartsautoren, mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, liebt trotz seines hohen Bekanntheitsgrades die Zurückgezogenheit. Öffentliche Auftritte sind ihm, der sich in jungen Jahren offen politisch engagierte (z.B. im Wahlkampf 1961 für die SPD oder als Vietnamkriegsgegner} unangenehm geworden.

Was nicht heißen soll, dass er sich nicht weiterhin ins politische Geschehen einmischt: kritisch und differenziert, mitleidend und nicht besserwisserisch sich zu Wort meldend.

Ziemlich einsam unter den Intellektuellen stand Walser mit seiner Auffassung zur deutschen Teilung, mit der er sich - seinem „Geschichtsgefühl“ gemäß - nicht abfinden konnte. Das trug ihm viel Unverständnis, ja Häme ein. Dennoch empfand Walser nach der Wiedervereinigung weder Genugtuung noch gar Schadenfreude, sondern nur eine reine Freude darüber, dass es so gekommen ist, und dass er es noch erleben durfte.

Und dann sind da die Walserschen Romanfiguren: allesamt aus dem Mittelstand oder Kleinbürgertum, dem der Autor sich selbst zurechnet – Menschen wie du und ich. Treffsicher und mit Witz, subtil und doch niemals verkomplizierend zeichnet Walser seine Charaktere.

Irgendwie liebenswürdig sind sie eigentlich alle in ihren Marotten, Selbstzweifeln, Erfolglosigkeiten. Selbst die Karrieresüchtigen und Prestigejäger werden, obwohl psychologisch treffend als solche enttarnt, in ihren Verrenkungen und Heucheleien niemals wirklich böse niedergemacht oder vom Moralkatheder aus verurteilt.

Nein, Martin Walser ist kein Pessimist, obwohl er sich in den Schwächen und Verbiegungen der Menschen bestens auskennt. Er ist ein Moralist, ohne Moral zu predigen. So versteckt Walser in seinen Romanen Reflexionen klar wie Glas und von scharfsichtiger Analyse.

Und fleißig ist er obendrein. Mehr als 50 Buchveröffentlichungen (Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Hörspiele, Essays) liegen von ihm vor. Weil er sich keine andere Lebensform als die des Schreibens vorstellen kann. Das hat schon in der Kindheit angefangen. Das Schreiben war für Walser eine Fortsetzung seiner ersten Leseerfahrungen. Lesen und Schreiben – das ist eine Lebensart. Eine Form, sich selbst zu begegnen.

In dem Band „Zauber und Gegenzauber“ mit Aufsätzen und Gedichten aus den letzten 30 Jahren erhält man einen ausgezeichneten Überblick über Walsers scharfsichtige Analysen von Zeitgeschichte, über Hintergründe seines Schreibens („Meine Muse ist der Mangel“) und für viele, die ihn vor allem aus seinen Romanen und Theaterstücken kennen, sicher überraschend - auch über seine Lyrik, knappe Stimmungsnotate, zuweilen ironisch gebrochen, dann wieder von einer Schönheit und Empfindsamkeit, ja Zartheit, dass darin aufscheint, was Walser in einem Aufsatz über Gedichte (Eine Verführung zum Schönen) schreibt: „Das ist es, glaube ich, was die Gedichte schaffen: ein deutliches Gefühl. Das sogenannte Dasein ist für eine kurze Zeitlang nicht mehr stumm oder dunkel, sondern deutlich, bestimmt.“

Dieser Band kam nicht in seinem Stammverlag Suhrkamp heraus, sondern in dem relativ unbekannten Verlag Isele. Wie es zu dieser Zusammenarbeit kam, frage ich Martin Walser. „Ja, dieser junge Verleger Klaus Isele,“ antwortet er, „ist eine liebenswürdig sensationelle Ausnahme. Ein nach meinem Gefühl geborener Verleger, der alles selber machen muss, der das auch alles gelernt hat.“ Walser hat dessen Wege schon eine Weile beobachtet und attestiert ihm „Geschmack und Leidenschaft“. Und weil Walser weiß, wie schwer es für einen jungen Verlag ist, unterstützt er ihn, denn, so sagt er, „es ist mein Interesse, dass dieser Verlag gedeiht.“

Natürlich bekommt ein so bekannter Schriftsteller wie Martin Walser auch viele Manuskripte von jungen Autoren zugeschickt. Früher hat er sie gelesen und auch schon manch einem Autor auf den Weg helfen können. Heute habe er einfach nicht mehr die Zeit und Kraft dafür. „Also das muss ich für mich abschreiben“, sagt er mit aufrichtigem Bedauern, „denn man will ja zurechnungsfähig reagieren. Man ist ja ein bisschen mitverantwortlich. Und es ist so, dass man einfach zu dem nicht kommt, was man selber noch machen möchte.“

Wir kommen auf das „Tagebuch eines Schriftstellers“ zu sprechen. In dieser Essay-Sammlung aus den Jahren 1990-1993 lässt Walser den Leser ein gutes Stück hineinschauen in seine Schriftsteller-Existenz, die im Grunde in jeder Hinsicht eine ungesicherte ist. Denn, so erfährt es Walser, „Sprache ist das am wenigsten Verfügbare.“ Vom Schreiben und Lesen, von Erfahrungen und Meinungen ist hier die Rede. Letztere beurteilt Walser äußerst kritisch, denn „Meinung tendiert zum Urteil“ und „je mehr Meinung, desto weniger Erfahrung“. Wie ist er zu dieser Skepsis gegenüber der Meinungsäußerung, vor allem derjenigen in den Medien, gelangt, die für ihn etwas angenommen hat von „erpresserischem Meinungsabverlangen“, frage ich ihn. „Das liegt natürlich an den Erfahrungen“, antwortet Walser, „dass ein großer Teil der aktuellen Teilnahme in Sprache bei Intellektuellen in einer besonderen Sprachart stattfindet, bei der es fast ausschließlich ums Rechthaben geht.“ Er selbst habe auch bei sich, wenn er frühere Äußerungen kritisch beleuchte, feststellen müssen, wie „grell“ sie teilweise gewesen seien.

Aber dass Meinungen heutzutage mehr und mehr im Vordergrund stünden, vielfach lediglich zu Schlagabtausch, zur Bekräftigung der eigenen oder zur Ablehnung der anderen führten, bedauert Walser zutiefst. „Meinung“, sagt er, „das klingt nach: Es reicht. Nach: Bescheidwissen.“ Das schmerzt ihn. Wenn es zum Beispiel um seine Person geht. Wenn andere, Kollegen zumal, ihn in die rechte Ecke schieben wollen, nur weil er sich nicht mit der Teilung Deutschlands abfinden wollte und dann nach der Wiedervereinigung diese als „das liebste Politische seit ich lebe“ bezeichnete.

Im Grunde, so sagt Martin Walser in unserem Gespräch, und es klingt Trauer in seiner Stimme, vielleicht auch eine Müdigkeit, die der Beschuldigungen, der Rechthabereien, der Zuordnungen überdrüssig geworden ist, sollte man einen Autor nur an dem messen, was er schreibt. „Natürlich“, so fügt er hinzu, „gibt es Provokationen, gibt es zeitgenössische Probleme, da wusste ich nicht, wie man still sein könnte.“ Und doch, denke man z.B. an Bosnien, bekäme eine reine Meinungsäußerung, weil sie ja oft auch auf einer Art

Hilflosigkeit basiere, etwas von „Pseudo“, gerade unter Intellektuellen - wenn nicht dabei eine konkrete Lösung angeboten werden könne.

Schreiben ist dagegen für Martin Walser ein Mittel, gegen etwas Unerträgliches, „gegen die nicht nachlassenden Zumutungen“ aufzubegehren. In der Leidensfähigkeit sieht er eine der wichtigsten Voraussetzungen zum Schreiben. Sein Herz gehört beim Schreiben seiner Romane dem Kleinbürger, wie er sich auch selbst als einen solchen sieht.

Seine Eltern, die aus bäuerlichen Familien stammten, hatten einen Gasthof in Wasserburg am Bodensee. Dort wurde Martin Walser 1927 geboren. Es war ein entbehrungsreiches Leben, das seine Kindheit prägte. Als er elf Jahre alt war, verlor er seinen Vater und musste das Geschäft, zu dem neben dem Gasthof noch ein Kohlehandel, Obst-und Holzverkauf gehörten, mit seiner Mutter und seinen Brüdern weiterführen. Mit 16 Jahren wurde er als Flakhelfer zum Militär eingezogen.

Früh hat Walser Mangel erfahren. Aber diese Erfahrung wurde für ihn zur Grundlage seines Schaffens als Schriftsteller. „Was uns fehlt, macht uns schöpferisch“, sagt er einmal. Dies erklärt auch, dass seine Romanfiguren selten Glücksritter und Erfolgreiche sind. Vielmehr wurde Walser geradezu zum Experten und Chronisten von - zumindest nach landläufiger Meinung - Gescheiterten.

„Jemand, der die Mangelhaftigkeit seiner Identität nicht nur leidend hinnimmt, sondern in den Beschädigungen das Beschädigende zu erkennen sucht, wird ein Experte für Identitätsbeschädigungen. Wenn er sich mehr für das Beschädigende interessiert, wird er ein realistischer Schriftsteller.“ So hat Walser in dem Essay „Wer ist ein Schriftsteller“ sich selbst charakterisiert. „Epiker der Alltagswelt“ wird er von der Kritik apostrophiert. Seine Figuren stammen durchweg aus dem Mittelstand, sind Lehrer, Handelsvertreter, Angestellte - Menschen wie du und ich -, die Walser auf ihren Lebenswegen und - Irrwegen, meist mit liebevoller Ironie, beschreibt. Walsers Romane weisen ihn als subtilen Beobachter und Kenner der menschlichen Psyche aus. Sie bilden außerdem seit ihren Anfängen (1957 „Ehen in Philipsburg“) eine Chronik deutschen Zeitgeistes, angefangen mit der Nachkriegszeit mit ihren Verdrängungen, der beginnenden Karrieregesellschaft, dem wachsenden Konkurrenzdruck bis hin zum geteilten Deutschland, das er erstmals in „Dorle und Wolf (1986) thematisierte und in dem Roman „Verteidigung der Kindheit“, der durch die Wende in der DDR noch während seiner Entstehung über Nacht zu einem historischen Roman wurde.

„Dieser Alfred Dorn (in „Verteidigung der Kindheit“), den Sie für mein Gefühl mit einer besonderen Hingabe gezeichnet haben, ist diese Figur Ihnen besonders verwandt?“ frage ich Martin Walser. „Ja“, antwortet er, „dadurch dass er zu seiner Mutter ein besonderes Verhältnis hatte. Das war für mich die Brücke zu dieser Person. Denn ich finde, wenn man eine Figur hat, dann kann man weiter gehen im Ausdruck, als wenn man über sich schreibt. Man hat die Figuren, um sich zu verbergen. Aber dann kann man sich entblößen.“ „Das Ausschlaggebende,“ verrät mir Walser, „war diese Liebesbeziehung des Sohnes zu seiner Mutter. Und ich hatte bis dahin zu meiner Mutter literarisch sozusagen immer geschwiegen.“

An dieses Geständnis knüpfe ich an und frage Walser nach seiner Kindheit. „Sie sind ja in Wasserburg am Bodensee geboren, ein Stückchen weiter runter von hier“, sage ich, worauf er mich