Zu Besuch bei Günter Grass und Herta Müller - Ilka Scheidgen - E-Book

Zu Besuch bei Günter Grass und Herta Müller E-Book

Ilka Scheidgen

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Beschreibung

In seiner "Danziger Trilogie" gestaltete Günter Grass in den Biografien seiner Protagonisten eine als heillos erfahrene Welt, die nur durch das Künstlertum ertragen werden kann. Günter Grass, der seine Frankfurter Poetiklesung 1990 unter das Motto "Schreiben nach Auschwitz" stellte, hat sein poetologisches Credo verwirklicht, dass der Schriftsteller die Vergangenheit nicht ruhen lassen und sich als Zeitgenosse nicht verkapseln dürfe, sondern sich den Wechselfällen der Zeit aussetzen, sich einmischen und Partei ergreifen müsse. Ebenso geht es der Schriftstellerin Herta Müller. Auch sie prangert die menschenverachtenden Methoden einer Diktatur in Prosa und Gedichten an. "Meine Überzeugung ist, dass Literatur insgesamt aus Beschädigungen besteht", erzählt sie im Gespräch mit Ilka Scheidgen. Mit beiden Autoren konnte Ilka Scheidgen ausführliche Gespräche führen. Dieser Band mit den Porträts des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass von 1999 und Herta Müller, der Nobelpreisträgerin für Literatur von 2009, vermittelt nicht nur einen lebendigen Eindruck zweier wichtiger Schriftsteller der neueren Literatur- und Zeitgeschichte, sondern vergegenwärtigt, warum gute Literatur notwendig ist zum Leben. "Ich bewundere Ihre Art, wie Sie einen Autor bzw. eine Autorin in der Beschreibung erfassen und lebendig machen. Vor allem in ihren eigenen Texten lassen Sie sie zu Wort kommen. Und wie gut, dass Sie Ihre persönlichen Begegnungen und Gespräche einbringen können. Ich staune, wie bereitwillig, wie intensiv und engagiert der große Nobelpreisträger mit Ihnen gesprochen hat - und wie genau und zuverlässig Sie es wiedergeben." Hans Bender (1919-2015) Gründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Akzente" in einem Brief an Ilka Scheidgen

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Günter Grass

Mein Besuch bei Günter Grass

Nachruf

Herta Müller

Nach unserem Gespräch

Einleitung

In seiner „Danziger Trilogie“ gestaltete Günter Grass in den Biografien seiner Protagonisten eine als heillos erfahrene Welt, die nur durch das Künstlertum ertragen werden kann. Günter Grass, der seine Frankfurter Poetiklesung 1990 unter das Motto ‚Schreiben nach Auschwitz‘ stellte, hat sein poetologisches Credo verwirklicht, dass der Schriftsteller die Vergangenheit nicht ruhen lassen und sich als Zeitgenosse nicht verkapseln dürfe, sondern sich den Wechselfällen der Zeit aussetzen, sich einmischen und Partei ergreifen müsse.

Ebenso geht es der Schriftstellerin Herta Müller, die zwanzig Jahre nach Günter Grass im Jahre 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Auch sie prangert die menschenverachtenden Methoden einer Diktatur in Prosa und Gedichten an. „Meine Überzeugung ist, dass Literatur insgesamt aus Beschädigungen besteht“, erzählt sie im Gespräch mit Ilka Scheidgen. Mit beiden Autoren konnte ich ausführliche Gespräche führen. Dieser Band mit den Porträts des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass von 1999 und Herta Müller, der Literaturnobelpreisträgerin von 2009, vermittelt nicht nur einen lebendigen Eindruck zweier wichtiger Schriftsteller der neueren Literatur- und Zeitgeschichte, sondern vergegenwärtigt, warum gute Literatur notwendig ist zum Leben. „Weltweit sind Flüchtlingsströme unterwegs. Hunger begleitet sie. Und kein politischer Wille, gepaart mit wissenschaftlichem Können ist entschlossen, dem wuchernden Elend ein Ende zu setzen... Dieses Thema ist uns geblieben... Davon wird in Zukunft zu erzählen sein. Schließlich muss unser aller Roman fortgesetzt werden.”

Dies hatte Günter Grass in seiner Nobelpreisrede 1999 diagnostiziert. Auch im Jahr 2016 sind wir von einer Lösung noch weit entfernt, ist die Lage nicht besser geworden. Bleibt zu hoffen, dass zumindest die Mahner nicht müde werden, ob laut oder leise.

Günter Grass

Der Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren, wo er als Sohn eines Kolonialwarenhändlers seine Kindheit und Jugend verbrachte. Er war Luftwaffenhelfer, bevor er 17-jährig zur SS-Panzer-Division einberufen wurde. Diese Tatsache, die erst 2006 mit Erscheinen seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, führte zu heftigen Diskussionen. Bei Kriegsende geriet Grass in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Von 1948 bis 1952 studierte Grass an der Kunstakademie Düsseldorf Bildhauerei und Grafik und von 1953 bis 1956 an der Hochschule für Bildende Kunst in Berlin.

1954 heiratete er in erster Ehe die Balletttänzerin Anna Schwarz; mit der er fünf Kinder hat. Von 1956 bis 1960 lebte er in Paris. Dort schrieb er seinen epochalen Roman „Die Blechtrommel“, der mit seinem Erscheinen 1959 den Ruhm von Günter Grass als einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart begründete. 1979 heiratete er in zweiter Ehe Ute Grunert.

Neben seiner schriftstellerischen und künstlerischen Arbeit engagierte sich Günter Grass stark in der Politik durch öffentliche Stellungnahmen und im Wahlkampf für die SPD.

Günter Grass hat eine Vielzahl an wichtigen Preisen für sein literarisches Werk erhalten, darunter 1965 den Büchnerpreis, 1968 den Fontane-Preis, 1995 den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck und 1999 den Literaturnobelpreis. Er wurde mit der Ehrendoktorwürde der Universitäten Danzig und Berlin ausgezeichnet.

Günter Grass gründete 1997 die Otto-Pankok-Stiftung zu Gunsten der Sinti und Roma.

Am 13. April 2015 ist Günter Grass in Lübeck gestorben.

Mein Besuch bei Günter Grass

Es ist ein klarer sonniger Tag Ende November, als ich in den hohen Norden Deutschlands, nach Lübeck, aufbreche. Dort kann ich mich im ‚Günter Grass-Haus‘ gut auf das Gespräch mit seinem Namensgeber einstimmen. 2002 wurde dieses Haus von der Kulturstiftung der Hansestadt Lübeck als „Forum für Literatur und bildende Kunst“ im Herzen der Altstadt eröffnet. Die Stadt ist stolz darauf, dass sie, mit diesem Haus und dem ‚Buddenbrookhaus‘ das Werk zweier Nobelpreisträger vorweisen kann.

Im Günter Grass-Haus kann man sich von der Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksmittel im Werk von Günter Grass überzeugen: Aquarelle, Federzeichnungen, Radierungen, Kohle- und Tuschzeichnungen, Bronzen, Terrakotten und Lithographien. Günter Grass hat ja zunächst als bildender Künstler begonnen.

Darüber hinaus erhält man hier Einblicke in die Arbeitsweise und deren Prozesse in seinem schriftstellerischen Werk.

Von der handschriftlichen Urfassung zur Maschinenschrift, oft in mehreren Variationen und mit handschriftlichen Korrekturen versehen, lassen diese Manuskripte erkennen, mit welcher Sorgfalt, mit wie viel überprüfender Genauigkeit Günter Grass seine zumeist voluminösen Werke verfasst.

Auch wird durch die Exponate die enge Verbindung zwischen Text und Bild, wie wir sie aus zahlreichen Grass-Büchern kennen, sehr anschaulich nachvollziehbar. Im Laufe seines Schaffens haben sich die verschiedenen künstlerischen Gestaltungsformen immer wieder gegenseitig befruchtet.

So hat er nicht nur die Einbände seiner Bücher selbst gestaltet, sondern auch in einer Reihe von Büchern Graphiken, Zeichnungen und Aquarelle in Beziehung zum literarischen Text gesetzt. Wie zum Beispiel in seinem Werk ‚Letzte Tänze‘, in dem sich Zeichnungen und Gedichte auf spielerische Weise ergänzen.

Die untergehende Sonne färbt den Himmel malerisch rot, als ich am Anwesen von Günter Grass ankomme. Da mir noch ein wenig Zeit bleibt bis zum verabredeten Gesprächstermin, fahre ich ein paar hundert Meter weiter, um die auf einem Hügel unterhalb eines ausgedehnten Waldes liegenden beiden Häuser, das Wohnhaus und dicht dabei das Atelierhaus von Günter Grass, zu betrachten. Ohne Anfahrtsskizze hätte ich es nur schwer gefunden, so abgelegen und isoliert liegt das Grass’sche Anwesen. Der Blick von den Häusern geht hügelab über den großen Garten mit schönen alten Bäumen, über Wiesen hin zum baumbestandenen Elbe-Lübeck-Kanal, an dem Günter Grass, wenn er nicht gerade auf Vortrags- und Lesereisen unterwegs ist, gerne spazieren geht.

Hier in ländlicher Abgeschiedenheit kann er, so denke ich mir, Ruhe finden, Atem holen von der Betriebsamkeit, vom Lärm der Welt, in die er sich einmischend immer wieder hineinbegibt. Hier kann er, so stelle ich mir vor, das erleben und verwirklichen, was er in seinem Aufsatz ‚Der lernende Lehrer‘ (1999) so formuliert hat: „Das Erleben des Innehaltens, der Muße. Nichts wäre inmitten der gegenwärtigen Informationsflut hilfreicher als eine Hinführung ...zur Besinnung ohne lärmende Nebengeräusche, ohne schnelle Bildabfolge, ohne Aktion und hinein ins Abenteuer der Stille, in der einzig Eigengeräusche erlebt werden können.“

Das Knirschen der Reifen auf dem Kies ist in der Tat das einzige Geräusch weit und breit, als ich kurz darauf auf den Hof des Grass’schen Anwesens fahre. Frau Ohsoling, die Sekretärin von Günter Grass, die sich um seine vielfältigen Termine kümmert, empfängt mich und bittet mich ins Atelierhaus.

Günter Grass komme sofort, sagt sie, er trinke nur gerade seinen Kaffee zu Ende. Da stehe ich also in dem Haus, in dem er schreibt und seine Kunstwerke schafft. Ich sehe das Stehpult mit einem aufgeschlagenen „Blindband“, eins der großformatigen Bücher, in die Günter Grass - stehend - alle seine Werke mit der Hand schreibt. Daneben die alte grüne ‚Olivetti‘, eine mechanische Schreibmaschine, mit der er eigenhändig das Handschriftliche in Maschinenschrift überträgt.

Ich habe gerade meine Jacke abgelegt, als Günter Grass auch schon kommt, mit einer leinenen Arbeitsschürze über Cordhose und Pullover, die Pfeife in der linken Hand, und mich mit einem festen Händedruck begrüßt.

Die achtmonatige Mischlingshündin Minka wuselt zwischen unseren Beinen hin und her. Grass erzählt mir, dass sein alter treuer Hund vor einem Jahr sechzehnjährig gestorben sei, und er und seine Frau nach anfänglicher Überlegung doch wieder einen Hund angeschafft hätten, „weil man es gewohnt war, immer etwas um die Beine zu haben“.

Als erstes führt mich Günter Grass in sein großes Atelier. Hier steht eine Fülle von Bronze- und Ton-Skulpturen. An den Wänden sind Zeichnungen, Skizzen zu den Figuren, befestigt. In der Mitte des Raumes steht auf einem Ständer eine Terrakottafigur, an der er noch arbeitet.

Nach diesem kurzen Ausflug ins Reich der bildenden Kunst gehen wir hinüber in den literarisch geprägten Teil der Werkstatt. Wir nehmen an einem runden Holztisch Platz, dicht neben dem Regal voller Bücher, das eine ganze Wand einnimmt. Der Raum ist in das angenehm weiche Licht einer Stehlampe getaucht. Günter Grass zündet seine Pfeife mit einem Streichholz an. Im Fenster spiegelt sich das Licht der Lampe, denn draußen ist es inzwischen dunkel geworden.