Von Rimbaud zu Camus - Ilka Scheidgen - E-Book

Von Rimbaud zu Camus E-Book

Ilka Scheidgen

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Beschreibung

Ilka Scheidgen, Biografin der Dichterin Hilde Domin und der Schriftstellerin Gabriele Wohmann, Verfasserin mehrerer Bücher mit Autorenporträts, stellt in diesem Band "Fünf Autoren des Existentialismus" vor. Ilka Scheidgen gebraucht dabei den Begriff Existentialismus in einem erweiterten Sinne, nicht nur als denjenigen, der die französische philosophische Strömung der Existenzphilosophie meint, zu der Albert Camus gehörte. Dichtung wird hier verstanden als Ausdruck einer existentiellen Notwendigkeit. Arthur Rimbaud mit seiner Aussage "Ich ist ein anderer" wurde zum Vorläufer der modernen Poesie. Angst, Glück, Ekstase und Verzweiflung, Schönheit und Ekel, Hoffnung und Weisheit fließen bei diesen fünf Autoren in ihre Dichtung ein. Sie alle begreifen das Leben als passageren Zustand, dem sie - auch in seiner Absurdität, wie Camus es begreift - mit ihrer Dichtung eine Antwort entgegensetzen. Ilka Scheidgens Biografien, Autorenporträts und literarischen Essays fanden bei Lesern und in der deutschen sowie internationalen Presse ein breites Echo. Zu ihrem Camus-Essay in dem vorliegenden Band schrieb Gabriele Wohmann "Camus! Großartig! Riesen Kompliment und Respekt! Sehr gut geschrieben! (Das meiste wusste ICH nicht)."

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Arthur Rimbaud

Rainer Maria Rilke

Lion Feuchtwanger

François Mauriac

Albert Camus

Einleitung

Wenn ich hier fünf Autoren unter dem Begriff „Existentialismus“ vorstelle, so gebrauche ich diesen in einem erweiterten Sinne, nicht nur als denjenigen, der die französische philosophische Strömung der Existenzphilosophie, zu der Albert Camus gehörte, meint.

Bei diesen Dichterporträts geht es auch nicht vorrangig um Philosophie, sondern um Literatur. Dichtung hier aber verstanden als Ausdruck einer existentiellen Notwendigkeit.

Der Dichter Arthur Rimbaud, den man getrost einen Wegbereiter des Existentialismus nennen könnte, eröffnet in chronologischer Reihenfolge die fünf ausgewählten Porträts. Mit seiner Aussage „Ich ist ein anderer“ wurde er zum Vorläufer der modernen Poesie. Seine Dichtung ist existenziell im ursprünglichsten Sinne: Angst, Hoffnung, Glück, Himmel und Hölle, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Ekstase und Verzweiflung, Schönheit und Ekel, Barmherzigkeit, Mysterium, Leben und Weisheit, Hingabe und Fluch, Reinheit und Heil, die „Alchimie des Wortes"

.

Das gleiche trifft auch auf die Dichtung von Rainer Maria Rilke zu. Rilke leistet mit einem ungeheuren geistigen und seelischen Aufwand die Überwindung eigener Daseinsängste und den Versuch einer Beantwortung moderner Fragestellungen nach Welt und Wirklichkeit, allein schon durch das Zur-Sprache-Bringen.

„Denn Bleiben ist nirgends.“ In seiner Dichtung sind die drei Denkfiguren von Liebe, Tod und Gott bestimmend: „Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden.“

In einem auch biografischen Sinne ist der Schriftsteller Lion Feuchtwanger ein existentialistischer. Als Jude musste er vor dem Naziregime und seinem Terror fliehen und entging nur knapp der Deportation in die Gaskammern. In seinen Romanen geht es Feuchtwanger um unveränderliche Gesetze des Handelns und Denkens und damit immer auch um das Erkennen von Gegenwart im Vergangenen. „Er (der Autor historischer Romane) will die Gegenwart darstellen. Er sucht in der Geschichte nicht die Asche, er sucht das Feuer. Er will sich und den Leser zwingen, die Gegenwart deutlicher zu sehen, indem er sich distanziert." Mit seiner Aussage „Wer gerne denkt, ist überall allein“, formulierte Feuchtwanger geradezu das, was dem Existentialismus eigen ist.

Auch den Literatur-Nobelpreisträger François Mauriac treibt ein zutiefst existentielles Thema um: die Existenz des Bösen. Er machte die Schwächen der Menschen, ihre existentiellen Ängste, Verzweiflung, ihre Verstrickungen in Schuld, aber ganz besonders das „Elend des Menschen ohne Gott“ zum Thema seiner Romane.

Zu guter Letzt wird Albert Camus, der dezidiert dem Existentialismus zugerechnet wird, vorgestellt. Mit seinem „Mythos des Sisyphos“, diesem „Versuch über das Absurde“, und seinen Romanen hat er eine ganze Generation geprägt. Denn für ihn war sicher, „dass nämlich ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umwege der Kunst die zwei oder drei einfachen, großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat.“ In seinem epochalen Roman „Die Pest“ entwickelt er die Erkenntnis des auf sich selbst zurückgeworfenen, hilf- und hoffnungslosen Menschen in der Absurdität der condition humaine zu demjenigen, der gegen diese revoltiert und dadurch zu einer tiefen mitmenschlichen Kommunikation und Solidarität findet: „Ich empöre mich, also sind wir.“ In seiner Nobelpreisrede 1957 formulierte Camus diese Erkenntnis noch einmal: „Wir müssen wissen, dass wir dem gemeinsamen Elend nicht entrinnen können und dass unsere einzige Rechtfertigung, wenn es eine gibt, darin besteht, nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen.“

Arthur Rimbaud

1854 – 1891

„Ich ist ein anderer“

Noch heute, mehr als 160 Jahre nach seiner Geburt, ist die Faszination, die vom Leben und Werk dieses eigenwilligen, frühreifen und genialen französischen Dichters ausgeht, ungebrochen. Nicht nur seine wahrhaft revolutionären Neuerungen der dichterischen Sprache, sondern sicher auch der Umstand, dass er seine Werke innerhalb nur weniger Jahre verfasste - zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr - und anschließend vollständig verstummte, zudem sein unstetes, rauschhaftes, von Revolte und Sehnsucht und immer neuen Fluchten bestimmtes Leben geben der Legendenbildung reichlich Nahrung und ließen ihn zu einer Ikone ganzer Generationen werden.

Am 20. Oktober 1854 wurde Jean Nicolas Arthur Rimbaud in dem Ardennenstädtchen Charleville an der Maas als Sohn eines Infantriehauptmanns und seiner Frau Vitalie, einer bäuerlichen Familie entstammend, geboren. Schon als Schüler zeigt sich seine außerordentliche Begabung, er glänzt mit vorbildlichen Leistungen, gewinnt regelmäßig schulische Wettbewerbe. Nichts lässt zunächst ahnen, wie stark er sich bald gegen alles von ihm als einengend, ja erwürgend empfundene Kleinbürgerliche, Provinzielle, alles Bigotte und Unwahrhaftige auflehnen wird.

Als eine entscheidende Prägung für sein weiteres Schicksal darf man wahrscheinlich die Trennung seiner Eltern ansehen. Der Vater verlässt die Familie, als Arthur sechs Jahre alt ist, und lässt die Mutter mit vier Kindern zurück, der es nun obliegt, diese allein zu erziehen und zu versorgen. Die mütterliche Strenge, von dem äußerst wachen und sensiblen Knaben als Mangel an Liebe empfunden, macht Arthur zu einem einsamen und traurigen Kind.

Die Chiffren Kindheit, Tränen, Traurigkeit, Weinen werden immer wieder in seinen Schriften auftauchen. Zeitlebens wird er sich nach Liebe, Zuneigung und Geborgenheit sehnen. Das Gedicht „Les etrennes des Orphelins" (Die Neujahrsgeschenke der Waisenkinder), datiert auf das Jahr 1869, spricht eine deutliche Sprache: „Doch hier, - dies ist ein Nest, dem jede Wärme fehlt, / Wo sie nicht schlafen, frieren, wo die Angst sie quält; / Ein Nest, vereist vom bitterkalten Wind im Winter.../ ... Im Haus ist keine Mutter! - und der Vater weit!..."

Als solch ein Waisenkind dürfte sich Arthur Rimbaud gefühlt haben. Und er sucht und findet Zuflucht in der Poesie.1870 tritt mit Georges Izambard ein junger Seminarlehrer an das Gymnasium in Charleville, der als Rhetoriklehrer sofort die ungeheure Begabung seines Schülers Arthur Rimbaud erkennt. In ihm findet dieser einen väterlichen Freund, der ihn ausdrücklich ermuntert, in seiner schon so vollendeten, zu diesem Zeitpunkt noch an Vorbildern wie Victor Hugo, Paul Verlaine, die Parnassiens - alle Vertreter einer subjektiven Poesie - orientierten Dichtkunst fortzufahren.

Doch Rimbauds Entwicklung geht schon sehr bald in atemberaubender Schnelligkeit an seinen Vorbildern vorbei. Deren vom Gefühl und dem Streben nach Schönheit in Ausdruck und Reim begründete Poesie genügt ihm nicht mehr. Er strebt eine objektive Dichtung an, eine Übersetzung von Wirklichkeit in Verse.

Die Wirklichkeit, die er erfährt, ist die Enge der Provinz, der Konformismus in der Gesellschaft, der Moralkodex der Kirche, gegen die er sich nun vehement auflehnt. Diese Revolte äußert sich in teils verbitterten, teils grotesken, unerhört farbigen, hemmungslosen Gedichten von einer ungeheuren Intensität und in einem unerschöpflichen Bilderreichtum, deren unzweifelhafter Kulminationspunkt die Dichtung „Le bateau ivre" (Das trunkene Schiff) ist.

Dieses aus 25 vierzeiligen Alexandrinerstrophen bestehende Gedicht schrieb Rimbaud im Jahre 1871, das in seiner poetischen Existenz noch durch ein weiteres literarisches Dokument bedeutungsvoll ist: die sogenannten „Lettres du Voyant" (Seher-Briefe).

Im Bild des haltlos dahintreibenden Schiffes, durch Strudel und Stromschnellen steuer- und ankerlos, von Brandung und Riffen bedroht hin- und hergeworfenen Gefährts und Gehäuses, das zu bersten droht, offenbart sich Rimbauds selbstgewähltes Schicksal eines Dichters, der zum Unsagbaren und Ungeahnten vordringen will.

Zugleich ist es Ausdruck der existentiellen Erfahrung par excellence. Was im „Bateau ivre" in rauschhaften kataraktartigen Bildern zum Ausbruch kommt, erläutert Rimbaud in den „Seher-Briefen": seine Vorstellung des Dichters als Seher. An Izambard schreibt er am 13. Mai 1871: „Ich will Dichter sein, und ich arbeite daran, mich zum Seher zu machen... Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muss stark sein, als Dichter geboren sein... Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müsste sagen: Ich werde gedacht... Ich ist ein anderer."

Die Befreiung vom „Leitseil der Treidler" (Bateau ivre) bedeutet die Abkehr von literarischen Vorbildern und Strömungen, die Absage an alle Konvention des Denkens und Fühlens hin zur „wahren Wirklichkeit", hin zu einer „universellen Sprache", von der er im anderen „Seher-Brief an Paul Demeny spricht.

Rimbaud entwickelt auch hierin sein poetisches Programm. „Diese Sprache wird von Seele zu Seele gehen und alles zusammenfassen, Düfte, Töne, Farben, den Gedanken." Der Dichter muss sich dem Unbekannten (später wird man es das Unbewusste nennen) öffnen und bereit sein, in Abgründe nicht nur zu schauen, sondern sogar zu stürzen!

„Unsägliche Folter, zu der er seinen ganzen Glauben nötig hat, all seine übermenschliche Kraft, unter der er unter allen der große Kranke wird, der große Verbrecher, der große Verdammte, - und der höchste Weise! - Denn er kommt im Unbekannten an!... und wenn er auch, betört von seinen Visionen den Verstand verliert, so hat er sie doch gesehen!" Rimbaud will ganz Dichter sein und schreckt nicht davor zurück, einen hohen Preis dafür zu zahlen.

Obwohl nicht Revolutionär im politischen Sinne, glaubte Rimbaud doch eine Zeitlang an die Veränderbarkeit der Gesellschaft. Hoffnungen setzte er insbesondere in die revolutionäre Bewegung der Commune in Paris.