Mehr als Schlaf - Alexander Borbély - E-Book

Mehr als Schlaf E-Book

Alexander Borbély

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Beschreibung

In dieser Biografie geht es um Schlaf und biologische Rhythmen, aber auch um Bewusstsein, wissendes Nichtwissen und die Verstehbarkeit der Welt. Als Flüchtlingskind aus Ungarn wächst der Autor in den Nachkriegsjahren in der Schweiz auf, studiert Medizin und begeistert sich für Kybernetik. Am MIT macht er sich mit computerbasierter Signalanalyse von Hirnpotentialen vertraut und verschreibt sich an der Universität Zürich der Schlafforschung, die er während vier Jahrzehnten mit zunehmendem Erfolg ausübt. Sein Zwei-Prozess Modell vereint Schlaf und Rhythmen in neuartiger Weise und prägt bis heute die Schlafforschung. Auch auf Interaktionen von Schlaf und Depression lässt sich das Modell anwenden. Der aktuellen Frage, ob Mobilfunk Schlaf und Gesundheit beeinträchtigt, geht der Autor mit eigenen Versuchen und als Leiter eines Nationalen Forschungsprogramms nach. Die Komplementärmedizin und ihr Stellenwert in der Medizin beschäftigen ihn in vielfacher Weise und führen ihn zur Placeboforschung. Als Dekan der Medizinischen Fakultät und Prorektor Forschung der Universität Zürich kann er Entwicklungen der teilautonomen Hochschule mitgestalten und neue Prozesse initiieren. Seit der Emeritierung befindet er sich auf dem Streifzug durch die Welt der Ideen. In Gesprächen mit Theologen und in Werken von Denkern und Philosophen spürt er Grundfragen der Wissenschaft und des Lebens nach. Der Blick zurück am Ende des Buches gilt dem Leben der Eltern und ihrer Vorfahren, den Treffen mit Nachkommen und Schulkameraden im Seniorenalter, und dem Eintauchen in die Ungarische Sprache und Literatur.

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Alexander Borbély

Mehr als Schlaf

Erinnerungen und Erkundungen einesSchlafforschers

© 2019 Alexander Borbély

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7497-7887-4

Hardcover:

978-3-7497-7888-1

e-Book:

978-3-7497-7889-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Mehr als Schlaf

Erinnerungen und Erkundungen eines Schlafforschers

Alexander Borbély

INHALT

VORWORT

ANKUNFT IN DER SCHWEIZ UND JUGENDJAHRE

Frühe Reminiszenzen

Primarschule, Klavier und erste Liebe

Kindheit in Küsnacht

Bei den Pfadfindern

Familienferien und Reisen ins Ausland

Gymnasialzeit

Turnen und Sport

Militärdienst

DIE UNGAREN KOMMEN UND REISE NACH POLEN

Wer bin ich?

Ungarnaufstand 1956

Polen: Sprache und Land

STUDIENJAHRE

Wahl der Studienrichtung und vorklinisches Studium

Klinisches Studium und Praktika

Auslandsemester in Wien und Paris

Erfahrungen als Dorfarzt

Staatsexamen und Doktorarbeit

Wie weiter?

Selbstversuch mit LSD

KYBERNETIK

Die Kybernetik packt mich

Generelle Systemwissenschaft mit Ausstrahlung

Kybernetik als Laufbahn?

ERSTE GEHVERSUCHE IN DER FORSCHUNG IM PHARMAKOLOGISCHEN INSTITUT UND AM 'MIT'

Futterkonsum von Ratten

Radiotelemetrie

Forschungslehrjahre am MIT

Computerbasierte Analyse von Hirnpotentialen

GEMEINSCHAFT JUNGER FORSCHENDEN

"I.I.C." und Clurr

Weiterbildung

Neurobiologie Zürich

Lunch-Gruppe

ERSTE KONTAKTE MIT DER SCHLAFFORSCHUNG

NATO Summerschool

Europäischer Kongress für Schlafforschung

AUFBAU EINER FORSCHUNGSGRUPPE UND HABILITATION

Mehrkanalregistrierung und EEG-Telemetrie

Methodenzentrierte Forschung

Habilitation und Antrittsvorlesung

ZWEI PHARMAKOLOGISCHE STUDIEN

Amphetamin und Körpertemperatur

Serotonin und Verhalten

VERHALTENSFORSCHUNG

KÖRPEREIGENE SCHLAFSUBSTANZEN

Monnier und Pappenheimer

Inoué und Hayaishi

Eigene Experimente und Übersichtsarbeiten

LICHT

Kurze Hell-Dunkel Zyklen

Künstlicher Sommer und Winter

Dauerdunkel und Dauerlicht

Licht und Schlafforschung

SCHLAFENTZUG: GRUNDLEGENDE EXPERIMENTE BEI TIER UND MENSCH

Erzwungenes Wachsein

Ein grundlegendes Schlafentzugs-Experiment beim Tier

Erste Modelle

Ein grundlegendes Schlafentzugs-Experiment beim Menschen

DAS ZWEI-PROZESS MODELL

Vorgeschichte

Publikation in Human Neurobiology

Publikation in American Journal of Physiology

Vorstellung des Modells am Kongress in Zürich

KONTROVERSEN UM DAS ZWEI-PROZESS MODELL

SCHLAF UND DEPRESSION

DAS GEHEIMNIS DES SCHLAFS

WIE WIRKEN SCHLAFMITTEL AUF DEN SCHLAF?

Benzodiazepine und irreführende Werbung

Studien zu Wirkungen und Nachwirkungen von Schlafmitteln

Meine Rolle als Opinion Leader

HUMANSTUDIEN ZUM ZWEI-PROZESS MODELL

Akteure in Groningen und Zürich

Eine typische Schlafstudie: Langer Schlaf

Schlaf zur "falschen Zeit", Kurzschlaf und Nickerchen

Das Herz im Schlaf

Kurz- und Langschläfer

Selektiver REM Schlafentzug

Elimination des REM Schlafs

Ein exemplarischer Test des Zwei-Prozess Modells

Leben unter "zeitfreien" Bedingungen

TIEREXPERIMENTELLE STUDIEN ZUM ZWEI-PROZESS MODELL

Irene Tobler

Ist Prozess S unabhängig von Prozess C?

Rattenschlaf und Zwei-Prozess Modell

Bewegung, Licht, Serotonin: Was beeinflusst den Schlafdruck?

Schlafen wirbellose Tiere?

Schlaf im Tierreich

Schlaf und Hirntemperatur

Fazit

REGIONALE ANALYSE DES SCHLAF-EEGS

Vorne-hinten, links-rechts

Kartographie des Schlaf-EEGs als "Fingerabdruck"

Aufbau und Abbau des Schlafdrucks

Jenseits der Schlafstadien

Gebrauchsabhängiger, lokaler Schlaf

SCHLAFFORSCHUNG - RÜCKBLICK UND BETRACHTUNGEN ÜBER DEN SCHLAF

Blick zurück

Schlaf zwischen Freiheit und Schicksal

HANDYSTRAHLEN, SCHLAF UND GESUNDHEIT

Handystrahlen während des Schlafs verändern das Schlaf-EEG

Weitere Untersuchungen von Handy-Strahlen

Ich leite das Nationale Forschungsprogramm NFP 57

Lautstarke Kritik

Offene Fragen

KOMPLEMENTÄRMEDIZIN

Ich organisiere eine Lehrveranstaltung

Ein geschenkter Lehrstuhl für Naturheilkunde

Homöopathie: Gescheiterter Versuch am Nimbus zu rütteln

Komplementärmedizin und obligatorische Krankenversicherung

Zürcher Manifest

Placeboforschung

Placebo und Komplementärmedizin

Pioniere der Placeboforschung

Fazit

PSYCHIATRIE IM SPANNUNGSFELD VON SOMA UND PSYCHE

Psychologie in den Jugendjahren

Kontakte zur Psychiatrie

Schlafforschung und Psychiatrie

Placebowirkung von Antidepressiva

MEINE JAHRE ALS DEKAN UND PROREKTOR

Dekanatszeit

Beginn als Prorektor Forschung

Forschungskredit für den Nachwuchs

Life Science Zurich und Functional Genomics Center

Forschungsschwerpunkte

Berufungen

Fazit

VON DER NATURWISSENSCHAFT ZUR PHILOSOPHIE

MEIN STREIFZUG DURCH DIE WELT DER IDEEN

Jugendzeit und Philosophie

Nichtwissen: Ausgangspunkt meiner Erkundungen

Altes Leben, neues Leben: Mein Emeritus-Manifest

Alt-Prorektor und Alt-Forscher

Jahrzehntelange Selbstregistrierung

Rückblick auf 12 Jahre Selbststudium

Harald Atmanspacher

CUSANUS: WISSENDES NICHTWISSEN

DAS UNVERFÜGBARE IN WISSENSCHAFT UND THEOLOGIE

Dies-Reden von Hans Weder

Gespräche mit Theologen

MICHAŁ HELLER: DIE VERSTEHBARKEIT DER WELT

EVAN THOMPSON: BEWUSSTSEIN UND SCHLAF

GRUNDFRAGEN NACHSPÜREN

Das Unendliche: Unvorstellbar, doch mathematisch fassbar

Systembiologie: Denis Noble

Selbstorganisierende Systeme

Geist und Materie

Reduktionismus und Emergenz

Umdenken in der Naturwissenschaft: Hans Primas

Finalität und Autopoiese

Eins und Vieles

BLICKE ZURÜCK: WOHER KOMME ICH?

Tanten und Onkeln

Flucht aus Ungarn

Vaters Werdegang und zweite Karriere

Das Vermächtnis von Manfred Weiss

Die Grossfamilie trifft sich

Kontakte zu den Nachkommen

Borbély-Treffen in den Schweizer Bergen

Den Familienstammbaum führe ich weiter

Jüdische Vorfahren

Küsnacht: Schulkameraden im Seniorenalter

Die ungarische Sprache

CODA

VORWORT

“Wie schläft sich’s als Schlafforscher” werde ich zuweilen gefragt und in der Frage schwingt die Erwartung mit, der des Schlafs Kundige könne gewiss seine Einsichten auf den eigenen Schlaf anwenden. Allerdings kann ich nichts Spektakuläres berichten und lediglich zur Antwort geben, dass ich als Kurzschläfer mit 6 Stunden Schlaf auskomme und keine ernsthaften Schlafprobleme habe.

Schlafend habe ich ein Viertel Jahrhundert meines Lebens verbracht. Vier Jahrzehnte meiner Wachzeit habe ich der Erkundung dieses Zustands gewidmet. Mein Weg zur Schlafforschung und die Fragen, die mich als Forscher faszinierten, sind zentrale Themen meiner Ausführungen. Auf die Frage weshalb ich gerade den Schlaf als Forschungsgegenstand gewählt habe, pflegte ich als Grund anzugeben, die Funktion des Schlafs sei so komplex und vielschichtig, dass ich im Laufe meines Lebens sicher keine Lösung finden würde. Nur ein so anspruchsvolles Thema sei eine lohnenswerte Herausforderung. Lösbare Forschungsfragen brächten vielleicht Ruhm und Anerkennung, seien aber kein würdiges Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit. Etwas Bravado steckte natürlich in meiner Antwort.

Schlaf und biologische Rhythmen sind eng verbunden. Zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit faszinierten mich die circadianen Rhythmen, die wie der Name sagt, die Tagesperiodik nur ungefähr einhalten, da sie ohne äussere Zeitgeber vom 24-Std. Rhythmus abweichen. Der Sitz der inneren Uhr im Gehirn war damals noch nicht bekannt, die biologischen Rhythmen lagen weit abseits des Mainstreams. Das änderte sich in den 70er Jahren, der Pionierzeit der Rhythmusforschung. Heute ist aus dem einstigen Randgebiet der Biologie eine nobelpreiswürdige Disziplin geworden. Mit dem Zweiprozess-Modell, das ich 1982 veröffentlichte, versuchte ich die Schlaf- und Rhythmusforschung zusammenzuführen. Die einfache Struktur des Modells trug dazu bei, dass es zu einem dominierenden Konzept der Schlafregulation wurde und zu zahlreichen Studien führte. Seinen Werdegang zeichne ich in diesem Buch nach. Jahrzehntelang stand die Forschung im Zentrum meines Lebens, sie war ein "way of life" und schlug sich in über 300 Publikationen nieder. Wenn ich hier etwas ausführlich über einzelne Forschungsprojekte berichte, spiegelt sich darin die Bedeutung, die sie für mich in der damaligen Lebensphase hatten.

Nicht nur in meinem eigenen Fachgebiet war ich in der Wissenschaft involviert, sondern auch als für die Forschung der Universität Zürich zuständiger Prorektor. Da die Universität damals ihre Teilautonomie erlangte, hatte ich im Prorektorat erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten. Auch darüber berichte ich.

Seit der Emeritierung gehe ich meinen philosophischen Interessen nach und betrachte auch den Schlaf unter einem weiteren Blickwinkel. Als Forscher war ich bestrebt diesen Vorgang mit neuen Techniken zu vermessen, um Mechanismen nachzugehen, die uns seinen Ursprung erschliessen könnten. Dieser Ansatz blendete aus, dass der Schlaf auch eine subjektive Erfahrung ist. Dieser Erlebnisvorgang kann nicht nur erfahren, sondern differenziert erfasst und beschrieben werden. So fordert der Philosoph Evan Thompson, dass eine neue "kontemplative Schlafwissenschaft" auch die durch Introspektion erlangten Einsichten einbeziehe. Die Frage des Schlafbewusstseins weist aber auf ein viel grundsätzlicheres Problem hin, nämlich auf die Beziehung zwischen Geist und Materie. Sind sie zwei Erscheinungsformen derselben Wirklichkeit? Namhafte Naturwissenschafter und Philosophen haben sich dazu geäussert; anhand ihrer Argumente versuche ich dieser Frage nachzugehen.

Der rationale Umgang mit den Grenzen des Wissens und die Möglichkeiten des Diskurses über das Unwissbare waren die Fragen, die in den letzten Jahren im Zentrum meiner Interessen standen. Sie lassen mich auch den wissenschaftlichen Fortschritt mit anderen Augen betrachten. Wir sind nicht nur seine Nutzniesser, sondern auch seine Gefangenen. Wir erheben Daten, beschreiben mit ihnen neue Sachverhalte und schaffen uns dadurch unwillkürlich eine begrenzte Lebens- und Begriffswelt. In meinem vor mehr als drei Jahrzehnten erschienenen Buch zitierte ich das warnende Votum von Martin Heidegger, dass gerade durch die Erfolge richtiger Feststellungen sich das Wahre entziehen könne. Diese Warnung hat mich begleitet.

Das vorliegende Buch ist nicht nur eine wissenschaftliche Lebensbilanz, sondern auch eine persönliche. Meine Herkunft und Familiengeschichte haben mich geprägt, ihnen nachzuspüren ist Teil meiner Sinnsuche. Im ersten und letzten Kapitel schildere ich den eigenen Lebensweg und jenen meiner Vorfahren.

Worüber ich nicht schreibe ist die Beziehung zu meiner jetzigen Familie. Ich bin in zweiter Ehe glücklich verheiratet und sehe häufig meine beiden Töchter und drei Enkel, die in der Nähe wohnen. Auch mit meinen Geschwistern und ihren Familien stehe ich in regem Kontakt. Sie alle führen ihr eigenes Leben und haben Anrecht auf Diskretion. Auch wenn sie im Buch nicht vorkommen sind sie ein wichtiger Teil meines Lebens. Dankbar bin ich meiner Frau Irene für die jahrelange Begleitung des Buchprojekts und die wohlwollend kritischen Kommentare zum Text. Meine Schwester Esther hat den Text minutiös Korrektur gelesen und dank ihrer sprachlichen Stilsicherheit vieles verbessert. Auch ihr danke ich.

ANKUNFT IN DER SCHWEIZ UND JUGENDJAHRE

FRÜHE REMINISZENZEN

Als fünfjähriger, ungarisch sprechender Bub bin ich im Jahre 1944 mit meinen Eltern und zwei Brüdern als Flüchtling in die Schweiz gekommen. Es war das Ende der wohlbehüteten Kindheitsjahre und mein Leben änderte sich von Grund auf. Als Kind und Jugendlicher erinnerte ich mich wehmütig an die sehr warme und herzliche Atmosphäre in Ungarn, an die wunderschöne Stadt Budapest und an die Sommermonate, die ich auf dem Landgut der Familie in Derekegyháza verbracht hatte. Die farbigen Blumen hiessen Tulipán und Kankalin. Meine Betreuerinnen waren Decsi und Ferenc, ein "Dienerehepaar", wie meine Eltern sie nannten. Sie kümmerten sich um mich mit Hingabe und Liebe und führten mich auf dem Corso entlang der Donau spazieren. Wir hatten eine ausserhalb der Stadt in den Hügeln gelegene Villa und eine Stadtwohnung am Petőfi tér. Gegen Abend, wenn mein Vater mit seiner Lancia Aprilia von der Arbeit nachhause kam, erwartete ich ihn mit meiner Mutter an der Einfahrt zur Árnyas út. Wenn Mami mich in die Stadt mitnahm um "Kommissionen" zu machen, trug sie einen kleinen Hut mit einem Netz vor dem Gesicht. In manchen Nächten begannen die Sirenen laut zu heulen: Bomberalarm. Dann mussten wir uns unverzüglich in den Luftschutzkeller begeben, wo wir auf den anhaltenden Ton der Sirene zur Entwarnung warteten.

Ich war ein aufgeweckter Bub und kannte bald alle Automarken. Auch die Buchstaben und Zahlen erlernte ich recht früh. Als ich zweieinhalb Jahre alt war stiess mein Bruder Anti zur Familie. Dem Tagebuch der Mutter entnehme ich, dass ich anfangs am Baby interessiert war, sie aber bald bat, ihn wieder in die Klinik zurückzubringen. Meine Eifersucht war beträchtlich und der Kinderarzt riet meiner Mutter, Anti nicht in meiner Gegenwart zu stillen. Das paradiesische Dasein als verwöhntes Einzelkind hatte ein abruptes Ende gefunden.

Über unsere Flucht aus Ungarn werde ich am Ende des Buches berichten. Hier gebe ich meine eigenen Erinnerungen wieder. Nachdem wir im Auto nach Österreich gebracht worden waren, lebten wir einige Zeit in Eisenbahnwagen, die auf einem Abstellgleis in Purkersdorf ausserhalb von Wien standen. Ich erinnere mich an die uns bewachenden, freundlichen Soldaten, die mir ihren Stahlhelm ausliehen. Schliesslich fuhren wir nach Stuttgart weiter, von wo uns eine Swissair-Maschine nach Zürich flog. Auf dem Flug wurde es mir furchtbar übel, da das Flugzeug immer wieder in Luftlöchern absackte.

PRIMARSCHULE, KLAVIER UND ERSTE LIEBE

Die Schweiz erlebte ich anfangs als abweisend und kalt. Das deutsche Kinderfräulein war streng und züchtigte mich und meine Brüder. Die deutsche Sprache war mir fremd. Wir waren eine Zeitlang im Hotel Sonnenberg untergebracht, von dort ging ich ins Ilgenschulhaus am Römerhof. Ich trug damals ein Béret, das mir die Mitschüler oft entrissen. Nach kurzer Zeit zogen wir nach Küsnacht in ein Haus an der Weinmanngasse und ich setzte im Wiltisgasse Schulhaus die erste Primarklasse fort. Herr Bleuler, mein Lehrer, begegnete mir mit Verständnis und Wohlwollen. Langsam begann ich mich heimisch zu fühlen. Noch jetzt erinnern sich meine ehemaligen Klassenkameraden, dass mein Bruder und ich in mit Pelz gefütterten Ledermänteln erschienen sind, wie Märchenprinzen aus einer anderen Welt. Lange Zeit sprach ich mit Herrn Bleuler ausschliesslich hochdeutsch, obwohl ich den Schweizer Dialekt inzwischen gut verstand und ihn auch sprechen konnte. Es war eine Manifestation, dass ich immer noch anders war und eine spezielle Behandlung benötigte.

Das Klavierspiel half mir zu kommunizieren. Wir hatten im Schulzimmer ein Harmonium und ich durfte manchmal meine Kunst zeigen. Ich spielte Schlager und Filmmusik (aus Der dritte Mann) und improvisierte gerne. Musikalisch war ich begabt, hatte das absolute Gehör und spielte bis zum 14 Altersjahr Klavier. Meine Klavierlehrerin, Fräulein Tschudin, fast zwei Meter gross, war jedoch zunehmend unzufrieden mit mir, da ich zu wenig übte. Die Fingerübungen von Czerny waren nicht mein Ding. Hätte damals eine Möglichkeit zum Jazz-Unterricht bestanden, wäre ich wahrscheinlich dabeigeblieben. Doch Fräulein Tschudin beklagte sich bei meinem Vater, der mich jeweils vom Unterricht in der Stadt abholte, über meine mangelhafte Disziplin. Als ich dann mit dem Boxtraining begann, hörte ich mit dem Klavierunterricht auf. Doch zurück zur Primarschule.

Wenn ich meine Schulzeugnisse anschaue, fällt mir auf, dass ich gute Noten hatte, ausser im Schreiben, wo ich nur "genügend" war. Wiederholt findet sich die Bemerkung unter "Fleiss und Pflichterfüllung" ich sei im Mündlichen passiv und mache wenig mit. Meine Schüchternheit gepaart mit dem Widerstreben mich in der Klasse zu exponieren waren wahrscheinlich die Ursache dieser Einschätzung, vielleicht auch eine gewisse Depressivität. Nach den ersten drei Jahren übernahm ein neuer, strenger Lehrer den Unterricht. Ich erinnere mich an seine Wutausbrüche, die zu Ohrfeigen und an den Haaren Ziehen führte und mich mit Angst erfüllten. Zum Glück war ich als braver und angepasster Schüler davon nicht selbst betroffen. Er hatte unter den Mädchen seine Lieblinge, die er bevorzugte. Später erfuhr ich, dass er oft in der Wirtschaft anzutreffen und dem Alkohol zugeneigt war. Ich erinnere mich an die Fingerübungen, die wir vor dem Schönschreiben machen mussten. Mit diesem Fach hatte ich anfänglich Mühe und brachte es nur auf eine Note 4 (genügend). Später hatte ich in allen Fächern gute bis sehr gute Noten.

In den letzten beiden Primarklassen war ich in Klara verliebt, einem temperamentvollen Mädchen mit italienischen Wurzeln. Im Klassenzimmer sassen Mädchen und Buben in getrennten Reihen und kommunizierten auch sonst nur wenig. So beschränkten sich die Zeichen meiner Zuneigung auf verstohlene Blicke, die von ihr nicht unbemerkt blieben. Sie war mein heimlicher Schulschatz, eine neue Erfahrung, verstörend und überwältigend. Nach Ende der Primarschulzeit sah ich sie nicht wieder. Sie absolvierte als gute Schülerin die Sekundarschule, war beruflich tätig, heiratete, zog nach Italien und ist vor einigen Jahren gestorben.

Mein amouröses Leben setzte ich als junger Gymnasiast mit Susi fort, die ich wahrscheinlich an einem Fest kennenlernte und ins Schauspielhaus einlud. Wir verbrachten die Zeit in den hinteren Reihen im Dunkeln mit Küssen und verpassten das Geschehen auf der Bühne. Doch auch diese Beziehung brach ich bald danach ab, da sie mir zu bedrohlich wurde.

KINDHEIT IN KÜSNACHT

Wir wohnten 1944/45 ungefähr ein Jahr lang in einem Haus an der Weinmanngasse. Im Garten wuchs Rhabarber, den wir unerlaubterweise zu geniessen suchten. Die wenig befahrene, steile Strasse vor dem Haus verleitete zum Spielen. Mein Bruder Anti, vielleicht 5 Jahre alt, rannte auf mich zu und liess sich in meine Arme fallen. Da trat ich einmal einen Schritt zurück und er stürzte auf die Strasse. Bosheit? Sadismus? Willkür des Älteren?

Bald verlegten wir unseren Wohnsitz in einen Hausteil an der Oberen Heslibachstrasse. Auch dort hatten wir einen kleinen Garten, wo wir Fussball spielten. Gefährlich wurde es, als ich aus irgendwelchen Gründen einen Metallstab in die elektrische Steckerbuchse der Garage einführte und um mich etwas zu schützen den Stab mit einem feuchten Lappen umwickelte. Der Stromstoss hätte böse enden können. Auch mein Bruder Anti entging nur knapp einem Unfall, als er mit dem Velo auf die Strasse stürzte und sein Kopf nur um Zentimeter die Reifen eines vorbeifahrenden Autos verfehlte. Diese Zwischenfälle behielt ich besser für mich. Meine damaligen Schulklassenfreunde waren Klaus und Kurt. Meine Mutter hiess alle bei uns willkommen, so dass sie und andere oft bei uns spielten. Klaus war der Sohn eines Röntgenologen, der mit meinem Vater über das "Ärztekränzchen" beruflichen Kontakt hatte. Die Familie hatte ein Haus in Agnuzzo im Tessin, wo ich mehrmals in den Ferien war. Klaus und ich unternahmen mit dem Velo Rundfahrten um den Luganersee, der mir von der damaligen Zeit noch heute vertraut ist. Kurt war sehr sportlich und spielte später als Stürmer im Fussballclub Young Fellows. Wir alle hatten Velos (Fahrräder), auf denen wir unsere Freizeit verbrachten. Ich hatte ein Velo der Marke Cilo wie mein Idol, der Radrennfahrer Hugo Koblet. Er war der Konkurrent von Ferdi Kübler. Ich verfolgte damals begeistert die Tour de Suisse, die Tour de France und den Giro d'Italia. Fernsehen gab es noch nicht, Radioreportagen berichteten über die Ankunft an den Etappenzielen. Mit meinem Onkel Pisti durfte ich zu den Steherrennen an die Rennbahn Oerlikon mitgehen, an welchen Motorräder als Schrittmacher der Radrennfahrer dienten.

Fussball war meine andere grosse Leidenschaft. Im Schülerteam stand ich jeweils im Tor, eine Position, die mir entsprach. Ich scheute den Zweikampf, hatte wenig Ausdauer im Rennen, doch im Tor antizipierte ich die Schussabgabe und wehrte mit Sprungparaden die Bälle ab. So jedenfalls erinnere ich mich, doch vielleicht ist hier auch der Wunsch Vater der Erinnerung.

Anfangs der 50er Jahre wurde der Fussballplatz Heslibach feierlich mit einem Fussballspiel eröffnet. Mit meiner Voigtländer Kamera rannte ich auf den Platz und machte Schwarz-Weiss-Bilder von diesem historischen Ereignis. Mit Begeisterung verfolgte ich die Meisterschaftsspiele der Nationalliga A, durfte ab und zu mit meinem Onkel Spiele auf dem Letzigrund und im Hardturm besuchen und die guten Spieler bewundern. Da war der elegante GC Stürmer Fredy Bickel, der auch in der Nationalmannschaft spielte oder der aus Küsnacht stammende Severino Minelli. Aber auch der bulgarische Torhüter Talev, der bei den Young Fellows spielte und nicht besonders gut hielt.

Die Radioreportagen von Hans Sutter im Landessender Beromünster bleiben unvergesslich. Sie waren es, die mich anspornten, vor dem Schlafengehen imaginäre Spiele zu kommentieren mit meinem Bruder und Bettnachbarn Anti als Zuhörer. Mein Team war Kanada, sein Team Polen. Die Spieler hatten Namen (Bilo und Pico gehörten in meine Mannschaft, Guzmann in jene von Anti) und die Begegnungen waren äusserst spannend. Etwas ernüchternd war es, wenn ich in den entscheidenden Momenten der Reportage feststellen musste, dass mein Bruder eingeschlafen war.

Hörspiele im Radio waren eine Attraktion in der Vor-Fernsehzeit. Ich erinnere mich an die Schauergeschichten der Serie "Verzell du das em Fährimaa" oder die spannenden Ereignisse in "Polizischt Wäckerli".

Die beiden Zeitschriften "Sport" und "Tip" erfreuten sich grosser Beliebtheit. Mutter las die "Schweizer Illustrierte" oder "Sie und Er". Die Neue Zürcher Zeitung erschien dreimal pro Tag in gotischer Schrift, was damals selbstverständlich war, aber heute manchen Schwierigkeiten bereiten dürfte.

In den ersten Nachkriegsjahren waren Nahrungsmittel rationiert, die Familien erhielten eine Lebensmittelkarte mit Coupons, um Waren zu beziehen. Milch und Butter bestellte man über das Milchbüchlein beim Milchmann, der täglich morgens vorbeikam und das Gewünschte in den Milchkasten legte. Die Milch schöpfte er mit einer Kelle in den Milchkessel. Fleisch war rar, Aufschnitt gehörte zu den Delikatessen und zum Geburtstag wünschte ich mir, als etwas ganz Besonderes, Poulet. Zu den Schlecksachen gehörten Caramel Mu und Bärendreck, unter den Kaugummis war Bazooka besonders beliebt, da man damit riesige Blasen produzieren konnte. Meine Kameraden kauten gelegentlich die wertvollen Gummis abwechslungsweise.

1950 übersiedelten wir in ein neues Haus am Zeltenbühlweg. Ein grosser Garten umgab das zweistöckige Haus. Vorerst teilte ich das Zimmer mit Anti, doch später wurde das Gebäude erweitert und wir erhielten eigene Zimmer im Untergeschoss. Bis Ende 1957 wohnte ich in diesem Haus, das zum Heim der Familie Borbély wurde. Esther kam 1950 zur Welt, fünfeinhalb Jahre nach dem jüngsten Bruder Georg und sieben Jahre nach Stephan. Die Kinderschwester Lisa wohnte mit uns. Sie hatte schon Georg betreut und nahm sich nun auch Esther an. Zeitweise hatten wir deutsche Dienstboten (z.B. Ingrid, Luise, Brigitte), die ebenfalls im Haus wohnten und in Haushalt und Küche halfen. Das Kochen war Mutters Domäne, ihre ungarische Bohnensuppe (bableves) und das gelegte Kraut (rakott káposzta) waren einmalig. Zum Glück gab sie die Kochrezepte ihren Schwiegertöchtern weiter. In der Küche und im Keller türmten sich die Konserven (Campbell-Suppen, Mais, Corned Beef und vieles mehr). Häufig hatten die Eltern Gäste, die zum Abendessen kamen und es sich nach dem Essen im Wohnzimmer mit einer Zigarette gemütlich machten. Wir wuchsen im Zigarettenrauch auf, denn beide Eltern waren starke Raucher. Vater bot Whiskey oder Marc an, manchmal setzte er sich mit dem Gast an den Schachtisch zu einer Partie Schach, während sich Mutter mit der Gattin über Kinder, Küche und Kaufhäuser unterhielt oder mit drei Gästen Bridge spielte. In späteren Jahren wurde Jassen das Familienspiel.

Häufige Gäste waren die Zellwegers und Gautschis. Ed Zellweger, National- und Ständerat, war nach dem Krieg Schweizer Gesandter in Jugoslawien und später Ratgeber von König Idris in Libyen, seine Frau Margrit war Mutters beste Freundin. Georg Gautschi war Rechtsanwalt und in der Jugend Eislaufmeister gewesen wie seine Frau Edith, die ungarischen Ursprungs war. Beide waren an der Leitung der Kunsteisbahn Dolder beteiligt. Die Schauspielerin Lilian Westphal und ihr Mann Valentin Gitermann, in der Ukraine geboren, Historiker und Nationalrat, waren ebenfalls häufig bei uns. Weitere "Notabeln", die bei uns verkehrten, waren der Psychiater Leopold Szondi, Begründer der Schicksalsanalyse, mit seiner Frau Lili sowie die Psychologin Jolande Jacobi, langjährige Mitarbeiterin von Carl Gustav Jung. Sogar der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli weilte einmal bei uns. Es war die traditionelle ungarische Gastlichkeit, die intellektuelle Brillanz des Vaters, der als Causeur die Gäste unterhielt sowie die gesellschaftliche Gewandtheit und Herzlichkeit der Mutter, welche dazu beitrugen, dass die Gäste gerne zu Besuch kamen und sich bei uns wohlfühlten. Mein Bruder Anti und ich waren beim Abendessen zugegen, die "Kleinen" assen mit Lisa in der Küche.

Meine Eltern scheuten nicht davor zurück, ein Kind von Freunden für Wochen und Monate bei uns aufzunehmen, um ihnen eine Auslandsmission zu ermöglichen. So erinnere ich mich, dass Ivo ein Altersgefährte von Esther, längere Zeit bei uns aufhielt, ebenso Annegret.

Tischtennis wurde unser Familiensport. Der Tisch stand auf der gedeckten Terrasse, die auf einer Seite gegen den abschüssigen Alpengarten hin offen war. Der Platz zum Spielen war beschränkt. Als wir noch klein waren spielte Vater gerne mit uns und freute sich, wenn wir auf seine perfid geschnittenen Schläge keine Antwort wussten. Als mein Bruder Anti dann grösser und besser wurde und sich nicht mehr so schnell unterkriegen liess, verebbte Vaters Lust am Spielen. Er verlor nicht gerne, schon gar nicht gegen Anti, dessen triumphierender Gesichtsausdruck jenem von Vater ähnlich war. Mit Anti spielte ich stundenlang ohne Punkte zu zählen, doch immer über gelungene Rückgaben und Schmetterschläge erfreut und diese auch beim Gegner anerkennend. Anti war ein Meister im Retournieren. Bei einem Kantonsschulturnier spielte er sich in den Final und stand als kleiner Zweitklässler einem grossen Sechstklässler gegenüber. Diesen brachte er mit seinen Rückgaben viele Meter hinter dem Tisch zur Verzweiflung und gewann schliesslich das Spiel und den Pokal. Ich selbst war schon vorher ausgeschieden, aber dennoch sehr stolz auf den Erfolg meines Bruders.

Schon sehr früh las ich Bücher. Die klassischen Jugendbücher von Erich Kästner, Mark Twain, Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling und Hugh Lofting (Dr. Dolittle) gehörten ebenso dazu wie Grimms und Hauffs Märchen. Ein besonderes Buch war "Stop Heiri dadure", eine Kriminalgeschichte, die von Jenö Marton, dem Sohn eines nach Zürich verschlagenen Ungarischen Zirkusdirektors, fantasiereich ausgedacht war. Das Indianerbuch „Lederstrumpf“ von James Fenimore Cooper gehörte gleichsam zur Pflichtlektüre. Nicht erlaubt waren hingegen die Bücher von Karl May (Winnetou), die als Schund bezeichnet wurden, da der Autor sie sich von seinem Schreibtisch aus ausgedacht haben soll. Er war tatsächlich ein zweifelhafter Charakter, der auch der Hochstapelei beschuldigt wurde. Aus der späteren Lektüre erinnere ich mich an Axel Munthes "Der Arzt von San Michele" und an Felix Dahms "Der Kampf um Rom", ein Buch, das schon meine Mutter begeistert hatte. Zu Weihnachten erhielt ich jeweils den Pestalozzi-Kalender, der viel Wissenswertes, Praktisches und Unterhaltendes enthielt.

Das Fernsehen kam erst in den 50er Jahren auf und auch Filme sahen wir höchst selten. Ein- bis zweimal jährlich konnten Schüler und Schülerinnen im Hotel Sonne in Küsnacht einer Filmvorführung beiwohnen, vorausgesetzt sie waren Mitglied des Fip-Fop Clubs. Mitglied wurde man für einen Franken und erhielt ein Abzeichen. Die Filmaufführung bestand aus Trickfilmen von Walt Disney und Burlesken mit Charly Chaplin oder Laurel und Hardy, aber auch lehrreichen Dokumentarfilmen. Bei Filmvorführungen in Kinos wurde jeweils die Nachrichten enthaltende Wochenschau vor dem Spielfilm gezeigt. Der erste eindrückliche Farbfilm, an den ich mich erinnere, ist "Die Wüste lebt" (1953).

BEI DEN PFADFINDERN

Als Neun- oder Zehnjähriger ging ich zu den Pfadfindern oder "Pfadis". Vorerst gehörte ich zu den "Wölfen", die von freundlichen Führerinnen geleitet wurden. Als ich das erforderliche Alter erreicht hatte, wurde ich von den wirklichen Pfadis aufgenommen und erhielt mit der "Taufe" einen Pfadinamen. Wie diese Prozedur ablief weiss ich nicht mehr, nur dass ich "Rikki" getauft wurde, in Anlehnung an den Mungo Rikki-tikki-tavi im Dschungelbuch. Mit Mutter ging ich die Uniform kaufen, die aus einem braunen Hemd, der Krawatte, dem Hut, dem Gürtel mit der Lilie auf der Schnalle und einer Tasche bestand. Am Samstagnachmittag war "Antreten" bei der Pfadihütte im Wald. Da wurde vom Pfadiführer die Übung bekannt gegeben, die in den folgenden Stunden zu absolvieren war. Zum Abtreten versammelte man sich am Ende des Nachmittags. Einige fuhren von der erhöht gelegenen Pfadihütte in atemberaubendem Tempo mit ihrem Velo ins Dorf hinab. Die Formalitäten mit An- und Abtreten hatten einen militärischen Anstrich. An einem der Nachmittage gerieten wir unversehens in einen Bienenschwarm und mussten uns überstürzt aus der Gefahr retten. Zur Aufnahme unter die Jung-Pfadfinder musste man eine Pfadiprüfung ablegen. Bei dieser war die Kenntnis verschiedener Knoten erforderlich, ein Feuer musste mit einem einzigen Zündholz entzündet werden und Aufgaben wie Kartenlesen und ein "Kroki" erstellen gehörten auch dazu. Vielleicht auch die Kenntnis von Pfadiliedern.

An Chlausfeiern und an ein Pfingstlager kann ich mich erinnern. Bei einer Übung mit Dauerlauf schnitt ich sehr schlecht ab, da ich rasch ausser Atem kam. Auch beschämend war meine Angst am Abseilfelsen, wo ich den Abstieg am Seil nicht zustande brachte. Gute Erinnerungen habe ich hingegen an das Sommerlager auf der Alp Stella im Bedretto-Tal im August 1949, von wo wir Touren auf den Griespass und Cristallinapass unternahmen und ich die alpine Bergwelt erlebte. Auf Fotografien sind auch eine Wanderung nach Morcote und ein Bootsausflug auf dem Luganersee dokumentiert. Am jährlichen Familienabend im Hotel Sonne in Küsnacht gab es Unterhaltsames mit Sketches, an denen auch mein Abteilungsleiter "Giss" (Urs Brunner, später Chirurg) teilnahm und als Teil der Vorstellung zu einer Schlagermelodie spektakulär eine Treppe hinabstürzte.

Die Zeit als Pfadfinder war rückblickend eine wichtige Phase der Eingliederung in eine Gemeinschaft Jugendlicher mit klaren Regeln und Anforderungen. Mit den ersten Jahren der Gymnasialzeit ging meine Pfadfinder-Karriere zu Ende im Gegensatz zu jener meines Bruders Anti, der noch in späten Jugendjahren als "Rover" das Pfadfinderleben fortsetzte.

FAMILIENFERIEN UND REISEN INS AUSLAND

Ferienaufenthalte mit meinen Eltern und Geschwistern waren immer etwas Besonderes. Mit 7 Jahren nahmen mich mein Onkel Pisti und seine damalige Frau Trudi nach Serneus in die Skiferien mit. Als schüchterner, schwächlicher Bub verbrachte ich die meiste Zeit mit Zusehen wie die Erwachsenen mit Christiania-Schwüngen elegant den Hang herunter kurvten. Im Winter 1948 verbrachte ich mit Mutter, Brüdern und Kinderschwester Lisa Ferien in Davos. Es war die Zeit der Olympiade in St. Moritz, aber auch in Davos gab es Eishockey-Spiele. Bibi Torriani war der grosse Stürmerstar der Schweizer Mannschaft. Sehr positive Erinnerungen habe ich an gemeinsame Sommerferien. So verbrachten wir einige Wochen in Bergün, dem Alpendorf, das mir sehr gut gefiel. An der Hand von Vater spazierten wir Richtung Preda, er mit Spazierstock, und führten dabei ernste Gespräche. Die uns umgebenden Berge, Piz Kesch und Piz Ela machten grossen Eindruck auf mich, nur schon ihre Namen hatten einen magischen Klang. Ein andermal verbrachten wir den Sommer in Engelberg, wo natürlich die Luftseilbahn nach Trübsee eine besondere Attraktion war. Für mich und meine Geschwister war der Beginn von Ferien an höher gelegenen Orten mit Einschränkungen verbunden. Wir mussten am ersten Tag die meiste Zeit im Bett und den zweiten Tag im Hotelzimmer verbringen, um genügend rote Blutkörperchen zu bilden und uns an die Höhe zu adaptieren. Ich weiss nicht, ob diese Vorsichtsmassnahmen damals allgemein für Kinder empfohlen wurden oder ob sie lediglich Ausdruck der Überängstlichkeit unserer Eltern waren. Wahrscheinlich war ich 11 Jahre alt als wir Ferien im Hotel Waldhaus in Sils Maria machten. Ich nehme an, dass uns Grossmutter in dieses vornehme Hotel eingeladen hatte, denn sie und ihre Familie hatten schon vor dem Krieg die "Sommerfrische" an diesem Ort verbracht. Allerdings waren sie damals mit vielen Reisekoffern und Bediensteten angereist und mehrere Wochen geblieben. Grossmutter liebte die Berge und ging manchmal allein auf Edelweiss-Suche. Als sie eines Abends nicht zurückgekehrt war, schickte man einen Suchtrupp aus. Doch sie hatte einfach vergessen auf die Uhr zu schauen. Noch in fortgeschrittenen Jahren erklomm sie mit einem Bergführer die Diavolezza, beziehungsweise, wie wir hämisch kommentierten, liess sich von ihm am Seil hinaufziehen. Auch ich durfte zusammen mit meinem Bruder Anti eine richtige Bergtour unternehmen: Mit dem Bergführer marschierten wir am Morgen los und stiegen auf die Margna, einen Dreitausender. Mächtig stolz über unsere Leistung kehrten wir am Nachmittag zurück. Ich war schon in der Mittelschule als ich in Olivone Familienferien machte und mein Freund und Nachbar Hansruedi auch dabei war. Wir hatten ein kleines Haus gemietet und ich erinnere mich an die stimulierende Atmosphäre von Natur und Bergen und ihre Gerüche. Mit Hansruedi machte ich später eine Velotour ins Tessin, wo wir am Ufer des Lago Maggiore zelteten.

Als ich mit den Eltern und Anti nach Venedig reiste, muss ich ungefähr 12 Jahre alt gewesen sein. Der Markusplatz mit den Tauben, der Dogenpalast, die Glasbläser in Murano und die vielen anderen Sehenswürdigkeiten waren ein einzigartiges Erlebnis. Wir wohnten in einem Hotel an der Riva degli Schiavoni und Fotografien halten diese besondere Reise fest. Gegen Ende der Gymnasialzeit verbrachte ich Strandferien in Forte dei Marmi. Dort weilte ich mit Mutter und den Geschwistern, Vater wollte nicht ans Meer und zog die Berge vor. Die Familie Rakusa, Freunde der Eltern, waren mit ihren Kindern Ilma und Martin mit uns, so dass Mutter nicht mit uns allein war.

Als Sechzehnjähriger weilte ich zweimal 3-4 Wochen im Ausland. Mit der Jugendherberge-Organisation flog ich zu einem Sprachkurs nach England. 10-15 Jugendliche nahmen teil, die meisten, wenn nicht alle, älter als ich. Wir waren auf dem Lande im Süden von London untergebracht und unternahmen von dort aus Ausflüge nach London sowie nach Brighton ans Meer. Der englische Leiter unserer Gruppe hiess Dennis. Ich erinnere mich an ein Fussballspiel mit ihm, bei dem er mich mit der Schulter unsanft zur Seite checkte. Unsere Gruppe traf sich nach der Rückkehr noch 1-2-mal. Mit Rita hielt ich den Kontakt aufrecht, aus der Begegnung von damals wurde eine langjährige Freundschaft.

Das andere Abenteuer war die Reise nach Libyen. Ed Zellweger war in Tripolis Berater von König Idris, der eine neue Verfassung ausarbeiten liess. Ich fuhr mit dem Zug nach Neapel, schiffte mich dort ein und reiste über Sizilien und Malta nach Tripolis. La Valletta konnte ich einige Stunden besichtigen. Gleich nach der Ankunft besuchte ich mit den Zellwegers den Basar und litt plötzlich unter akutem Durchfall, der mich in eine peinliche Situation brachte. Unter den Sehenswürdigkeiten waren die alten römischen Städte Sabratha und Leptis Magna mit ihren gut erhaltenen Gebäuden imposant. Mit amerikanischen Freunden meiner Gastgeber fuhr ich in die Wüste auf Gazellenjagd. Ein einheimischer Führer sass bei uns im Jeep und gab die Richtung an. Wie er sich orientierte war rätselhaft. Als wir die Tiere aufspürten, fuhren wir ihnen nach und schossen aus dem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Wagen. Ich war selbstverständlich nur Mitfahrer, nicht Jäger, doch ein Gazellenfell als Trophäe hing lange Zeit über meinem Bett. Für einige Tage flog ich zu Bekannten der Zellwegers nach Bengasi. Mit einer Gruppe von Italienern gingen wir auf Wachteljagd; auf die Tiere wurde mit Schrot geschossen. Als sich bei einem unvorsichtigen Schützen ein Schuss löste, verfehlte er mich nur knapp. Die Rückfahrt nach Tripoli unternahm ich nachts im Bus. Ich war der einzige Nichtaraber. Es war Ramadan so dass nach Sonnenuntergang das Gelage begann und bei lauter Musik die ganze Nacht anhielt. Von diesen einzigartigen Erlebnissen in diesem grossen, nordafrikanischen Land brachte ich Farbfotografien zurück.

GYMNASIALZEIT

Ich besuchte sechs Jahre lang das Realgymnasium in Zürich. Mit dem Zug fuhr ich am Morgen von Küsnacht nach Zürich, eine Viertelstunde benötigte ich, um vom Bahnhof Stadelhofen zum Schulhaus an der Rämistrasse zu gelangen. Wenn wir auch nachmittags Unterricht hatten, fuhr ich nachhause und ass dort zu Mittag, um mich sogleich wieder zum Bahnhof zu begeben. Unter den Fächern nahm das Latein zu Beginn mit 1-2 Stunden pro Tag einen grossen Platz ein. Ernst Gegenschatz war unser Latein- und Klassenlehrer. Grosse Mühe bereitete mir anfänglich die Mathematik bei Walter Höhn. Als erstes mussten wir in verschiedenen Zahlensystemen rechnen lernen. Ich erinnere mich, dass ich an einer Prüfung ein Blackout hatte und unfähig war etwas zu schreiben. Noch am Ende des zweiten Schuljahres erhielt ich bloss eine genügende Note. Aufwärts ging es, nachdem ich während einer meiner Krankheitstage zuhause das Buch von Egmont Colerus "Vom Einmaleins zum Integral" gelesen hatte. Es war eines der Erleuchtungsereignisse mit Büchern. Auf einmal verstand ich die Attraktivität der Mathematik. Das Buch führte weit über den Stand des Unterrichts hinaus und ich freute mich Zusammenhänge zu lesen und zu verstehen, die erst zu Ende der Gymnasialzeit behandelt wurden. Seither fasziniert mich die Mathematik und ich habe immer wieder Bücher über ihre Geschichte sowie über grosse Mathematiker gelesen (z.B. George Gamow: „Eins, zwei, drei… Unendlichkeit“).

Chemie war eine wissenschaftliche Disziplin, die mich begeisterte. Ich baute mir zuhause im Keller ein Chemielaboratorium auf, das ich mit einem Experimentier-Baukasten begann und immer weiter ausbaute. Ich erstand mir Glaswaren und Chemikalien. Ein Bunsenbrenner war auch dabei. Ein Anleitungsbuch für chemische Experimente diente als Grundlage. Im Rückblick war es ein riskantes Hobby, da ich beispielsweise organische Substanzen wie Benzol verwendete, die wegen ihrer Toxizität einen Abzug erfordert hätten. Ich stellte Bromaceton her, das früher als Tränengas verwendet wurde. Die Dämpfe verbreiteten sich auch in den oberen Stockwerken des Hauses und führten zu Klagen der Putzfrau. Im Religionsunterricht applizierte ich einmal Tränengas auf den Heizkörper, wo sich der Lehrer gerne aufzuhalten pflegte. Wie wirksam der Einsatz war weiss ich nicht mehr. Unsere Putzfrau hatte es auch sonst nicht leicht, denn sie erschrak als sie beim Saubermachen im Keller auf Knallpulver trat. Im Allgemeinen war ich aber am Experimentieren und nicht an Anwendungen interessiert. Der hervorragende Chemie-Unterricht im Gymnasium durch Kurt Grob trug dazu bei, dass ich mich ernsthaft mit dem Gedanken trug, ein Chemie-Studium zu beginnen. Am Ende entschloss ich mich aber für die Medizin.

In meinen Zeugnissen ist die Zahl der entschuldigten Absenzen verzeichnet. Es ist auffällig, wie oft ich krankheitshalber zuhause blieb. Dies hat auch damit zu tun, dass die Eltern bei Krankheiten übervorsichtig waren. Bei Erkältungen galt bereits eine geringe Temperaturerhöhung als Krankheitssymptom, das Bettruhe erforderte. Nachdem sich die Temperatur wieder normalisiert hatte, blieb ich zur Erholung noch 2 Tage zuhause. Diese übertriebene Angst vor ernsten Komplikationen stammte wahrscheinlich aus der Vor-Antibiotikazeit als man gegen infektiöse Erkrankungen weitgehend machtlos war.

TURNEN UND SPORT

Wenn ich meine Mittelschulzeugnisse durchsehe fällt mir auf, dass ich in den ersten zwei Jahren im Turnen ständig ungenügende Noten hatte. Trotz meiner Pfadfindertätigkeit konnte ich die Anforderungen im Hallenturnen weder am Reck noch am Pferd noch an der Kletterstange erfüllen. Beim Rennen, Springen und bei Ballspielen konnte ich zwar gut mithalten, doch war dies für die Notengebung offenbar kaum relevant. Meine Armmuskeln waren wenig entwickelt, ich war ein eher schwächlicher Knabe. Das änderte sich im Laufe der Gymnasialzeit. Ab der fünften Klasse hatte ich gute Noten im Turnen, in einem der Zeugnisse sogar fast die Bestnote. Das hatte mit meiner körperlichen Entwicklung zu tun, aber auch mit der Erkenntnis, dass ich ein spezielles Training benötigte. Mein Onkel Pisti kannte Dr. Szász, einen Ungaren, der ein Box-Institut betrieb und ehemals die Budapester Polizei unterrichtet hatte. Ich begann bei ihm ein Training, das Boxen auf den Sandsack, Seilspringen und Sparring mit dem Boxlehrer umfasste. Zuhause in meinem Zimmer hatte ich einen Box-Sack aufgespannt, auf welchen ich mit Schlaghandschuhen einschlagen konnte. Zudem besorgte ich mir Hanteln, um meine Arm- und Schulter-muskeln zu stärken. Während ich das Üben für die Klavierstunden allmählich vernachlässigte, blieb ich mit der körperlichen Ertüchtigung konsequent. Lilian Westphal, Schauspielerin und häufiger Gast, bemerkte bedauernd, dass ich das Klavierspiel gegen Boxhandschuhe eingetauscht hätte.

Während meiner Adoleszenz erprobte ich verschiedene Sportarten. Das Florett-Fechten und den Judo-Unterricht gab ich nach kurzer Zeit wieder auf, die Tennisstunden hielt ich während längerer Zeit bei, spielte aber selten, da der Zugang zu Tennisplätzen beschränkt war. Das Reiten begann ich als 17-Jähriger beim ungarischen Reitlehrer Magyar. Ich machte rasch Fortschritte und begann mit Springreiten. Bei einem Ausritt im Walde stolperte mein Pferd im Galopp über eine Wurzel und überschlug sich. Ich wurde nach vorne weggeschleudert und hatte Glück, vom Pferd nicht erfasst zu werden. Dies war das Ende meiner Reitkarriere.

MILITÄRDIENST

Ende Juli 1959, in den Semesterferien, begann ich die 17-wöchige Rekrutenschule (RS). Als Medizinstudent wurde ich in die Sanitätstruppe eingeteilt, deren Ausbildungszentrum in der Kaserne Basel lag. Aus Rücksicht auf das Studium konnte ich die Dienstzeit aufteilen, so dass ich 14 Wochen in Basel verbrachte und in den Frühlingsferien des nächsten Jahres noch 3 Wochen in Emmen. Meine Kameraden waren nur zum Teil Medizinstudenten, so dass eine sozial recht gemischte Gruppe aus verschiedenen Kantonen der Deutschschweiz zusammenkam. Unser Feldweibel war kein Akademiker und liess es uns auch spüren. Abgesehen von viel Leerlauf ertrug ich die Dienstzeit als ein notwendiges Übel problemlos. Wenn ich an Wochenenden meine Eltern besuchte, war ihr Erstaunen und Stolz spürbar, dass ihr Erstgeborener in einer Schweizer Militäruniform aufkreuzte. Schon im nächsten Sommer ging meine Militärkarriere weiter mit der 4-wöchigen Unteroffiziersschule und dem 14-wöchigem Abverdienen dieses Grades in einer RS. Das bedeutete, dass ich nun als Korporal einer Gruppe von Rekruten vorgesetzt war und sie instruieren musste. Meinem Charakter entsprechend versuchte ich weniger zu kommandieren als mit Argumenten zu überzeugen, was von meinen Vorgesetzten nicht nur gern gesehen wurde. Es war auch nicht immer leicht, Übungen zu vertreten, deren Sinn ich nicht einsah. Die nächste Stufe, die achtwöchige Offiziersschule absolvierte ich 1964 nach dem Staatsexamen. Das Abverdienen als Leutnant konnte ich in einer RS für Leichte Truppen in Thun und Lyss absolvieren, wobei ich als Truppenarzt tätig war. Während den Truppenverlegungen, als die Rekruten aufgeteilt in verschiedene Einheiten sich an unterschiedlichen Orten aufhielten, machte ich Arztvisite mit meinem Auto. Abgesehen davon, dass ich die reizvolle Landschaft um Fribourg und Yverdon kennenlernte, erfreute ich mich in meiner ärztlichen Funktion vieler Freiheiten.

Meine militärische Laufbahn hätte ich mit der Zentralschule fortsetzen können, dem Erlangen des Hauptmannsgrads, und natürlich dem unvermeidlichen Abverdienen in einer RS. Meine Auslandsaufenthalte zur Weiterbildung halfen mir dies abzuwenden. So blieb ich Oberleutnant und absolvierte noch zwei dreiwöchige Wiederholungskurse mit den Leichten Truppen. Nach der Rückkehr aus den USA wurde ich aufgrund meiner Fachausbildung in die AC Truppe (Atom/Chemie) eingeteilt und absolvierte bis 1982 noch neun dreiwöchige Wiederholungskurse. Bei diesen ging es auch um Therapiemöglichkeiten beim Einsatz von Nervengiften, die ich zum Teil im Labor an Tierversuchen untersuchte. Bei Experimenten mit dem Nervengift Sarin bemerkte ich einmal, dass die Umgebung dunkel wurde. Ich hatte mich unvorsichtigerweise Dämpfen dieser Substanz ausgesetzt, worauf sich meine Pupillen verengten. Stecknadelkopf-Pupillen sind ein typisches Vergiftungssymptom. Zum Glück klang der Effekt rasch und ohne Nachwirkungen ab. Nach dem letzten WK im Jahre 1982 hatte ich insgesamt mehr als 1,5 Jahre im Militär verbracht. Es war eine Zeit, in der ich Menschen traf, mit denen ich sonst nicht zusammengetroffen wäre. Viele Gegenden der Schweiz habe ich im Militärdienst kennengelernt. Neben dem Missmut, mit dem ich jeweils einrückte, war auch das gute Gefühl vorhanden, eine Pflicht zu erfüllen, der ich als "Neuschweizer" zum Wohle meines Landes nachzukommen hatte.

 

Der Autor als Kleinkind in Ungarn, als schüchternes Schulkind in der Schweiz und als sportbegeisterter Knabe