Mein teuflischer Verführer - Celeste Bradley - E-Book

Mein teuflischer Verführer E-Book

Celeste Bradley

4,4
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Liebe, die mächtiger ist als die Schatten der Vergangenheit

Vor einem exklusiven Herrenklub sitzt ein kleines Mädchen und behauptet, eines der Mitglieder sei ihr Vater. Ist sie womöglich Aidan de Quincys Tochter? Nur eine Frau kann ihm diese Frage beantworten: die zauberhafte Madeleine, die ihn einst aus unerfindlichen Gründen verließ. Als Aidan seine große Liebe wiedersieht, entflammt erneut das Feuer der Leidenschaft, doch noch immer hütet Madeleine gefährliche Geheimnisse …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 410

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
9
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Celeste Bradley

Mein teuflischer Verführer

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Cora Munroe

Buch

Vor einem exklusiven Herrenclub sitzt ein kleines Mädchen und behauptet, eines der Mitglieder sei ihr Vater. Aidan de Quincy fühlt sich verpflichtet, der Kleinen zu helfen, obwohl sie sicher nicht seine Tochter ist. Oder doch? Um die Antwort auf diese elementare Frage zu finden, bleibt ihm nur eines übrig: Er muss die zauberhafte Madeleine wiederfinden, mit der ihn einst eine leidenschaftliche Affäre verband, die ein schmerzvolles Ende nahm. Damals verließ sie ihn aus unerfindlichen Gründen. Als Aidan seine große Liebe schließlich wiedersieht, entflammt erneut das Feuer der Leidenschaft, doch noch immer hütet die schöne Madeleine gefährliche Geheimnisse …

Autorin

Celeste Bradley, 1964 in Virginia geboren, lebt am Fuße der Sierra Nevada in Nordkalifornien. Sie ist mit einem Journalisten verheiratet und hat zwei Töchter. Bevor sie 1999 ihren ersten Roman veröffentlichte, arbeitete sie auch als Schauspielerin, doch ihre wahre Leidenschaft ist das Schreiben. Preisgekrönt, u. a. mit dem RITA Award für besonders herausragende Liebesromane, gehört die New-York-Times-Bestsellerautorin inzwischen zu den heiß geliebten Stars des Genres.

Weitere Informationen unter: www.celestebradley.com

Von Celeste Bradley bei Blanvalet lieferbar:

Der Liar’s Club: Die schöne Spionin (01; 36279) · Die schöne Schwindlerin (02; 36335) · Die schöne Rächerin (03; 36614) · Die schöne Betrügerin (04; 36336) · Die schöne Teufelin (05; 36854)

Die Royal Four– Spione im Dienste Ihrer Majestät: Der verruchte Spion (01; 36660) · Der geheimnisvolle Gentleman (02; 36661) · Verruchte Nächte (03; 36905) · Gefährliches Begehren (04; 36906)

Die Heiress Brides: Brennende Sehnsucht (01; 37415) · Flammende Versuchung (02; 37496) · Lodernde Begierde (03; 37497)

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Devil in my Bed« bei St. Martin’s Press, New York

Copyright © 2009 by Celeste Bradley

Copyright © 2012 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel / punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von briedis/shutterstock und von Franco Accornero via Agentur Schlück GmbH

Redaktion: Ulrike Nikel

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07510-1V002

www.blanvalet.de

Im Gedenken an Jack Bird,

an dessen Schreibtisch ich arbeite.

Prolog

Mussten sich eigentlich alle Frauen am Tag ihrer Hochzeit übergeben? Lady Melody erschauderte bei dem Gedanken. Nun, vielleicht nicht unbedingt. Vielleicht beschränkten sich die anderen darauf, nur schreiend im Kreis herumzurennen, mit den Armen um sich zu schlagen und irre vor sich hinzubrabbeln, bis ihnen jemand ein paar starke Brandys einflößte und sie festhielt?

Der Spiegel, in den sie starrte, gab keine Antwort. Blödes Ding.

Ein Blick zum Fenster verriet ihr, dass draußen das erste fahle Licht der beginnenden Morgendämmerung einsetzte – die Tatsache, dass ihr Hochzeitstag nunmehr mit absoluter Gewissheit gekommen war, ließ sich nicht mehr leugnen. Melody trug noch ihren Morgenrock, und ihr Haar fiel offen auf ihre Schultern wie bei einem Kind. Als sie ihr Gesicht dichter an den Spiegel hielt, sah sie die kaum wahrnehmbaren Sommersprossen auf ihrer Nase. Wie kindlich sie das machte, dachte sie. Nein, wie eine Frau sah sie ganz und gar nicht aus. Und erst recht nicht wie eine Braut.

In wenigen Stunden würde sie in der prächtigen Kapelle getraut werden, wo ihre Vorfahren sich seit Jahrhunderten das Jawort zu geben pflegten. Ein großartiges Kapitel in einem Leben, das so unscheinbar begonnen hatte. Und um ihren dritten Geburtstag herum komplett auf den Kopf gestellt worden war. Wie im Märchen. Eigentlich hatte sie das Gefühl, dass vorher nichts gewesen war, und es schien ihr bisweilen, als sei sie erst als Dreijährige in diese Welt getreten. An das Vorher fehlte ihr jede Erinnerung.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie später den Mittelgang hinunterschreiten würde in ihrem Satinkleid, um sich für immer zu binden. Allerdings bestärkte die Tatsache, dass sie sich wie gewohnt zu Hause in der vertrauten Umgebung auf dem Landsitz der Familie befand, nur ihren Eindruck, noch gar nicht erwachsen zu sein.

Vor Nervosität zitterten ihr die Hände, bis sie sie vor dem Körper faltete, während ihre Zofe vor dem Kamin damit beschäftigt war, große Kannen dampfenden Wassers in die gehämmerte Kupferwanne zu gießen für ein Bad, dem sie zur Beruhigung duftende Kräuter beimischte.

Melody schloss die Augen. Sie war sich sicher, dass es in ganz England nicht genügend heißes Wasser gab, um diesen eisigen Klumpen in ihrem Magen aufzutauen, der sich da gebildet hatte. »Und wenn ich mich irre? Was, wenn er nicht der Richtige ist?«

»Sie sind kein Kind, meine Liebe.« Die forsche Stimme hinter ihr gehörte nicht ihrer Zofe, sondern dem Mann, der ihr Hochzeitskleid entworfen hatte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie nur das Beste vom Besten bekam, und Lementeur war der berühmteste und gefragteste Damenschneider in ganz England. Und außerdem ein langjähriger Freund der Familie.

Melody schlug die Augen auf, um seinen Blick im Spiegel zu erwidern. Die Welt mochte ihn als Monsieur Lementeur kennen, den Herrn über die Mode in der Welt der englischen Aristokratie, doch sie nannte ihn seit frühester Kindheit nicht anders als Button: Knopf.

Denn genauso sah er aus. Klein und elegant mit Fältchen um die Augen, die eine Folge seiner stets belustigten und zum Lachen bereiten Miene waren. Dass er nicht mehr ganz jung war, verriet sein silberner Schopf.

Trotz ihrer Beklemmung, die sie nicht abschütteln konnte, musste sie beim Anblick des kleinen Mannes, um den herum ihr langer Schleier wallte, lächeln. »Tut mir leid. Aber Ihre Ladyschaft«, sie sprach den Titel mit spöttischer Betonung aus, »hat darauf bestanden, dass er halb so lang wie der Mittelgang der Kapelle sein soll.«

»Hm. Aber Sie, Lady Melody, hätten sich durchsetzen müssen. Schließlich ist es Ihre Hochzeit. Das hier …«, er versuchte vergeblich, die meterlange Spitze etwas zu entwirren und vom Boden zu heben, »dies hier grenzt bereits an Geschmacklosigkeit.« Dann lächelte er und strich sanft über den Schleier. »Wie delikat, dieser Übergang von Luxus zu Vulgarität. Sie werden eine neue Modewelle auslösen, Sie werden sehen. Wer weiß, vielleicht sollte ich in eine Spitzenmanufaktur investieren.«

»In noch eine? Ich dachte, Sie besitzen bereits eine.«

»Zwei, um korrekt zu sein. Aber keine davon stellt ausschließlich Brautschleier her …« Er verlor sich in Gedanken an die Geschäfte, die sich da auftaten. Dann endlich bemerkte er ihr Unbehagen. »Mellie, was ist los?«

Melody rang aufgeregt die Hände. »Button, ich bin mir nicht sicher …«

Er legte ihren Schleier auf dem eigens dafür angefertigten Ständer ab und trat hinter sie. Seine Augen ließen die ihren, die fast das gleiche Blau aufwiesen, nicht los. »Liebes, Sie sind sich sicher, bestimmt. So verrückt, wie Sie nach dem Kerl sind, der überdies bis über beide Ohren in Sie verliebt ist.«

Sie schüttelte den Kopf, wollte sich nicht so leicht beruhigen lassen. »Wie kann ich mir dessen sicher sein? Die ganze Brautwerbung war so kompliziert. Sollten diese Dinge nicht einfach sein, wenn man wirklich füreinander bestimmt ist?«

Button drehte sie zu sich herum, schaute ihr direkt in die Augen. Obwohl er wie immer amüsiert schien, war er so lieb. Sie spürte, wie sie sich entspannte.

»Mellie, mein Schatz, machen Sie es doch nicht so kompliziert, auch wenn das eindeutig in der Familie liegt. Lauter verwickelte Liebschaften, und zwar seit Generationen. Bei Ihren verehrten Eltern war das nicht anders, aber vielleicht sollte ich lieber den Mund halten.«

Sie schmiegte sich in seine Arme und legte den Kopf an seine Schulter, wie sie es früher so oft getan hatte. Einen kurzen Moment lang sehnte sie sich danach, wieder ein kleines Mädchen zu sein, als das Leben so viel leichter schien. »Erzählen Sie es mir, Button.« Sie schloss die Augen. »Erzählen Sie mir eine Geschichte.« Irgendetwas, um ihre wilden, widersprüchlichen Gedanken zu beruhigen.

Sie hörte, wie er gluckste und dann tief einatmete. »Also gut, ich glaube, wir haben noch ein wenig Zeit.« Er führte sie zu der kleinen Sitzbank in der Nähe des Kamins und nahm sie wie ein Kind in den Arm, obwohl sie ein wenig größer war als er. Sie senkte die Lider, um die Hochzeitsvorbereitungen um sich herum nicht wahrnehmen zu müssen. Den größten Trubel bekam sie ohnehin nicht mit, da ihre Gemächer weit entfernt von den repräsentativen Räumen lagen, wo ihre Heirat mit allem Pomp und Prunk gefeiert werden sollte. Und wenn sie dann noch die Augen schloss und einfach dem Knistern des Feuers im Kamin lauschte und Buttons beruhigender Stimme, dann konnte sie für einen kurzen Moment so tun, als läge das alles noch in weiter Zukunft und sie wäre nur ein kleines Mädchen, das seiner Lieblingsgeschichte lauschte.

»Es war einmal ein Mann«, fing Button zu erzählen an, »der hatte alles, was er wollte. Eigentlich, denn er war reich und gut aussehend und von hoher Geburt. Trotzdem fehlte ihm etwas in seinem Leben.«

Melody lächelte sanft. »Ich.«

Button lachte. »Keine Unterbrechungen mehr. Und nein, nicht du – noch nicht. Nun, eines Tages fuhr dieser Mann in seiner eleganten Kutsche die Bond Street entlang und hing seinen Gedanken nach …«

1812, dreiundzwanzig Jahre früher

Als Erstes stach Aidan ihre schlanke Gestalt ins Auge, denn er war ein Mann, dem nichts Reizendes in Sichtweite entging. Er war sich nicht sicher, ob er sich insbesondere von der Haltung ihrer Schultern oder vom zerbrechlich wirkenden Schwung ihres Nackens angezogen fühlte, doch Aidan de Quincy, fünfter Earl of Blankenship, war vom Anblick der jungen Witwe, die ihm da auf dem Gehweg entgegenkam, sichtlich gefesselt und schwer beeindruckt.

Sie wirkte irgendwie entschlossen, allein durch ihren raschen Schritt und das energisch gereckte Kinn unter dem schwarzen Spitzenschleier. So viel kannst du schon nach einem raschen Blick auf ihr Profil und einem viel ausgiebigeren Starren auf ihre Kehrseite sagen, wunderte Aidan sich und lehnte sich auf dem gepolsterten Samtsitz seiner Kutsche zurück. Er wusste nicht einmal, ob der Rest von ihr hübsch genug war, um ihrer grazilen Gestalt gerecht zu werden. Wahrscheinlich nicht.

Eine verstohlene Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds erregte seine Aufmerksamkeit, und er beugte sich erneut vor, um einen Blick durch das viereckige Fenster auf die belebte Straße zu werfen. Wie es aussah, war er nicht der Einzige, der sich vom Reiz der Dame mit dem Witwenschleier hatte verführen lassen. Ein Mann in dunkler, einfacher Kleidung folgte ihr jetzt. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, drehte er sich ein wenig zu oft um.

Als er seine Aufmerksamkeit wieder der Frau da draußen zuwandte, konnte Aidan einen kurzen Blick auf eine elfenbeinfarbene Wange unter dem flatternden Schleier erhaschen, als die Frau einen besorgten Blick über die Schulter zurückwarf. Ihre erneute Eile ließ vermuten, dass sie wegen des Mannes, der sie verfolgte, beunruhigt war. Aidan sah, dass sie ihm zu entwischen suchte, indem sie in eine enge Gasse zwischen den Läden einbog. Doch der Mann folgte ihr.

Verdammt.

Er hatte nicht genügend Zeit zu warten, bis der Kutscher seinem Befehl zum Anhalten nachkam. Er riss einfach seine Tür auf, schwang sich aufs Trittbrett und sprang auf die belebte Straße. Zwar schaffte er es gerade, auf dem glitschigen Pflaster nicht hinzufallen, doch es dauerte einige endlose Sekunden, bevor er sich durch die entgegenkommenden Karren und Kutschen auf die andere Straßenseite retten konnte.

Aidan rannte zum Anfang der Gasse. Sollte er nach einer Wache rufen? Nein, das war sinnlos, weil er weit und breit keinen Constable sah. Es war besser, sich auf eigene Faust ein Bild von der Lage zu machen. Und die war, wie er feststellte, geradezu typisch und ein abschreckendes Beispiel dazu, was unbegleitete Damen im gesetzlosen London erwartete.

Da stand der Dieb mit einem Messer in seiner Rechten – verdammte Scheiße, was für ein Messer –, während er die Linke ausstreckte, um sich zu nehmen, was ihm nicht gehörte. Da war die Lady, die sich verängstigt und zitternd ins Halbdunkel drückte, die Hände flehentlich erhoben. Aber sie wich keineswegs zurück. Im Gegenteil: Diese Dame ging vorwärts – noch dazu mit drohend erhobenem Arm. Und in der Hand hielt sie einen Ziegelstein!

Aidan war nicht als Einziger verblüfft. Noch verwirrter schaute der Dieb, der so etwas noch nie erlebt hatte, und ließ die Hand mit dem Messer ein wenig sinken.

»He, er da«, rief Aidan, als er sich von seiner Verwunderung ein wenig erholt hatte, und ging auf die Kontrahenten zu.

Genau in dem Moment, als der Gauner sich zu dem Rufer umdrehte, segelte der Ziegelstein durch die Luft.

Aidan war nicht in der Lage, sein waghalsiges Vorpreschen zu stoppen. Seine Stiefelsohlen schlitterten über das rutschige Pflaster und den Dreck von Jahren, über dessen Ursprung er lieber nicht nachdenken wollte, den Blick unverwandt auf das scheußliche Glänzen der gebogenen Klinge geheftet, die der Mann jetzt auf sein Herz richtete. Zu allem Überfluss verfehlte der Ziegelstein auch noch sein Ziel, traf stattdessen Aidan an der Schulter und riss ihn herum.

Bei dieser unvermuteten Drehung traf seine Faust, die sich wie von selbst gebildet hatte, das Kinn des überraschten Diebes. Aidan prallte von der Mauer des Nachbargebäudes ab und hielt sich gerade so auf den Beinen.

Ein tanzender Derwisch bin ich. Wie lächerlich ich aussehen muss.

Sobald er wieder klar sehen konnte, entdeckte er zu seiner großen Überraschung den Gauner mit dem Gesicht im Dreck liegen – und die schlanke Witwe, die triumphierend über dem dahingestreckten Körper stand, den Schleier zurückgeschlagen und flammende Wut im Blick.

O Gott. Sie war hübsch, sehr sogar. Mit zarten und doch dramatischen Gesichtszügen sah sie aus wie eine aus Alabaster gemeißelte Königin. Aidan bemerkte riesige rauchgraue Augen und volle Lippen, die sich rot von ihrer blassen Haut abhoben. Dunkle Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und fielen ihr in die Stirn oder kringelten sich auf perfekt geschwungene Wangenknochen herunter. Ihr Gesicht passte nicht nur zu ihrer herrlichen Figur, es übertraf sie sogar.

In diesem kurzen atemlosen Augenblick wurde Aidan von einem mächtigen Verlangen erfasst, das er nie zuvor verspürt hatte. In seinem Kopf war nur noch Platz für einen einzigen Gedanken. Ich muss diese Frau besitzen. Ich muss sie für mich gewinnen.

Für immer.

Was natürlich lächerlich war, unsagbar verrückt, absolut schwachsinnig und was sonst noch, redete er sich ein, bis er sich beinahe davon überzeugt hatte, dass dieses wilde, schmerzende Verlangen, sie zu besitzen, allein der überstandenen Gefahr geschuldet war.

Doch dann hob sie ihre feurig glänzenden Augen und schaute ihn direkt an. »Das war absolut brillant«, sagte sie, und ihre Stimme drückte tiefste Zufriedenheit aus.

Alles sinnlos: Es war um ihn geschehen.

Wie ein Fisch an der Angel bewegte er sich auf sie zu. Trotz seines glänzenden Aussehens war er nicht der Typ von Mann, bei dem die Frauen reihenweise vor Verzückung in Ohnmacht fielen. Viele verschreckte er, weil er meist distanziert oder unnahbar wirkte, andere langweilte er eher, weil es ihm schwerfiel, den liebenswerten, oberflächlichen Charmeur zu spielen, der einen Gewinn für jede Gesellschaft bedeutete. Dennoch konnte Aidan nicht umhin, das Aufwallen eines geradezu absurden romantischen Beschützerinstinkts zu verspüren, als er sich über die Hand der Dame beugte.

Ihr anmutiges Lächeln, ihr tiefes, warmes Lachen, das Gefühl, dass ihre leichte Hand sich in seiner viel größeren verlor – es war eine berauschende Kombination. Es gefiel ihm, wie sie ihn anschaute, denn es machte ihn glauben, dass er drei Meter groß sei und Drachenblut von seinem Schwert tropfe. Bezaubernd. Aidan war schon oft um seinen Titel beneidet und wegen seines Reichtums bewundert worden, aber noch nie hatte jemand ihn mit einer solchen Mischung aus Respekt und Amüsement angeschaut.

»Der heilige Georg, nehme ich an?«

Sie machte sich über ihn lustig, doch zum ersten Mal in seinem Leben störte und kränkte es ihn nicht – nicht wenn es ihm eine weitere Kostprobe dieses kehligen Lachens bescherte.

Er verbeugte sich tief, als sei ihm wirklich ein Schwert im Wege. »Jungfrauenopfer, nehme ich an?« Gott, hatte er wirklich etwas so Gewagtes zu einer ehrbaren Frau gesagt, der er sich nicht einmal angemessen vorgestellt hatte?

Glücklicherweise belohnte sie seinen Geistesblitz mit einem weiteren Lachen, das ihm die Brust weit werden und die Lenden schwellen ließ. Vielleicht stimmte es ja, dass Witwen viel weniger schnell beleidigt waren als Ehefrauen und Backfische.

Sie bückte sich, um sich den Staub vom Rock zu klopfen, und seine Kehle wurde angesichts der Anmut ihrer schlanken Gestalt und der fragilen Verletzlichkeit ihres Nackens ganz trocken. Sie kam ihm insgesamt so zerbrechlich vor, so hilfs- und schutzbedürftig.

Als sie sich allerdings aufrichtete, funkelten ihre Augen, und sie reckte das Kinn noch stolzer in die Höhe. »Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen, Sir.« Mit einem knappen Zupfen an den Ärmeln ihres Spenzers und einigen raschen Bewegungen ihrer Finger, mit denen sie ihr zerzaustes Haar ordentlich zurück unter die Haube steckte, beseitigte sie sämtliche Spuren des Zwischenfalls, als sei nie etwas geschehen.

Und als gebe es ihn nicht. Denn schon bereitete sie sich darauf vor, ihn stehen zu lassen. Das wusste er. Eigentlich sollte er es einfach hinnehmen, zumal er keine Ahnung hatte, wer oder was sie war. Sie stammte ziemlich sicher nicht aus seinen Kreisen, denn da kannte man einander. Vermutlich handelte es sich um eine Bürgerliche, eine Kriegerwitwe möglicherweise, die nach den vielen Feldzügen gegen Napoleon in der Stadt so häufig anzutreffen waren wie die Raben im Tower of London.

Sie deutete einen raschen Knicks an, wollte sich schon zum Gehen wenden, als ohne sein Zutun ein Einspruch über seine Lippen kam. »Sie sollten niemals ohne Begleitung ausgehen.« Gott, selbst in seinen eigenen Ohren klang das wie ein letzter verzweifelter Versuch.

Sie blieb unvermittelt stehen, als würden seine lächerlichen Worte ihr etwas bedeuten. Dann drehte sie sich um und bedachte ihn über die Schulter mit einem merkwürdig schüchternen Lächeln. »Vielleicht sollten dann Sie mich immer begleiten.« Ihre Worte waren kokett, doch ihre Stimme – ihre Stimme klang genauso atemlos und überrascht wie die seine.

Er hielt den Kopf geneigt, während ein spontanes Lächeln sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete. »Vielleicht muss ich das wirklich.«

Danach verschwamm seine Erinnerung an diesen Tag. Eine Fahrt in seiner Kutsche durch den Hyde Park, ein Abendessen im Separée eines Restaurants, ein Spaziergang über die Promenade im Dunkeln, gemeinsame Stunden bis tief in die Nacht. Sie unterhielten sich über ihre Kindheit, über seine Freunde, über ihren Eindruck von London, über Kunst, Literatur. Sie lachten gemeinsam über die Possen des Prinzregenten, den er persönlich kannte. Aidan erinnerte sich nicht mehr genau daran, was sie sprachen. Ihm blieb nur im Bewusstsein, dass sie redeten, als hätten sie Jahre aufzuholen.

Der Augenblick, an den er sich am besten erinnerte, war der, als er sich weit nach vier Uhr am Morgen in der dunklen Kutsche zu ihr umdrehte. »Ich sollte Sie nach Hause bringen«, murmelte er bedauernd.

Ihre wie aus der Pistole geschossene freimütige Antwort überraschte ihn. »In der Tat. Wollen Sie mir nicht zum Frühstück Gesellschaft leisten?«

Er riss die Augen auf, und seine Kinnlade klappte ein wenig hinunter, doch sie wartete nur mit unergründlichem Blick und provokant erhobenem Kinn, während er sich von seiner Überraschung erholte.

Glücklicherweise dauerte der Schock nicht lange. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, und seine Lippen verzogen sich zu einem jungenhaften Grinsen.

Sie lehnte sich ins Polster zurück, den Schal fest um ihren Oberkörper geschlungen. »Und sagen Sie dem Kutscher, dass er ruhig Gebrauch von der Peitsche machen soll«, meinte sie anzüglich und fing an zu kichern, als er lachte und sie an sich zog.

Der Kuss … Ah, diese Erinnerung war klar wie Kristall und genauso strahlend. Ihr Mund unter seinem fühlte sich weich an, blieb aber keineswegs untätig. Vielmehr erwiderte sie seinen Kuss so rückhaltlos, als sei sie fest entschlossen, alles auszukosten, was das Leben ihr bieten konnte. Als er sich schließlich von ihr löste, keuchend und ganz benommen, blieb sie mit gesenktem Blick einen langen, hitzigen Moment in seinen Armen, sodass er fast dachte, sie habe all ihren Wagemut verloren.

Er fuhr mit den Fingerknöcheln über ihre Wange, und die seidige Hitze ihrer Haut ließ ihm den Atem stocken. »Bist du echt oder bloß ein Traum?«

Da schüttelte sie leicht den Kopf, als würde ein erschrecktes Beben durch ihren Körper rieseln. »Ich bin nur … Madeleine.«

Er hob ihr Kinn mit einem Finger an und schaute in ihr Gesicht hinunter. Es war hell genug, um die Verwunderung in ihrem Blick zu erkennen. »Falsch«, sagte er. »Du bist meine Madeleine.«

Meine. Lächerlich, ein solches Gelübde abzulegen, obwohl er sie an diesem Morgen zum ersten Mal gesehen hatte. Und doch entsprach es der Wahrheit. Sie war von dieser Sekunde an auf immer und ewig die Seine.

Wie so oft bei Männern, die alles haben und dann mit dem scheinbar Unerreichbaren konfrontiert werden, verliebte sich Aidan de Quincy bis über beide Ohren in Madeleine. Er konnte nicht genug von ihr bekommen, keinen einzigen Tag ertragen, ohne sie in den Armen gehalten zu haben. Dieser Hunger hätte ihn entsetzen sollen, doch er entfachte in ihm immer nur größeres Verlangen.

Trotz ihres freigiebigen Lächelns und ihrer leidenschaftlichen Seufzer war da nämlich etwas in Madeleines Wesen, an das er nicht herankam. Er hielt sie die ganze Nacht in den Armen und spürte dennoch, dass er sie nicht wirklich besaß. Seine Versuche, ihr näherzukommen, ließen sie nur weiter auf Distanz gehen.

Diese Kälte löste in ihm Panik aus, sodass er ihr eines Tages einen Antrag machte. Er riss sich das Herz aus der Brust und servierte es ihr mit Toast zum Tee, bot ihr alles, was er besaß und was er je besitzen würde, wenn sie nur für immer ihm gehörte. »Ich muss dich ganz für mich haben«, flehte er.

Die Worte waren ihm kaum über die Lippen gekommen, da fühlte er, wie ihre Hand in seiner sich zurückzog. Protestierend versuchte er sie festzuhalten, doch sie stöhnte nur auf, riss sich von ihm los.

Erstarrt angesichts der Zurückweisung beobachtete er sie, wie sie ihm den Rücken kehrte, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen. Dann drückte sie das Kreuz durch, schob sich eine dunkle Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war, mit dem Handrücken zurück und drehte sich wieder lächelnd zu ihm um.

Es war ein falsches, ein gezwungenes Lächeln, das merkte er, aber seine wahre Bedeutung erkennen, das konnte er nicht. Ihre Maske war perfekt und völlig undurchsichtig. Wo war seine reizende, warmherzige Madeleine geblieben? Entsetzt und verwirrt versuchte er sie zu bewegen, seinen Antrag noch einmal zu überdenken.

Ihr gebrochenes, gekünsteltes Lachen klang in seinen Ohren wie zerspringendes Glas. »Es besteht keine Notwendigkeit, so ernst zu werden, Liebling«, erklärte sie ihm und warf dabei den Kopf in den Nacken. »Wir haben schließlich nur ein wenig harmlosen Spaß miteinander. Es gibt keinen Grund, das mit lächerlichem Gerede über eine Heirat zu ruinieren.«

Lächerlich. Dieses Wort, ihr Lachen, die hektischen Flecken auf ihren weißen Wangen – der Augenblick brannte sich für immer heiß und unauslöschlich in seinen Verstand und in sein Herz. Sie hielt seine Leidenschaft für lächerlich. Er sollte gehen. Das, was von seiner Würde noch übrig war, zusammenklauben und sie verlassen.

Stattdessen fing er mit erstickter, hilfloser Stimme zu betteln an. Als sie das völlig kaltließ, zog er den Rubinring seiner Großmutter aus der Westentasche und sank vor ihr aufs Knie. »Liebste, Darling, bitte. Werde für immer meine Frau!« Bereits als seine Bitte über seine Lippen kam, wusste er, dass es nichts bringen würde. Die abwehrende Skepsis in ihren Augen sprach für sich.

Er wusste später nicht mehr, was dann geschah. Nur an den Schmerz in seiner Brust, der seine Bewegungen verlangsamte, erinnerte er sich. Und daran, dass er bereits in der Eingangshalle stand, den Hut in der Hand, als er noch einmal das Wort an sie richtete.

Er drehte sich um, um sie kalt anzuschauen, wie sie da in der Tür zu ihrem winzigen Salon stand, in dem sie beide so viele glückliche Stunden verbracht hatten. »Wenn das so ist, Madam, dann habe ich meinerseits jetzt genug von dem harmlosen Spaß. Leb wohl.«

Erstes Kapitel

Etwas mehr als drei Jahre und neun Monate später

Gentlemen sollten Damen nicht anstarren, doch Aidan konnte nicht anders. Wie gebannt ruhten seine Augen auf dem weiblichen Wesen, das auf der obersten Treppenstufe seines Londoner Clubs saß und unruhig auf dem kalten Stein hin und her rutschte.

Sie war sehr hübsch und sehr sauber, wenn man von dem Rußfleck auf ihrer Nase absah; in dieser Hinsicht gab es also nichts auszusetzen. Nur, fragte er sich, warum sie überhaupt mutterseelenallein dort auf der Treppe saß. Sie konnte doch allerhöchstens drei Jahre alt sein.

Nicht unbedingt also das, was man erwartete – ein winziges Ding vor der imposanten georgianischen Fassade des altehrwüdigen Brown’s Gentlemen Club, in dem nur distinguierte Herren aus der guten Gesellschaft Zutritt hatten. Keine Frauen und erst recht keine kleinen Mädchen. Gott behüte. Selbst die Fenster – mit schweren Vorhängen gegen unerwünschte Blicke von außen geschützt – schienen voll sauertöpfischer Missbilligung auf das Kind herabzuschauen, und der herrschaftliche Säulenvorbau sah beinahe aus wie ein Schlund, der sie zu verschlingen drohte.

Allerdings gab es in der St. James Street Gebäude, die weitaus einschüchternder wirkten als dieses. Da waren beispielsweise Brook’s und Boodle’s, zwei weitere Clubs, die sich eleganter präsentierten und dem altehrwürdigen Brown’s Club mittlerweile den Rang abgelaufen hatten. Sie wurden von jenen Herren bevorzugt, die sich und ihren Reichtum gerne zur Schau stellten, und andersherum achtete man dort sehr auf Stellung und entsprechendes Vermögen. So waren vor allem die älteren Semester Brown’s treu geblieben, weil es der Familientradition entsprach und man sich überdies eher in dem gediegenen, ein bisschen langweilig-verstaubten Ambiente durchaus wohlfühlte. Weshalb man sich auch hartnäckig weigerte, den alten Standort aufzugeben und ans noblere Ende der Straße umzusiedeln in die Nachbarschaft der anderen Clubs.

Entsprechend zeigte die elegant geschwungene, halbkreisförmige Marmortreppe mittlerweile Spuren des Alters, war ein wenig abgetreten durch Generationen distinguierter Gentlemenfüße, doch Aidan hätte ohne Zögern seinen riesigen Besitz darauf verwettet, dass der Treppenaufgang zu diesem Club, der einer der ältesten in London war, noch nie einem kleinen weiblichen Wesen als Sitzbank gedient hatte.

Grundsätzlich zog Aidan es vor, dem weiblichen Geschlecht, gleich welcher Couleur, aus dem Weg zu gehen. Er hielt sich derzeit in der Hauptstadt auf, weil in einer Woche die Wiedereröffnung des Parlaments nach der Sitzungspause stattfand und er seinen ererbten Platz im House of Lords einnehmen musste.

Die einzige Frau, mit der er notgedrungen zu tun hatte, war seine Mutter, die er in königinnenhafter Einsamkeit auf Blankenship, dem Stammsitz der Familie, zurückgelassen hatte. Er war wie immer froh, ihr entkommen zu sein. Deshalb reiste er häufig zwischen seinen verschiedenen Landsitzen und Gütern hin und her und kam seiner Pflicht im Oberhaus überaus gewissenhaft nach.

Bälle und Empfänge jeglicher Art versuchte er jedoch zu meiden, da seine Teilnahme von Lady Blankenship als Zustimmung verstanden würde, sich nach einer Braut für ihn umzusehen. Doch das war so ziemlich das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, auch wenn er das Leben mit seiner Mutter nicht gerade angenehm, eigentlich sogar ziemlich schrecklich fand. Ihr Verhältnis war kühl und unpersönlich, und zwar seit jeher. Selbst als Kind durfte er höchstens eine halbe Stunde pro Tag mit der Frau verbringen, der er sein Leben verdankte.

Was ihn insbesondere erbitterte, war die Tatsache, dass das großzügige Londoner Haus derzeit nicht zu seiner Verfügung stand. Das hatte die verwitwete Countess nämlich mir nichts, dir nichts Cousin Breedlove überlassen, dessen älteste Tochter in der kommenden Saison in die Gesellschaft eingeführt werden sollte. Aidan fand den Namen der Familie äußerst zutreffend – breed, sie schienen wirklich immer wie ein Hühnerpaar zu brüten, wenn man sich die zahlreiche Nachkommenschaft anschaute.

Bei dem Gedanken, das Stadtpalais, das immerhin groß genug wäre, mit der lärmenden Verwandtschaft zu teilen, schauderte ihn. Deshalb hatte er sich entschlossen, während der Sitzungszeit des Parlaments mit seinen Räumen im Club vorliebzunehmen, dieser Bastion männlicher Einsamkeit, wo ihn keine Frau belästigte.

Und nun stand er vor diesem Bollwerk und starrte ein winziges Etwas an, das eigentlich nicht hier sein sollte. Aidan war nicht gerade jemand, der sich aus einem Beschützerinstinkt heraus um alles und jedes kümmerte. Nein, diese Neigung hatte er gänzlich abgelegt seit damals, um nicht noch einmal in eine Situation zu kommen, die dann seiner Kontrolle entglitt. Und überdies fand er in diesem Fall, dass Kinder das Metier von Frauen seien. Aber wo war die dazugehörige Mutter oder die Gouvernante?

Auf halber Treppe blieb er stehen und schaute sich suchend um, während das kleine Mädchen ihn ruhig und ohne Scheu aus großen, leuchtend blauen Augen musterte. Jetzt erkannte er, dass sie auf einer Art Tornister saß, die pummeligen Händchen um die Knie geschlungen und die Füße ordentlich nebeneinandergestellt. Ihre dunkelbraunen Locken wurden von einem blauen Band zusammengehalten, dessen Enden ein wenig ausgefranst waren. Ihr Gesichtchen war rund und rosig mit Zügen, die noch nicht ausgeprägt schienen. Sie sah aus wie viele Kinder ihres Alters, dachte er, obwohl er sich normalerweise keines genauer ansah. Kannte er überhaupt auch nur ein Kind?

Er glaubte nicht.

Eigentlich hätte er mühelos an ihr vorbeigehen können, doch irgendwie brachte er es nicht fertig, sie zu ignorieren. Erneut blickte er sich um, aber Passanten waren keine zu sehen – niemand, der gerade nur mal in einem der Läden etwas kaufte, um dann das Kind zu holen. Und bald würde es zu dämmern beginnen. Aidan seufzte. Er schien nicht umhinzukommen, dieser jungen Dame seine Hilfe anzubieten, auch wenn es ihm gegen den Strich ging und seine ritterlichen Tage längst vorbei waren. Wie ärgerlich.

Er räusperte sich. Wie sprach man eine solche Person an? »Äh …, Kind?« Das klang gar nicht mal so schlecht. »Kind, wo ist deine Mutter?«

Ihre kornblumenblauen Augen blickten ihn weiter gleichmütig an. »Ich weiß nicht.« Sie sprach deutlich, und ihre hohe Stimme schwebte leicht wie eine Feder über den Geräuschen der Straße, dem Klappern der Hufe, dem Knirschen der Räder und den Rufen der Kutscher.

»Du hast deine Mutter verloren?«

Sie dachte eine Weile mit schräg zur Seite gelegtem Kopf nach. »Ich habe keine Mutter. Ich habe Tante Pruitt.«

»Du bist also von Tante Pruitt im Gedränge getrennt worden?«

Die Kleine schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Bin ich nicht. Ich habe den ganzen Weg ihre Hand gehalten.«

Aidan unterdrückte die aufkeimende Ungeduld. »Den ganzen Weg wohin?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen, und es sah so aus, als hielte sie ihn nicht für besonders gescheit. »Hierher.«

»Hierher? Zu dieser Adresse? Zu Brown’s Club?«

Sie sah ein wenig unsicher aus, als er den Namen nannte. »Mein Papa ist da drin.« Sie deutete über die Schulter zu dem säulenüberdachten Eingang. »Er nimmt mich mit nach Hause und schenkt mir ein Kätzchen.« Sie stützte das Kinn auf ihre gefalteten Hände. »Ein weißes Kätzchen«, verriet sie ihm und tat dabei sehr wichtig.

»Aha.« Hervorragend. Keine Rettungsaktion nötig. Wenn ihr Vater Bediensteter des Clubs war, würde er sicher bald herauskommen und sie mitnehmen. Also war alles in Ordnung, und er hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Sie würde noch ein Weilchen hier sitzen und dann mit ihrem Vater entschwinden. Aidan fühlte sich zutiefst erleichtert.

»Wenn du mich dann bitte entschuldigst, Miss.« Aus Gewohnheit machte er eine Verbeugung und zog den Hut, bis er merkte, was er tat, und sich schnell aufrichtete. Vor einem Kind! Er hatte wirklich keine Ahnung, wie man mit diesen kleinen Wesen umging.

Sie reagierte mit einem zauberhaft kehligen Lachen, das ungebetene Erinnerungen in ihm wachrief. »Du bist ein lustiger Mann«, sagte die Kleine.

Er stieß ein kurzes, unfrohes Lachen aus. »Du bist die erste und einzige Person, die das sagt.« Na ja, da gab es einmal jemanden, der über ihn lachen konnte, aber das schien eine Ewigkeit her. Seitdem hatte er sich verändert, sich ganz in sich zurückgezogen – und entsprechend wurde er behandelt. Mit kühler Höflichkeit und distanziertem Respekt. Aber er wollte es nicht anders. Trotzdem meinte er noch immer dieses warme und zugleich spöttische Lachen zu hören, das er so liebte. Sie fand ihn amüsant. Meist, wenn er es gar nicht sein wollte.

Alte Gedanken, alter Schmerz. Das hatte nichts mit der Gegenwart zu tun. Überhaupt nichts.

»Also wirklich, Blankenship, hättest du die Güte, die Treppe nicht mit deinem hochwohlgeborenen Körper zu blockieren?« Der Spötter kam höchst ungelegen. Zur Hölle mit Colin.

Groß, schlank und sehr hellhaarig war der ebenfalls ausgesprochen attraktive Sir Colin Lambert das helle Gegenstück zu dem dunklen Aidan und brachte ständig ärgerliche Komplikationen in dessen ruhiges Dasein. Zumal er häufig mit seinem Freund Jack herumhing. Sie kannten sich alle seit ihrer Schulzeit, und seit damals ließ Colin keine Gelegenheit aus, Aidan zu piesacken.

Der junge Earl of Blankenship ließ sich seinen Unmut nicht anmerken. »Ich versuche gerade, eine delikate Situation zu lösen.«

»Du? Da kann man ja gleich einen Hufschmied bitten, einen Splitter aus der Hand zu ziehen.« Colin ließ sich auf ein Knie nieder, um mit der Kleinen auf Augenhöhe zu kommen.

Natürlich, so macht man das mit Kindern, dachte Aidan. Er war erleichtert, dass Colin zu wissen schien, wie man mit dem kleinen Ding umging, zugleich aber auch ein wenig verärgert, dass Lambert es mal wieder besser wusste.

»Frag sie, wer ihr Vater ist«, verlangte er.

Das kleine Mädchen schaute ihn mit schief gelegtem Kopf und einem Stirnrunzeln an, das eindeutig bedeutete: Ich kann dich hören, du Idiot.

Aidan kam alles mit einem Mal so vertraut vor.

Colin lächelte das Kind verschwörerisch an. »Er will wissen, wer dein Vater ist, Süße, aber warum sagst du mir nicht erst, wie du heißt?«

Sie strahlte den fremden Mann an. »Melody.«

Was für eine kleine Kokotte! Warum er es tat, wusste Aidan nicht, doch aus einem plötzlichen Impuls heraus kniete Aidan sich ebenfalls hin. »Und dein Nachname?«

Melody runzelte die Stirn. »Mein Name ist Melody.«

»Ja, und was kommt nach Melody?«, hakte er ungeduldig nach.

Colin stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Schrei sie nicht an. Sie weiß es offensichtlich nicht.«

»Wie kann sie nicht wissen, wie sie heißt?«

Colin drehte den Kopf und starrte Aidan an. »Weil sie kaum drei Jahre alt sein dürfte. Ich bezweifle, dass sie die Finger einer Hand abzählen kann.«

Aidan starrte das Mädchen an, als würde es ihm absichtlich etwas vorenthalten. Woher wusste der Freund überhaupt solche Dinge?

Melodys Blick wurde argwöhnisch. Colin zog sanft an einer ihrer Locken. »Keine Angst, Mäuschen. Er ist nur ein riesiger …«

»Ich bitte um Entschuldigung, kleine Lady«, unterbrach ihn Aidan und verneigte sich so formvollendet, wie das auf einem Knie nur ging. Er konnte nicht zulassen, dass Lambert sich für ihn entschuldigte! »Meine Neugier hat die Oberhand über meine Manieren gewonnen, fürchte ich.«

Sichtlich entzückt und völlig beruhigt wandte Melody ihre Aufmerksamkeit wieder Aidan zu. »Du bist lustig.«

Colin verdrehte die Augen und hob zum Eingeständnis seiner Niederlage die Hände, stand auf und klopfte sich das Knie ab.

»Dann lass ich euch beide mal besser alleine …«

»Da ist ein Zettel.« Beide bückten sich gleichzeitig, um die Entdeckung in Augenschein zu nehmen, die Auskunft über die Herkunft der Kleinen versprach. Genau. Halb vom Kragen des Mantels verdeckt sahen sie einen zusammengefalteten Zettel, der an den groben Wollstoff gesteckt war.

Aidan zog sanft die Nadel heraus und nahm das Papier, während Melody ruhig beobachtete, wie die Männer das Blatt auffalteten und sich darüberbeugten. »Die Mutter hat kein Geld mehr geschickt. Kann sie deshalb nich länger behalten. Soll der Vater sie jetzt nehmen. Weiß nich, wie er heißt. Ist Mitglied von Brown’s.«

Mit einem Schlag war alles ungeheuer kompliziert geworden.

»O Mist«, hauchte Colin. »Sie ist nicht verloren gegangen – sie ist ein Findelkind.«

»In der Tat«, murmelte Aidan. Ernst schauten sie beide hinab auf das Kind, das nicht länger bloß ein kleines Mädchen war, sondern eine große und Erfurcht gebietende Verantwortung.

Eine, mit der Aidan nichts zu tun haben wollte. »Wir sollten sie den städtischen Behörden übergeben.«

»Die werden sie in eine dieser Einrichtungen stecken.«

»In ein Waisenhaus. Genau. Das macht man normalerweise, bis die Eltern ausfindig gemacht werden, oder?«

»Sieh dir die Kleine doch nur an – sie wird dort bei lebendigem Leibe vermodern.« Colin drehte sich um und schaute ihn erbost an. »Denk nach, Blankenship. Ihr Vater ist Mitglied im Club, stimmt’s?«

»Laut einer Nachricht, die nicht gerade von großer Bildung zeugt.«

Colin legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Sie ist wahrscheinlich knapp drei Jahre alt. Jetzt haben wir Frühling, was bedeutet, dass sie vor vier Jahren gegen Ende des Sommers gezeugt worden sein muss.«

»Ich beneide dich um deine Rechenkünste, aber was hat das damit zu tun, ob sie in ein Waisenhaus kommt?«

Der andere packte seinen Arm und zog ihn beiseite. »Hör sofort damit auf, dieses Wort in ihrer Gegenwart zu benutzen«, schimpfte er flüsternd.

Aidan machte sich los. »Dann komm auf den Punkt.«

Colin starrte ihn an. »Glaubst du wirklich, dass einer der Männer im Club vor so kurzer Zeit noch seinen Samen gesät hat?«

Aidan musste zugeben, dass Lambert nicht ganz unrecht hatte. Die meisten Mitglieder von Brown’s gehörten der Geriatriefraktion an. Er war sich nicht einmal sicher, ob die beiden verknöcherten Fossilien, die dauerhaft vor dem Kamin beim Schachspiel installiert zu sein schienen, überhaupt noch atmeten. Aidan bezweifelte, dass auch nur eine einzige Schachfigur während des letzten Jahrzehnts bewegt worden war.

Er verschränkte die Arme und starrte Colin an. »Was ist mit dir? Du bist ein Mitglied des Clubs und stehst noch voll im Saft.«

Der Freund schnaubte. »Ich habe zu der betreffenden Zeit eher klösterlich gelebt, herzlichen Dank.« Plötzlich schaute er irritiert. »Und du? Warst du nicht vor dreieinhalb Jahren schwer verliebt?«

Aidan erstarrte. »Es ist ein bisschen länger her. Als ich davon erzählte, gehörte es bereits der Vergangenheit an.« Im Geheimen rechnete er nach, ob es möglich wäre. Dumm nur, dass sie das genaue Alter des Kindes nicht kannten.

Colin nickte. »Damit ist meine Frage nicht widerlegt. Wenn es keiner von denen da drinnen war«, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter zum Haus, »und keiner von uns beiden …«

»O Gott«, hauchte Aidan. »Jack.«

»Genau. Zu jener Zeit ist er gerade aus dem Krieg heimgekehrt. Erinnerst du dich, wie depressiv er geworden war?«

Aidan rieb sich das Kinn. »Und dann ließ ihn die kleine Clarke auch noch sitzen … Gott, was war das für ein Schlamassel.«

Colin zog bei der Erinnerung an diese Zeit eine Grimasse. »In dem Sommer damals haben wir ihn manchmal wochenlang gesucht, erinnerst du dich?«

»Das werde ich so leicht nicht vergessen.« Aidan zog unbehaglich die Schultern hoch. Jacks düstere und verzweifelte Sauftouren waren beängstigend gewesen – jetzt bekamen sie eine vollkommen neue Bedeutung.

»Sieht sie Jack ähnlich?«

Gleichzeitig wandten sich beide dem Mädchen zu und schauten es forschend an. Ernst erwiderte es die Blicke, kaute dabei am Ende ihres ausgefransten Haarbands. Die Männer schüttelten den Kopf: Aus ihren Gesichtszügen ließ sich nichts ablesen.

Colin zuckte die Achseln. »Eines steht zumindest fest: Wirklich ähnlich sieht sie Jack nicht.«

Aidan richtete sich auf. »Das beweist noch nichts …«

Colin reckte das Kinn in die Höhe. »Das ist mir egal. Solange auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass sie Jacks Kind ist, weigere ich mich, sie einen einzigen Moment lang einem dreckigen Waisen…, einer dreckigen Einrichtung zu überlassen. Du musst sie mit in dein Haus nehmen.«

»Äh, da gibt es ein Problem.« Gott, die Breedloves würden glauben, sie sei seine Tochter, ganz egal, welche Geschichte er ihnen auftischte. Und sie würden sofort seine Mutter benachrichtigen. »Es sei denn, du willst, dass ich Lady Blankenship in diese kleine Angelegenheit einbeziehe?«

Colin zuckte leicht zurück. »Meine Güte, nein!«

»Was ist mit deinem Haus?«

Colin zuckte die Achseln. »Hab’s vermietet. Ich hasse es, ganz alleine in dem Kasten herumzulaufen. Außerdem wollte ich hier im Club auf Jack warten.«

Sie mochten sonst nicht viel gemeinsam haben, aber Aidan wusste, dass Lambert sich genauso sehr um Jack sorgte wie er.

»Also gut. Dann warten wir alle hier. Du, ich und Melody. Sie kann bei mir unterkommen, denn momentan wohnt auf dieser Etage ohnehin kaum jemand. Es ist ja nicht für lange. Jack wird täglich aus Jamaika zurückerwartet. Ich weiß nicht, warum er sich überhaupt so lange auf seinen Plantagen herumgetrieben hat.«

Colin riss die Augen auf. »Du kümmerst dich wirklich um sie und brichst dabei eine eiserne Regel: kein weibliches Wesen bei Brown’s. Ausgerechnet Aidan de Quincy, der Vorzeigeschüler aus Eton. Soll ich den Prinzregenten informieren, dass das Ende der Welt bevorsteht?«

Aidan starrte Lambert ernst an. »Ich tue das für Jack.«

Ernüchtert nickte Colin. »Genau. Für Jack.«

Zweites Kapitel

Es war ja schön und gut, ein Kind für ein paar Tage, bis zu Jacks Rückkehr, in einem Gentlemen Club zu verstecken, doch Brown’s war nicht umsonst für seine straffe Führung und seine Prinzipientreue bekannt.

Wilberforce, der Majordomus und überdies Kopf und Seele des ehrwürdigen Clubs, sorgte mit militärischer Gründlichkeit dafür, dass sich kein Unbefugter im Haus einnistete, nicht einmal eine Maus im Wäscheschrank. Erst recht war es für ihn grundsätzlich undenkbar, dass einem weiblichen Wesen, egal welcher Größe, der Zutritt zu einer der letzten männlichen Bastionen erlaubt wurde. Keine Ehefrauen, keine Mütter, nicht einmal ein Dienstmädchen zum Schrubben der Böden.

Der Mann besaß das kühne Profil und die scharfen Augen eines Adlers. Wenn man ihn in seiner eleganten blau-goldenen Uniform sah, konnte man denken, einen General vor sich zu haben, der seine Truppen mit strenger Hand in die Schlacht führte. Die zahlreichen Lakaien und Kammerdiener befolgten seine Befehle ohne Zögern oder Murren – und ohne Fragen zu stellen. Es war eine der segensreichen Eigenschaften von Brown’s – kein überflüssiger Kommentar, kein widerwilliges Dienen, keine Verärgerung darüber, dass man eine neue Frisur nicht bemerkt hatte. Nichts als zuvorkommender Service, der ohne laute Töne auskam. Gediegen eben.

Was also tun mit Melody? Wie sollte man sie hineinschmuggeln? Zu dumm nur, dass das Wetter zu gut für einen Mantel war, unter dem man sie hätte verstecken können.

»Du gehst vor«, sagte Aidan zu Colin. »Lenk Wilberforce ab, während ich sie durch die Eingangshalle schaffe.«

Der Freund schüttelte den Kopf. »So weit werden wir gar nicht kommen. Hast du den Türsteher vergessen?«

Aidan hatte ihn offen gestanden tatsächlich vergessen. Normalerweise ging er einfach die Stufen hinauf und spazierte durch die geöffnete Tür, ohne denjenigen zu bemerken, der sie für ihn aufhielt. »Stimmt.«

Lambert trommelte mit den Fingern auf seine verschränkten Arme. »Durch den Küchentrakt.«

»Sind da jetzt nicht lauter Köche und Küchenjungen? Es ist schließlich bald Essenszeit.«

»Genau. Sie werden viel zu beschäftigt sein, als dass sie irgendetwas bemerken. Ich trage sie, und du gibst uns Deckung. Wenn jemand neugierig wird, bedenkst du ihn einfach mit deinem Blankenship-Blick. Das wird ihn schnell in die Schranken weisen.«

Aidan schüttelte den Kopf. »Du verwechselst mich mit meiner Mutter.«

Colin warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. »Meinst du?« Dann zuckte er die Achseln. »Alles bereit? Dann los.«

Überraschenderweise verlief ihre Mission zu Anfang exakt so, wie Colin vorhergesehen hatte. Das Küchenpersonal würdigte sie kaum eines Blickes, hantierte weiter mit Töpfen, Ofenrosten und riesigen Fleischstücken, eilte geschäftig von einem Ende der dampfenden Küchen zum anderen.

Doch solches Glück währt niemals lange. Schritte, militärisch knapp auf dem gefliesten Gang zwischen den Küchen hallend, kündigten Unheil an.

»Mist«, flüsterte Colin. »Wilberforce ist unterwegs!«

Geleitet von einem Instinkt, den er selbst nicht zu erklären vermochte, drückte Aidan das Kind in den Arm des anderen. »Nimm du sie, während ich ihn ablenke.«

Ein kurzes Aufflackern von Respekt in Lamberts meist ironischem Blick war die einzige Antwort. Zu mehr war keine Zeit. Wilberforce bog gerade um die Ecke, und Colin zog sich gerade noch rechtzeitig in die Tiefen der Küche zurück.

»Ach, da sind Sie ja, Wilberforce!« Aidan ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

Der Mann war nicht dumm und bemerkte sofort das übertrieben joviale Verhalten des sonst so reservierten Earl of Blankenship, aber die Jahre in dem vornehmen Club hatten ihn gelehrt, dass Gentlemen von hoher Herkunft recht exzentrisch sein konnten. Er hatte es sich abgewöhnt, sich über derartige Schrullen zu wundern.

»Ja, Mylord. Womit kann ich dienen?«

Aidan starrte den Majordomus eine Zeitlang hilflos an. Denk nach! Er öffnete den Mund. »Jack – ich meine, Lord John Redgrave – wird in wenigen Tagen in der Stadt zurückerwartet.«

Wilberforce blinzelte nicht einmal. »Sehr wohl, Mylord. Seine Zimmer sind vorbereitet.«

»Natürlich. Äh, also …« Verdammter Mist! »Es geht um … um … um den Affen.« Was? Welchen Affen?

Wilberforce verzog keine Miene, aber Aidan hatte den Eindruck, als würde die ohnehin blässliche Gesichtsfarbe des Mannes noch eine Spur bleicher.

»Um den Affen, Mylord?«

Aidan nickte ein wenig zu dramatisch. »Ja, der Affe. Er kommt mit.«

»In den Club, Mylord?« Am Hals des Majordomus traten deutlich die Adern hervor, ein Indiz, dass bei dem unergründlichen Mann, der normalerweise in jeder Situation die Haltung bewahrte, die Zeichen auf Sturm standen.

Aidan antwortete: »Ja. Ganz recht. Hierher.« Er würde in die Hölle kommen. Armer Wilberforce. »Deshalb werden … äh … Bananen benötigt.«

Wilberforce nickte. »Ich verstehe, Mylord.« Ein Hauch Farbe kehrte auf seine Wangen zurück.

Wenn es sonst nichts war! Bananen waren ein beruhigender Gedanke für Wilberforce. Man würde zwar einen horrenden Preis zahlen müssen, aber man konnte sie beschaffen, und Brown’s guter Name würde keinen Schaden erleiden.

Aidan nickte gedankenverloren. »Und Leinentücher, irgendetwas aus Stoff – Servietten oder Windeln.« Wie kam er denn darauf? Seine Gedanken drehten sich wohl nur noch um Babys.

»Windeln, Mylord? Für den …?« War das ein Schaudern? »Der Affe benötigt Windeln?«

Indem er den deutlich ernüchterten Majordomus am Arm nahm, gelang es Aidan, ihn in Richtung Flur umzudrehen. »Windeln, Wilberforce. Oder andere Stofftücher. Jedenfalls einen wahren Berg davon.«

Wilberforce machte zögerliche Schritte den Gang hinunter, wirkte reichlich irritiert. Gerade als Aidan hoffte, er würde um die Ecke biegen und verschwinden, wandte sich der Mann erneut zu ihm um. Seine Miene verriet, dass dieser Fels in der Brandung in seinen Grundfesten erschüttert war. »Wissen Sie, Mylord …«

Aidan brannte vor Ungeduld, ihn endlich loszuwerden, denn hinter ihm hörte er das Kind quengeln. »Was, Wilberforce?«

Wilberforce zögerte. »Mylord, meinen Sie …, es handelt sich um einen … sehr großen Affen?«

Aidans Lippen zitterten leicht, aber er verkniff sich das Lachen. Im Gegensatz zu Colin, der knapp hinter ihm war und alles mit anhören konnte. »Es tut mir leid, dass Ihnen Unannehmlichkeiten entstehen, doch ich fürchte, dass es sich in der Tat um einen riesigen Affen handelt.«

Wilberforce nickte und drehte sich mit starrem Blick um, um deutlich langsamer als sonst den Gang hinunterzugehen. »Danke, Mylord. Das sind … ausgezeichnete Neuigkeiten. Guten Abend, Mylord.«

Aidan schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, und wandte sich dann eilig zu Colin und dem Kind um. Melodys Augen leuchteten, und ihre Wangen glühten vor Aufregung. In ihrem Mund steckte Colins goldene Taschenuhr. Aidan blinzelte. »Ist das hygienisch?«

»Wahrscheinlich nicht, aber es hat funktioniert. Immerhin hält sie jetzt den Mund.« Colin betrachtete ihn spöttisch. »Du warst ganz schön gemein zu Wilberforce. Der arme Kerl erholt sich bestimmt nie mehr von dem Schock. Ein Affe in diesen heiligen Hallen.«

Aidan gab einen verächtlichen Laut von sich. »Wie ich Wilberforce kenne, hat er wahrscheinlich bis zum Abendessen die weltbeste Innenraumausstattung für Affen in die Wege geleitet. Zum Glück wollte er sich nicht vergewissern, ob es sich auch wirklich um ein männliches Tier handelt.«

Colin verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Wohl wahr.«

Nachdem so weit alles geregelt schien, brachten die beiden ihr kleines Äffchen die Hintertreppe hinauf in den vierten Stock, wo sich Aidans Räume befanden.

Der Freund beschwerte sich. »Viel zu viele Stufen«, keuchte er.

»Mach kein Theater«, wies Aidan ihn zurecht. »Du trägst ja nichts außer diesem kleinen Bündel Mensch. Ich hingegen habe meine Reisetasche zu schleppen, und die ist schwerer.«

Er mochte es, dass seine Zimmer so weit oben und weitab vom Schuss lagen. Was auch nicht anders möglich war, da die vielen älteren bis alten Mitglieder von Brown’s auf die unteren Etagen angewiesen waren. Ihnen konnte man die vielen Treppen tatsächlich nicht mehr zumuten.

»Warum bringen wir sie nicht in meine Räume, das wäre nämlich näher.«

»Der einzige andere Gast auf meiner Etage ist der alte Aldrich, und der ist so taub, dass er keinen Ton mitbekommen wird. Außerdem liegt Jacks Apartment direkt unter meinem, sodass wir auch da keine Sorgen haben müssen, dass jemand ihre Stimme hört.«

Colin schnaufte bloß, sah aber von weiteren Beschwerden ab.

Blankenship hatte recht. Der Gentlemen Club, einst die erste Adresse in London, war zu einem reinen Altersheim geworden, besonders in den unteren Etagen, wo sich die Dauergäste eingerichtet hatten. Aber ein Hort der Geselligkeit war er nicht mehr. Die Kartenzimmer und Salons waren mehr oder weniger verwaist, weil die Herren keinen Spaß mehr an derartigen Belustigungen und anderen Frivolitäten hatten. Sie zogen den Platz am wärmenden Kamin in der Bibliothek vor.

Auch das Personal, das sich diskret auf Abruf bereithielt, um einen neuen Port oder Tabak zu bringen, war zumeist kaum jüngeren Datums. Und mit den Menschen war das Haus selbst gealtert, wirkte recht altmodisch, doch seine Mitglieder, sogar die wenigen jungen, schätzten diese Atmosphäre.