Mensch, Mann! - Josef Aldenhoff - E-Book

Mensch, Mann! E-Book

Josef Aldenhoff

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Beschreibung

Kein Zweifel: Immer weniger Menschen haben etwas von der Dominanz der mächtigen Männer, nicht einmal die Männer selbst. Doch was ist die Ursache für (selbst)zerstörerisches Verhalten der Männer? Der renommierte Psychiater Josef Aldenhoff zeigt in seiner großen Analyse der männlichen Psyche, dass es einen Ausweg aus dem Wahnsinn gibt. Denn eigentlich haben sich die Männer nur für den falschen Aspekt ihrer Identität entschieden. Sie können auch anders! Auch Männer sind richtig gut in Empathie und Kooperation, also gerade "Skills", die zwischenzeitlich eher als unmännlich galten. Der Autor zeigt seinen Lesern konkrete Wege, wie sie solche Stereotype umgehen können.

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Josef Aldenhoff

Mensch, Mann!

Was ist los in Männerseelen?

Für die Inhalte auf Webseiten Dritter übernimmt der Verlag Herder GmbH keine Haftung, da lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verwiesen wird.

In diesem Buch wird neben der Doppelnennung in wenigen Fällen auch verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen; alle sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

Alle englischen Originalzitate wurden vom Autor übersetzt.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Covergestaltung: Verlag Herder

Covermotiv: © haruiro, shutterstock, © pzAxe, shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82377-0

ISBN (Print): 978-3-451-60116-3

Für alle, die daran glauben wollen, dass Gespräche und Kooperation besser sind als Abgrenzung und Gewalt.

Inhalt

Vorwort

Warum ich ein Buch über Männer und ihre Seele schreibe

Männer dominieren unsere Zivilisation

Die dunkle Seite der Männer – sexualisierte Gewalt an Kindern

Zwischenbilanz: Hinsehen und einschreiten statt wegsehen und totschweigen

Im Zwielicht – Lust auf Macht

Die Internationale der Frauenverächter

Männersache: Kriege, Völkermord, Kolonialismus

Seelenkunde 1: Das Kind im Mann – wie es entsteht

Seelenkunde 2: Wie geht das Kind im Manne verloren?

The Ugly ist unser Bruder – Gewalt als jedermanns Option

Der Gewaltzünder schlechthin: Fremdes!

The times, they are a-changin’: Die Welt endlich wieder bewohnbar machen

Schwarze Schwäne: Die Extreme stigmatisieren alle Männer

Wie wir Macht unattraktiv machen können

Die Blüten der Männlichkeit

»Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so«

Mensch – ein Plädoyer für Altmodisches

Dank

Über den Autor

Vorwort

Braucht es das? Einen Mann, noch dazu cis, weiß, alt (Entschuldigung!), der über Männlichkeit und Mannsein schreibt – und, herrje, über sich selbst? Als Frau und als Journalistin, deren Themen Sexismus und Feminismus sind, bin ich geneigt zu sagen: Nein. Denn Männer sind schon überall. Sie sind sind Abgeordnete im Bundestag (Männeranteil im vierten Kabinett Merkel: 68,6 Prozent), in den Vorständen der DAX-Konzerne (Männeranteil: 83,4 Prozent). Sie sind Chefredakteure deutscher Regionalzeitungen (Männeranteil: 95 Prozent) und dominant vertreten in den Kommentarspalten von Onlinemedien, wo sie einem gerne vorwerfen, nicht gründlich recherchiert zu haben (aber trotzdem ganz nett anzusehen zu sein). Nicht mal mehr unter Feministinnen hat man noch Ruhe vor ihnen. In Berlin, wo ich lebe, vergeht kein Barabend mehr, ohne dass einem irgendwann ein Mann gegenübersitzt, der einem in einem beeindruckenden Monolog die eigene kritische Männlichkeit zu demonstrieren versucht. Er mansplaint dann mit einem Gin Tonic in der Hand das Patriarchat und den Feminismus gleich mit, als hätte es ihn und seine Auseinandersetzung gebraucht, um all die komplizierten Fäden endlich zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum daraus bei vielen Frauen der Impuls erwächst zu sagen: Haltet doch einfach mal kurz die Klappe, liebe Männer. Es geht, endlich – nach wie vielen Tausend Jahren Patriarchat? – nicht um euch. Sondern um unsere Erfahrungen, die Wunden, die ihr uns Frauen zugefügt habt, uns und unseren Müttern, Großmüttern, Töchtern, Schwestern. Ihnen sollte nun für eine Weile der begrenzte Platz in der Öffentlichkeit, auf Theaterbühnen, in Kinofilmen und auf Zeitungsseiten gehören. Die Frage, wer gehört und gesehen wird, wem Empathie entgegengebracht wird, wer es in den gesellschaftlichen Diskurs schafft, ist auch eine der Ressourcen. Einer bekommt Geld und Aufmerksamkeit, um seine Geschichte zu erzählen, ein anderer (meistens immer noch: eine andere) nicht – so einfach ist das und so hart. Der Verlag hätte den Vertrag für dieses Buch auch einer jungen Frau geben können, die etwa über ihre Gewalterfahrungen mit Männern hätte schreiben können. Manche Feministinnen würden so weit gehen zu sagen: Selbst wenn die Frau über ihre Hausschuhe oder ihre Liebe zu den perfekt kross gebratenen Bratkartoffeln ihrer Oma geschrieben hätte, wäre das immer noch besser, als schon wieder einem alten, weißen Mann eine Bühne zu bieten.

Es ist wichtig, sich dieser realen Verteilungskämpfe bewusst zu sein, besonders als Mensch, der Ressourcen zu vergeben hat. Und dennoch ist es wichtig, im Diskurs um toxische Männlichkeit auch Männer zu Wort kommen zu lassen. Weil es bei der gewaltigen Arbeit, die wir auf dem Weg in eine geschlechtergerechtere Welt noch zu leisten haben, auch und vor allem auf sie ankommt. Es braucht ihre Auseinandersetzung mit sich selbst und der Art und Weise, wie sie möglicherweise zu dem Männerproblem unserer Gesellschaft beitragen.

Wie Josef Aldenhoff bin ich überzeugt davon, dass dieses Problem nicht naturgegeben ist, also etwa mit dem Y-Chromosom oder mit tiefen Stimmen, Penissen oder Brustbehaarung zu erklären ist. Sondern mit männlicher Erziehung und Sozialisation, mit bestimmten, über Jahrhunderte geprägten Vorstellungen davon, wie ein Mann zu sein und sich zu verhalten hat. Als Psychiater und Psychotherapeut richtet Aldenhoff seinen Blick nicht nur auf die gesellschaftliche Umgebung, in der Männer zu dem werden, was sie sind, sondern auch auf ihre Seele: das Kind, das jeder Mensch, auch jeder Mann, einmal war, ein Kind mit Bedürfnissen nach Nähe und Liebe, ein von sich aus gutes Wesen mit einem elementaren Drang nach Kontakt zu anderen. Diese psychologische Perspektive ist wichtig und wertvoll. Für männergeplagte Frauen, um sich einen menschlichen, auch empathischen Blick auf »die Männer« zu bewahren. Und letztlich für alle, um zu verstehen, wo im Leben von Männern möglicherweise etwas schiefgelaufen ist, wenn sie später gewalttätig, unterdrückend oder auch »nur« furchtbar selbstherrlich werden.

Jeder Mann war mal ein Junge, hinter dieser fast banalen Erkenntnis verbergen sich zwei Aufträge: Wir müssen darauf achten, wie wir Jungs erziehen. Vermitteln wir ihnen Durchsetzungsfähigkeit, Stärke (»Indianerherz kennt keinen Schmerz«), sagen wir ihnen ständig, sie seien »wild«, ein »Racker« oder ein »kleiner Mann«? Oder bringen wir ihnen Empathiefähigkeit, Kooperation mit anderen, auch: Schwäche, bei? Und nicht zuletzt ist diese psychologische Perspektive auch ein Auftrag an erwachsene Männer, sich zu fragen: Was für ein Mann bin ich eigentlich? Wie bin ich so geworden, wie ich bin? Wer hat mir welche Glaubenssätze beigebracht? Und wann habe ich dadurch vielleicht schon einmal Menschen verletzt? Eine kritische Reflexion darüber darf nicht nur im Privaten, im Stillen stattfinden, sondern gehört auch auf öffentliche Bühnen. Damit mehr Männer sich solche Fragen stellen.

Das Ziel ist ja letztlich ein freundlicheres, sichereres Miteinander von allen Menschen, so hippiesk und utopisch das klingen mag. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir so viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter wie möglich: Cis-Männer, alte Männer, junge, schwule, Schwarze Männer, tiefreligiöse ebenso wie atheistische, gebildete ebenso wie ungebildete. Probleme wie Sexismus und Gewalt gegen Frauen sind schlicht zu wichtig, um sie nur von denen bearbeiten zu lassen, die unter ihnen leiden. Wir können es uns nicht leisten, Männer aus dem Kampf gegen Sexismus und für Gleichstellung auszuschließen. Ebenso wenig, wie wir es uns leisten können, Neonazismus nur von Opfern rechtsradikaler Gewalt bekämpfen oder nur queere Menschen gegen homophobe Gesetzeslagen demonstrieren zu lassen.

Nach wie vor bin ich schockiert darüber, wie wenige Männer feministische Texte lesen, sich etwa mit den Schriften von Simone de Beauvoir, Rebecca Solnit, bell hooks, Margarete Stokowski oder Siri Hustvedt auseinandersetzen. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch für die Leser eine Brücke ist, um sich weiter in das Thema einzuarbeiten. Es braucht Männer, die nicht bloß ein vorgegaukeltes Interesse an feministischen Diskursen haben, sondern die ihre eigene Rolle erkennen und hinterfragen wollen. Vor allem aber braucht es: Männer, mit denen Frauen ernsthaft reden können und die einem aufrichtig zuhören. Und so ein Mann, das weiß ich aus vielen persönlichen Gesprächen, ist Josef Aldenhoff. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was in diesem Buch steht. Zu einzelnen Themen habe ich eine ander Meinung. Das alles werde ich mit ihm bei Gelegenheit diskutieren, in dem Wissen, dass er nicht wie viele andere Männer, die man auf ihre Privilegien anspricht, defensiv und emotional reagieren wird, sondern offen und seinerseits kritisch. Hoffentlich regt Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Lektüre ebenfalls zum Nachdenken und Diskutieren an.

Carla Baum (ZEITmagazin ONLINE), August 2021

Warum ich ein Buch über Männer und ihre Seele schreibe

Der entscheidende Anstoß? Ich schäme mich nicht gerne. Es fühlt sich besser an, wenn ich mir in die Augen schauen kann. Aber jetzt schäme ich mich. Weil ich ein Mann bin. Absurd! Seit mehr als sieben Jahrzehnten bin ich ein Mann. Trotzdem habe ich ein Gefühl wie in der Kindheit, wenn etwas so richtig scheiße gelaufen ist. Tatsächlich läuft es immer noch scheiße:

Wenn ich laufen will, ziehe ich meine Laufschuhe an, Jogginghose, T-Shirt, je nach Jahreszeit, und laufe los. Ich denke nicht nach; was ja gerade das Schöne ist. Ich überlege nicht, ob ich meine 72-jährigen körperlichen Reize vermummen soll; meine Vorsicht richtet sich allenfalls auf Unebenheiten des Bodens, vielleicht auch mal auf frei laufende Hunde. Auf Männer achte ich nicht. Wozu auch? Ich bin ja selbst einer. Wovor sollte ich Angst haben? Joggen ist für Männer, abgesehen von der gewollten Schinderei, ein entspannender, gesundheitsfördernder Vorgang. Pfefferspray? Ich besitze gar keines, und noch nie habe ich zum Joggen Pfefferspray mitgenommen. Abwegig.

Ein wesentlicher Geschlechtsunterschied im Deutschland des Jahres 2021 besteht darin, dass dies alles bei Frauen anders ist. Vollkommen anders: Frauen, die joggen wollen, haben ihre Erlebnisse und ihre Ängste aufgeschrieben – wohlgemerkt: Das sind Berichte aus Deutschland.1

Frauen laufen nicht einfach los. Sie grübeln und treffen Vorkehrungen, viele haben Angst, andere versuchen, die Gefahr rational einzuschätzen. Die Gefahr, das sind wir, die Männer! Und selbst wenn uns das nicht passt, ist der Generalverdacht sehr angemessen; denn wenn eine Frau auf einer einsamen Straße einem einzelnen Man begegnet, ist es für ihr Wohlergehen, für ihr künftiges Sexualerleben und oft auch für ihr Leben sinnvoller, diesen Mann, auch Sie und mich, als Risiko anzusehen. Denn sie könnte vergewaltigt werden. Ein Autor, der das Beste aus dieser furchtbaren Situation machen wollte, schrieb, in so einem Augenblick sollte ich, der Mann, die Straßenseite wechseln.2 Ich! Und er hat, so deprimierend es sein mag, mit diesem Hinweis wohl recht.

Eine Frau glaubt, vor dem Joggen mehreren Leuten Bescheid sagen zu müssen, wo sie läuft, damit man nach ihr suchen kann, wenn sie nicht zurückkommt; die andere weicht aus, wenn sie Stimmen von einer Männergruppe hört; hinter wieder einer anderen rannte ein Typ her und verlangte ein Wettrennen. Frauen werden beim Laufen angehupt und belästigt: Pfefferspray ist ein wichtiges Laufzubehör, wichtiger als das Stirnband.

Aus meiner männlichen Sicht ist der absolute Tiefpunkt dieser »ältere Herr«, der ihr beim Vorbeigehen auf den Arsch haut und sagt: »Du bist bestimmt gut fickbar.« Ich bin selbst ein »älterer Herr« und fühle mich in einer Weise sichtbar gemacht, wie ich absolut nicht gesehen werden will. Ich Mann, stigmatisiert durch das Verhalten von Männern. Ich würde so was nie sagen, aber wer weiß das schon? Ich schäme mich. Weil Männer die Welt der Frauen, der anderen versauen und ich ein Mann bin.

Die Geschichten sind nicht neu: Rebecca Solnit schreibt über ihre Wünsche, allein durch die Wildnis zu wandern, im Freien zu schlafen.3 Sie schreibt auch über Sylvia Plath, die ihre Wünsche als Frau selbstbestimmt in dieser Welt verwirklichen wollte und sich angesichts des Unmöglichen schließlich umbrachte.

Was all das angeht, bin auch ich typisch männlich ignorant; so wusste ich nicht, was catcalling ist: »eine Art der Belästigung durch Fremde im öffentlichen Raum in Form von unerwünschten Äußerungen gegenüber Personen, die als Objekt der Begierde wahrgenommen und auserkoren werden. Oft begleitet von provokativen Gesten, Hupen, Pfiffen, unsittlichen Entblößungen, Stalking, hartnäckigen sexuellen Annäherungsversuchen und Berührungen.«4

Ich gestehe Ihnen an dieser Stelle mal zu, dass Sie noch nie Joggerinnen behelligt haben, geschweige denn vergewaltigt. Ich gehe mal davon aus, dass Sie ein »Netter« sind. Kostet mich nix, ich bin ja ein Mann. Wenn ich Freunde und Kollegen frage, ob sie schon mal catcalling gemacht haben oder ob sie jemanden kennen, der das und noch mehr macht, so ein klitzekleines bisschen Gewalt beim Sex, ab und zu: Fehlanzeige. Es ist wie in der Nachkriegszeit, wenn man fragte, wer Nazi gewesen war. Gab’s nicht.

Nun sind die Ermittlungs- und Verurteilungszahlen bei der Vergewaltigung von Frauen im Allgemeinen und Joggerinnen im Besonderen ein statistisches Desaster, dominiert durch den Begriff »Dunkelziffer«. Und trotzdem so häufig, dass Frauen ihr Alltagsverhalten ändern. Ein Wahrnehmungsproblem? Oder eine Schande für unser Rechtssystem? Bei der in Corona-Zeiten sehr prominent gewordenen »häuslichen Gewalt« ist das nicht anders. Aber was geht Sie als Mann das an?

Betrachten Sie es doch einmal so: Wenn Sie als selbst definiert netter Mann dies alles nicht tun, kann es sich in Ihrer Weltsicht nicht um ein Problem von allgemeiner Bedeutung handeln – selbst wenn vielleicht einige wenige Männer so etwas tun. Beim Kindesmissbrauch gibt es übrigens belastbare Zahlen: In der Bundesrepublik ist jeder siebte Mann ein Täter. Einige wenige?

Trotzdem setzen Sie in einer Art männlicher Solidarität voraus: Männer tun so etwas nicht. In dieser Aussage lassen Sie ein entscheidendes Wort weg: Männer sollten so etwas nicht tun.

Interessanterweise ist die Dunkelziffer beim Mord ganz anders. 93,5 Prozent der Morde werden aufgeklärt.5 Liegt das vielleicht daran, dass 80 Prozent der Opfer Männer sind?6 Sie finden das unsachlich? Dann nennen Sie doch mal einen anderen Grund.

Ich fände es gut, wenn Sie dieses Buch lesen würden. Als Mann. Ganz bewusst als Mann.

Mann sein gleich Täter sein?

»Auch heute noch kommt man am leichtesten durchs Leben, wenn man ein weißer, heterosexueller Cis-Mann ist, mindestens aus der Mittelklasse. Diese Gruppe ist es, die nach wie vor das gesellschaftliche Narrativ dominiert und definiert, was normal ist. Was eigentlich paradox ist, schließlich machen weiße, heterosexuelle Cis-Männer keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung aus. Auch wenn sie selbst das nicht wahrzunehmen scheinen.«7

Mann, weiß, hetero, cis – ja. In meinem Fall auch noch: alt. Mittelklasse trifft es auch. Und damit bin ich nicht so schlecht durchs Leben gekommen. Liegt das an meiner Gruppenzugehörigkeit oder an meiner Individualität? Obwohl ich mich nicht in einer homogenen Männergruppe erlebe, bevorzuge ich die Kommunikation mit anderen Männern, die meine Merkmale teilen. Netzwerken nennt man das wohl, sich die Bälle zuspielen. Bälle passt: In der Fußballbundesliga liegt die Zahl der männlichen Zuschauer bei durchschnittlich 40 000 Männern und 1000 Frauen pro Spiel.8

Wir alten weißen Männer sollen uns nun ändern. Ausgerechnet die dominanten Netzwerker sollen sich ändern! Wie genau, ist nicht ganz klar, aber ändern auf jeden Fall. Natürlich mobilisiert sich gegen diese Forderung jede Menge Widerstand. Die meisten Männer halten die Frage ihrer Verstrickung in die »Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Welt«9 für abwegig, da sie sich nie als Täter gesehen haben. Aber lässt sich diese Position wirklich durchhalten?

Dieses Buch hatte unterschiedliche Startpunkte. Einer hängt damit zusammen, dass ich Psychiater und Psychotherapeut bin und meinen Beruf mag. Auf halbwegs soliden wissenschaftlichen Grundlagen etwas zu bewirken, fühlt sich gut an. Und obwohl die von uns behandelten Krankheiten viel mit Stress zu tun haben, können wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei der Arbeit gemütlich dasitzen, zuhören und dürfen bei Bedarf sogar Kaffee trinken.

Irgendwann, erstaunlich spät in meinem Berufsleben, fiel mir auf, dass in sechs von zehn Fallgeschichten Gewalterfahrungen vorkommen. Diese »Fälle« sind Frauen. Darüber spricht niemand. Ist das also selbstverständlich? So wie die Tatsache, dass die Gewalt sehr, sehr häufig, meistens, ja fast immer von Männern ausgeht. Auch selbstverständlich? Wissen Sie, wie häufig sexueller Missbrauch vorkommt und dass er ein typisches Männerdelikt ist? Dieses »Wissen« ist seltsam folgenlos: Einerseits steht es in der Tageszeitung, andererseits leitet sich daraus keine gesamtgesellschaftliche Diskussion ab. Durch dieses Schweigen verhindern die Männer den eigentlich unerlässlichen Diskurs über ihre Dominanz und deren Folgen; egal, ob die feministischen Attacken wütend oder witzig geführt werden, Männer reden mehrheitlich einfach nicht mit.

Erst wollte ich dieses Buch also nicht wegen uns Männern schreiben, sondern wegen der Menschen, denen Missbrauch, Vergewaltigung von Männern angetan wird, Kindern, Frauen also. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich zur Gruppe der Täter gehöre, auch wenn ich selbst keiner bin. Und jetzt sitze ich in einem Thema drin, das durch seine Schwere dem Leben die unbeschwerte Alltäglichkeit raubt. Immer wieder: wir Männer. Was nun? Gibt es kein normales Leben mehr? Oder ist eben genau dieses Leben normal?

Bei folgender Frage ist es dann fast unmöglich, eine nüchterne distanzierte Haltung zu bewahren: Bedeutet Mann sein Täter sein? Reicht es, ein normaler Mann zu sein, um Täter zu werden? Oder sind die Täter krank und alle anderen Männer normal nett?

Auch darüber redet fast niemand. Aber wenn Sie viel lesen und gerne ins Kino gehen, als Mann oder als Frau, könnten Sie merken, wie oft das Setting »Frau gleich Opfer, Mann gleich Täter« in Filmen auftaucht: »In der Kunst wird die Qual und der Tod einer schönen Frau ständig als erotisch, erregend, befriedigend dargestellt. Trotz der ständigen Beteuerungen von Politikern und Medien, dass Gewaltverbrechen die Taten von Außenseitern seien, wird diese Sehnsucht in den Filmen von Alfred Hitchcock, Brian de Palma, David Lynch, Quentin Tarantino, Lars von Trier verewigt.«10

Filmemacher werden durch Qual und Tod schöner Frauen berühmt, indem sie die – heimliche – Leidenschaft des wahrscheinlich ja männlichen Publikums befriedigen. Ist die Qual der Frauen ein Erfolgsrezept kreativer Männer? Oder ist Rebecca Solnit einfach nur eine Feministin, über die man nicht zu viele Worte verlieren sollte?

Feminismus war nie mein Thema, die Diskussionen über das Patriarchat hielt ich im 21. Jahrhundert für überzogen. Aber schließlich konnte ich die Frage nach der Beziehung zwischen männlicher Dominanz und der langfristigen Zerstörung von Menschenleben durch sexuellen Missbrauch von Kindern, durch die Vergewaltigung von Frauen, durch häusliche Gewalt nicht mehr wegschieben.

Woher kommt also der Anspruch, dass alles, was auf dieser Welt rumläuft, in erster Linie der Erheiterung und dem Lustgewinn von uns Männern dienen müsse? Und warum liegt bei uns Männern die Option von Gewalt so nahe, wenn dieser Anspruch nicht erfüllt wird?

Da ich Psychiater bin, stellt sich mir an dieser Stelle die Frage, was all das mit unserer männlichen Seele zu tun hat.

Überlegungen zur Seele

Es gibt philosophische, religiöse, ökonomische, soziologische, biologische, feministische und sicher noch viel mehr Abhandlungen über Männer. Als Psychiater habe ich es mit der Seele zu tun. Manche sagen Psyche, doch ich ziehe Seele vor. Ist also die männliche Seele das Problem? Diese Frage durchzieht alles Folgende. Doch wo liegen eigentlich die Ursprünge der Seele?

Der Einzelne fühlt, nimmt wahr, denkt. Irgendwas und manchmal viel zu viel. Das alles will er ordnen. Damit ist er nicht allein. Männer, Frauen, Kinder, andere sind auch da. Die könnte er als Vorbilder nutzen. Zu manchen fühlt er sich hingezogen, zu anderen gar nicht. Sich hingezogen fühlen, ungemein stark, das ist ein zentrales Thema der Männerseele. Etwas »Inneres« in mir fühlt sich zu etwas hingezogen, das eben nicht in mir ist, sich also »­außen« befindet. Sofort stellt sich die Frage, wer wen bestimmt bei der Anziehung, weil bestimmen bei der oder dem einen etwas mit zulassen, bei der oder dem anderen mit kontrollieren zu tun hat. Seelen sind Kommunikationsgenies. Auch Männerseelen, wenngleich es bei deren Kommunikation manchmal erheblich knirscht.

Der erste wichtige andere Mensch, dem wir begegnen, ist kein Mann. Sie ist anders in fast jeder Hinsicht. Sie fühlt sich anders an, sieht anders aus, und während ich bedürftig, hilflos bin, hat sie alles, was ich brauche. Deswegen gibt es lange Zeit nur diese Frau für mich. Und wenn sie im Lauf der Zeit in den Hintergrund gerät, werden andere, aber immer noch Frauen für die meisten Männer zum Mittelpunkt ihrer Welt. Tatsächlich? Vielleicht eher Zentrum ihres Begehrens. Dass ich eine andere Person zur Befriedigung meiner elementarsten Bedürfnisse brauche, eine andere, die mir nicht gehört, über die ich keine Macht habe und die ganz anders ist als ich selbst, diese unverstandene Ungeheuerlichkeit beherrscht die Seele vieler Männer und vergiftet sie viel zu oft.

Die Folgen – Gewalt in irgendeiner Form, Druck und Erpressung – ereignen sich täglich in Millionen von Familien, vor unseren Augen, und doch interessieren sie uns nicht besonders. Kreative Lösungen, mit dem Anderssein der Begehrten umzugehen, sind alles andere als selbstverständlich. Denn Verhalten folgt ausgelatschten Hauptwegen, vor allem, weil sich so Energie sparen lässt.

Doch manchmal passieren Wunder: Menschen entdecken andere Verhaltensmöglichkeiten, Alternativen, die plötzlich attraktiver als das Gewohnte sind. Auch wenn die der Gruppe erst fremd, bedrohlich erscheinen, machen es plötzlich alle. Das Wunder heißt Diversität, Vielfalt. Sie scheint uns vor allem dann akzeptabel, wenn sie uns anzieht. Plötzlich vergessen wir die Angst vor dem Anderssein, besonders, wenn die Überschreitung von tabuisierten Grenzen mit Lust einhergeht.

Die Möglichkeit, über Neues zu kommunizieren und uns schließlich auf Vielfalt einzulassen, macht unser menschliches Gehirn einzigartig. Seine Begabung zu Kooperation und Kommunikation ermöglichte es den Menschen, den Abstand zu den stärkeren und in vieler Hinsicht fitteren Primaten zu vergrößern, schließlich uneinholbar. Dieses Gehirn, der Sitz der menschlichen Seele, ist unser Schicksal, unsere Herausforderung und unsere Chance.

Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass wir diese Chance nutzen; wenn uns das Erfolgskonzept des kommunikativen Austauschs mit der Welt zu viel Angst macht, bleibt uns die böse, alte Versuchung der Gewalt. Sie ist das große, immer noch aktuelle Problem vor allem der männlichen Seele.

Wider den Schlaf der Vernunft

Sie haben es wahrscheinlich schon bemerkt: Dies ist kein wissenschaftlicher, sondern ein subjektiver Text. Für mich ist das stimmig. Zum einen, weil die Realität Mann mich persönlich umtreibt, mich mit Zorn, Scham und gelegentlicher Verzweiflung erfüllt. Zum anderen, weil ich überzeugt bin, dass subjektive Beiträge nötig sind, wenn es um Männer geht. Solche und solche. Und dass diese diversen Meinungen geäußert werden müssen und nicht verschwiegen werden dürfen. Denkt man aber in diesem Zusammenhang gelegentlich über die Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft nach, ist es ein Ärgernis, wie wenig Solides gerade auf dem Gebiet des »Genderns« geforscht wurde, wie wenig wissenschaftliche Befunde es gibt.

Dass beide, Y- und X-Chromosomen, das Geschlecht beeinflussen, entdeckte Nettie Maria Stevens vor etwa 120 Jahren.11 Die Beauvoir publizierte ihre Behauptung, dass die gesellschaftliche Realität des »zweiten« – und damit natürlich auch des ersten – Geschlechts auf kultureller und sozialer Prägung beruhe, vor über 70 Jahren.12 Aber in der Zwischenzeit schien es niemanden zu interessieren, einen sinnstiftenden Dialog zu diesem Thema zwischen Natur- und Sozialwissenschaften zu führen. Dieser Schlaf der Vernunft, der wahrscheinlich nur auf Desinteresse in den männerdominierten oberen Wissenschaftsetagen beruhte, ließ Monster schlüpfen wie die beim besten Willen nicht anders als bizarr zu bezeichnende Diskussion über die neuzeitliche Bedrohung von Männern, Kultur und Zivilisation – als sei das alles eins – durch das Gendern.13 Auch wenn sie sich nicht auf das Niveau von Victor Orbán oder mancher katholischen Bischöfe herablassen wollen, halten erstaunlich viele Männer die Äußerung Judith Butlers für Teufelswerk, dass »alle Menschen in dem Geschlecht leben können [sollten], das am besten zu ihnen passt«14. In welchem denn sonst?

Ich habe lange über die möglichen Wurzeln dieser mir grotesk und unverständlich erscheinenden Standpunkte nachgedacht. Inzwischen vermute ich, dass solche Männer die individuelle Wahlmöglichkeit über Befinden und Wohlergehen als Widerspruch zum grundlegendsten Recht der Männer erleben: zu entscheiden, was passt und was nicht.

1https://www.zeit.de/zeit-magazin/2021-03/sexismus-frauen-joggen-cat-calling-belaestigung-angst-erfahrung

2 Christian Gesellmann: »Wir sollten uns schämen.« zeitmagazin.de 22.03.2021

3 Rebecca Solnit: Recollections of my non-Existence, London 2020

4 wikipedia

5de.statista.com 2021

6 »Die meisten Mordopfer sind Männer.« dw.com vom 10.04.2014, abgerufen am 15.07.2021

7 Caitlin Moran im Interview mit Patrick Heidmann: »Ich war ein fettes Arbeiterklasse-Mädchen.« SZ Nr. 270, Sa./So. 21./22. November 2020

8de.statista.com 2021

9 Elisabeth von Thadden: »Was ist unsere Schuld?« DIE ZEIT Nr. 29. 09.07.2020, S. 49

10 Rebecca Solnit: Recollections of my non-existence. A. a. O., S. 50

11 kb/fwa: XY – gelöst: »Wie Nettie Stevens die Geschlechter entdeckte.« deutschlandfunk.de 07.07.2016; abgerufen am 15.05.2021

12 Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe. Paris 1949

13 Zum Beispiel: Nicola Meier/Julia Sellmann: »Sendungsbewusst.« Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 19, 14.03.2021, S. 8. Oder: Gustav Theile: »Dax-Chefs umgehen das Gendern.« Faz.net 18.05.2021. Oder: Jan Alexander Casper: »Latein für den Frieden.« zeit.de 17.06.2021

14 Inga Barthels: »Wer hat Angst vor Judith Butler?« tagesspiegel.de vom 01.02.2020, abgerufen am 26.01.2021

Männer dominieren unsere Zivilisation

In unserer Gesellschaft spielen Männer eine wichtige Rolle, sie beherrschen das Leben, dominieren. Männermacht prägt unsere Welt. Ein paar Frauen, die bei allem, was sie äußern oder tun, unter kritischer Beobachtung stehen, ändern daran nichts. Man könnte wohl sagen: Männer verdunkeln quasi die Sonne.

Haben Sie schon mal eine Sonnenfinsternis erlebt? Man sieht nicht richtig klar, die Stimmung verändert sich, irgendwie wird man fast schwermütig. Was auch den Umgang mit dominierenden Männern beschreibt, denen eine seltsame Düsternis anhaftet. Bei vielen weiß man nicht, woran man mit ihnen ist. Auf den folgenden Seiten stehen nur Männernamen, völlig willkürlich ausgewählt, von allem etwas. Machen wir einen kleinen Psychotest: Schauen wir die Namen vorsichtig an und überlegen wir, was wir über jeden dieser Männer wissen. Sie werden sehen: Es gibt fraglos gute, genauso fraglos schlechte und dann gibt es jede Menge, bei denen die Zuordnung schwerfällt oder bei denen sich unsere Einschätzung im Lauf der Jahre vollkommen geändert hat.

Adam, Josef Ackermann, Konrad Adenauer, Alfred Adler, Theodor W. Adorno, Woody Allen, Salvador Allende, Idi Amin, Jassir Arafat, Arminius, Baschar al-Assad, Marc Aurel, Oliver Bäte, Claudio Baglioni, Steve Bannon, Daniel Barenboim, Baudouin I., Franz Beckenbauer, Gerold Becker, Bertold Beitz, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Jeff Bezos, Otto von Bismarck, Ernst Bloch, Norbert Blüm, Jan Böhmermann, Heinrich Böll, Nils Bohr, Jair Bolsonaro, Usain Bolt, Karl Bonhoeffer, Willy Brandt, Richard Branson, Bernard große Broermann, Ignaz Bubis, Michelangelo Buonarroti, Gerd Bucerius, Gautama Buddha, George Bush, Julius Caesar, Enrico Caruso, Sergiu Celibidache, Theodore McCarrick, El Chapo, Richard Cheney, Alain Chouraqui, Nikita Chruschtschow, Winston Churchill, Bill Clinton, Michael Cohen, Bill Cosby, Jeff Corbyn, Kay Diekmann, Hermann Dietzfelbinger, Charles Dickens, Mathias Döpfner, Placido Domingo, Karlfried Graf Dürkheim, Olivier Duhamel, Rodrigo Duterte, Friedrich Ebert, Ludwig Ehrhard, Adolf Eichmann, Dwight D. Eisenhower, Kurt Eisner, Friedrich Engels, Recep Tayyib Erdoğan, Pablo Escobar, A. von Finck, Joschka Fischer, F. Scott Fitzgerald, Friedrich Flick, Friedrich II., Max Frisch, Henry Ford, Michel Foucault, Sigmund Freud, Jakob Fugger, Muammer al-Gaddafi, Bill Gates, Alexander Gauland, Charles de Gaulle, Kurt Gödel, Johann Wolfgang von Goethe, Gott, Hermann Göring, Günther Grass, Alan Greenspan, David Ben-Gurion, Jürgen Habermas, Peter Handke, Robert Habek, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werner Heisenberg, Hartmut von Hentig, Ernest Hemingway, Sepp Herberger, Rudolf Hess, Theodor Heuss, Dieter Hildebrand, Heinrich Himmler, Min Aung Hlaing, Uli Hoeneß, Erich Honecker, Robin Hood, Alexander von Humboldt, Innozenz IV., Michael Jackson, Xi Jingping, Emil Jannings, Steve Jobs, Carl Gustav Jung, Ernst Jünger, Lech Kaczinsky, Herbert von Karajan, Karl der Große, John Fitzgerald Kennedy, Imran Kahn, Immanuel Kant, Kurt Georg Kiesinger, Steven King, Henry Kissinger, Kurt Kistner, Franz Klammer, Fritz Kortner, Harald Krüger, Helmuth Kohl, Emil Kraepelin, Bruno Kreisky, Osama Bin Laden, Dalai Lama, John Lasseter, Bernard Francis Law, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, James Levine, Abraham Lincoln, Erich Ludendorff, Alexander Lukaschenko, Patrice Lumumba, Martin Luther, Heiko Maas, Emmanuel Macron, Nicolas Maduro, Harold Macmillan, Luigi di Maio, Sigfried Mauser, Mitch McConnell, Robert McNamara, Mischa Maisky, Nelson Mandela, Lee Marvin, Karl Marx, Gabriel Matzneff, Friedrich Merz, Reinhold Messner, Slobodan Milošević, François Mitterand, Narendra Modi, Michel de Montaigne, Moses, Wolfgang Amadeus Mozart, Matthias Müller, Elon Musk, Benito Mussolini, Satya Nadella, Benjamin Netanjahu, Richard Nixon, Trevor Noah, Barack Obama, Christian Olearius, Yat-Sen Chang Oiva, Victor Orban, Franz von Papen, der Papst, Luciano Pavarotti, George Pell, Ferdinand Pietsch, Deng Xiaoping, Augusto Pinochet, Platon, Roman Polanski, Karl Popper, Pol Pot, Giacomo Puccini, Wladimir Putin, Walter Rathenau, Josef Ratzinger, Richard III., Maximilien de Robespierre, Auguste Rodin, Ernst Röhm, Theodore Roosevelt, Ernst Rüdin, Mohammed bin Salman, Matteo Salvini, Robert Sarah, Friedrich von Schiller, Frank Schirrmacher, Harald Schmidt, Helmut Schmidt, Arnold Schönberg, Olaf Scholz, Arthur Schopenhauer, Gerhard Schröder, Franz Schubert, Horst Seehofer, William Shakespeare, Alexander Solschenitsyn, George Soros, Kevin Spacey, Albert Speer, Carsten Spohr, Axel Springer, Josef Stalin, Franz Josef Strauss, Julius Streicher, Alfredo Stroessner, Shunryū Suzuki, Nassim Nicholas Taleb, der Teufel, Christian Thielemann, Peter Thiel, Josip Broz Tito, Arturo Toscanini, François Truffaut, Donald Trump, Peter Tschentscher, Mao Tse-tung, Desmond Tutu, Giuseppe Verdi, Hendrik Verwoerd, Leonardo da Vinci, Rudolf Virchow, Swami Vishnu, Hans-Jochen Vogel, Richard Wagner, George Wallace, Andy Warhol, George Washington, Dieter Wedel, Harvey Weinstein, Kayne West, Oscar Wilde, Wilhelm II., Rainer Maria Woelki, Irvin Yalom, Dieter Zetzsche, Martin Zielke, Marc Zuckerberg, Carl Zuckmayer.

Wie geht es Ihnen mit diesen Namen? Einige Lichtgestalten, einige Finsterlinge. Und dann gibt es viele, über die Sie nichts Genaues wissen, die Sie immer gut fanden, die aber heute im Zwielicht stehen, weil sie ins Gerede kamen. Berechtigt oder unberechtigt, schwer zu sagen. Mir ging es nicht anders. Oft haben Sie – und ich – Zwielichtigen die Treue gehalten, manchmal haben wir uns enttäuscht zurückgezogen – wir werden es gleich sehen. Gelegentlich sind Sie durch die Beschädigung Ihres Idols selbst in Mitleidenschaft gezogen worden. Mitleidenschaft hat mit Empathie zu tun und ob Sie es glauben oder nicht: Versucht man Männer zu verstehen, ist das ein zentraler Begriff.

Schauen wir uns ein paar von denen an, die mal als gut galten, ins Gerede kamen und jetzt als düster erscheinen.

Die Reformpädagogik des Hartmut von Hentig galt in den 1960er-Jahren als Leuchtturm in der Bildungslandschaft der Bundesrepublik. Bis heraus kam, dass sein Lebenspartner Gerold Becker, Direktor der den Idealen der Reformpädagogik verpflichteten Odenwaldschule, seine Pädophilie auslebte und nächtlich Internatsschüler »liebte«. Er hinterließ viele noch als Erwachsene schwer traumatisierte Schüler, aber sein Verhalten führte nie zu einem Strafverfahren.

Obwohl Becker die Ideale einer liberalen Pädagogik beschädigte und die Menschen enttäuschte, die nach der Nazizeit von besseren Erziehungszielen träumten, konnte Hartmut von Hentig in seinem Nachruf »unter ungebrochenem Schutzschweigen der liberalen Öffentlichkeit den Lebensgefährten Becker allenfalls als Opfer vorstellen, aber nie und nimmer als aggressiven Missbraucher«1.

Da wären wir schon beim ersten zentralen Thema in fast allen Bereichen von Männerverfehlungen: Das Bewahren von Idealen durch Ausblenden störender Realität werden wir beim Missbrauch in Familien, von Klerikern, in Schulen, Internaten oder bei den Pfadfindern finden. Schon hier, ganz am Anfang, stellt sich die Frage, was Ideale wert sind, die auf dem Rücken anderer Menschen bewahrt werden.

John Lasseter, der Gründer des Trickfilmstudios PIXAR, aus dem diese tollen Filme kamen, die meine Kinder so liebten – »Toy Story«, »Findet Nemo«, »Cars«, »WALL-E« –, musste gehen, wegen »Übergriffigkeiten«. Er fand einen neuen Arbeitgeber, die Produktionsfirma Skydance, der ihm einige Millionen bot, damit er dort Chef werden wollte. Dafür ist dann Emma Thompson gegangen und erklärte ihren Abschied von Skydance mit einigen bemerkenswerten Sätzen: »Mir ist sehr bewusst, dass der über Jahrhunderte bestehende Anspruch auf die Körper von Frauen nicht über Nacht verschwinden wird, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Auch nicht in einem Jahr. Aber mir ist ebenfalls bewusst, dass Menschen, die sich wie ich klar positioniert haben, dazu stehen sollten. Sonst ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Dinge in einem Tempo ändern, das geeignet wäre, die Generation meiner Töchter zu schützen.«2

Sollen meine Kinder seine Filme nun nicht mehr gut finden?

Damit sind wir beim nächsten wiederkehrenden Thema im Zusammenhang mit kreativen und dominanten Männern: Dürfen wir ein Werk nicht mehr gut finden, weil sein Schöpfer menschlich fies ist?

Richard Wagner war ein Prototyp dieser männergenerierten Ambivalenz: illoyal zu seinen treuesten Mitstreitern – seinem Stardirigenten Hans von Bülow spannte er die Frau aus, widerlich antisemitisch in seinen Schriften, obwohl Hermann Levi seine wichtigste Oper, den »Parsifal«, zur Uraufführung brachte –, undankbar gegen seinen Lebensretter und Wohltäter Ludwig II. von Bayern, gegen den er hinter seinem Rücken mit Bismarck intrigierte.3 Schließlich wurde er von allen möglichen zwielichtigen Gestalten, mit denen Sie kein Bier trinken würden, als Vorbild propagiert, vor allem von den Nazis. Trotzdem finden viele integre Menschen seine Opern unglaublich gut. Was verkörpert Wagner, dass er von so verschiedenen Menschen und Denkrichtungen für sich reklamiert wird?

Wie Alexander Ross zeigt, der eines der besten Bücher über Wagner geschrieben hat, ist dieser in vielen entscheidenden Fragen so unbestimmt und ambivalent, dass fast jeder daran andocken kann. Man kann sich mit dem machtgeilen Wotan wegen der ihn begleitenden fantastischen Musik identifizieren und eine reine Seele behalten, immerhin macht Wagner doch klar, dass Macht ein böses Ende nimmt. Seine »Helden« leben immer wieder das Drama des grenzüberschreitenden Mannes vor, das heute wirklich niemanden mehr interessieren müsste, aber er lässt diese Männer untergehen, die Natur (!) wird in ihre alten Rechte eingesetzt, und Wagner bleibt der Revolutionär, der er schon in seiner Jugend war.

Dieses Unbestimmte, Offene, das im Fall von Wagner Adolf Hitler begeisterte und gleichzeitig ermöglicht, dass Daniel Barenboim immer wieder faszinierende Interpretationen Wagnerscher Musik entwickelt, in Bayreuth und in Israel, dieses Unbestimmte ist geradezu idealtypisch für viele Männerrollen. Und es ist ihr Problem, denn in der realen Welt müssen wir uns festlegen. Schillernd dahinzuwabern, das ist nur geeignet für die Oper.

Einer, der vor allem mit Wagner viel Geld verdient hat, war James Levine: Gänzlich unsatirisch beschreibt Harald Martenstein4, wie er als Journalist in einer Münchner Kulturredaktion mitbekam, dass der Dirigent auf eine wichtige Position im Musikleben Münchens berufen werden sollte. Gesprächsstoff war die offensichtlich bekannte Gier des international berühmten, aber noch nicht berüchtigten Musikers nach »kleinen Jungs«. Doch außer dem Stoßseufzer »Hoffentlich geht das gut!« zeigte niemand dem damals im Zenit seines Ruhms stehenden Stardirigenten die Grenzen, die in der bayerischen Metropole um die Jahrtausendwende eigentlich doch hätten vorhanden sein sollen. Ein ziemlich schwächliches »irgendwie«, wie wir wissen – spätestens seit dem Hochschwappen des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche. Martenstein benennt einen wesentlichen Punkt, der die Zurückhaltung der Verwaltung gegenüber dem langjährigen Chefdirigenten erklärt: »Ich vermute, dass jeder, der damals ernsthaft dieser Spur nachgegangen wäre, in der Branche als Nestbeschmutzer dagestanden hätte.«5

Unheilige Netzwerke der Macht

Er vermutet wohl richtig und gibt gleich einen Hinweis zum Verständnis solcher Ungeheuerlichkeiten: Netzwerke von Männern setzen das Interesse des »Netzes« über die Moralvorstellungen der Gesellschaft und ermöglichen so das Ungeheuerliche. Ein ziemlich verbreitetes Phänomen. So garantierte etwa der Zusammenhalt seines Netzwerks aus guten Freunden dem Direktor der Münchner Musikhochschule Sigi Mauser auch dann noch seine »Festschrift«, als er wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.6 Die betroffenen Frauen wurden in dieser Festschrift erwartungsgemäß totgeschwiegen.

Die Realität des Worts »totschweigen« (übrigens in unserem Zusammenhang ein Wort mit gefährlicher Doppeldeutigkeit, wie wir noch sehen werden) zelebrierten Netzwerke aus hochrangigen, vorwiegend evangelischen Geistlichen, Nazis, amerikanischen und britischen Geheimdiensten, die nach dem Zweiten Weltkrieg Naziverbrecher retteten und über die Toten schwiegen: Otto Ohlendorf, Leiter einer »Einsatzgruppe D«, »operierte« hinter der Front im Kaukasus und der Ukraine und wurde in einem der Nürnberger Prozesse wegen der Ermordung von 90 000 Menschen zum Tod verurteilt. Doch seine Hinrichtung verzögerte sich, weil hohe, vor allem evangelische Geistliche dagegen protestierten. Ein unheiliges Netzwerk, an dem der Vatikan eifrig mit gesponnen hat, ermöglichte es Naziverbrechern wie Josef Mengele, Adolf Eichmann oder Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, über die »Rattenlinie« nach Südamerika7 zu fliehen. Erstaunlich, wie Männernetzwerke unter der Beteiligung der Kirchen Ethik und Moral als irrelevant abtun! Auch die Aufarbeitung des Missbrauchs durch Kleriker in unserer Zeit scheint diesem Prinzip zu folgen.

Fast schon trivial ist die Verbindung der Männer zur Macht. Ständig, täglich, überall werden »Dinge« getan, die nicht getan werden dürften. Aber wir lassen sie geschehen, denn die Täter sind mächtig: Cosby war mächtig, Weinstein war mächtiger, Levine war »ein kulturelles Großunternehmen, viele verdienten viel Geld mit ihm«8.

Die Macht entfaltet ihre eigene Dynamik, indem sie Privilegien schafft, die dem Mächtigen eine Sonderstellung geben. Im Umgang mit diesen Privilegien zeigt sich unsere eigene Verstrickung: Weil wir gerne unseren Anteil an den Berühmten und Dominierenden hätten, vielleicht ein wenig an ihrem Glanz teilhaben wollen, räumen wir ihnen Sonderrechte ein, die im Widerspruch zur Grundannahme der Gleichheit aller Menschen stehen. Und so kommt es, dass diese Privilegien demokratische Prinzipien außer Kraft setzen. Denn keineswegs nur die sexuellen Verfehlungen glamouröser Künstler, sondern auch Privilegien hervorragender Bürger entfalten gewaltige Wirksamkeit.

In der schönen Stadt Hamburg stellte sich kurz vor der Bürgerschaftswahl 2020 die Frage: »Warum ließ die Finanzbehörde der Hansestadt Millionenbeträge an Steuerrückzahlungen verjähren? Warum bot sie Warburg […] sogar einen Deal an, bei dem die Bank nur einen Bruchteil der wohl zu Unrecht ausgezahlten Steuern hätte zurückzahlen müssen?«9 Na ja, es ist die Warburg Bank, der Inbegriff hanseatischer Würde, Tafelsilber vom Feinsten! Diese Bank hat der häufig klammen Hansestadt oft hilfreich unter die Arme gegriffen. Deswegen identifizieren sich zumindest viele der oberen Zehntausend der Hamburger Bürger mit ihr. Und ihre Oberen genießen Privilegien, an die ein Normalbürger nicht zu denken braucht, zum Beispiel, dass die Finanzbehörde eben mal die Rückzahlung von 47 Millionen Euro irgendwie »vergisst«.

Irgendwann halten wir es für ganz normal, einem besonderen Menschen auch besondere Vorrechte zuzugestehen. Mensch? Sagen wir Mann, denn privilegiert sind Männer. Und wenn wir einen Menschen/Mann erst mal über die anderen, über die Masse herausgehoben haben, klingelt unser inneres Alarmsystem nicht mehr, das Grenzüberschreitungen in freie, verdächtige Räume sonst seismografisch registriert. Uns fällt nicht mehr auf, dass uns niemals Steuern erlassen wurden, wir lassen geschehen, was wir jeder oder jedem Nichtprivilegierten mit Nachdruck verbieten würden. Nur weil der vermeintlich Besondere den Saum der Macht einmal berührt hat. Natürlich können in diesen Sphären von Genialität, Geld und Macht auch politische Repräsentanten, Beamte, selbst die Strafverfolger nicht einfach so tun, als stünden dieser Person nicht doch etwas andere Vorteile zu als Otto Normalbezahler. Gleichbehandlung käme in den Netzwerken dominierender Männer nicht gut an.

Sehen Sie das nicht so? Sie meinen, um diesen ollen Kram wollen Sie sich nicht kümmern? Viele dieser Geschichten sind ja schon so lange her. Stimmt! Bei der Arbeit an diesem Buch fiel mir auf, wie schnell wir vergessen! All diese Skandale haben einmal erhebliche Aufmerksamkeit erregt, beherrschten die Tages- und Wochenpresse. Dann werden sie vergessen. Viele der Namen auf der Seite der sonnenverdunkelnden Männer hatten es mal in die Schlagzeilen geschafft, und heute können wir uns kaum noch besinnen, was da war. Und mit unserer Erinnerung schwindet der Zweifel an der männlichen Dominanz und ihren offensichtlichen Schattenseiten, die wie ein roter Faden Geschichte und Gegenwart durchziehen.

Und doch