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Cornwall, Winter 1906: Die Vorfreude in Higher Barton könnte größer nicht sein – das englische Königspaar hat sich zu Weihnachten angekündigt! Selbst Emily, im Herzen Republikanerin, lässt sich von der freudigen Aufregung anstecken. Doch als die ersten Hofbediensteten eintreffen, um den royalen Besuch vorzubereiten, werfen mysteriöse Vorfälle ihre Schatten voraus: Ein rätselhafter Sturz, der beinahe tödlich endet. Und dann wird ausgerechnet Walter Collins, der charmante Kammerherr des Königs, leblos in seiner Badewanne gefunden – mit einem Toaster. Während der Palast den Tod eilig als tragischen Unfall abtut, um einen Skandal zu vermeiden, macht sich Emily auf die Suche nach der Wahrheit. Denn warum hätte Collins einen Toaster mit in die Badewanne nehmen sollen? Je tiefer sie gräbt, desto mehr erfährt sie über den charismatischen Collins, der nicht nur die Herzen der Damenwelt höher schlagen ließ. Hat sich der Kammerherr mit seinen Eroberungen zu viele Feinde gemacht? Oder steckt hinter seinem Tod ein viel größeres Geheimnis? Die Zeit drängt, denn der königliche Besuch rückt näher, und der Mörder hat Emily bereits ins Visier genommen...
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2025
Miss Emily und die Schatten der Vergangenheit
Rebecca Michéle
Rebecca Michéle
EINS
Higher Barton, Cornwall – Dezember 1906
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
Mit der Kanne in der Hand trat der Diener an den ovalen Tisch im kleinen Speisezimmer.
»Darf ich Ihnen nachschenken, Mylady?«, fragte er.
»Danke gern, Andrews.«
Emily schob ihm ihre Tasse hin, damit er einschenken konnte. Dann trat Andrews wieder zurück und stellte sich neben die Anrichte, auf der das warme Frühstück auf Rechauds warmgehalten und den Herrschaften nach deren Wünschen vorgelegt wurde.
Emily gegenüber saß ihr Onkel Alwyn, Lord Tremaine, der Eigentümer des altehrwürdigen Hauses Higher Barton und Inhaber zweier profitabler Zinn- und Kupferminen. Er las im Wirtschaftsteil des Cornwall Observers, der auflagenstärksten Tageszeitung des Herzogtums. Nur selten frühstückten Emily und ihr Onkel zusammen. Alwyn war ein Frühaufsteher und bei Sonnenaufgang meistens schon auf seinem Besitz unterwegs, während Emily von einem der Hausmädchen geweckt werden musste, sonst hätte sie wohl bis zum Lunch geschlafen. Jetzt im Winter, wenn es erst spät hell wurde, fiel Emily das frühe Aufstehen besonders schwer. Die meisten Nächte teilte der rotgetigerte Kater Sabu ihr Bett. Er schlummerte ebenfalls so lange wie Emily. Das Personal, und wohl auch Alwyn Tremaine, wussten von Emilys regelmäßigem Schlafgast. Dem Personal stand es jedoch nicht an, Kritik an Ihrer Ladyschaft zu äußern, und der Onkel hatte eingesehen, dass es sinnlos war, Emily etwas vorzuschreiben.
Alwyn legte die Zeitung auf den Tisch und fragte: »Was hast du heute vor, Emily?«
»Ich möchte mir den Fortschritt der Arbeiten beim Waschraum von Wheel Brane ansehen«, erklärte Emily. »Es ist nötig, Handwerkern ab und zu auf die Finger zu sehen.«
»Wobei die Arbeiter schwer zu schlucken haben«, bemerkte Alwyn, »ihre Anweisungen von einer Frau zu erhalten.«
»Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Emily und trank von dem würzig-herben Tee. Sie sah zum Fenster. »Wenigstens regnet es heute nicht wieder«, fuhr sie fort. »Ich werde zu Fuß zur Mine gehen. In den letzten Tagen hatte ich viel zu wenig Bewegung.«
»Du kannst Jasper mitnehmen«, schlug Alwyn vor.
Emily nickte. Der cornische Hütehund, ein weiteres Haustier auf Higher Barton, war immer gern bereit, Emily auf ihren Spaziergängen zu begleiten. Meistens hielt sich der Rüde im Cottage des Verwalters Gregson auf, der ihn auch fütterte. So wohlerzogen und artig wie Jasper sich verhielt, war er als Wachhund völlig ungeeignet, weil er den Menschen gegenüber neugierig und aufgeschlossen war und sich von jedem kraulen ließ.
»Ach, Emily …« Ein Hustenanfall verhinderte, dass Alwyn weitersprach. Er presste sich ein Taschenbuch vor den Mund. Nachdem er wieder normal atmen konnte, schnäuzte er sich kräftig die gerötete Nase.
»Du solltest dich besser ausruhen, Onkel Alwyn.«
»Es ist nur eine harmlose Erkältung. Kein Grund, nutzlos im Bett zu liegen.«
»Aus einer Erkältung kann schnell eine Lungenentzündung werden«, mahnte Emily. »Den Arzt hast du auch nicht kommen lassen.«
»Deine Sorge um mich in allen Ehren«, erwiderte Alwyn schmunzelnd, »aber in meinem Leben habe ich schon weitaus Schlimmeres als ein bisschen Schnupfen und Husten überstanden. Wenn es dich beruhigt, werde ich heute nicht mit Gregson zu den Pächtern reiten, sondern im Arbeitszimmer Unterlagen durchsehen.«
Emily seufzte verhalten. Alwyn Tremaine hatte einen eigenen Kopf und starken Willen. Diesbezüglich waren sich Onkel und Nichte sehr ähnlich, wobei ihre Verwandtschaft weitläufig war. Alwyn und Pedrek, Emilys vor sechs Jahren verstorbener Vater, waren lediglich Großcousins. Ihrer beider Großvater waren Brüder gewesen. Während die Linie der Tremaines von Higher Barton in Cornwall verblieben war, war ein anderer Zweig nach London gegangen. So gesehen gebührte Emily nicht die Anrede Mylady. Obwohl sie den alten Familiennamen trug, war ihr Vater nie in den Adelsstand erhoben worden, also war sie nur eine einfache Miss Tremaine. In den vergangenen siebzehn Monaten, die sie nun schon auf Higher Barton lebte, hatte sie vergeblich versucht, die Dienerschaft zu überzeugen, sie mit Miss Emily oder mit Miss Tremaine anzusprechen. Der Onkel hingegen fand es richtig, wenn seine Nichte eine Stellung in der Gesellschaft einnahm und auch so behandelt wurde, denn sie war die letzte Lebende der Linie Tremaine. Alwyn war zwar verheiratet gewesen, hatte seine Frau aber nach kurzer Ehe durch ein Fieber verloren, und aus der Verbindung waren keine Kinder hervorgegangen. Mit achtundvierzig Jahren war er sicherlich jung genug – zudem von einem attraktiven Äußeren –, sich erneut zu verheiraten und einen Erben zu zeugen. Selbst wenn nicht: Emily würde den Besitz nicht erben, einzig aus dem Grund, weil sie eine Frau war. Mit einem entsprechenden Testament konnte Alwyn sie zwar finanziell absichern, so dass sie niemals Not leiden musste, Higher Barton und der Titel würden jedoch an einen männlichen Nachfolger gehen. Von einem solchen war zwar nichts bekannt, das gültige Gesetz schrieb jedoch vor, dass so lange gesucht werden muss, bis ein männlicher Erbe gefunden war. In vielen Familien ging das Hab und Gut an jemanden, von deren Existenz die Verwandten zuvor nichts gewusst und den sie nie zuvor gesehen hatten.
Emily empfand das als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie so vieles, das Frauen ausschloss. Obwohl der Onkel manchmal ein ausgesprochener Snob sein konnte und sein Denken noch fest im viktorianischen Zeitalter verankert war, hatte sie gelernt, wie sie ihn nehmen musste. Neuen Denkweisen stand Alwyn grundsätzlich skeptisch gegenüber, ebenso technischen Neuerungen, denen er, wenn überhaupt, erst nach reiflicher Überlegung zustimmte. Vor allen Dingen durfte sie ihn zu nichts drängen. Inzwischen verstand sie es nahezu perfekt, den Onkel von Plänen, die ihr am Herzen lagen, so zu überzeugen, dass er am Ende der Ansicht war, es sei seine alleinige Entscheidung gewesen.
Das Eintreten des Butlers riss Emily aus ihren Gedanken. Gemessenen Schrittes trat Marston zu Alwyn und präsentierte ihm das silberne Tablett. Das Ritual war jeden Morgen das gleiche, nachdem die Post abgegeben worden war. Heute meinte Emily jedoch, beim Butler eine gewisse Nervosität zu bemerken, wenngleich seine Gesichtszüge wie stets unbewegt waren.
»Die Post, Mylord.« Emily täuschte sich nicht: Die Hand des Butlers zitterte leicht.
Raymond Marston, niemand nannte je seinen Vornamen, diente seit Jahrzehnten der Familie Tremaine. Mit zwölf Jahren war er als Laufbursche nach Higher Barton gekommen. Durch unermüdlichen Fleiß, Intelligenz und vor allen Dingen bedingungsloser Loyalität gegenüber der Herrschaft hatte er sich zum Butler hochgearbeitet. Ein Privatleben kannte Marston nicht. Jedenfalls war Emily nicht bekannt, dass er außerhalb des Hauses Kontakte pflegte. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit einem leichten Bauchansatz und einem kerzengeraden Rücken. Sein lichter, brauner Haarkranz war von grauen Strähnen durchzogen. Marston hatte das Talent, sich nahezu lautlos durch das Haus zu bewegen. Damit hatte er Emily mehrmals erschreckt, inzwischen hatte sie sich an die nahezu ständige Präsenz des Butlers gewöhnt.
»Danke, Marston.« Alwyn nahm die drei Briefe an sich, dann den silbernen Brieföffner und schlitzte die Umschläge auf. Allerdings zog er die Schreiben nicht heraus, sondern legte sie neben seinen leeren Teller.
»Mylord …« Marston räusperte sich. »Der eine Brief … Das Wappen …«
Nie zuvor hatte Emily den Butler um Worte verlegen erlebt.
»Ich werde die Nachricht später in Ruhe lesen«, sagte Alwyn mit angehobenen Mundwinkeln. »Außerdem kann ich mir denken, worum es geht.«
Emily reckte sich vor und versuchte, das Wappen auf einem der Umschläge zu erkennen, aber sie saß zu weit entfernt. Obwohl sie und Alwyn ihre Mahlzeiten im kleinen Speisezimmer im Erdgeschoss einnahmen, bestand er darauf, sich an dem zwei Meter langen Tisch gegenüberzusitzen. Im großen Speisesaal im ersten Stock wurde nur gedeckt, wenn Gäste im Haus waren, da um den dortigen Tisch herum zwanzig Personen Platz fanden. Emily hätte es viel gemütlicher gefunden, hier unten direkt neben dem Onkel zu sitzen.
»Für mich ist kein Brief gekommen?«, fragte sie.
Marston neigte den Kopf in ihre Richtung. »Zu meinem Bedauern nein, Mylady.«
»Sie wird dir bestimmt bald schreiben«, sagte Alwyn. »Du musst dich gedulden.«
»Es sind nun schon über fünf Monaten vergangen. In Lucys Augen bin und bleibe ich eine Verräterin.« Emily klang bitter. »Ich habe ihr immer und immer wieder versucht zu erklären, warum ich nicht anders handeln konnte. Im Juni, als ich Lucy in London besuchen wollte, schlug sie mir die Tür vor der Nase zu.«
Vor Marston und dem Diener konnten sie und Alwyn offen sprechen. Die Dienstboten wussten ohnehin alles, und kein Wort, das hier gesprochen wurde, würde diesen Raum jemals verlassen.
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Mylady«, Marston räusperte sich kurz, »Sie haben sich vollkommen korrekt verhalten und nachhaltigen Schaden an Leib und Seele vieler Menschen verhindert.«
»So kann man es auch ausdrücken«, murmelte Emily. Das Lächeln über Marstons geschraubte Ausdrucksweise unterdrückte sie. »Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, Lucy als Freundin verloren zu haben.«
»Durch die Entfernung war euer Kontakt ohnehin gering«, bemerkte Alwyn. »Darüber hinaus gehört die Frau einer anderen Welt an als du, was ich begrüße. Du weißt, Emily, dass ich für vieles Verständnis habe. Deinen engen Kontakt zu den Frauenrechtlerinnen missbillige ich jedoch zutiefst.«
Marston gab zwar keinen Mucks von sich, seiner Miene war aber anzusehen, dass er die Ansicht seines Herrn teilte.
Ein hoher, schriller Ton drang durchs Haus und entband Emily einer Antwort.
»Oh, mein Gott!«, keuchte der Butler.
»Ich glaube, das war nur die Glocke an der Vordertür, Marston«, sagte Emily. Nun konnte sie ihre Erheiterung nicht länger bei sich behalten. »Gott selbst wird wohl kaum an der Tür klingeln.«
»Emily, bitte!« Alwyn sah sie streng an, die Fältchen in seinen Augenwinkeln tanzten jedoch auf und nieder. »Marston, bitte öffnen Sie, bevor es ein zweites Mal läutet. Das Geräusch geht einem wirklich durch Mark und Bein.«
»Dafür ist die Klingel im ganzen Haus zu hören«, bemerkte Emily.
»In der Tat, Mylady, in der Tat.« Marston verbeugte sich und verließ mit steifen Schritten das Speisezimmer.
»Er wird sich daran gewöhnen«, sagte Alwyn. »Anfänglich fand ich das Schrillen der elektrischen Klingel ebenfalls befremdlich.«
»Wie die gesamte Elektrifizierung des Hauses«, entgegnete Emily. »Ist es nicht praktisch, beim Betreten eines Raums nur am Schalter zu drehen und sofort helles Licht zu haben? Mit dem Strom wird die Brandgefahr erheblich eingeschränkt, wenn nicht sogar verhindert, weil keine Kerzen mehr angezündet werden müssen.«
»Marston ist anderer Meinung, Emily. Er glaubt, jedes Mal, wenn eine Lampe angeschaltet wird, würde gleich ein Blitz aus der Steckdose fahren und das Haus in Flammen aufgehen lassen.« Alwyn runzelte die Stirn und fuhr ernst fort: »Wir sollten uns weder über Marston noch über andere lustig machen. Durch den Einbau der Badezimmer mit jeweils einem elektrischen Boiler für das warme Wasser haben die Mädchen nun weniger zu tun und können die Zeit für andere Arbeiten nutzen.« Er kratzte sich am glattrasierten Kinn und sah Emily durchdringend an. »Ich weiß wirklich nicht, Nichte, wie du mich dazu bringen konntest! Sogar das Personal hat ein eigenes Badezimmer im Dachgeschoss bekommen. Zwei Monate lang Staub und Schmutz im ganzen Haus!«
»Es war ganz allein deine Entscheidung, Onkel Alwyn«, erwiderte Emily mit einem unschuldigen Blick. »Wenn du das neue Badezimmer neben deinem Zimmer auch benutzen würdest, würdest du schnell dessen Bequemlichkeit zu schätzen wissen.«
»Mit der Sitzwanne aus Zink bin ich vollkommen zufrieden.«
»Dafür müssen die Mädchen das heiße Wasser eben doch aus der Küche nach oben schleppen«, gab Emily zu bedenken. »Das ist mehr Arbeit, Onkel Alwyn! Jetzt müssen sie nur die Hähne aufdrehen. Am Rande bemerkt: Ich mache das selbst, wenn ich ein Bad nehme. Dafür brauche ich kein Mädchen.«
»Ebenso, wie du dich weigerst, eine Zofe einzustellen. Ich fürchte, bei allem guten Willen können wir uns den modernen Zeiten nicht verschließen. Wobei mir manche Dinge zu schnell gehen, während du alles am liebsten auf einen Schlag modernisieren willst. Komm mir jetzt bitte nicht wieder mit einem Fernsprechapparat oder gar Automobil, Emily! Für dieses Jahr haben wir uns dem 20. Jahrhundert genügend angenähert.«
Marston kehrte zurück und sagte: »Vikar Cranleigh bittet um die Ehre eines Gesprächs mit Eurer Lordschaft.«
»So früh am Tag?« Alwyn runzelte die Stirn. »Nun gut, führen Sie ihn herein, Marston.« Nachdem der Butler gegangen war, fuhr Alwyn fort: »Ich nehme an, du wirst deine Inspektion des Waschhauses etwas verschieben, nicht wahr? Du möchtest sicher erfahren, was unser Geistlicher mit mir zu besprechen hat.«
»Du kennst mich wirklich gut, Onkel Alwyn.«
»Und je mehr ich dich kennenlerne, Emily, desto mehr schätze ich dich.«
Emilys Wangen wurden warm. Komplimente aus dem Mund des Onkels waren selten, umso mehr wusste sie solche zu würdigen.
Horatio Cranleigh, Vikar des Ortes Lower Barton, das zum Herrschaftsgebiet von Higher Barton gehörte, war wie immer von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Beim Eintreten nahm er seinen dunklen, steifen Hut mit der schmalen Krempe ab und verbeugte sich vor Alwyn, der just in diesem Moment kräftig niesen musste.
»Eine Tasse Tee, Vikar?«, fragte Emily.
»Das ist sehr freundlich, aber danke nein. Ich möchte lieber gleich zur Sache kommen.« Wie auch der Butler hielt sich Cranleigh kerzengerade, sein Gesichtsausdruck war ebenso unbeweglich. »Allerdings sehe ich, dass Sie, Mylord, unpässlich sind. Es ist wohl besser, mit meinem Anliegen zu warten, bis es Ihnen besser geht.«
»Warum denken alle, ich stünde bereits mit einem Bein im Grab?«, knurrte Alwyn.
»Bei allem Respekt, Mylord«, erwiderte Cranleigh, »mit einem Schnupfen ist nicht zu spaßen. Gerade bei dem derzeitigen wechselhaften Wetter. Gestern jagte der Sturm den Regen nahezu waagrecht über die Landschaft, und heute scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel.«
»Das ist eben Cornwall«, sagte Emily lächelnd. »Ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass wir wohl ein weiteres, schneefreies Weihnachtsfest bekommen werden.«
Erneut nieste Alwyn und schnäuzte sich. Seine Nase leuchtete rot, und seine Stimme klang belegt, als er mit einem Anflug von Ungeduld fragte: »Was führt Sie zu uns, Vikar? Bitte sprechen Sie, denn es wartet viel Arbeit auf mich.«
»Dann möchte ich gleich zur Sache kommen «, antwortete der Vikar. »Gestern Abend erhielt ich Besuch von Tom Nanstallon.«
»Nanstallon?«, wiederholte Alwyn.
»Einer Ihrer Pächter, Mylord. Er lebt auf der Tregullen Farm.«
»Ach ja, ich erinnere mich«, erwiderte Alwyn. »Gregson erwähnte den Namen vor ein paar Tagen.«
»Sicherlich in dem Zusammenhang, dass Mr Nanstallon mit seiner Pacht im Rückstand ist.«
»Sie haben recht, Gregsons Beschwerde über den Pächter fällt mir wieder ein.« Alwyn sah Cranleigh fragend an. »Wie kommen Sie ins Spiel, Vikar?«
»Sie haben Tom Nanstallon aufs Jahresende gekündigt«, erklärte Cranleigh. Seine Stimme klang kühl. »Er und seine Familie müssen die Farm bis spätestens zweiten Januar räumen. Ich frage mich, Mylord, ob Ihnen bekannt ist, dass der Orkan im vergangenen Oktober den Großteil seiner Ernte vernichtet hat –«
»Von dem Sturm waren viele Farmer betroffen«, schnitt Alwyn dem Vikar das Wort ab. »Ich denke, ich weiß, was Sie von mir wollen. Sie appellieren an mein Mitgefühl, die Kündigung zurückzuziehen und Nanstallon noch eine Chance zu geben.«
»Das ist richtig«, gab Cranleigh zu. »Des Pächters Frau ist leidend, seine vier Kinder sind noch zu jung, um auf dem Hof hart mitanpacken zu können.«
»Alice Nanstallon ist eine gute Schülerin«, mischte sich Emily ein. »Wenn sie weiterhin fleißig lernt, kann sie mehr aus ihrem Leben machen, als in Stellung zu gehen oder die Frau eines Farmers oder Fischers zu werden.«
Cranleigh hob spöttisch eine Augenbraue. »Ein weiteres weibliches Wesen«, sagte er, »dem Sie das Ehejoch ersparen wollen. Vielleicht möchte das Mädchen aber eines Tages heiraten und Mutter sein. Solche Frauen sind glücklicherweise noch nicht ausgestorben.«
»Das hat nichts mit einer guten Ausbildung zu tun!«, rief Emily aufgebracht. »Ich möchte lediglich, dass allen Kindern, gleichgültig, ob Jungen oder Mädchen, die Chance gegeben wird, zu lernen. Ob sie es später anwenden und was sie aus ihrem Leben machen, ist deren Sache.«
»In Mr Harris haben Sie einen eifrigen Unterstützer Ihrer Ziele gefunden«, erwiderte der Vikar. »Der Lehrmeister würde sowieso alles tun, um Ihnen zu gefallen.«
Emilys Wangen wurden warm. Sie hoffte, nicht zu erröten. Charles Harris, der Lehrer an der Schule für die Kinder der Minenarbeiter, verhehlte nicht, dass er gewisse romantische Gefühle für Emily hegte. Wobei er natürlich die Grenzen des Anstandes nicht überschritt. Sie mochte den sympathischen Mann, mehr konnte sie sich nicht vorstellen. Ihre Verlegenheit kam eher daher, dass sie gemeint hatte, in Horatio Cranleighs Bemerkung – war sie auch ironisch eingeworfen – den Unterton von Eifersucht herausgehört zu haben.
»Ich habe mir das jetzt lange genug angehört«, sagte Alwyn bestimmend, »und mich daran gewöhnt, dass ihr beide nicht beisammen sein könnt, ohne miteinander zu streiten.«
»Wir streiten nicht!«, riefen Emily und Cranleigh unisono. Das brachte beide zum Lachen, und die Stimmung entspannte sich schlagartig.
»Kommen wir auf Ihr Anliegen zurück, Mr Cranleigh«, fuhr Alwyn fort. »Es ist löblich, dass Sie sich für den Pächter einsetzen. Hat Nanstallon Ihnen aber auch gesagt, dass es nicht nur um die letzte verlorene Ernte geht? Davon waren alle meiner Pächter, die sich mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigen, betroffen. Inzwischen ist Nanstallon die Pacht seit über einem Jahr schuldig. Gregson meinte, jeden Monat, wenn die Zahlungen fällig werden, hat der Pächter eine neue Ausrede parat.«
»Oh!« Scharf zog Emily die Luft ein. »Wenn die Familie aber krank ist –«
»Das mag vielleicht auf Mrs Nanstallon zutreffen«, unterbrach Alwyn sie streng. »Er ist vollkommen gesund. Jedenfalls gesund genug, um im Sailor's Rest ein regelmäßiger Gast zu sein und mehr als nur Pennys dort liegen zu lassen.«
»Das wusste ich nicht«, gab Cranleigh zu. Er wirkte betroffen. »Trotzdem, Mylord … In zwei Wochen ist Weihnachten. Es wäre ein christlicher Akt, Tom Nanstallon eine weitere Frist einzuräumen.«
»Keinesfalls muss er zum Fest gehen. Die Familie kann Weihnachten noch dort verbringen. Ich finde das äußerst christlich, Vikar, bedenkt man die hohen finanziellen Verluste, die die Tregullen-Farm seit Monaten verursacht.«
Alwyn wirkte hart und unnachgiebig, ganz der große Landlord, dem die Schicksale seiner Pächter gleichgültig waren. Emily wusste, dass dem nicht so war. Der Onkel legte oft eine gehörige Portion Strenge und Snobismus an den Tag, hatte aber auch ein weiches, nachgiebiges Herz. In den vergangenen eineinhalb Jahren war unter Alwyns Leitung eine Menge zum Guten verbessert worden. Unter anderem die Schule für die Arbeiterkinder, die zuvor keinen Zugang zu Bildung gehabt hatten, denn der offizielle Schulunterricht in Lower Barton kostete Geld. Geld, das die Minenarbeiter nicht aufbringen konnten. Außerdem hatte Alwyn für die Miners einen eigenen Arzt eingestellt, dessen Kosten er bezahlte.
»Higher Barton ist auch ein Wirtschaftsunternehmen«, fuhr Alwyn fort. »Bei aller Geduld: Ich kann es mir nicht leisten, Leute zu beschäftigen, die nicht bereit sind, anständig zu arbeiten.«
»Ich werde auf Mr Nanstallon einwirken«, schlug Cranleigh vor, »dass er künftig seinen Pflichten besser nachkommt. Seine Kinder dürfen nicht unter dem Versagen des Vaters leiden.«
»Ach, Onkel«, mischte sich Emily ein, »gib dem Pächter doch noch Zeit bis zum nächsten Sommer. Wenn er sich dann nicht geändert hat, wirst du von mir keinen Einwand hören, wenn du ihm kündigst. Es ist bald Weihnachten.«
Huldvoll senkte Alwyn den Kopf. »Ich werde den Fall mit dem Verwalter besprechen.« Er deutete auf den Stuhl links von ihm. »Mr Cranleigh, bitte setzen Sie sich und trinken Sie einen Tee. Es ist gut, dass Sie mich heute aufgesucht haben, denn ich habe etwas mitzuteilen, dass auch Sie betrifft. Andrews, eine Tasse für den Vikar!«
Der Diener, der mit unbewegter Miene das Gespräch verfolgt hatte, kam der Aufforderung sofort nach. Horatio Cranleigh nahm Platz, und Emily stand auf und setzte sich ihm gegenüber an die rechte Seite des Onkels.
»Hat es etwas mit dem Brief zu tun, der Marston in Unruhe versetzt hat?«, fragte sie gespannt.
Das entsprechende Schreiben lag immer noch neben Alwyns Teller, allerdings unter einem anderen Brief, so dass Emily das Wappen auf dem Umschlag immer noch nicht erkennen konnte.
»In der Tat, Emily«, bestätigte Alwyn. »Allerdings kommt die Nachricht nicht überraschend. Im Juni erhielt ich eine entsprechende Andeutung, damals war es jedoch noch vage.«
»Im Juni?« Emily runzelte die Stirn. »Als wir in London waren? Ach bitte, spann uns doch nicht länger auf die Folter, Onkel Alwyn!«
Alwyn lehnte sich zurück. Über Emilys Ungeduld wirkte er amüsiert.
»Andrews, Sie können uns jetzt allein lassen«, wies er den Diener an. »Sollten wir weiteren Tee benötigen, wird meine Nichte ihn einschenken.« Dass Alwyn einen Diener hinausschickte, war ungewöhnlich. Der Onkel wartete, bis sie drei allein waren, dann fuhr er fort: »Ich möchte die Neuigkeit zuerst euch mitteilen, das Personal wird später informiert. Sonst gibt es nur unnötige Aufregung in der Küche.«
Unruhig rutschte Emily auf dem Stuhl umher. Der Onkel war kein Geheimniskrämer, jetzt wollte er die Nachricht aber so lange wie möglich hinauszögern, um die Spannung zu erhöhen. Gelassen trank Horatio Cranleigh einen Schluck Tee. Er tat, als würde er Alwyns Verzögerungstaktik weder bemerken noch kümmerte es ihn.
»Zu Weihnachten erwarten wir Gäste«, erklärte Alwyn schließlich. »Sie werden am Dreiundzwanzigsten zur Teezeit eintreffen und eine Nacht auf Higher Barton verbringen. Am Heiligen Abend besuchen wir am Vormittag gemeinsam den Gottesdienst und nehmen dann hier den Lunch ein. Danach wird die Gesellschaft aufbrechen und zu ihrem eigentlichen Ziel weitereisen.«
»Am Heiligen Abend findet die Christmette immer erst um Mitternacht statt«, wandte Cranleigh ein. »Ich verstehe nicht, warum am gewohnten Ablauf etwas geändert werden soll.«
»Das, mein lieber Mr Cranleigh«, Alwyn musterte ihn aufmerksam, »ist der Punkt, der Sie betrifft. Selbstverständlich werden Sie wie üblich um Mitternacht den Weihnachtsgottesdienst für die Allgemeinheit abhalten, in diesem Jahr jedoch zusätzlich einen am Vormittag des Heiligen Abends.«
»Der Besuch muss sehr wichtig sein«, sagte Emily, »dass du die gängigen Bräuche über den Haufen wirfst, Onkel.«
»Das ist er«, bestätigte Alwyn. »Ich möchte euch nicht länger auf die Folter spannen. Die Nachricht, die selbst unseren distinguierten Marston aus der Fassung geraten ließ, stammt vom Privatsekretär Seiner Königlichen Majestät.«
»Was bedeutet das?«, fragte Emily, ein Kribbeln lief ihr über den Rücken, da sie die Antwort ahnte.
»Ich nehme an«, antwortete Cranleigh nüchtern, »der König möchte Higher Barton einen Besuch abstatten.«
»So ist es, lieber Vikar«, bestätigte Alwyn gelassen. »Ihre Majestäten werden die Weihnachtstage im Westen bei den St Aubyn's auf St Michael's Mount verbringen. Sie möchten ihre Reise für einen Tag und eine Nacht hier unterbrechen. Das Schreiben ist zwar wie eine freundliche Anfrage formuliert, ob mir der Besuch gelegen kommt, es wird jedoch erwartet, dass ich nun eine formelle Einladung ausspreche, die selbstverständlich noch heute erfolgen wird.«
Emilys Augen weiteten sich, und auch Cranleigh gelang es nicht länger, seine Überraschung zu verbergen. Ob diese freudig oder eher besorgt war, konnte Emily nicht einschätzen.
»Allerdings gibt es einen kleinen Haken bei der Sache«, fuhr Alwyn fort.
»Ich fürchte, bei einem solchen Besuch gibt es mehrere Haken«, bemerkte Cranleigh. »Nicht nur, dass ich einen Gottesdienst einschieben muss, auch dessen Inhalt wird wohl einer gewissen Norm folgen. Vor einem König habe ich noch nie gepredigt, Eure Lordschaft.«
»Sie werden den Text vorher mit mir durchsprechen, Mr Cranleigh«, erwiderte Alwyn. Er hob gleich die Hand, um einen eventuellen Einwurf des Vikars zu unterbinden. »Selbstverständlich werde ich keine Vorschriften machen. Wie Sie selbst sagten, sollten gewisse Normen eingehalten werden.«
Cranleighs Miene verfinsterte sich. Da Emily befürchtete, er würde widersprechen, fragte sie hastig: »Welche meinst du, Onkel Alwyn?«
»Da nicht mehr viel Zeit bleibt und der Privatsekretär natürlich von meiner Einladung ausgeht, hat er bereits vorsorglich alle Anweisungen, die bei einem royalen Besuch zu befolgen sind, seinem Schreiben beigefügt«, erklärte Alwyn. »Mr Cranleigh …«, sein Blick richtete sich fest auf den Vikar, »ich bitte Sie um absolute Verschwiegenheit, selbst Ihrer Wirtschafterin gegenüber. Es wird unvermeidlich sein, dass die Nachricht die Runde in Lower Barton macht. Den Zeitpunkt möchte ich aber so lange wie möglich hinauszögern, um Unruhe zu vermeiden. Keinesfalls sollten Sie derjenige sind, der über den Besuch spricht. In dem Schreiben wird explizit darauf hingewiesen, Ihre Majestäten möchten keinen großen Aufwand. Lediglich nur ein kurzer, informeller Besuch.«
»Meine Lippen sind verschlossen, Eure Lordschaft«, erwiderte Cranleigh ernst.
»Bei royalen Besuchen ist es üblich, dass ein Teil des Hofpersonals vorausreist, um für den Aufenthalt Ihrer Majestäten alles vorzubereiten«, fuhr Alwyn fort. »Das ist der eben von mir erwähnte Haken, denn die Leute werden bereits in zwei Tagen auf Higher Barton eintreffen. Es handelt sich um den Kammerdiener Seiner Majestät, eine der Hofdamen der Königin und eine Frau, die als Zofe ausgebildet wird. Weiter Stallburschen, Knechte und zwei Küchenmädchen. Diese werden ihre Schlafplätze über den Stallungen finden. Der Kammerherr, die Hofdame und die Zofe müssen hier im Haus untergebracht werden. Emily, sorge bitte dafür, dass drei entsprechende Räume zur Verfügung gestellt werden. Über passende Zimmer für Ihre Majestäten und deren Ausstattung wirst du dann von dem royalen Personal informiert werden.«
»Ähm, einen Moment, Onkel«, wandte Emily nachdenklich ein. »Wie können die Dienstboten bereits Tage vorher anreisen? Werden sie denn nicht vom Königspaar benötigt?«
»Ihre Majestäten haben mehrere gleich ausgebildete Angestellte«, erklärte Cranleigh. »Eine Riege steht immer bereit, Reisen und Besuche vorzubereiten. Es ist anzunehmen, dass eine zweite Besetzung zeitgleich zur Familie St Aubyn reist, um dort entsprechende Anweisungen zu geben.«
»Sie kennen sich mit den Gepflogenheiten des Königshauses aus?«, fragte Alwyn. »Es gelingt Ihnen immer wieder, mich zu überraschen, Mr Cranleigh.«
Mich ebenfalls, dachte Emily. Sie wusste längst, dass der Vikar eine Vergangenheit hatte, die nicht unbedingt auf der üblichen Laufbahn eines Geistlichen beruhte. Zu weiteren Erklärungen war er bisher nicht bereit gewesen, und jetzt war weder die Zeit noch der Moment, ihn danach zu fragen.
»Darf ich Ihnen einen guten Rat erteilen?«, fragte Cranleigh. »Nicht als Geistlicher, sondern quasi als Freund.«
»Nach all dem, was Sie für meine Nichte getan haben«, erwiderte Alwyn lächelnd, »dürfen Sie offen sprechen, Mr Cranleigh.«
»Ihre Köchin hat bestimmt getrockneten Huflattich vorrätig. Lassen Sie sich daraus einen Tee aufbrühen, er hilft ausgezeichnet gegen Husten. Zur Linderung des Schnupfens sollten Sie mit Pfefferminzöl inhalieren, das sich sicher ebenfalls in der Küche wird finden lassen.«
Emily erwartete, der Onkel würde Cranleighs Vorschläge von sich weisen, aber Alwyn erwiderte überraschend: »Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen. Schließlich möchte ich den hohen Besuch nicht mit geröteter, laufender Nase begrüßen, oder gar dem König ins Gesicht niesen.«
Es war einer der seltenen Momente, in dem Alwyn Tremaine zeigte, dass er auch Humor besaß. Emily und Cranleigh tauschten einen flüchtigen Blick. Die Fältchen in den Augenwinkeln des Vikars tanzten auf und ab.
»Auf die Nachricht hin brauche ich noch einen starken Tee«, sagte Emily, stand auf und nahm die Kanne von der Anrichte. »Sie auch, Mr Cranleigh?«
»Bei allem Respekt, Miss Tremaine, Mylord – wenn es keine Umstände macht, hätte ich jetzt lieber einen Brandy. Trotz der frühen Stunde.«
Alwyn lachte. »Es ist gut zu sehen, dass auch Sie, lieber Vikar, tatsächlich noch zu überraschen sind.«
Bei der Dienerschaft schlug die Nachricht wie eine Bombe ein. Emily und Alwyn waren in den Wirtschaftsbereich gegangen, um das Personal zu informieren. Die Hausmädchen Nell und Beth pressten die Hände vor ihre weit geöffneten Münder. Patsy, das junge Küchenmädchen, wich zurück und starrte Emily fassungslos an. Die Köchin Mrs Heamoor schüttelte ungläubig den Kopf, und Raymond Marston murmelte: »Ich habe es gewusst! Ich habe es gleich geahnt, als heute Morgen das Schreiben mit dem königlichen Siegel ankam.«
Der Einzige, der sich eher desinteressiert zeigte, war Barnes, Alwyns Kammerdiener.
»In dem Haushalt, in dem ich früher diente«, sagte er mit sonorer Stimme, »hatten wir häufig Angehörige des Königshauses zu Gast. Einmal beehrte uns auch Königin Victoria zum Tee.«
»Sie sind der Königin persönlich begegnet, Mr Barnes?«, fragte die Köchin beeindruckt.
»Nicht direkt«, antwortete der Kammerdiener. »Das Personal durfte vom Fenster aus beobachten, wie die Kutsche Ihrer Majestät ankam und wieder abfuhr.«
»Es versteht sich von selbst«, sagte Alwyn und ließ einen strengen Blick von einem zum anderen schweifen, »dass ich Loyalität und absolute Verschwiegenheit erwarte. Ich halte es für fair, Sie alle heute bereits zu informieren, weil Abweichungen von Ihrem gewohnten Tagesablauf unvermeidlich sein werden. Bereits, wenn die königliche Dienerschaft eintrifft, werden Sie sich gewissen Regeln und Anweisungen zu beugen haben. Jeder Einzelne von uns, bis hinunter zum Küchenmädchen …«, Alwyn sah zu Patsy, die prompt erblasste, »hat seinen Beitrag zu leisten, dass die große Ehre für Higher Barton jedem spürbar wird. Dem royalen Personal ist mit Respekt und Zuvorkommenheit zu begegnen.«
»Eure Lordschaft …« Mrs Heamoor räusperte sich verlegen. »Wenn die Leute vom Hof eintreffen – wird auch ein Koch mitkommen? Ich habe gehört, es sei manchmal üblich, dass die Speisen des Königs von seinem eigenen Koch zubereitet werden.«
»Ich glaube, ich kann Sie beruhigen, Mrs Heamoor«, erwidert Alwyn. »In dem Schreiben wird kein Koch erwähnt. Sie werden unseren Gästen die Mahlzeiten zubereiten. Da Ihre Speisen immer bestens munden, hege ich keinen Zweifel, dass Sie der großen Anforderung gerecht werden, Mrs Heamoor.«
Die Köchin errötete bis zu den Haarwurzeln, knickste und murmelte: »Ich danke Ihnen, Eure Lordschaft.«
»Meine Nichte und ich werden den Speiseplan mit der Hofdame und dem Kammerherrn besprechen und Sie entsprechend über Vorlieben und Abneigungen der Majestäten informieren, Mrs Heamoor«, fuhr Alwyn ungerührt fort. »Für das Gefolge bedarf es keiner besonderen Speisen. Sie werden gemeinsam mit Ihnen essen. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Miss Tremaine.«
Alle bekundeten ihre Zustimmung. Nell und Beth mit leuchtenden Augen, Patsy nach wie vor ängstlich, der Diener Andrews knetete nervös seine Finger, bis die Knöchel knackten. Einzig Marston und Barnes machten den Eindruck, als sei ein royaler Besuch an der Tagesordnung.
Marston drückte noch mehr als sonst seinen Rücken durch, streckte das Kinn vor und sagte: »Wir werden dem Namen Tremaine und Higher Barton keine Schande bereiten.«
»Davon gehe ich aus«, erwiderte Alwyn. Plötzlich runzelte er die Stirn, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen und sagte ernst: »Emily, ich muss mit dir sprechen!«
Sie verließen den Küchentrakt und gingen in die Große Halle. Sie war das Kernstück von Higher Barton und seit der Erbauung des Hauses im 16. Jahrhundert nahezu unverändert. Dass in den früheren Kerzenleuchtern an den Wänden jetzt elektrische Glühbirnen steckten, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Seit Anfang Dezember stand als Blickpunkt der Halle ein ausladender Weihnachtsbaum zwischen dem mannshohen Kamin und der Tür zur Bibliothek. Es hatte vier kräftige Männer benötigt, um die drei Meter hohe Tanne aus den Wäldern ins Haus zu bringen und aufzustellen. Mit Hilfe der Hausmädchen hatte Emily den Baum selbst geschmückt: alte Strohsterne, die Generationen von jungen Tremaines selbst angefertigt hatten, kleine Holzfiguren, aus Papier gefaltete Engel und farbenfrohe, gläserne Kugeln. Die vier Dutzend Wachskerzen würden erst am Weihnachtstag angezündet werden. Aber jetzt schon war die Halle von Tannenduft erfüllt, der jeden unweigerlich an das Christfest denken ließ. Zusätzlich hatte Emily die Kaminummantelung mit Stechpalmenzweigen geschmückt, und an den Wänden rankten Efeu und andere immergrüne Pflanzen entlang. Locker verteilt waren Schalen mit getrockneten Orangenscheiben, Vanilleschoten und Zimt aufgestellt worden, die einen zusätzlichen weihnachtlichen Duft verströmten. Bei der Gestaltung hatte Alwyn seiner Nichte freie Hand gelassen und sie dann für ihren guten Geschmack gelobt.
Jetzt nahm Alwyn sie am Arm, führte sie zur Tanne und sagte leise, obwohl kein Dienstbote in Hörweite war: »Eben, als ich sagte, die Köchin solle die Speisenfolge für unsere Gäste mit dir abstimmen, hatte ich nicht beachtet, dass du unmöglich als Haushälterin in Erscheinung treten kannst.«
»Warum nicht, Onkel Alwyn?«
»Nun, Emily, du bist meine Nichte«, erklärte Alwyn in einem Tonfall, als erkläre es sich von selbst. »Beim Pferderennen in Ascot habe ich dich dem Königspaar als Familienmitglied vorgestellt. Sie werden es nicht vergessen haben und erwarten, dich hier quasi in der Rolle der Hausherrin vorzufinden. Nicht in der einer Angestellten.«
»Das eine schließt das andere doch nicht aus«, bemerkte Emily. »Auch als deine Verwandte kann ich mich um den Haushalt kümmern, zumal wir kein besonders reges gesellschaftliches Leben führen. Es liegt einfach nicht in meiner Natur, untätig herumzusitzen, Taschentücher zu besticken, Teebesuche zu machen und mich fünfmal am Tag umzukleiden.«
»Das habe ich inzwischen akzeptiert.« Alwyn seufzte. »Das Haus führst du tadellos und die Dienstboten respektieren dich. Es wirft jedoch ein schlechtes Licht auf unser Haus, wenn die Nichte des Lords gleichzeitig als Wirtschafterin fungiert. Bevor die Bediensteten des Königs eintreffen, werden wir eine andere Lösung finden müssen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Emily verschmitzt. »Man könnte denken, du kannst dir nicht leisten, mehr Personal einzustellen und lässt deine verarmte Verwandtschaft für dich schuften.«
»Emily!« Alwyn runzelte die Stirn. »Ich hoffe, das war mal wieder einer deiner Scherze, die ich nur ansatzweise lustig finde.«
»So ist es, Onkel Alwyn«, gab Emily zu und fuhr ernst fort: »Ich sehe zwar nicht ein, warum ich in eine andere Rolle schlüpfen muss, akzeptiere jedoch deine Meinung.«
»Es ist nicht allein meine Meinung«, wies Alwyn sie zurecht. »In unserer Welt sind gewisse Verhaltenskodexe unabdingbar. Mag es dir gleichgültig sein, was die Gesellschaft über dich denkt, Emmeline Martha Abigail Tremaine – in diesem Fall wirst du dich meinen Wünschen beugen.«
»Ich werde nichts tun, das auch nur den Hauch eines Makels auf deine Reputation werfen könnte«, erwiderte Emily. Sie meinte es ernst. Alwyn hatte sie viel zu verdanken, und weitgehend ließ er sie ihren Neigungen folgen. Es war nicht zu viel verlangt, wenn sie für ein paar Tage die artige Nichte spielte und sich so verhielt, wie es von einer Lady ihrer Gesellschaftsschicht erwartet wurde. »Wie sollen wir so schnell eine entsprechende Hauswirtschafterin finden?«, fragte sie. »Selbst, wenn ich noch heute ein Telegramm mit dem Stellengesuch an The Lady aufgebe, ist es unwahrscheinlich, dass sich binnen zwei Tagen überhaupt jemand meldet und rechtzeitig hier eintreffen kann. Wir müssen die Person auch noch in ihre Aufgaben einweisen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich um eine befristete Anstellung für wenige Tage handelt.« Entschieden schüttelte Emily den Kopf. »Darauf wird sich niemand einlassen.«
»Ich fürchte, du hast recht«, stimmte Alwyn zu. Nachdenklich rieb er sich sein Kinn. »Dem Königspaar gegenüber spielt eine Wirtschafterin keine Rolle. Sie tritt nicht in Erscheinung, Hauptsache, alles klappt wie am Schnürchen. Wir brauchen aber eine Lösung, wenn das königliche Personal eintrifft. Sie geben ihre Anweisungen und die Wünsche der Gäste dem Butler und der Hauswirtschafterin weiter, die sie wiederum mit dem Hausherrn, also mir, besprechen. Die Leute wären irritiert, wenn sie sich mit einem Mitglied der Familie absprechen sollen. Wir haben also ein Problem.«
»Nicht unbedingt, Onkel Alwyn. Wenn ich dich richtig verstehe, geht es nicht darum, dauerhaft eine neue Wirtschafterin anzustellen. Wir benötigen nur jemanden, die für zwei Wochen diese Rolle übernimmt.« Alwyn nickte zustimmend. »Ich werde Laura fragen. Soviel ich weiß, ist sie gerade frei.«
»Laura Penrose? Die Krankenschwester?«, rief Alwyn. Er wirkte wenig begeistert. Schnell sah er sich um und fuhr leise fort: »Deine Bekannte mag wohl eine gute Pflegerin sein, als Hausdame jedoch ungeeignet. Gerade unter diesen prekären Umständen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Emily. »Laura würde nur pro forma in Erscheinung treten und auf meine Anweisungen hin agieren. Sie ist im passenden Alter für die Stellung der Wirtschafterin. Unsere Dienstboten müssen wir natürlich ins Vertrauen ziehen, aber ich denke, alle werden mitspielen. Besonders Marston wird daran gelegen sein, dass der royale Besuch nach strikten Regeln verlaufen wird.«
Alwyn legte den Kopf schief. »Meinst du, Miss Penrose würde es tun?«
»Daran zweifle ich nicht. Die Gelegenheit, bei einem solchen Anlass behilflich sein zu können, wird sie sich nicht entgehen lassen.«
»Gut, dann frage sie«, stimme Alwyn zu. »Noch etwas, Emily: Wir sollten deine Mutter zu Weihnachten herbitten.«
»Meine Mutter?«, wiederholte Emily erstaunt.
»Henrietta wäre zu Recht indigniert, wenn sie von den hohen Gästen erfährt und wir sie ausschließen.«
Emily seufzte verhalten. Der Onkel hatte recht. Henrietta Tremaine war allerdings keine einfache Frau. Sie wollte stets im Mittelpunkt stehen, maß Äußerlichkeiten mehr als inneren Werten zu und war keinen Schritt weit bereit, mit den strengen Konventionen des vorherigen Jahrhunderts zu brechen und neue Wege zu gehen. Emily kam es nicht ungelegen, Henriettas Einfluss entflohen zu sein. Bei ihrem letzten Besuch in London im Sommer hatte sie gemerkt, dass sie ihre Mutter – trotz aller Fehler – zwar sehr liebte, ein dauerhaftes Zusammenleben mit ihr erschien Emily aber unmöglich geworden zu sein.
»Ich werde Mutter gleich heute schreiben«, sagte sie. »Zuerst jedoch fahre ich zu den Penroses und bitte Laura, uns den kleinen Gefallen zu tun.«
»Du brauchst auch eine Zofe«, bemerkte Alwyn.
»Wenn ich Hilfe brauche, geht mir Nell bestens zur Hand.«
»Ein Hausmädchen!« Alwyn stöhnte. »Deine strikte Weigerung, eine Zofe einzustellen, kann ich einfach nicht verstehen.«
Das Thema war ein ewiger Diskussionspunkt zwischen Onkel und Nichte. Emily sah nicht ein, warum sie eine Fremde in ihrer unmittelbaren Nähe dulden sollte. Ihr Leben lang hatte sie sich selbst aus- und angezogen, ihre Haare gekämmt und ihre Kleider und das Zimmer in Ordnung gehalten. Wenn es erforderlich war, ein Korsett zu tragen, bat Emily Nell um Unterstützung. Die meiste Zeit über verzichtete sie auf das steife Mieder. Die Kleider, Röcke und Blusen, die sie im Haus trug, waren alle locker und für ihre Arbeit praktisch geschnitten. Bei den gelegentlichen Besuchen, bei denen Emily auf eines ihrer eleganten Kleider nicht verzichten konnte, fügte sie sich für zwei oder drei Stunden, zog es aber sofort aus, wenn sie wieder zu Hause war. Sie befürchtete, während des Besuches würde sie um ein Korsett, in dem sie kaum atmen und nur wie ein Spatz essen konnte, nicht herumkommen.
»Ich wüsste niemanden«, sagte Emily nachdenklich, »den wir so schnell als Zofe einstellen und danach wieder entlassen könnten. Was die königlichen Dienstboten denken, ist mir gleichgültig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Hofdame der Königin erzählt, die Nichte ihres Gastgebers habe keine Zofe. Auch wird sie sich kaum dafür interessieren, wer mich ankleidet und frisiert. Es gibt viel anderes zu organisieren und zu beachten.«
Alwyn nahm Emilys Hand und drückte sie fest. Das geschah so selten, dass ihr warm wurde.
»Du hast immer für alles eine Begründung«, stellte er nüchtern fest. »Eine Bitte habe ich noch: Es ist nicht nötig, dass jemand vom Hof oder gar Ihre Majestäten von den Vorfällen in den vergangenen Monaten erfahren, besonders nicht von deinem teils lebensgefährlichen Zutun.«
»Ich hatte nicht vor, mit meinen Erlebnissen zu prahlen. Darf ich dir eine Frage stellen, Onkel Alwyn?«
»Seit wann fragst du, ob du fragen darfst?«
Emily schmunzelte. »Warum stehen du und der König in einem so engen Verhältnis zueinander? Die Einladung zum Royal Ascot in die königliche Loge und jetzt der Besuch zu Weihnachten? Bereits in jungen Jahren bist du nach Indien gegangen und hast bis vor zwei Jahren dort gelebt.«
»König Edward und ich sind uns in Indien begegnet, als er noch Thronfolger war«, erklärte Alwyn. »Er verbrachte einige Monate in der Stadt, in der mein Regiment stationiert war. So sind wir einander vorgestellt worden. Als künftiger Kaiser von Indien wollte Edward das Land kennenlernen und sich über seine kommenden Verpflichtungen informieren. Die Einheimischen begrüßten es. Des Königs Mutter, Königin Victoria, hat das Land, über das sie herrschte, nie bereist, obwohl auch sie an der Kultur und den Einheimischen sehr interessiert war.«
Die Erklärung klang plausibel. Emily hatte trotzdem den Eindruck, dass der Onkel nicht alles preisgegeben hatte. Alwyn Tremaine war ein hochrangiger Offizier in der Kavallerie gewesen, darüber hinaus der Erbe des Titels eines Lords mit weitläufigen Besitztümern in Cornwall. Männer seines Standes und Reputation gab es zuhauf in der Armee, auch in Indien. Dass ausgerechnet Alwyn ein enges Verhältnis zum damaligen Thronfolger aufgebaut haben soll, erschien Emily nur als die halbe Wahrheit. Sie hatte aber festgestellt, dass es zwecklos war, in Alwyn zu dringen. Er verschloss sich dann nur. Vielleicht würde der König während seines Besuches auf ihre Bekanntschaft zu sprechen kommen?
Die Aussicht auf die hohen Gäste erfüllte Emily zwar mit gespannter Erwartung, nicht jedoch mit Nervosität. Als sie beim Royal Ascot den Majestäten vorgestellt worden war, hatte der Trubel um sie herum ihr keine Zeit gelassen, aufgeregt zu sein. Sie hatte geknickst und den Kopf geneigt, König Edward hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt, und Königin Alexandra nur andeutungsweise gelächelt. Während des Rennens war Emily drei Reihen hinter ihnen gesessen und war mehr an den schönen, stolzen Pferden als am Monarchen interessiert gewesen. Danach hatte das Königspaar die Loge schnell verlassen, bis auf die Szene, als der König ein paar Worte mit Alwyn gewechselt hatte. Auch der König und die Königin waren nur Menschen. Das ließ sie Alwyn aber besser nicht wissen. Den Gedanken, ob in ihr eine Republikanerin steckte, hatte Emily zuvor nie gehabt. Abgesehen von der Regierungszeit unter Oliver Cromwell im 17. Jahrhundert war die britische Insel immer ein Königreich gewesen. Die Autorität der Monarchie wurde nicht infrage gestellt. Auch für Emily war es selbstverständlich, royalistisch zu sein. Das ergab sich schon aus den Umständen, unter denen sie aufgewachsen war. Ihr Vater hatte keinen Titel geführt und war nie einer geregelten Arbeit nachgegangen. Trotzdem hatten sie in London in einem Haus gelebt, das durchaus als herrschaftlich bezeichnet werden konnte. Dementsprechend war Emily erzogen worden. Sie hatte nie eine öffentliche Schule besucht. Zuerst hatte Pedrek Tremaine seine Tochter und einziges Kind selbst unterrichtet, dann war eine Gouvernante eingestellt worden. Die Familie hatte regelmäßig Umgang mit Angehörigen des niederen Adels gepflegt, bei Hof aber war Emily nie eingeführt worden. Bei der Krönung Edwards VII. waren sie wie das gemeine Volk an der Straße gestanden und hatten dem neuen König aus der Ferne zugejubelt.
Bereits Pedrek hatte sich für sozial Schwache engagiert, hatte Suppenküchen und Kleidersammlungen unterstützt. Von ihm hatte Emily gelernt, dass vor Gottes Angesicht alle Menschen gleich waren, unabhängig, ob Mann oder Frau; ob weiß oder farbig; ob Christ oder andersgläubig. Allerdings fand sie Gefallen an den Gedanken der Frauenrechtlerinnen, die abfällig Suffragetten genannt wurden. Warum wurden Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur für eines angesehen: Ehefrau und Mutter zu sein? Sie wurden für zu dumm gehalten, sich mit Politik zu beschäftigen oder die gleichen Arbeiten wie die Männer zu verrichten. Ihr Vater hatte sie in ihrem progressiven Denken unterstützt. Nach seinem Tod vor sechs Jahren war Emily bereits so sehr in die Armenhilfe und den Kampf um die Frauenrechte in diesen Kreisen involviert, dass ihre Mutter nichts mehr dagegen ausrichten konnte. Schließlich hatte Henrietta sich nicht anders zu helfen gewusst, als Alwyn Tremaine zu bitten, Emily nach Cornwall zu holen und zu versuchen, die irregeleitete junge Frau zurück auf den rechten Weg zu führen. Am besten sollte er einen geeigneten Ehemann für Emily finden. Anfänglich war sie wütend gewesen, zu dem überheblichen, snobistischen Onkel aufs Land verbannt worden zu ein. Schnell jedoch – wobei auch gewisse aufregende Erlebnisse eine zentrale Rolle spielten – hatte sie Cornwall, Higher Barton und auch Alwyn liebgewonnen. Bei ihren Besuchen in London merkte Emily, dass sie sich auf dem Land inzwischen wohler fühlte als in der Stadt. Auch hier konnte sie Gutes tun und den Menschen helfen.
All das war Emily durch den Kopf gegangen, als sie sich auf den Weg zu der Farm der Penroses machte. Die Familie lebte seit dreihundert Jahren in der Nähe von Higher Barton, bewirtschaftete ihren Hof aber selbst, und sie waren keine Pächter der Tremaines. Allerdings arbeitete Lauras junger Cousin Dick als Stallbursche auf Higher Barton. Die Penroses waren eine große Familie mit Verwandten, die über ganz Cornwall verstreut lebten.
Jasper, der Hütehund, begleitete Emily. Er lief mal vor ihr, mal blieb er zurück, jagte Kaninchen nach, ohne jedoch eines zu erlegen. Für den Rüden war es nur ein Spiel. Der Verwalter fütterte ihn gut und reichhaltig, Jasper hatte es nicht nötig, zu jagen. Vor dem Farmhaus gab Emily den Befehl »Sitz«, dem der Hund sogleich nachkam, dann klopfte sie gegen die Tür.
Laura, freudig überrascht, Emily zu sehen, bot ihr gleich an, mit ihr, den Eltern und Brüdern zu lunchen. Emily schlug die Einladung jedoch aus.
»Leider habe ich wenig Zeit«, sagte sie. »Ich muss dich unbedingt sprechen. Allein«, fügte sie mit einem verstohlenen Blick auf die anderen hinzu.
Die Freundinnen verließen das Farmhaus und spazierten ein Stück in Richtung eines Wäldchens. Jasper trottete langsam neben ihnen. Immer wieder kraulte Laura seinen Nacken, was der Rüde sichtlich genoss.
»Gibt es wieder einen Mord?«, fragte Laura gespannt. »Wer ist dieses Mal zu Tode gekommen? Kann ich dir vielleicht helfen?«
Emily lachte laut auf. »Ach, Laura, niemand ist zu Schaden gekommen oder gar tot! Wenn ich dich besuche, bedeutet das nicht, dass ich wieder über eine Leiche gestolpert bin. Aber in einem hast du recht: Mein Onkel und ich brauchen deine Hilfe.«
Emily berichtete von den neuen Entwicklungen. Mit jedem Wort wurden Lauras Augen größer, und ihre Lippen formten ein fassungsloses »Oh!«
»Du meinst, ich kann das?«, fragte Laura, nachdem Emily geendet hatte. »Ich habe keine Ahnung, wie man ein herrschaftliches Haus führt. Der Haushalt meiner Eltern ist damit wohl kaum zu vergleichen.«
»Du sollst auch nur pro forma als Wirtschafterin fungieren«, erklärte Emily, »und meine Anweisungen weitergeben. An den zwei Tagen, an denen das Königspaar in Higher Barton weilt, wirst du nicht in Erscheinung treten. Es geht um die Zeit davor, wenn das königliche Personal eintrifft.«
Laura nickte. »Dein Onkel hat nicht unrecht, Emily, wenn er seine Nichte den Herrschaften nicht als Haushälterin vorstellen möchte. Bin ich für eine solche Stellung aber nicht etwas zu jung? Meistens sind es ältere, grauhaarige Frauen in dunklen Kleidern.«
»Mit Fleiß kann eine Frau durchaus schon mit dreißig Jahren eine so verantwortungsvolle Stellung erreichen«, erwiderte Emily. »Ich denke nicht, dass dein Alter hinterfragt werden wird.«
»Nun ja, äußerlich bin ich nicht gerade eine Augenweide«, stellte Laura nüchtern fest. Sie machte kein Hehl daraus, dass sie keine Schönheit im landläufigen Sinn war. Ebenso wie Emily war sie nicht auf eine Ehe aus, nur um verheiratet zu sein. »Dunkle, gedeckte Kleidung habe ich, und mein Haar frisiere ich zu einem strengen Dutt.«
»Dann machst du es?«
Laura streckte ihre Hand aus. »Natürlich mache ich es! Ich lasse meine liebe Freundin doch nicht im Stich. Außerdem verspricht es ein Abenteuer zu werden.«
Erleichtert schlug Emily ein. Sie vereinbarten, dass Laura gleich tags darauf nach Higher Barton kommen und von Emily eingewiesen werden sollte.
»Du wirst in der Dachkammer neben den Hausmädchen schlafen«, erklärte Emily. »Sie ist zwar klein und hat nur ein schmales Fenster, aber einen Kamin und elektrisches Licht.«
»Wie du weißt, stelle ich keine großen Ansprüche«, erwiderte Laura. »Bei meinem Pflegestellen habe ich schon weitaus schlechter gewohnt.«
»Apropos Pflege: Kümmere dich unauffällig auch um Onkel Alwyn. Seit Tagen schleppt er eine Erkältung mit sich herum, weigert sich aber, das Bett zu hüten. Hast du in deinem Schwesternkoffer nicht ein paar Mittelchen?«
Verschwörerisch zwinkerte Laura der Freundin zu. »Wir werden Sir Alwyn schnell wieder auf die Beine bringen. Tatsächlich habe ich da was, das heilt jeden Schnupfen.«
Nachdem diese Last von Emilys Schultern genommen war, kehrte sie beschwingt nach Higher Barton zurück. Sie nahm einen schnellen Lunch aus Gemüsesuppe und einem Sandwich zu sich. Dabei erfuhr sie von Marston, dass sich Mylord in sein Zimmer zurückgezogen hatte.
»Mrs Heamoor hat ihm einen Huflattichtee aufgebrüht«, erklärte der Butler, »und ich habe ihm eben einen Teller Suppe hinaufgebracht.«
Emily freute sich, dass der Onkel dem Ratschlag des Vikars folgte und vernünftig wurde, die Erkältung mit Ruhe auszukurieren. Er wollte wohl doch nicht riskieren, König Edward mit triefender Nase entgegenzutreten.
Emily schrieb ein paar Zeilen an ihre Mutter und bat sie, am zweiundzwanzigsten Dezember in Cornwall einzutreffen. Lebhaft konnte sie sich Henriettas Gesicht beim Lesen der Nachricht vorstellen. Zuerst würde sie erblassen, dann erröten und in lautes Gejammer ausbrechen, für diesen besonderen Anlass hätte sie nichts Passendes anzuziehen. Sicherlich ließ Henrietta unverzüglich nach der Schneiderin schicken, in der Hoffnung, diese könne binnen weniger Tage eine neue Garderobe anfertigen.
