Mitunter sogar Lachen - Erich Fried - E-Book

Mitunter sogar Lachen E-Book

Erich Fried

0,0

Beschreibung

Die Lebenserinnerungen des großen Lyrikers, politischen Moralisten und bedeutenden Übersetzers, den die Nazis als jungen Mann aus Wien vertrieben und der in England eine neue Heimat fand. Erich Fried erinnert sich und erzählt Geschichten aus seinem Leben: Von den kompliziert zusammengesetzten Flüchen der Großmutter, die der Enkel schneller singt, als sie fluchen kann. Von seiner Laufbahn als Wunderkind und der ersten Einführung in Grundzüge politischen Wissens nach dem "blutigen Freitag" in Wien, die er dem Vater zu verdanken hat, der befürchtet, sein Sohn könnte in "kommunistisches Fahrwasser" geraten. Vom Einmarsch Hitlers in Österreich, der Flucht nach London und den verzweifelten Versuchen, die Familie und andere zu retten. Und nicht zuletzt von den zarten Erinnerungen an das Kindermädchen Fini.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 215

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mitunter sogar Lachen erschien erstmals 1986 als Quartbuch bei Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2021 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Photographie von Hanneli Plemmons

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143099

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3334 2

www.wagenbach.de

ERICH FRIED

Mitunter sogar Lachen

Erich Fried erinnert sich und erzählt Geschichten aus seinem Leben: Von den kompliziert zusammengesetzten Flüchen der Großmutter, die der Enkel schneller singt, als sie fluchen kann. Von seiner Laufbahn als Wunderkind und der ersten Einführung in Grundzüge politischen Wissens nach dem »blutigen Freitag« in Wien, die er dem Vater zu verdanken hat, der befürchtet, sein Sohn könnte in »kommunistisches Fahrwasser« geraten.

Vom Einmarsch Hitlers in Österreich, der Flucht nach London und den verzweifelten Versuchen, die Mutter und andere zu retten. Und nicht zuletzt von den zarten Erinnerungen an das Kindermädchen Fini.

Für Catherine

Geschichten von meiner Großmutter

Wenn ich von meiner Großmutter erzähle, fangen fast alle Geschichten, ganz gleich wie sie enden, irgendwie komisch an.

Vielleicht schon, weil diese grauhaarige, später weißhaarige, sehr kleine und zierliche Frau, die mich in meinen ersten Jahren erzog, die ich lieber hatte als Vater und Mutter und die sich halbnackt oder doch nicht anständig angezogen fühlte, wenn sie nicht ihr schwarzes Samtband um den Hals gelegt hatte, so phantasievoll und ausführlich schimpfen konnte, daß sie oft sogar meine keineswegs auf den Mund gefallenen Eltern zum Schweigen brachte. Nur ich hatte mir meine Beobachtung, daß die ärgsten Verwünschungen und Schimpfreden sich immer genau derselben Redensarten und Worte bedienten, zunutze gemacht, indem ich ihr ihre ewig gleichen Flüche, die ich natürlich längst auswendig wußte, viel schneller vorsagte, als sie selbst sie schleudern konnte. Ja, einige Zeit später, als ich etwas größer geworden war, sang ich meiner Großmutter ihre eben erst angefangenen Schimpfreden zur Melodie der Serenade von Toselli vor, wobei ich nur wenige Worte weglassen mußte. Dann versuchte meine Großmutter, sich das Lachen zu verbeißen, aber vergeblich. Zuletzt prustete sie doch heraus, worauf sie sofort wegen dieses ihres Loslachens wütend auf sich war und sich und alle Familienmitglieder einzeln verfluchte.

Gewiß, schon bei kurzem Nachdenken kann man sich fragen, warum sie sich nur noch durch ihr Schimpfen Luft machen konnte, und das ist dann nicht mehr so lustig, aber trotzdem, sogar ich finde es einen Augenblick lang heute noch komisch, wenn mir ihre vielsilbig zusammengesetzten Schimpfwörter unversehens wieder einfallen, die sich an Länge sogar mit dem bei uns in Österreich berühmten oder berüchtigten Wort Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdampfer messen konnten.

Die Geschichten von meiner Großmutter sind auch nicht nur komisch, weil sie noch an allerlei altes Zeug glaubte, zum Beispiel, daß man, wenn man ein Katzenhaar schluckt, Epileptiker wird oder, wie sie es nannte, die Hinfallende Krankheit kriegt, oder daß man unweigerlich sterben muß, wenn man einen Kirschkern verschluckt, weil einem dann im Magen oder im Blinddarm ein Kirschbaum zu wachsen beginnt. Nein, sie hatte auch ihre ganz besonderen Eigenheiten, von denen mich eine allerdings mehr zu halbentsetztem Kichern als zum Lachen brachte. Sie konnte sich nämlich ganz unglaublich eindrucksvoll totstellen, was sie immer am Morgen tat, wenn ich am Abend zuvor nicht brav gewesen war und sie mich zuletzt noch mit den Worten bedacht hatte: »Wart nur, das wird dir schon leidtun, wenn ich erst tot bin.«

Das alles war eigentlich in Wirklichkeit so wenig komisch wie das Fluchen, und doch erinnere ich mich heute noch, daß in der Zeit bis etwa zwei Jahre vor dem letzten Krieg alle Geschichten, die mit meiner Großmutter zusammenhingen, komisch anfingen, auch wenn es nicht darum ging, daß sie mit den Ohren wackeln konnte, ohne das Gesicht auch nur im mindesten zu verziehen, oder daß sie mit ihrem blinden Auge nach einer ganz anderen Richtung zu schauen schien als mit dem sehenden. Die erste komische Geschichte war schon der Bericht von der Geburt meiner Großmutter.

Nämlich, als sie geboren wurde, am 27. Mai 1864, da war sie ein Zwilling und ein Siebenmonatskind, und als Siebenmonatskind am Leben zu bleiben, das war damals noch gar keine so einfache Sache, sagte sie.

Ja, und der andere Zwilling, auch ein Mädchen, war tot oder während der Geburt gestorben, und im Haus herrschte große Verwirrung (meine Urgroßmutter bekam ihre Kinder natürlich nicht im Krankenhaus, wo damals noch das Kindbettfieber die jungen Mütter dutzendweise umbrachte, sondern in ihrem eigenen Haus und in ihrem eigenen Bett). Im Haus also herrschte große Verwirrung und Aufregung; die Hebamme, einige weibliche Familienangehörige und Dienstboten und meine Ururgroßmutter eilten hin und her, hatten alle Hände voll zu tun oder machten sich doch allerlei zu schaffen, schon um sich ihre Wichtigkeit zu bestätigen. Nun, eine oder zwei von ihnen ersuchten einen Onkel meiner neugeborenen Großmutter, doch von einem Stuhl, auf den er sich gerade gesetzt hatte, möglichst schnell wieder aufzustehen, er habe nämlich soeben auf meiner Großmutter Platz genommen, die damals natürlich noch nicht meine Großmutter war, die aber dadurch, daß ihr Onkel sich auf sie gesetzt hatte, um Haaresbreite nie mehr meine Großmutter geworden wäre.

Großmutter und Mutter: Malvine und Nellie Stein

Wie gesagt, alle Geschichten von meiner Großmutter fangen irgendwie komisch an, was jedoch durchaus noch nicht heißt … Aber ich will nicht vorgreifen.

Ihr Onkel stand natürlich sofort wieder auf und entschuldigte sich, und zwar in seiner Verwirrung mit den Worten, er habe geglaubt, das Kind, das auf dem Stuhl lag, sei das tote Kind gewesen und nicht das lebende. Aber das sagte er offenbar nur, um irgendetwas zu sagen, denn schließlich war es ja auch nicht Sitte, sich auf ein herumliegendes totes Kind zu setzen, und außerdem kann eigentlich ein neugeborenes Kind, tot oder lebendig, keine besonders bequeme Sitzgelegenheit gewesen sein. Wie immer dem auch gewesen sein mag, meiner Großmutter scheint der kleine Vorfall weiter nicht geschadet zu haben, obwohl der psychologisch aufgeklärte Mensch unserer Zeit, der weiß, was ein frühes Kindheitstrauma ist, sich natürlich verpflichtet fühlen muß festzustellen, daß die Komik dieser Episode Spätfolgen keineswegs ausschließt. Zum Beispiel könnte die bis in ihr hohes Alter in beträchtlichem Maß feststellbare Bereitschaft meiner Großmutter, sich trotz ihrer geringen Größe lautstark und durch heftiges Schimpfen gegen allerlei Mißlichkeiten und vor allem gegen größere oder mächtigere Menschen zur Wehr zu setzen, durchaus mit diesem ersten, wenn auch unfreiwilligen Unterdrückungsversuch eines viel größeren Menschen zusammenhängen oder doch einigermaßen einleuchtend in Zusammenhang gebracht werden. Überhaupt sagt die Tatsache, daß die Geschichten von meiner Großmutter immer so komisch anfangen, weiter gar nicht viel.

Gewiß, ihr Bericht, wie einmal, lange vor dem Ersten Weltkrieg, als sie einen kleinen Schokoladenladen führte, ein richtiger, leibhaftiger Erzherzog vor dem Schaufenster stehenblieb, die Pralinen und Bonbonnieren eingehend betrachtete und ihr sogar durch das Fenster zulächelte, entbehrt nicht einer gewissen Komik, besonders, weil sie dann – immer mit den gleichen Worten, genau wie beim Schimpfen – jedes Mal hinzufügte, wenn er wirklich eingetreten wäre und etwas gekauft hätte, dann hätte das Leben der Familie eine ganz neue Wendung genommen, denn dann wären sie Kaiserlich-Königliche Hoflieferanten geworden, was sie auch auf ihr Ladenschild geschrieben hätten, und dann wäre alles anders gekommen; dann hätte mein Großvater sich nicht so zu plagen brauchen und wäre sicher nicht so jung gestorben, und wer weiß, wo wir heute alle schon wären, vielleicht in Paris oder gar in Glasgow. Glasgow, wo sie als ganz jungverheiratete Frau einmal mit meinem Großvater gewesen war, war aus irgendeinem Grund, den ich nie herausgefunden habe, so etwas wie das Ziel ihrer Wünsche. Und tatsächlich hätte eine Übersiedelung nach Glasgow, von der ich allerdings nicht weiß, wie eine Österreichische Hoflieferantenlaufbahn dorthin hätte führen sollen, ihr Schicksal wirklich ganz anders gestaltet und ihr eine andere Reise erspart.

Nun, der Erzherzog überlegte es sich anders und ging weiter, ohne einzutreten. Aber das war nicht die einzige Erinnerung meiner Großmutter an die österreichisch-ungarische Monarchie. Nein, komischerweise und gelegentlich, als ich noch ein Kind war, zu meiner nicht unbeträchtlichen Verwirrung, hatte meine Großmutter auch der längst abgeschafften Währung des alten kaiserlichen Österreich die Treue gehalten: Sie rechnete nicht wie andere Menschen in Schillingen und Groschen, sondern immer noch in Gulden, Kronen, Kreuzern und Hellern, wobei besonders ihre Rechenmünzen wie Fünferl und Sechserl mir unlösbare Rätsel aufgaben.

Nicht, daß meine Großmutter in dieser Hinsicht völlig unelastisch gewesen wäre. Als die Inflation, die in meine ersten Kindheitsjahre fiel, vorüber war, hatte sie sich nachträglich entschlossen, in Inflationsbeträgen zu rechnen. Hundert Schilling zum Beispiel waren in ihrem Sprachgebrauch damals eine Million, ein Zehngroschenstück waren tausend Kronen. Zum richtigen Gebrauch der Worte Schilling und Groschen ging sie erst viel später über, gerade als diese Schillingwährung durch den Einmarsch der Hitlerarmee, den sogenannten Anschluß Österreichs an das Dritte Reich, abgeschafft und durch Reichsmark und Reichspfennige ersetzt worden war. Nun ja, auch diese Umstellung meiner Großmutter könnte man vielleicht zur Not noch komisch nennen, obwohl die politischen Entwicklungen, die sich in den Währungsänderungen spiegelten, keineswegs sonderlich komisch waren.

Auch an sich wenig komische Eigenschaften meiner Großmutter, wie ihre Ungeduld sich selbst gegenüber, konnten sich in komisch anmutender Form äußern. Daß sie zum Beispiel, wenn sie nur einmal oder zweimal niesen mußte, »Helf Gott!« zu sich sagte, beim dritten Mal aber: »Helf … Ach was, zerspring!« Und auch die Geschichte von dem nach einer Staroperation blindgebliebenen Auge, mit dem sie im Alter immer nach einer ganz anderen Richtung Ausschau zu halten schien als mit seinem lebenden Zwilling, dem sehenden Auge, und das sie, wann immer sie sich im Spiegel sah, wegen seines »blöden Blickes« beschimpfte, ist eigentlich gar nicht komisch.

Überhaupt, wenn fast alle Geschichten von meiner Großmutter irgendwie komisch anfingen, so heißt das natürlich nicht, daß sie bis zuletzt komisch blieben. Vielleicht verbarg diese Komik auch nur einen bitteren Nachgeschmack, der aber dann desto stärker werden mußte. Das Ende war, daß meine Großmutter, die wenige Monate nach dem Einmarsch Hitlers auch auf dem anderen Auge erblindete, schließlich, zweieinhalb Jahre nach Kriegsausbruch, aus Wien, wo sie seit ihrem zweiten Jahr gewohnt hatte und heimatberechtigt war, ins Ghetto Theresienstadt abgeschoben und kurz darauf von dort weiter, in ein Vernichtungslager, transportiert wurde. Dort ist sie dann in ihrem neunundsiebzigsten Lebensjahr, nicht ganz zwei Jahre vor Kriegsende, vergast worden.

Der Klapperstorch

Manche Erinnerungen reichen in meine früheste Kindheit zurück, als ich noch nicht gehen konnte. Ärzte, die mich in meinem ersten Schuljahr vieles fragten und dann miteinander darüber sprachen, nannten es unvollkommene Kindheitsamnesie. Seither habe ich herausgefunden, daß viel mehr Kinder, als man glauben würde, solche frühen Erinnerungen haben. Aber die Erwachsenen reden ihnen meistens ein, daß sie nur wiederholen, was man ihnen später erzählt hat.

Meine Urgroßmutter, die bei uns gewohnt hatte, starb, als ich ein Jahr und drei Monate alt war. Gleich nach ihrem Tod wurden in zwei Zimmern die Möbel umgestellt. Ich aber konnte später genau beschreiben, wo diese Möbel vor dem Tod meiner Urgroßmutter, an deren Stimme, Gesicht und schwarze Kleidung ich mich noch gut erinnere, gestanden hatten. Möbel waren für mich wichtige Stützen, um beim Gehenlernen nicht umzufallen. Manchmal waren sie auch Hindernisse, die einen zu Fall bringen konnten, zum Beispiel vorstehende Füße der Kredenz, die als Vogel- oder Löwenklauen geschnitzt waren. Auch an den Spieltisch kann ich mich heute noch erinnern, der manchmal ein Hindernis war, manchmal aber auch eine Stütze, ähnlich dem schwarzen, glänzenden Stock mit dem geschnitzten, gelblichen Elfenbeingriff, den meine Urgroßmutter mir für meine Gehversuche lieh, wenn sie fest in ihrem Lehnsessel saß. Der half mir, mich aufrecht zu halten, wenn er mir nicht gerade zwischen die Beine geriet. Durch Beschreibung dieses Stocks und des ursprünglichen Standorts jedes einzelnen Möbelstücks fand ich schließlich Glauben für meine Erinnerungen, wenn auch nicht für die allerfrühsten aus der Zeit, als ich noch im Kinderwagen lag.

Auch eines meiner wichtigsten Erlebnisse, kurz nach dem Tod der Urgroßmutter, ist mit einem Möbelstück verbunden, einem Fußschemel. Ich war noch nicht ganz eineinhalb Jahre und konnte nur ungeschickt gehen, aber für mein Alter anscheinend schon ziemlich gut sprechen. Zum Unterschied von meinen vielen Erklärungen über die Möbel habe ich dieses Erlebnis nie mit meiner Großmutter oder Mutter besprochen, obwohl es für mich sehr bedeutsam war und auch meine erste Erinnerung an einen Denkvorgang ist, an eine verhältnismäßig komplizierte und zugleich schmerzhafte Überlegung.

Als ich ein Jahr und vier oder fünf Monate alt war, schob man mir viele Male einen Fußschemel unter das Küchenfenster, ein solides altes Stück, dunkelbraun, mit runden gedrechselten Beinen. Beim Hinaufsteigen bin ich einmal gefallen, seither stützte man mich oder hielt meinen Arm fest. Dann, wenn ich am offenen Fenster stand und gerade bis zum Fensterbrett hinaufreichte, gab man mir ein Stück Würfelzucker in die Hand, das ich für den Storch auf das Fensterbrett legen sollte. Auch einen Reim brachte man mir bei:

Klapperstorch, mein Guter,

Bring mir einen Bruder!

Klapperstorch, mein Bester,

Bring mir eine Schwester!

Immer wenn ich Zucker ins Fenster gelegt hatte, machte mich meine Großmutter, manchmal auch meine Mutter oder das Dienstmädchen, darauf aufmerksam, daß der Zucker nicht mehr da war. Der Storch müsse ihn geholt haben.

Trotz dieser günstigen Vorbereitungen geschah dann aber nichts. Ich erinnere mich aus dieser Zeit, daß ich in einem mir fremden Zimmer auf der Bettdecke meiner Mutter lag und einen der Knebel, die den Überzug an der Decke festhielten, abdrehte. Meine Mutter aber war nicht böse, sondern streichelte mir nur den Kopf. Daß sich dieses Zimmer im Sanatorium Hera befand, wo auch ich zur Welt gekommen war, wußte ich nicht; auch nicht, daß meine Mutter dort diesmal ein totes Kind geboren hatte.

Hochzeit der Eltern: Nellie Stein und Hugo Fried, 1920

In den nächsten Tagen und Nächten hörte ich nicht auf, nach dem Storch zu fragen, für den ich allerdings keinerlei Zucker mehr bekam, und ich fragte auch, so gut ich konnte, nach dem Bruder oder der Schwester, die mir der Storch doch bringen sollte. Aber meine Fragen stießen bei meiner Großmutter ebenso wie bei meiner Mutter auf Unverständnis: »Bruder? Schwester? – Wovon sprichst du, mein Kind?« Ich zeigte auf den Fußschemel, der noch in der Küche stand, und wiederholte den Klapperstorch-Vers, den man mir beigebracht hatte.

»Nein, mein Kind, das haben wir dir nie vorgesagt. Das mußt du geträumt haben.« Auch das Dienstmädchen zuckte nur die Achseln.

Ich erinnere mich noch genau meiner völligen Ratlosigkeit. Ich muß nur die Augen zumachen, dann sehe ich meine grauhaarige Großmutter und das Dienstmädchen mit ihren auf dem Hinterkopf eingerollten braunen Zöpfen, den dunkelbraunen Fußschemel und den weißgestrichenen Fensterrahmen. Es war ein doppeltes Flügelfenster, aber zum Unterschied von den Fenstern in Salon, Speisezimmer und Schlafzimmer hatte es kein Fensterpolster. Da war nur das nackte, verkratzte Fensterbrett, auf das ich den Zucker gelegt hatte. Aber hatte ich ihn wirklich hingelegt? Und das Klapperstorchgedicht? Hatte meine Großmutter es mir vorgesagt oder nicht? Worte für Lüge oder Halluzination kannte ich noch nicht, und doch dachte ich etwas, was sich vielleicht so in Worte fassen ließe: »Entweder bin ich nicht, was ich glaube, oder die sagen mir alle etwas, was nicht ist.«

In diesem Augenblick sah ich die Narbe oberhalb meines rechten Knies. Beim zweiten oder dritten Mal, als ich den Zucker ins Fenster legen sollte, war ich vom Schemel gefallen und hatte mir das Knie wundgeschlagen. Seither hatte man mich jedes Mal festgehalten oder gestützt und ich war nicht wieder gefallen, aber die Narbe war noch da. Sie hatte eine ganz andere Farbe als die übrige Haut.

Ich atmete tief auf und sah die Narbe an. Ich rührte sie mit dem Finger an. Sie ließ sich nicht wegwischen und war glatt und weich. Ich sagte kein Wort mehr und zitierte auch keinen Klapperstorchreim. Ich zeigte auch nicht auf die Narbe, wie ich zuvor auf den Schemel gezeigt hatte, aber ich wußte jetzt, daß alles so war, wie ich es wußte, und nicht so, wie meine Großmutter, meine Mutter und das Dienstmädchen es mir gesagt hatten. Seither habe ich den Erwachsenen so gut wie nie mehr ohne weiteres etwas geglaubt, auch Jahre danach nicht.

Hundstage

Als ich vier Jahre alt war, sagte meine Großmutter zu unserem Dienstmädchen öfters: »Der Erich hat schon wieder Hundstage.« Mit dem Wort waren aber nicht wie sonst die heißen Sommertage unter dem Zeichen des Hundssterns gemeint, sondern in unserer Familie bedeutete das Tage, an denen ich weniger mit Menschen als mit unserem schwarzen Hund Schufti sprach, den ich – vielleicht mit Ausnahme meiner Großmutter – lieber hatte als irgendwen sonst in unserer Familie.

Ich hatte mir zur Aufgabe gesetzt, Schufti über verschiedene Dinge aufzuklären und ihn zu beruhigen, wo ich meinte, er könne sonst leicht Angst bekommen. Zum Beispiel hatte man mir erst vor gar nicht so langer Zeit einen Reim über den Abdecker, in Wien Schinder genannt, beigebracht:

Heut fährt der Schinder,

Fängt Hunde und kleine Kinder.

Man hatte mir erklärt, daß Hunde gefangen werden, wenn sie heimatlos herumstrolchen oder keine gültigen Hundemarken haben, Kinder aber, wenn sie schlimm waren. Man hatte mir auch Bilder in einem Buch mit Reimen gezeigt, die diese Behauptung bestätigten. Später wußte ich, daß es ein Buch von Wilhelm Busch war. Aber auch damals, mit vier Jahren, war ich schon nach wenigen Tagen zu dem Ergebnis gekommen, daß das wieder einmal nicht stimmte. Kinder jedenfalls wurden nicht vom Schinder geholt, und es wurde ihnen auch nicht die Haut abgezogen. Also sagte ich zu Schufti, der unter dem Küchentisch saß: »Du brauchst gar keine Angst zu haben, mich holen sie nicht und dich auch nicht. Du hast auch eine Marke, die klingelt, wenn du den Kopf schüttelst.« Am schönsten schüttelte Schufti den Kopf, wenn er aus dem Wasser kam und sich trocknete. Dann wurden alle in weitem Umkreis naß.

Meine Großmutter hörte aber selten meine ganzen Reden an Schufti, sondern meistens nur einen Teil oder einen Spruch, den ich zu guter Letzt anhängte, zum Beispiel:

Schufti fürchte dich nicht!

Ein Hund hat kein Gesicht.

»Er redet schon wieder Unsinn«, sagte dann meine Großmutter zu Käthe, dem Dienstmädchen. Sie hatte längst vergessen, daß sie selbst mir gesagt hatte, ein Gesicht habe eigentlich nur ein Mensch. Ich aber wußte aus eigener Beobachtung, daß Schufti ein Gesicht hatte, mehr als viele Leute. Demnach war er also nicht nur ein Hund, sondern ein Mensch. Und deshalb, und weil er ja auch keinesfalls ein schlimmes Kind war, drohte ihm auch vom Schinder keine Gefahr. Daher mein beruhigender Spruch, den nur die Erwachsenen nicht verstanden.

Manchmal allerdings wäre es vielleicht noch schwerer gewesen, mich zu verstehen, denn in meinen Gesprächen mit Schufti gebrauchte ich oft Worte, die die Erwachsenen nicht kannten. Die zwei häufigsten waren »Nettojajer«, das hieß Schornsteinfeger oder, wie man in Wien sagte, Rauchfangkehrer, und »Nattojajer«, was schlimme Kinder hieß. Die Ähnlichkeit der beiden Worte ist ebenso leicht erklärlich wie der Tonfall des ersten Wortes. Nettojajer hat genau dieselbe Kadenz wie Rauchfangkehrer. Vielleicht war das Wort sogar ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der ich zwar schon die Betonung eines mir vorgesagten Wortes nachahmen konnte, noch nicht aber die schwierigen R-Laute und was sonst noch Ausspracheschwierigkeiten verursachte. Daß aber Rauchfangkehrer und schlimme Kinder, Nettojajer und Nattojajer, fast gleich klangen, kam daher, daß der Rauchfangkehrer, wie man mir versichert hatte, schlimme Kinder abholt und in seinen schwarzen Sack steckt. Und das war selbstverständlich ein wichtiges Thema meiner Gespräche mit Schufti, besonders seit ich draufgekommen war, daß es nicht wahr war, was zur Beruhigung Schuftis dienen konnte.

Erich Fried in der ›Wunderkinderzeit‹, etwa 5–6 Jahre alt. Die Aufnahme, die Fini (siehe die gleichnamige Geschichte) aufbewahrt hatte

Schufti war ein sehr lebhafter Hund. Wenn er mit seinem nichtgestutzten Schwanz wedelte, schlug er, wenn er im Sitzen war, einen schnellen Takt auf den Küchenboden. Das war einer der Gründe, warum ich ihn für ein besonders erregbares Mitglied meiner Familie hielt und ihn immer zu beruhigen versuchte. Sein Lieblingsplatz war unter dem Küchentisch, dessen Beine gekreuzt waren, so daß sie einen Buchstaben H bildeten. In die V-förmige Vertiefung der oberen Hälfte dieses H legte Schufti gerne sein Kinn, sah mich an, wenn ich zu ihm sprach und blinzelte nur ab und zu mit den Augen. Ich fragte ihn dann immer: »Muß man Karten nehmen?«

Auch diese Äußerung erklärte meine Großmutter mit meinen Hundstagen, beziehungsweise damit, daß ich verrückt sei. Was sie nicht wußte, war, daß diese Worte ein zwischen Schufti und mir feststehender Witz waren. Ich hatte ihm ausführlich erklärt, daß mich seine Art, wie er sein Kinn in das V der Beine des Küchentisches legte und zwischen diesen gekreuzten Tischbeinen hervorschaute, lebhaft an den Gesichtsausdruck der Schalterbeamten der Wiener Stadtbahn erinnerte, bei denen man damals – es war lange vor der Einführung der Fahrscheinautomaten – die Fahrscheine, kurz Karten genannt, lösen mußte. »Muß man Karten nehmen«, bedeutete also, daß Schufti den Schalterbeamten spielte und ich den Fahrgast. Meine Großmutter regte sich jedesmal auf, wenn sie mich fragen hörte, ob man Karten nehmen müsse. Schufti aber blieb dabei immer völlig ruhig, Beweis genug für mich, daß er jedes Wort verstand.

Ein besseres Kind

In meiner Kinderzeit in Wien gab es viel Elend. Ich als sogenanntes besseres Kind bekam wenig davon am eigenen Leib zu spüren, obwohl auch bei uns gelegentlich das Gas oder der elektrische Strom abgesperrt wurde, weil wir die Rechnung nicht rechtzeitig bezahlen konnten. Aber an gutem Essen und Obst fehlte es mir nie. Meine Großmutter versuchte nur, alles möglichst billig einzukaufen, das Obst zum Beispiel an einem der Marktstände am Ufer des Donaukanals.

Seit der Donauregulierung vor über hundert Jahren durchzieht der Donaukanal westlich vom eigentlichen Strom, den die Wiener die Große Donau nennen, die Stadt ungefähr von Norden nach Süden. Stromabwärts einer der Brücken legten die langen hölzernen Obstkähne an, die den Obstmarkt oben belieferten. In meinen ersten Lebensjahren war es die mit schönem eisernem Schnörkelwerk verzierte alte Brigittabrücke, die dort den Donaukanal überquerte. Später wurde sie zu meinem Leidwesen durch die gar nicht verschnörkelte Friedensbrücke ersetzt. Der Obstmarkt aber blieb derselbe. Die einfachsten Obststände bestanden nur aus langen Brettern, die auf zwei, drei Böcke gelegt waren, abends beleuchtet von einer Karbidlampe.

Auf der Uferböschung selbst trieben sich zerlumpte Kinder herum, von meiner Mutter als Gassenjungen bezeichnet. Die verschafften sich Äpfel, indem sie die Männer, die unten die Apfelkähne festmachten, beschimpften, bis diese wütend wurden und mit Äpfeln nach ihnen warfen. Aber manchmal erwischten die Männer einen Jungen, der sich mit dem Einsammeln der so erbeuteten Äpfel zu lange aufhielt und verprügelten ihn.

Die Brigittabrücke in Wien

Ich hatte das nicht nötig. Meine Großmutter kaufte soeben Äpfel, Birnen und sogar eine Banane. Aber dicht neben dem Stand, an dem sie die Birnen aussuchte, erhob sich ein zweiter, für meine Begriffe geradezu prächtig ausgestatteter Stand, ein richtiger Laden, denn er war von einer Holzwand mit Fenstern umgeben und innen elektrisch beleuchtet, nicht nur mit Karbidlampen, wie die anderen Stände. Und vor dem einen Seitenfenster lagen zerschnittene Kokosnüsse. Die hatte man mir noch nie gekauft, obwohl ich darum gebeten hatte. Ich wußte nicht, wie sie schmeckten.

Vor dem Seitenfenster des Obstladens lag sehr viel aufgestapelt, und die Ladeninhaberin war vorne beschäftigt. Ohne weitere Überlegung griff ich nach einer Kokosnußscheibe, aber die häßliche Ladeninhaberin hatte offenbar ihre Augen überall. Sie stieß das Fenster von innen auf und schrie: »Schau, daß du weiterkommst, du Dieb, du!«

»Ich bin kein Dieb! Ich bin ein anständiges Kind«, schrie ich sie an. Ich begann zu weinen, schrie aber trotzdem weiter, nur noch lauter. Gleichzeitig begann ich mit allem, was in Reichweite war, Äpfeln, Bananen, auch Kokosnußscheiben, nach ihr zu werfen: »Diese häßliche alte Hexe lügt! Ich habe nichts gestohlen!«

Das stimmte sogar, denn sie hatte mein Stehlen ja im letzten Augenblick verhindert. »Sie sagt das nur, weil meine Großmama nicht bei ihr kauft, sondern nebenan!«

Die Leute um mich herum hielten mich zwar davon ab, weiter zu werfen, waren aber freundlich zu mir, suchten mich zu beruhigen und nahmen fast alle gegen die Marktfrau Partei.

»Großmama, Großmama!« rief ich klagend. Sie holten meine Großmutter. Die tröstete mich, aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Die Tränen waren echt. Sogar meine Empörung war echt, nur war sie zum Teil Empörung über mich, über das, was ich in mir nicht akzeptieren konnte.

Noch ein, zwei Jahre lang habe ich jedes Mal, wenn wir an diesem Obststand vorbeikamen, empört auf den Boden gespuckt und mich dabei vor Entsetzen geschüttelt, auch vor Haß. Ich haßte die Frau, weil sie mich ertappt und Dieb genannt hatte, aber ich haßte auch mich, als Dieb, als Lügner und erfolgreichen Heuchler. Ich konnte mich nicht mehr für etwas Besseres halten als die Gassenjungen, die an der Uferböschung die Männer von den Apfelkähnen beschimpften und die Äpfel einsammelten, die man deshalb nach ihnen warf, immer in Gefahr, verprügelt zu werden.

Kokosnüsse kann ich bis heute nicht essen.

Das Haus Alserbachstraße 11, Wien IX, in dem die Familie Fried wohnte

Der Rollstuhl

Als ich etwa vier Jahre alt war, ging meine Großmutter mit mir im Kurpark in Baden bei Wien spazieren, wo wir eine Sommerwohnung gemietet hatten. Ich liebte diese Spaziergänge, weil der gepflegte Kurpark sich nach und nach in den Wald verlor, was ich romantisch fand, obwohl ich das Wort romantisch noch gar nicht kannte. Außerdem sah meine Großmutter damals schon schlecht und forderte mich deshalb oft auf, mir etwas anzusehen und ihr darüber zu berichten. Dann fühlte ich mich als wichtiger Helfer.

An diesem Tag tauchte links neben uns ein Rollstuhl auf, in dem ein noch junger Mann denselben Weg zum Wald hinaufgeschoben wurde, den auch wir gingen. »Ist das ein Rollstuhl mit einem jungen Mann?« fragte meine Großmutter. Ich bejahte. Nun bemühte sie sich, möglichst genau hinzuschauen. Schließlich fragte sie: »Trägt er eine Brille? Und hat er braunes, zurückgekämmtes Haar?« Auch das mußte ich nach einem flüchtigen Blick bejahen. Großmutter nickte traurig und sagte: »Wart ein wenig. Wir haben es ja nicht so eilig.«