Monacomord - Michael Gerwien - E-Book

Monacomord E-Book

Michael Gerwien

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Beschreibung

Ein warmer Herbst in München. Max Raintaler wird von seinem alten Freund und Exkollegen bei der Kripo, Franz Wurmdobler, als Berater engagiert, um einen rätselhaften Todesfall aufzuklären. Die junge Julia Hemmschuh soll in den Isarauen nördlich des Tierparks Hellabrunn von ihrem Mann erschlagen worden sein. Nachdem Max die Ermittlungen aufgenommen hat, wächst sich der Fall zu einem Familiendrama ungeahnten Ausmaßes aus. Während er versucht, den Täter zu entlarven, gerät er selbst ins Visier eines rachsüchtigen Attentäters …

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Michael Gerwien

Monacomord

Ein Fall für Exkommissar Max Raintaler

Zum Buch

Raintaler ist zurück Ein warmer Herbst in München. Max Raintaler wird im Biergarten von seinem alten Freund und Exkollegen bei der Kripo, Franz Wurmdobler, als Berater engagiert, um einen Todesfall aufzuklären. Die junge Julia Hemmschuh soll in den Isarauen nördlich des Tierparks Hellabrunn von ihrem Mann Robert erschlagen worden sein. Mord oder Unfall? Max verdächtigt zunächst, wie Franz, den Witwer. Der war mit der wohlhabenden Italienerin Giuliana Ferragoni fremdgegangen, und könnte seine Frau deshalb beseitigt haben wollen. Zudem ging Julia ebenfalls fremd – ein weiteres mögliches Motiv für Robert Hemmschuh. Aber er ist nicht der einzige Verdächtige. Nachdem Max die Ermittlungen aufgenommen hat, wächst sich der Fall zu einem Familiendrama ungeahnten Ausmaßes aus. Während er versucht, den Täter zu entlarven, gerät er selbst ins Visier eines rachsüchtigen Attentäters und wird zweimal angeschossen. Max weiß, dass er sich ab jetzt in ständiger Lebensgefahr befindet.

Michael Gerwien lebt in München. Er arbeitet dort als Autor von Kriminalromanen, Thrillern, Kurzgeschichten und Romanen. Darüber hinaus ist er auch Musiker und begleitet seine Lesungen selbst mit Musik.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Wolfs Killer (2018)

Gründerjahr (2018)

Schattenrächer (2017)

Schattenkiller (2016)

Stückerlweis (2016)

Brummschädel (2015)

Krautkiller (2015)

Andechser Tod (2014)

Wer mordet schon am Chiemsee? (2014)

Jack Bänger (E-Book Only, 2014)

Alpentod (2014)

Mordswiesn (2013)

Raintaler ermittelt (2013)

Isarhaie (2013)

Isarblues (2012)

Isarbrodeln (2011)

Alpengrollen (2011)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andy Ilmberger / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6100-2

Widmung

Vielen lieben Dank an meine Lektorin Claudia Senghaas.

1

»Bierpause? Ab sofort?« Hauptkommissar Wurmdobler staunte seinen alten Freund und Exkollegen bei der Münchner Kripo, den jetzt privaten Ermittler Max Raintaler ungläubig an. »Nicht mal für die Wiesn nächste Woche willst du eine Ausnahme machen?«

»Du sagst es, Franzi.« Der blonde Max sah von der Zitronenlimonade auf, die er sich gerade am Verkaufsstand ihres gemeinsamen Lieblingsbiergartens in den südlichen Isarauen geholt hatte. Seine strahlend blauen Augen blickten entschlossen drein.

Es war ein warmer Spätsommerabend. Mitte September, Samstag, Wochenende. Die Leute um sie herum tranken, aßen, lachten und schwatzten heiter. Das Licht der untergehenden Sonne schien bereits herbstlich sanft durch das Laub der großen Kastanie über ihnen.

»Nicht zu fassen. Max Raintaler schwört dem Alkohol ab.« Franz schüttelte langsam den Kopf. »Wer hätte das gedacht.«

»Das andauernde Bier macht einen nur schlapp und dick.« Max zeigte auf Franz’ stolzen Bierbauch, der durch die geringe Größe des glatzköpfigen Fast-Pensionärs noch etwas voluminöser wirkte als es ohnehin der Fall war.

»Jetzt fang bloß nicht wieder mit meinem Übergewicht an.« Franz schüttelte missbilligend den Kopf. »Mir reicht schon das Gemecker meiner Sandra daheim. Sie will mir einfach nicht glauben, dass ich lediglich zu klein für mein Gewicht bin.« Er trank einen kräftigen Schluck aus seinem Maßkrug.

»Ein Hauptkommissar der Kripo sollte einem flüchtigen Verdächtigen wenigstens ein paar Meter weit hinterherlaufen können«, stichelte Max weiter.

»Sollen doch die Kollegen rennen.« Franz grinste. »Ein Jahr noch, Max. Dann bin ich aus dem Job raus. Pension, verschärfte Anwesenheit im Biergarten, essen, trinken, schlafen, fernsehen, fertig. Vielleicht lege ich mir einen Hund zu. Dann bin ich nicht so allein, während Sandra in ihr Yoga und ins Fitnessstudio rennt.«

»Aber wenn sie etwas für ihren Körper macht, kannst du das doch auch.« Max als aktiver Freizeitsportler hatte noch nie so recht Verständnis für Franz’ Lethargie in Punkto Bewegung aufbringen können. Allerdings wusste er auch, dass es im Grunde genommen nicht sein Problem war, und ihn somit eigentlich nichts anging.

»Meine Rede.« Franz nickte begeistert. »So ein Hund soll einen ganz schön auf Trab halten. Gassi gehen und so.«

»Langsames Spazierengehen und Herumstehen, bis der Waldi sein Geschäft erledigt hat, hilft unbedingt beim Abnehmen.« Max’ Stimme hatte einen reichlich ironischen Unterton. »Und dabei immer fleißig weiter deine Zigaretten qualmen, damit die Lunge auch was von der frischen Luft hat.«

»Lass das alles ruhig meine Sorge sein, Herr Supersportler und gerade mal seit einem Tag Alkoholverweigerer.« Franz klang gereizt. »Mein Internist hat gesagt, dass ich mit meinen Blutwerten für hiesige Verhältnisse locker im Durchschnitt liege.«

»Der Arzt gleich neben dem Altenheim bei dir ums Eck? Wundert mich nicht. Der behandelt doch sonst nur Hundertjährige.« Max hätte spätestens jetzt damit aufhören können, seinen alten Freund zu provozieren. Aber irgendetwas an Franz’ seit Jahren sturer Haltung bezüglich des Themas körperliche Fitness reizte ihn jedes Mal wieder.

»Schluss jetzt damit.« Franz trank erneut einen Schluck Bier. Kleine Schweißtropfen traten ihm auf die büroblasse Stirn. Das Gespräch schien ihn anzustrengen.

»Hat eh keinen Sinn, dir was beibringen zu wollen.« Max schüttelte grinsend den Kopf. »Aber ich meine es nur gut. Das weißt du schon.«

»Nicht so genau, ehrlich gesagt.«

»Zur Sache. Warum hast du mich herbestellt?« Max setzte eine neugierige Miene auf.

Franz’ oberwichtiger Tonfall heute Mittag am Telefon hatte ihn von Anfang an vermuten lassen, dass es bei ihrem Treffen hier um etwas Dienstliches ging.

»Mir klebt da ein Fall an der Backe, bei dem ich nicht weiterkomme«, erwiderte Franz. »Hab gerade auch zu wenig Personal, um richtig in die Sache einzusteigen. Wir ersticken in Arbeit.«

Richtig vermutet.

»Gibt es sowas auch?« Max zog Anteilnahme vortäuschend die Brauen hoch. Franz und in Arbeit ersticken. Kaum zu glauben. Wahrscheinlich konnte der Ärmste ausnahmsweise nach dem Mittagessen nicht in Ruhe seinen Kaffee trinken gehen, und das machte ihn fuchtig.

»Ganz im Ernst und ohne Schmarrn jetzt.« Franz hob den Zeigefinger. »Ein 54 Jahre alter Mann aus Untergiesing-Harlaching steht möglicherweise im Verdacht seine 35-jährige Frau erschlagen und anschließend unter einem Gebüsch in den Isarauen liegengelassen zu haben.«

»Was heißt möglicherweise?«

»Keine Tatzeugen. Noch keine klaren Ergebnisse aus der Rechtsmedizin. Außerdem sagt er, dass er es nicht war.« Franz machte ein ernstes Gesicht. »Wir kommen mit den Ermittlungen einfach nicht voran. Wie gesagt, zu wenig Leute und keine zündende Idee von unserer Seite her.«

»Sieht für mich eher so aus, als hättet ihr mit den Ermittlungen noch nicht einmal richtig angefangen.«

»So könnte man es auch sagen.« Franz nickte.

»Was kann ich da tun?«

»Du könntest dich als quasi Außenstehender leichter als wir über die eine oder andere unpraktische dienstliche Anordnung hinwegsetzen, um die Sache lösungsorientiert zu untersuchen.«

»Sprich Deutsch mit mir, Franzi.«

»Zum Beispiel dürfen wir auf dem Revier unsere Verdächtigen nicht hart anfassen, wie du weißt. Das ruft gleich deren Anwälte auf den Plan und der Richter gibt ihnen in der Folge recht.«

»Das war doch noch nie ein Hinderungsgrund.« Max grinste.

Er dachte an seinen Exkollegen, Hauptkommissar Bernd Müller, den alle wegen seiner harten Verhörmethoden den scharfen Bernd nannten. Dem war in all den Jahren immer wieder mal bei Verdächtigen die Hand ausgerutscht, ohne dass es ernsthafte Konsequenzen für ihn gehabt hätte. Anscheinend war das heute noch so. Er arbeitete nach wie vor mit Franz zusammen.

»Außerdem bist du seit eh und je der ungeschlagene Quotenkönig bei der Kripo München«, meinte Franz. »So viele Fälle wie du, habe nicht mal ich annähernd aufgeklärt.«

»Stimmt.« Max stützte geschmeichelt seinen rechten Ellenbogen auf dem Tisch auf. Er legte nachdenklich das Kinn in seine Handfläche. Franz hatte eine gewisse zwingende Art einen alten Freund zu überzeugen. Das musste man ihm lassen. »Wie schaut es mit der Bezahlung aus?«

»Du bekommst ein großzügiges Beraterhonorar. Was sagst du?« Franz sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich bin dabei.« Max nickte. Es gab keinen Grund weiter herum zu eiern. Die Sache klang prinzipiell interessant und gutes Geld gab es obendrein. Er reichte Franz über den schmalen Biertisch hinweg seine Hand, um den Pakt zu besiegeln.

»Sehr gut.« Franz nickt erfreut.

»Für meinen alten Freund Franzi geh ich durchs Feuer. Das weißt du doch.« Max lächelte.

»Na dann prost.« Franz hob seinen Maßkrug. »Nicht doch lieber ein Bier?« Er zeigte auf Max’ Glas mit der Limonade darin. »Ein ganz kleines? Ich hol dir eins.«

»Nein, Franzi.« Max schüttelte vehement den Kopf. »Du kennst mich. Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, ziehe ich es auch durch. Außerdem schmeckt die Limo ganz köstlich, echt.« Er trank zum Beweis erneut einen kleinen Schluck und gab sich alle Mühe sich seinen Ekel vor der lauwarmen Zuckerbrühe nicht anmerken zu lassen. Jetzt und hier vor Franz sein Gesicht zu verlieren, das ging einfach gar nicht. »Wie heißt der Verdächtige?«

»Robert Hemmschuh.«

»Gibt es eine Adresse?«

»Er wohnt südlich vom Candidplatz, fast beim Tierpark. Inzwischen keine schlechte Gegend dank der allgegenwärtigen Renovierungswut.«

»Erzähl mir was Neues. Ich wohne nicht weit von dort.«

»Es gibt auch Schrebergärten dort in der Nähe. Sogar mit einem kleinen Biergarten in der Mitte.«

»Weiß ich selbst. Was willst du mir damit sagen?«

»Nichts, man redet halt nur so.« Franz zuckte die Achseln.

»Kleingärtner.« Max winkte ab. »Nichts als Ordnungsfreaks, die jede einzelne Blume in Reih und Glied pflanzen und den ganzen Tag ihren bescheuerten Rasen mähen.«

»Na und?«

»Ist mir zu spießig.«

»Was hat das denn mit spießig zu tun?«

»Intoleranz, idiotische Vereinsregeln, immer mit den Blicken im Nachbargarten. Such dir was aus.«

»Kann dir doch egal sein. Oder hast du selbst einen Schrebergarten, von dem ich nichts weiß?« Franz sah ihn gespannt an.

»Ich wollte mal einen pachten.«

»Und?«

»War mir dann doch zu spießig.«

2

Sonntag 9.30 Uhr, Untergiesing-Harlaching.

Max schellte an der Eingangstür des Mehrparteienhauses gleich bei den Isarauen, in dem Robert Hemmschuh wohnte. Er hatte daheim als Frühstück eine Tasse Espresso getrunken. Dann war er wegen des schönen Wetters von seiner kleinen Wohnung in Thalkirchen aus mit dem Fahrrad hierher nach Untergiesing-Harlaching gefahren, um den Verdächtigen zunächst einmal persönlich zu sprechen.

Seiner Erfahrung nach waren Ermittlungsergebnisse immer nur so gut wie der Ermittler selbst, und leider hatte Franz einige Leute in seinem Team, denen diesbezüglich nicht allzu viel zuzutrauen war.

»Ja, bitte«, ertönte es krachend und scheppernd aus der Gegensprechanlage.

»Herr Hemmschuh?« Max trat einen Schritt zurück, um die stark verzerrte Stimme besser verstehen zu können.

»Wer will das wissen?«

»Max Raintaler mein Name.« Er räusperte sich. »Ich arbeite für die Kripo München im Todesfall Ihrer Frau und würde gerne deswegen mit Ihnen reden.«

»Sie sind von der Polizei?«

»Richtig. Ich hätte einige Fragen an Sie.« Max zog es vor, die Sache zu vereinfachen, bevor er lange Erklärungen über sein tatsächliches Arbeitsverhältnis bei der Kripo abgeben musste. Außerdem öffneten die Leute ihre Tür für gewöhnlich eher einem Polizeibeamten als einem Privatdetektiv.

Das hatte er im Laufe der letzten Jahre bereits des Öfteren festgestellt. Seitdem war ihm auch endgültig klargeworden, dass sein Job nicht gerade den besten Ruf genoss. Stark vermutet hatte er es bereits zuvor.

»Kommen Sie rauf. Ganz oben im vierten Stock rechts.«

Der Türsummer ertönte.

Die Tür schwang nahezu widerstandslos auf.

Max ließ den Aufzug links liegen. Er ging zu Fuß in die vierte Etage hinauf. Seit er vor einigen Jahren einmal drei Stunden lang in einem Aufzug in der Innenstadt zwischen zwei Stockwerken gefangen gewesen war, hasste er die engen Dinger wie die Pest. Den Arzt, den er dort damals wegen seiner Rückenschmerzen konsultieren wollte, hatte er nie wieder angerufen.

Robert Hemmschuh empfing ihn vor seiner Wohnungstür. Groß, übergewichtig und genauso blond wie Max. Blaue Augen hatte er ebenfalls genau wie der.

Allerdings befanden sich bei Robert, anders als bei Max, tiefe dunkle Ringe darunter. Er schien in letzter Zeit wenig Schlaf bekommen zu haben.

Offensichtlich hatte ihn Max aus der Badewanne oder unter der Dusche hervorgeholt. Seine Arme, Hände und sein Gesicht glänzten nass. In seinem weißen Frotteebademantel und den blauen Flipflops an den Füßen sah er aus wie ein Tourist im Urlaub.

»Kommen Sie herein, Herr Raintaler.«

»Danke.«

Max schlüpfte geschwind an ihm vorbei.

»Entschuldigen Sie meinen Aufzug«, meinte Robert, während er die Tür hinter ihnen zuzog. »Ich war eben in meinem Pool auf der Dachterrasse. Noch passt das Wetter.« Er zeigte nach oben, meinte damit aber bestimmt nicht die mit hellen Holzpaneelen ausstaffierte Decke im Flur, sondern wohl eher den heute wiedermal strahlend blauen Himmel über dem Haus.

»Kein Problem. Wir können uns auch gerne an Ihrem Pool unterhalten. Ich hatte schon befürchtet, dass ich Sie geweckt hätte. Schließlich ist Sonntag.«

»Ich bin längst wach.« Robert winkte ab. »Schlafe zurzeit sehr schlecht. Folgen Sie mir bitte.«

Er führte Max durch ein mit modernen Designermöbeln eingerichtetes Wohnzimmer auf eine großflächige marmorgeflieste Dachterrasse. Dort bot er ihm einen Platz an dem runden Tisch unter dem knallgelben Sonnenschirm nahe des in kleinen Rauten weiß-blau lackierten, hüfthohen Eisengeländers an.

Von hier aus hatte man freien Blick bis zur Isar hinüber. Rechts von ihnen, am Ende der Terrasse, stand tatsächlich ein kleiner runder Swimmingpool.

Max setzte sich. Er sah sich staunend um.

Da schau her. Luxus pur mitten in Untergiesing-Harlaching.

»Schön haben Sie es hier«, sagte er laut. »Scheint gut zu laufen mit Ihren Heizungen.«

Er wusste natürlich längst von Franz, dass Robert Hemmschuh eine Heizungsbau- und Sanitärfirma besaß und diese auch selbst leitete.

»Man tut was man kann.« Robert lächelte flüchtig. »Ich wohne schon lange hier. Habe das Haus schließlich vor zwei Jahren gekauft.«

»Das ganze Haus?«

»Sicher. War zwar ziemlich teuer. Aber man gönnt sich ja sonst nichts.« Er lachte kurz. »Die Mieter kenne ich alle seit langem persönlich. Sehr zuverlässige Leute. Zahlen alle pünktlich.«

»Und das bei den Münchener Mietpreisen. Sie sind ein wahrer Glückspilz.«

»Bei mir gibt es noch faire Mieten. Ich sehe das so. Ist der Mieter glücklich, bin ich auch glücklich.«

»Sie sind ein Idealist, geben Sie’s zu.«

»Eher jemand, der keinen zusätzlichen Stress will. Davon habe ich in meinem Job mehr als genug. Möchten Sie einen Espresso?« Robert zeigte in Richtung der Espressomaschine auf dem gläsernen Tresen unter der weiß-blau gestreiften Markise hinter ihnen.

In der Mitte war gut sichtbar das Logo von 1860 München eingearbeitet. Max wunderte sich nicht darüber. 60ger Fan zu sein, war ein absolutes Muss in Untergiesing. Schließlich war hier so gut wie jeder ein Löwen-Anhänger. Ihre Spielstätte, das alte Grünwalder Stadion, lag keine zehn Minuten Fußweg entfernt.

Auch Max, der Thalkirchener war, mochte die meist erfolglosen Underdogs, die immer wieder in die untersten Fußballliegen und Tabellenregionen abstürzten, seit seiner Jugend. Einmal Löwe, immer Löwe. Es war eine Sache der Sympathie und des Stolzes. Eine Herzensangelegenheit. Die Tabellenspitze erwies sich dabei fast schon als Nebensache.

In die gut vier Meter lange Theke unter der Markise eingearbeitet befand sich eine Art gläsernes Regalbrett. Darauf waren silbern und golden glänzende Armaturen für Küche und Bad aufgereiht. Sie sahen edel aus.

Robert Hemmschuh schien nicht nur ein hingebungsvoller Fußballbegeisterter zu sein. Er führte offensichtlich auch seinen Beruf mit viel Herzblut aus.

»Gerne.« Max nickte. »Espresso ist immer gut.«

»Das hat meine Julia auch immer gesagt. Genau diesen Satz. Ich mache uns einen.« Robert lächelte flüchtig. Er begann routiniert mit der Kaffeemaschine zu hantieren.

»Wie hat sich das Ganze mit Ihrer Frau zugetragen?«, wollte Max wissen, sobald ihm Robert eine kleine dampfende Tasse in die Hand gedrückt hatte. »Es geschah am letzten Samstag. Also ziemlich genau vor einer Woche, stimmt’s?«

Seine hellblauen Augen erinnern mich an einen Schlittenhund. So seltsam intensiv leuchtend. Irgendwie geheimnisvoll.

»Samstagnacht, ja.« Robert nickte langsam. »Ein Rentner fand Julia am Sonntagmorgen beim Spazierengehen mit seinem Hund. Nicht weit von hier an der Isar drüben.« Er setzte sich zu Max an den Tisch. »Fünf Stunden vorher, also um 2 Uhr nachts, muss sie dort ums Leben gekommen sein, sagten Ihre Kollegen.«

»Was ist passiert? Haben meine Kollegen Ihnen das auch gesagt?«

»Leider nicht.« Robert blickte ratlos drein. »Sagen Sie’s mir.«

»Ich weiß im Moment nur, dass sie anscheinend tödlich am Hinterkopf verletzt wurde.« Max trank einen Schluck Espresso. »Wie genau es dazu kam, wissen wir noch nicht. Um es herauszufinden, wurde ich mit den Ermittlungen beauftragt.«

»Ich vermisse sie so sehr«, flüsterte Robert unvermittelt mit brüchiger Stimme. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Wir haben erst letztes Jahr geheiratet.«

»Kann ich gut verstehen.« Max gab sich Mühe einen möglichst einfühlsamen Tonfall anzuschlagen.

Nichts war uneffektiver als Menschen in Trauer beim Verhör zu hart anzupacken. Vorausgesetzt natürlich, sie waren tatsächlich in Trauer, was auf Robert Hemmschuh zuzutreffen schien. Bisher machte er jedenfalls nicht den Eindruck eines Heuchlers oder Lügners.

»Es muss schrecklich für Sie sein«, fuhr Max fort. »Was hatte Ihre Frau eigentlich nachts um zwei in dem kleinen Park in den Isarauen verloren? War sie Schlafwandlerin?«

»Ich weiß nicht, was sie da wollte«, erwiderte Robert fast tonlos. »Vielleicht eine Zigarette rauchen. Sie wusste ganz genau, dass ich die verflixte Qualmerei hasse. Mein Vater starb an Lungenkrebs.«

»Ging sie öfter zum Rauchen in diesen Park?«

»Normalerweise rauchte sie hier unten vor der Tür.« Robert sah mit starrem Blick ins Weite. »Aber der Park ist gleich ums Eck. Vielleicht wollte sie an dem Abend nicht, dass ich sie wie sonst vom Fenster aus dabei beobachte.«

»Könnte es sein, dass sie sich mit jemandem verabredet hatte?«

»Mit wem sollte das gewesen sein?« Robert schaute weiter an Max vorbei über die Isarauen hinweg. »Ach Gott, hätte ich sie nur wieder. Sie könnte von mir aus zwei Schachteln am Tag rauchen.« Er wischte sich schnell die erneuten Tränen aus den Augenwinkeln.

»Haben Sie in dieser Nacht jemanden hier in der Nähe des Hauses beobachtet?«

»Ich habe rein gar nichts mitgekriegt.« Robert schüttelte den Kopf. »Ich war so gut wie ohnmächtig.«

»Wie das?« Max, der sich inzwischen bequem in seinem großen Stuhl zurückgelehnt hatte, setzte sich interessiert auf.

»Ich schlafe sehr schlecht. Hatte wie so oft eine Schlaftablette eingenommen.« Robert presste seine immer noch zitternden Lippen aufeinander. Die dunklen Ringe unter seinen verquollenen Augen gruben sich jetzt immer tiefer in sein Gesicht. »Ich glaube sogar, es war eine von den Starken. Die liegen immer griffbereit auf meinem Nachttisch. Schließlich habe ich ein Unternehmen zu leiten. Da kann ich mir keinen großen Schlafmangel erlauben.«

»Also hätte Ihre Frau an diesem Abend gar nicht in den Park gehen müssen, um nicht von Ihnen beim Rauchen gesehen zu werden?«

»Jetzt wo Sie es sagen.« Robert nickte.

»Dann hatte sie wohl einen anderen Grund. Womöglich doch ein Treffen?«

»Fragt sich nur, mit wem.«

»Hatten Sie beide Streit in letzter Zeit?«, fuhr Max fort. »Ich muss Sie das leider fragen.«

»Wir verstanden uns gut.« Robert schüttelte den Kopf. »Sie warf mir manchmal vor, dass ich beruflich zu sehr eingespannt wäre und sie zu wenig von mir hätte. Aber irgendetwas gibt es schließlich an jeder Ehe auszusetzen.«

»Tatsächlich? Ist das so?« Max zog die Brauen hoch.

»Ich denke schon, oder?«

»Wenn Sie es sagen. Ich bin immer noch ledig. Hab keine Meinung dazu.« Max zuckte die Achseln. »Hatte Ihre Frau Feinde? Oder haben Sie vielleicht Feinde, die Ihnen möglicherweise mit dem Tod Ihrer Frau schaden wollten?«

»Wenn man wie ich beruflichen Erfolg hat, gibt es immer Neider«, räumte Robert ein. »Aber regelrechte Feinde? Ich weiß von keinem. Warum sollte überhaupt irgendwer meine Frau töten? Sie tat keiner Seele etwas zu leide.« Er schüttelte verständnislos den Kopf.

»Wenn Sie wüssten, wie viele Wahnsinnige da draußen herumlaufen …« Max trank nachdenklich einen weiteren Schluck Espresso.

Was denkt sich Franzi bloß wieder? Der arme Kerl hier hat seine Frau nie und nimmer erschlagen. Da bin ich mir sicher.

»Wie ist Ihr Verhältnis zu den Eltern ihrer Frau?«, fuhr er anschließend fort.

»Die Irmi und der Heinz Bauretter wohnen im Haus gegenüber. Wir verstehen uns bestens. Julia und ich waren sogar gemeinsam mit ihnen im Urlaub.«

Zwei Enten kamen von der Isar her angeflogen. Sie näherten sich schnell, ließen sich im Gleitflug sinken und landeten schließlich direkt in Roberts Pool.

»Sie haben Badegäste.« Max, der sie aus den Augenwinkeln heraus beobachtet hatte, zeigte auf die beiden, während sie begannen fröhlich quakend hin und her zu schwimmen.

»Die kommen gern.« Robert nickte nur. »Macht mir nichts aus, solange sie nicht ins Wasser scheißen.«

Max musste unfreiwillig lachen, obwohl die Stimmungslage gerade alles andere als humorig war. Ein unbewusster Reflex wohl, den man nicht im Griff hatte.

»Fiel Ihnen in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches an Ihrer Frau auf?«, fuhr er anschließend wieder mit ernster Miene fort.

Robert schüttelte stumm den Kopf.

»Denken Sie nach.« Max blickte ihn lange und eindringlich an. »Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«

»Beim besten Willen, mir fällt nichts ein. Sie war wie immer. Einfach nur total lieb …« Robert schluchzte laut auf.

»Rufen Sie mich bitte an, falls Sie sich noch an etwas erinnern.« Max erhob sich. Er klopfte dem trauernden Witwer tröstend auf die Schulter. Danach legte er eine seiner Visitenkarten auf den Tisch. »Sie wollen doch auch, dass der Mörder Ihrer Frau erwischt wird, richtig?«

»Natürlich.« Robert nickte. Er putzte sich mit einem Papiertaschentuch lautstark die Nase.

»Ich finde alleine raus. Gehen Sie ruhig mit Ihren Enten baden. Auf Wiederschauen, Herr Hemmschuh.« Max schlug den Weg ins Wohnzimmer ein.

»Auf Wiederschauen.« Robert blieb mit hängendem Kopf vor seinem kalten Espresso sitzen. Er hatte während der ganzen Zeit nichts davon getrunken.

»Wirklich eine tolle Wohnung«, rief ihm Max noch über die Schulter hinweg zu, als er den mit erlesenen Antiquitäten eingerichteten Raum zum zweiten Mal durchquerte. »Man könnte glatt neidisch werden.«

»Danke, freut mich, dass sie Ihnen gefällt.« Robert winkte ihm schwach lächelnd hinterher.

Als Max draußen zu seinem Rennrad zurückging, das er vorhin auf der anderen Straßenseite abgestellt hatte, beschlich ihn das Gefühl, dass er beobachtet wurde.

Er blickte sich unauffällig um. Ließ sich Zeit damit.

Niemand zu sehen.

Er zögerte einen weiteren Moment. Dann schüttelte er den Kopf und sperrte sein Fahrradschloss auf.

3

Max entschied sich kurzfristig um. Statt in den Sattel zu steigen und in seine Wohnung nach Thalkirchen zurückzufahren, sperrte er sein Fahrrad erneut ab. Er wollte noch eben zur Familie Bauretter hineinschauen, wenn er schon einmal hier war.

Schnell fand er ihren Namen an dem übersichtlichen Klingelschild des Hauses gleich neben ihm. Er läutete.

Nachdem drinnen jemand den Summer gedrückt hatte, ging er hinein. Im dritten Stock öffnete ihm eine ältere sympathisch wirkende Frau mit kurzen roten Haaren, grünen Augen und einer schwarzen Hornbrille auf der Nase. Sie war übermäßig schlank. Sah dabei aber sehr vital aus. Bestimmt ernährte sie sich bewusst und joggte viel.

»Sind Sie die Frau Bauretter?«, erkundigte sich Max.

Das sind sie, die Rentner von heute. Keine Spur von Müdigkeit oder Ruhe geben. Schon erstaunlich. Früher saß man in diesem Alter vor dem Fernseher, schluckte seine Blutdruck- und Zuckertabletten und gut war’s.

»Irmi Bauretter. Wieso?« Sie sah ihn leicht verwirrt an. Ihre Augen waren geschwollen, als hätte sie gerade geweint.

Nachdem er ihr erklärt hatte, dass er von der Kripo wäre und noch Fragen zum Tod ihrer Tochter Julia hätte, bat sie ihn mit gesenktem Kopf herein.

Sie führte ihn an Küche und Schlafzimmer vorbei ins Wohnzimmer, wo ein älterer Herr mit einer aufgeschlagenen Zeitung in einem braun-, gelb- und weißgestreiften Fernsehsessel saß.

Ein gemütlicher Bayer wie aus dem Bilderbuch.

Kurze Sporthose, blaues Polohemd über dem ausladenden Bierbauch und graue Filzpantoffeln an den Füßen. Sein breiter Schädel glänzte kahlrasiert, wie der von Franz. Zum Ausgleich dafür zierte ein üppiger Schnurrbart seine Oberlippe. Auf seiner breiten Nase thronte eine viereckige silbrig glänzende Lesebrille. Seine braunen wachen Augen blickten neugierig aber auch irgendwie von Trauer erfüllt darüber hinweg. Kein Wunder. Sie hatten schließlich ihre Tochter verloren.

Max sah sich im Raum um.

An den Wänden hingen Familienfotos, das riesige Ölgemälde einer sturmumtosten gewittrigen Berglandschaft und mehrere Farbdrucke. Zwei von Kandinsky waren darunter. Die hätte er den beiden auf den ersten Blick gar nicht zugetraut. Dem traditionell wirkenden Herrn des Hauses schon gar nicht. Der sah eher nach röhrendem Hirsch vor Gebirgslandschaft aus. Wahrscheinlich hatte seine Frau sie aufgehängt.

Über dem dunkelbraunen Esstisch baumelte ein großer, mit viel geschliffenem Glas bestückter Kronleuchter. An der Wand gegenüber der grauen Sitzgarnitur hing ein Flachbildschirm.

Klassik traf Moderne, hätte man sagen können.

Die Balkontür stand weit offen und gab so einen unverstellten Blick auf die Isarauen frei. Bäume, Wiesen und Sträucher soweit das Auge reichte. Dazwischen Spaziergänger mit oder ohne Hund, Jogger und Fahrradfahrer.

»Das ist mein Mann, der Heinz«, sagte Irmi.

»Grüß Gott, der Herr.« Max nickte freundlich lächelnd. »Hier lässt es sich leben. Viel Grün vor der Tür und trotzdem fast mitten in der Innenstadt.«

»Das ist wohl wahr«, entgegnete ihm Heinz. Er schaute erwartungsvoll von seinem Sessel zu Max hinauf. »Wer stört am heiligen Sonntag?«

»Max Raintaler. Ich arbeite für die Mordkommission und hätte ein paar Fragen an Sie beide.«

»Sind Sie wegen Julia hier?« Heinz faltete seine Zeitung zusammen. Er legte sie neben sich auf den Boden.  

»Es gibt noch Klärungsbedarf über die Todesursache.« Max nickte. »Ich sprach gerade mit Ihrem Schwiegersohn darüber. Da dachte ich, ich schaue auch gleich mal bei Ihnen vorbei, wenn ich schon in der Gegend bin.«

»Muss das wirklich sein. Sie können sich sicher denken, dass uns das Ganze sehr mitnimmt.«

»Ich kann auch ein andermal wiederkommen.«

»Nein, schon gut. Ich wüsste zwar nicht, wie wir Ihnen helfen sollten. Aber bitte, setzen Sie sich.« Heinz zeigte ohne erkennbare Gefühlsregungen in seiner Mimik auf die gemütlich aussehende Couch zu seiner Linken.

»Danke.« Max tat, wie ihm geheißen wurde.

Das Sofa war härter als er erwartet hatte. Heutzutage waren harte Sitzpolster und Matratzen der letzte Schrei. Er konnte dieser zumeist hochpreisigen Mode noch nie irgendetwas abgewinnen. Hatte es lieber weich und bequem, wenn er saß oder im Bett lag.

»Einen Espresso oder einen Saft?« Irmi blieb stehen.

»Keine Umstände wegen mir bitte. Ich möchte gerne gleich zur Sache kommen. Dann störe ich Sie auch nicht weiter.«

»Aber es macht keine Umstände. Außerdem tut uns im Moment ein wenig Abwechslung gut, stimmt’s Heinz?«

»Stimmt.« Er nickte.

»Na gut. Könnte ich dann bitte ein Wasser haben?«

Seltsames Paar. Normalerweise sollten sie mich loswerden wollen, weil ich die Sache mit ihrer Tochter wieder aufs Tapet bringe.

»Natürlich, gerne. Wir haben sogar energetisiertes Wasser nach dem Verfahren eines österreichischen Wissenschaftlers. Sehr gesund.« Sie machte sich schnellen Schrittes auf den Weg in die Küche.

»Sie können aber auch gerne ein Bier haben«, murmelte Heinz, während er demonstrativ hinter ihrem Rücken die Augen verdrehte. »Garantiert nach dem bayerischen Reinheitsgebot gebraut.«

»Passt schon.« Max winkte lächelnd ab. »Wasser ist in Ordnung«, erwiderte Max. »Auch wissenschaftlich energetisiertes. Ich mache gerade eine längere Bierpause.«

»Seit wann kasteien Sie sich denn schon?«

»Na ja … erst seit gestern.« Max errötete leicht. Natürlich war ihm klar, dass mit dieser kurzen Zeitspanne des Verzichts kein großer Staat zu machen war. »Aber ich habe mir mindestens vier Wochen vorgenommen«, ergänzte er deshalb noch schnell.

So, jetzt aber Schluss mit dem leidigen Thema.

»Da bin ich wieder.« Irmi reichte Max ein großes Glas von ihrem wissenschaftlich energetisierten Wasser.

Er nahm es mit einem dankbaren Lächeln entgegen und trank.

Es war lauwarm und schmeckte milde ausgedrückt absolut ekelhaft. Total lasch. Es musste am Energetisieren liegen. Ein schönes kaltes Bier wäre unvergleichlich besser gewesen. Da hatte ihr Mann unbedingt recht. Selbst wenn es für Alkohol noch etwas früh am Tag war.

Aber Vorsatz war nun einmal Vorsatz. Schließlich konnte er sich nicht schon am zweiten Tag seiner selbstauferlegten Bierpause vor sich selbst unglaubwürdig machen. Das wäre wirklich verfrüht.

Also trank er tapfer aus und stellte das leere Glas erneut lächelnd auf dem Tisch ab.

»Seltsame Zeiten sind das, in denen wir leben«, murmelte Heinz währenddessen. Er schüttelte verständnislos den kahlen Kopf. »Das alles wird eines Tages noch einmal ganz böse enden«, unkte er. »So viel ist sicher.«

4

Monika band ihre dunklen Haare mit einem Gummi nach hinten, damit sie die Kühlschränke unter dem Tresen ihrer kleinen Kneipe einräumen konnte, ohne dass ihr andauernd ihre langen lockigen Strähnen ins Gesicht fielen.

Es war kurz vor zehn. Sie musste sich beeilen, wenn sie das versprochene Sonntagsessen für Max rechtzeitig fertigbekommen wollte. Er würde um eins da sein. Pünktlich, wie er gestern Abend am Telefon sagte.

Eigentlich hätte er das gar nicht zu betonen brauchen. Er war in der Regel immer pünktlich. Eine in ihren Augen eher ungute Eigenschaft. Zum Beispiel, wenn sie noch nicht angezogen war.

Einen Schweinsbraten mit Semmelknödeln und Kraut hatte er sich gewünscht. Als Ausgleich für seine momentane Alkoholpause. Wenigstens essen wolle er etwas Gescheites, wenn es in der nächsten Zeit schon kein Bier mehr gäbe, hatte er gemeint.

Ihren Gegenvorschlag, passend zu seiner getränketechnischen Fastenkur, eine gesunde Gemüsesuppe zu kochen, hatte er mit einem lauten »Ja, pfui Deifel, Frau Schindler« vom Tisch gewischt.

Mit ihrem Nachnamen sprach er sie nur an, wenn er sehr ernst wurde, wusste sie. Also hatte sie nicht weiter auf ihren Vorschlag insistiert.

Hoffentlich hielt er seine Abstinenz diesmal auch wirklich vier Wochen lang durch, sorgte sie sich, während sie die letzte Flasche Weißwein im Kühlschrank verstaute. Die vorherigen Versuche hatte er bereits nach wenigen Tagen abgebrochen. Jedes Mal mit dem Argument, dass seine Leberwerte letztlich gar nicht unbedingt so schlecht wären, verglichen mit denen so manch anderer Zeitgenossen, und dass Wasser nun mal unterirdisch schlecht schmecke.

Als ob er das nicht vorher gewusst hätte.

Sie und Max waren seit ihrer Studienzeit ein Paar. Sie liebte ihn sehr, doch heiraten wollte sie ihn nicht. Zum einen aus Angst, ihre Unabhängigkeit zu verlieren und dann auch einfach so. Ohne besonderen Grund. Der Mensch musste schließlich nicht für alles im Leben eine Erklärung parat haben. Schon gar nicht, wenn sie eine selbstbewusste Frau war und aus Oberbayern stammte.

Sie ging in die Küche und holte das Fleisch für den Braten aus der Kühlung. Spanferkel. Ein schönes mageres Stück hatte sie besorgt, um Max bei seinen Gesundheitsbestrebungen zu unterstützen.

Wenn er das wüsste, würde er garantiert meckern. Aber bestimmt würde er es nicht einmal merken. Die naturgegebene Fleischgier der Männer machte bekanntlich blind. Wenn doch, würde ihr sicher die passende Antwort einfallen. Das war bisher immer so gewesen und es würde sich auch in Zukunft nicht ändern.

Zum Beispiel konnte sie die Schuld auf den Metzger schieben. Er hätte gestern nichts anderes mehr dagehabt, könnte sie behaupten. Max würde es sicher nicht nachprüfen. So weit ging sein naturgegebenes Misstrauen dann doch wieder nicht.

Sie band sich flink eine große weiße Schürze um. Dann zerkleinerte sie mit schnellen routinierten Schnitten das Suppengrün, das sie bereits vorhin aus der Vorratskammer geholt hatte.

Franz hatte Max gebeten, einen ungeklärten Todesfall zu untersuchen. Sie war sehr gespannt, was er ihr nachher darüber berichten würde. Eine Frau war an einer Kopfverletzung gestorben. So viel wusste sie bereits. Aber wann, wie und warum, das musste sie alles erst noch erfahren.

Nachdem sie den Braten mit Knoblauch, Salz und Pfeffer gewürzt hatte, gab sie ihn zusammen mit zwei halbierten Zwiebeln, einigen Markknochen, Tomatenmark und ausreichend Suppengrün in eine große Reine, gab etwas Wasser dazu und stellte das Ganze in den vorgeheizten Herd.

Danach machte sie sich an den Teig für die Semmelknödel. Altbackene Semmeln, Milch, Eier, kleingeschnittene Petersilie, fein gehackte Zwiebeln, Muskatnuss. Alles gut miteinander vermengen. Am besten mit den bloßen Händen.

Nachdem sie ihn fertig hatte, ließ sie ihn ruhen.

Dann setzte sie das Sauerkraut auf. Wie immer mit Lorbeerblatt, Zwiebel, Wacholderbeeren, Gemüsebrühe, Kümmel, geriebenem Apfel und Salz. Am Schluss goss sie großzügig mit Sekt auf.

Es würde ein wahres Festmahl werden.

Als Nachspeise hatte sie ursprünglich Früchte mit Magerjoghurt in Betracht gezogen.

Doch dann hatte sie kurz an Max und seine mögliche Reaktion auf so viel Gesundes gedacht und kurzerhand ihren Plan geändert. Es würde Tiramisu geben. Nach einem alten italienischen Familienrezept, das sie damals mitgebracht hatte, als sie einmal zusammen in Kalabrien im Urlaub gewesen waren. Mit viel Mascarpone und ausreichend Mandellikör. Sie wusste, dass er das über alles liebte.

Ihre Kneipe würde sie heute Mittag wegen des privaten Essens zu zweit ausnahmsweise einmal eine Stunde später aufsperren.

Außer den üblichen überpünktlichen Stammgästen Karl, Gernot und Harry würde das bestimmt niemanden hier in den Isarauen unweit des Münchner Tierparks tangieren.

Die drei konnten auch mal eine Zeitlang auf ihr tägliches Bier warten. Es würde sie garantiert nicht umbringen. Ganz im Gegenteil.

5

»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem Schwiegersohn Robert?«, fragte Max Irmi und Heinz. Er blickte dabei neugierig von einem zum anderen.

»Wenn wir unseren Robert nicht hätten, ginge es uns lange nicht so gut. Auf den lassen wir nichts kommen, stimmt’s, Irmi?« Heinz sah seine Frau an. Tränen stiegen ihm dabei in die Augen. Er begann zu weinen.

Irmi nickte.

»Er hat uns diese wunderschöne Wohnung geschenkt.« Ihre Stimme zitterte. »Das werden wir ihm nie vergessen. Ein Spitzentyp unser Robert. Wussten Sie, dass er in seinem Betrieb Flüchtlinge arbeiten lässt, damit die hier bei uns integriert werden?«

»Verstehe.« Max nickte.

Na also. Endlich zeigt hier mal jemand Gefühle.

Es hatte ihn schon gewundert, dass sich die beiden so überaus gefasst gaben, obwohl ihre Tochter vor gerade mal einer Woche gestorben war.

»Ach, unsere Julia«, brach es auf einmal aus Irmi heraus. »Sie war so lieb. Konnte keiner Fliege etwas zu leide tun.« Sie konnte ihre Tränen nun ebenfalls nicht mehr zurückhalten.

»Die Welt ist schlecht, Irmi. Wie oft muss ich dir das noch sagen.« Heinz schnäuzte sich in das große karierte Stofftaschentuch, das er zuvor aus der rechten seitlichen Ritze seines Sessels gezogen hatte. Offensichtlich hatte es dort einen gemütlichen feuchten Stammplatz.

»Hatte Ihre Tochter irgendwelchen Ärger in letzter Zeit?«, fragte Max. »Ein Streit mit Freundinnen, Freunden, Kollegen oder mit ihrem Mann Robert?«

»Kollegen hatte sie keine mehr«, antwortete Heinz, dem erneut die Tränen in die Augen schossen. »Gleich nach der Hochzeit hörte sie auf, in ihrer Spedition zu arbeiten.«

»Warum das?«

»Robert schwimmt im Geld.« Heinz zuckte die Achseln.

»Sie sagten ihre Spedition? Gehörte ihr das Unternehmen?«

»Sie war acht Jahre lang dort tätig. Deshalb sage ich ihre Spedition. Es ist die Spedition Hundhammer in Thalkirchen drüben. Sie gehört Herrn Frank Hundhammer junior. Seinen Vater, den alten Hundhammer, kannte ich noch persönlich.«

»Bleiben noch Freunde, Freundinnen oder Robert Hemmschuh selbst.«

»Robert kommt nicht infrage.« Irmi schüttelte vehement den Kopf. »Er hat Julia auf Händen getragen. Hat immer nur gut von ihr gesprochen und umgekehrt war es genauso.« Sie schluchzte laut.

»Kein kleiner Ehekrach?« Max sah sie ungläubig an.

»Hie und da gab es wohl Zoff wegen Julias Qualmerei«, räumte Irmi ein. »Robert wollte nicht, dass sie sich mit ihren Glimmstängeln umbrachte. Aber sonst war da nichts. Nicht das Geringste. Stimmt doch, oder Heinz?« Irmi sah fragend zu ihrem Mann hinüber.

»Das war die große Liebe mit den beiden, wie man so sagt.« Heinz nickte. »Ist nicht unbedingt jedem beschieden.« Er sah flüchtig zu Irmi hinüber.

»Was ist mit Freunden oder Freundinnen? Gab es da irgendwelche Feindseligkeiten.«

»Keine Ahnung.« Heinz zuckte die Achseln. »Hat sie dir etwas darüber erzählt, Irmi? Mir jedenfalls seit Jahren nicht mehr.«

»Ich wüsste auch nichts.« Irmi schluchzte zum wiederholten Mal. »Ach Gott, meine kleine Julia.«

Irgendetwas verbergen die beiden vor mir.

»Was ist denn hier los?«