MontanaBlack II - Marcel Eris - E-Book

MontanaBlack II E-Book

Marcel Eris

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Beschreibung

Der Nachfolger des SPIEGEL-Bestsellers Nr. 1! »Erfolg, dachte ich bitter, ist etwas, von dem jeder Mensch träumt. Bis er eines Tages am eigenen Leib erfährt, welchen Preis er hat.« Nach Jahren der Kriminalität und Drogensucht hat sich Marcel Eris in seinem neuen Leben eingerichtet. Er wohnt auf dem Dachboden seiner Großeltern, hat einen schlecht bezahlten Job im Getränkemarkt und verbringt die Nächte mit Online-Freunden vor der PlayStation. Nur eins fehlt ihm: eine echte Perspektive. Die bekommt er, als er YouTube entdeckt und mit seinen Videos als »MontanaBlack« zu einem Star der Plattform wird. Doch die Chancen, die sich ihm durch seinen Aufstieg plötzlich bieten, haben einen hohen Preis. Neben Geld, Ruhm und Fans begegnen ihm zunehmend auch die Schattenseiten des Erfolges: Anfeindungen, zerbrochene Freundschaften und gescheiterte Beziehungen, psychische Probleme, Ängste und Panikattacken, die mit seiner steigenden Reichweite einhergehen. Eris wirft einen ehrlichen Blick hinter die Kulissen der YouTube- und Streaming-Welt, die ihm trotz Millionen von Followern noch immer keine innere Ruhe gebracht haben. Eine schonungslose Abrechnung – nicht zuletzt auch mit sich selbst.

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Seitenzahl: 312

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MARCEL ERIS

MIT DENNIS SAND

MONTANABLACK II

MARCEL ERIS

MIT DENNIS SAND

MONTANABLACK II

VOM YOUTUBER ZUM MILLIONÄR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, sind authentische Geschichten. Einige Namen und Orte, die in diesem Buch vorkommen, mussten allerdings aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen verändert werden.

Die Bilder stammen aus dem Archiv des Autors.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

3. Auflage 2021

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 89 651285-0

Fax: 89 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Mirka Uhrmacher

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: © Christian Schenkel

Satz: Achim Münster, Overath

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-96775-019-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96775-020-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96775-021-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Prolog

Teil 1: Licht

I. Normalität

II. Perspektive

III. Anerkennung

IV. Neue Freunde

V. Neue Welten

VI. Luxus

VII. Bekanntheit

VIII. Erfolg

IX. Veränderung

X. Business

Zwischenspiel

Bildteil

Teil 2: Schatten

I. Abstauber

II. Beef

III. Leistungsdruck

IV. Neue Dimensionen

V. Beziehungen

VI. Privatsphäre

VII. Freundschaften

VIII. Glücksspiel

IX. Öffentlichkeit

X. Streaming

Epilog

PROLOG

Schwerer Atem. Nervöser Blick. Völlige Orientierungslosigkeit. Mein Puls raste. Aber es war dieses Gefühl, das mich beinahe wahnsinnig machte. Das Gefühl, an diesem Ort zu sein, den ich zwar nicht kannte, der mir aber dennoch so merkwürdig vertraut vorkam. Ich hatte keine Ahnung, wem dieses Haus hier gehörte. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich es überhaupt betreten hatte. Aber irgendetwas zog mich einfach an.

Ich tastete die Wand ab, suchte nach einem Lichtschalter. Er funktionierte nicht. Offenbar war im Haus bereits der Strom abgestellt worden. Ich schaltete die Taschenlampen-Funktion meines Handys an und leuchtete den großen Raum aus. Ein Aquarium. Ein riesiger Fernseher. Ein großes Sofa. Aber alles war mit weißen Planen abgedeckt, die ich vorsichtig zur Seite zog. Jedes Mal bekam ich eine Gänsehaut. Es fühlte sich alles so wahnsinnig vertraut an, als wäre das alles hier ein Teil von mir, als hätte jedes Zimmer etwas mit mir zu tun. Aber das konnte doch gar nicht sein, ich war nie zuvor in diesem Haus gewesen. Es fühlte sich völlig surreal an.

Ich streifte vorsichtig durch die großen, leeren Zimmer. »Hallo?« Nichts. Ich war alleine. Ganz alleine. Wie spät es wohl war? Jegliches Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Hatten wir schon nach Mitternacht? War es schon wieder früh am Morgen? Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Wie war ich hierhergekommen? Ich kriegte es nicht mehr zusammen. Ich wusste nur noch, dass ich mit Kylo unterwegs gewesen war. Eine kleine Abendrunde. Wir waren im Wald spazieren gegangen. Und irgendwann hatte ich keine Lust mehr gehabt, die alten, bekannten, bereits ausgetretenen Wege abzulaufen, und entschloss mich spontan, ein wenig querfeldein zu gehen. Kylo schien das zu gefallen, wir streiften einfach so kreuz und quer durch die Natur. Ich weiß nicht genau, was ich mir dabei dachte, vielleicht wollte ich einfach nur mal was Neues entdecken, etwas anderes sehen. Mich treiben lassen. Und dann war ich plötzlich hier gewesen. In diesem riesigen Haus, mitten im Nirgendwo. Wie war ich nur auf die bescheuerte Idee gekommen, einfach reinzugehen? Egal. Jetzt war ich drin.

Ich rief nach Kylo. Eben war er doch noch neben mir. »Kylo?« Der Hund hörte nicht. Wahrscheinlich versuchte er, sich genauso wie ich in diesem merkwürdigen Gebäude zurechtzufinden. Mir ging es gar nicht gut. Schweiß lief über mein Gesicht. Ich stieg die Treppenstufen hoch. Warum tat ich das? Warum ging ich weiter? Ich hatte das Gefühl, mich nicht mehr unter Kontrolle zu haben, als würde ich von einer unsichtbaren Hand gesteuert. Als wäre ich nicht mehr ich selbst.

Und dann war da noch diese Stille. Einfach nur absolute Stille. Das Einzige, was ich hörte, war mein schwerer Atem. Ich betrat einen riesigen Raum, der völlig leer war. Nur in der Mitte, da stand ein großer, schwerer Holztisch. Und auf diesem Holztisch lag ein iPad. Ich trat an das Gerät heran. Auf ihm war als Hintergrundbild eine Galerie eingerichtet – lauter Fotos von mir. Fotos aus meinem Leben. Von meiner Familie. Oma und Opa, Anna und Kylo. Meine Freunde und …

Mir wurde schwindelig. Was ging hier vor? Ich trat zwei Schritte zurück, dann schnürte sich mir die Kehle zu, ich bekam keine Luft mehr und stürzte fluchtartig aus dem Raum.

Was war nur los mit mir? Was lief hier ab? Ich ging in das Badezimmer, ließ den Wasserhahn laufen und schüttete mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht. Mensch, Marcel, komm doch mal wieder klar. Was schiebst du hier für Filme? Du wirst jetzt einfach aus diesem Haus verschwinden und nach Hause gehen.

Langsam schaute ich hoch in den Spiegel und … Was zur Hölle?!

Ich erschrak fast zu Tode. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch alles unmöglich! Statt meines Spiegelbilds erblickte ich eine albtraumhafte Version meiner selbst, ohne Haare, ohne Zähne, so stark abgemagert, dass man nur noch die Konturen meiner Knochen sehen konnte, meine Haut war gelb unterlaufen, aus meinen Augen tropfte Blut.

Ich lief fluchtartig aus dem Badezimmer, wollte das Haus sofort verlassen, rief nach Kylo, aber da spürte ich, wie das Fundament des gesamten Gebäudes wackelte, wie alles in sich zusammenbrach, das ganze Haus einfach verfiel und mich in Windeseile unter sich begrub.

*

Ich schreckte hoch. Mein Puls raste. Fuck!

Okay, durchatmen! Ganz ruhig. Ganz ruhig, es war nur ein Traum. Einfach nur ein mieser Traum. Ich rieb mir die Augen. Kalter Schweiß lief über mein Gesicht. Ich hatte sonst nie Albträume, aber der hier, der war echt heftig.

Ich schaute mich um. Dunkelheit. Ich atmete noch ein paarmal tief durch, dann stand ich auf und suchte den Lichtschalter. Es war, als wäre ich immer noch halb im Traum gefangen. Erst allmählich wurde ich wieder klar.

Ich war zu Hause. Zumindest beinahe. Das hier, das war mein neues Haus. Ich war in den letzten Monaten Tag für Tag damit beschäftigt gewesen, es umzubauen, es nach meinen Wünschen zu gestalten, ein neues Ankleidezimmer einzubauen, einen Gaming-Raum, ein wandgroßes Aquarium im Wohnzimmer. Ich hatte mehr als eine Million Euro investiert. Dieses Haus war die Erfüllung all meiner Träume. Aber es war noch lange nicht meine Heimat. Die Bauarbeiter waren noch immer nicht fertig, der Fußboden war an einigen Stellen aufgerissen, und an der Wand lehnte mein Achttausend-Euro-Fernseher, den meine Innenarchitektin aus Versehen hatte fallen lassen.

Ich musste hier raus. Ich stieg in meinen Wagen, ließ die Fensterscheiben runter und atmete den Fahrtwind ein. Es war kühl geworden. Ich schaute auf die Autobahn vor mir. Niemand war mehr unterwegs. Und plötzlich spürte ich wieder, wie Panik in mir aufstieg. Als säße irgendein Dämon in meinem Kopf, der mir die schrecklichsten Gedanken einflüsterte. Plötzlich dachte ich, ich müsste sterben. Einfach so. Es war der Druck der letzten Tage, der Druck der letzten Wochen, dem ich in diesem Moment einfach nicht mehr standhielt. Ich beschleunigte meinen Wagen. Hundertsiebzig Sachen. Hundertachtzig. Zweihundert. Noch mal zwanzig mehr. Dann schloss ich meine Augen. Zählte langsam herunter. Drei, zwei, eins ...

Ich öffnete sie wieder und bremste ab. Reifen quietschten. Mein Hals zog sich zu. Ich hielt die Luft an und fuhr den Wagen an den Straßenrand. Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Scheiße, Scheiße, Scheiße! Versuchst du dich hier gerade umzubringen? Ernsthaft?!

Ich umklammerte mit den Händen das Lenkrad und lehnte meinen Kopf gegen das Steuer. Ich bekam keine Luft mehr, mein Hals war wie zugeschnürt. Tränen liefen mir über die Wangen. Komm schon, Marcel, sprach ich mir selbst gut zu. Beruhige dich! Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich!

Es war schon einige Jahre her, dass ich das letzte Mal in so einem Zustand war. In einem Zustand, in dem ich mich selbst nicht mehr erkannte. Geplagt von Ängsten, Albträumen und Dämonen. In einem Zustand, in dem ich mich tatsächlich vor mir selbst fürchtete. War es wieder so weit? Hatte ich gerade einen Nervenzusammenbruch?

Ich öffnete die Tür und stieg aus. Sog die frische Luft ein. Ich hätte gerne mit jemandem gesprochen, aber wem hätte ich davon erzählen können? Und was hätte ich sagen sollen? Wer hätte das verstanden? Ich verstand es ja selbst nicht. Vielleicht, dachte ich, vielleicht würde es mir helfen, wenn ich meine Gedanken aufschriebe. Vielleicht würde ich auf diese Weise Ordnung in das Chaos in meinem Kopf bekommen. Vielleicht würde ich dann begreifen, wer ich eigentlich war und inwiefern ich mich in den letzten, turbulenten Jahren verändert hatte. Denn normal konnte das gerade doch nicht gewesen sein. Ich war schließlich der Junge, der alles erreicht hatte. Den alle beneideten. Der sich all die Dinge verwirklichen konnte, von denen er nicht mal zu träumen gewagt hatte. Ich hatte mehr Geld, als ich ausgeben konnte, Erfolg, Ruhm, Millionen Follower, ein tolles Haus. Und dennoch war ich am Boden. Völlig fertig. Erfolg, dachte ich bitter, ist etwas, von dem jeder Mensch träumt. Bis er eines Tages am eigenen Leib erfährt, welchen Preis er hat.

TEIL 1

LICHT

(2010–2016)

I. NORMALITÄT

Es heißt, dass sich der Mensch in seine Träume flüchtet, um der Realität zu entkommen, aber ich glaube, das stimmt so nicht. Ich glaube, dass unsere Träume vielmehr der erste Versuch sind, unsere Realität zu formen. Wer nicht mehr in der Lage ist zu träumen, dem fehlt die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen.

*

Ich presste mich gegen die Mauer. Durchatmen. Ausruhen. Nur für einen kurzen Moment. Eddie stand direkt neben mir. Unsere Blicke trafen sich. Wir nickten uns kurz zu. Dann zählte ich runter. Drei, zwei, eins ... Go! Eddie lief voran, ich folgte. Wir blieben geduckt. Überall konnte hier eine böse Überraschung lauern. Das wussten wir beide. Der kleine Ort wirkte wie eine Geisterstadt. Die Atmosphäre war bedrohlich. Die Straßen komplett verwüstet. Überall Trümmerteile. Überall Sperrholz. Überall ausgebrannte Tonnen. Einschusslöcher in den Hauswänden. Kaum vorstellbar, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Der Krieg hatte alles zerstört.

»Da drüben«, sagte ich zu Eddie.

»Jawoll!«

Wir brauchten nicht viele Worte. Wir verstanden uns blind. Wir liefen auf ein ausgebombtes Autowrack zu, das mitten auf der Straße stand. Wir gingen in die Hocke. Suchten Deckung.

»Ich habe zwei gesehen«, sagte Eddie. »In dem Gebäude da drüben.«

»Sicher?«, fragte ich.

»Sicher.«

Das Gebäude lag auf der anderen Straßenseite. Riskante Sache. Konnte eine Falle sein. Hatten sie uns schon bemerkt? Wussten sie, dass wir kommen würden? Ich entsicherte meine Waffe. Spürte das Adrenalin durch meinen Körper pumpen. Ich war voll konzentriert. Komplett im Tunnel. Wenn wir das Haus einnehmen würden, dann hätten wir einen perfekten strategischen Ausgangspunkt. Und den konnten wir gut gebrauchen.

Also gut. Es ging los. Wir wagten uns aus der Deckung und stürmten das Gelände. Ich rechnete damit, sofort unter Beschuss genommen zu werden. Aber nichts passierte. Es war ungewöhnlich still. Im Hintergrund sah ich Rauch aufsteigen. Egal. Keine Zeit. Weiter, immer weiter. Wir drangen in das Haus ein. Und da standen sie. Direkt vor uns. Kurzer Schockmoment. Für alle. Zwei vollausgerüstete Soldaten in kompletter Kampfmontur. Keine Zeit nachzudenken. Ich reagierte sofort. Instinktiv. Riss meine Waffe hoch, nicht nachdenken, handeln, schießen oder erschossen werden. Ich drückte ab. Hörte das Rattern der Maschinenpistole. Spürte den Rückstoß. Treffer. Mein Gegenüber sackte zusammen. Ging zu Boden. Dann hörte ich Schüsse direkt neben mir. Drehte mich um. Eddie hatte ebenfalls einen erledigt. Perfekt! Ich lud meine Waffe nach. Suchte Deckung hinter einem der Stützpfeiler. Dann schaute ich auf die Uhr. Es sah gut aus. Es war eine mehr als knappe Kiste, aber wir schienen das hier zu gewinnen. Ich schaute nach draußen. Auf die freie Fläche. Sah zwei unserer Jungs, die einen weiteren Gegner einkesselten. Er hatte sich hinter einem Kistenstapel verschanzt. Die Zeit lief. Egal, dachte ich. Den schnappen wir uns auch noch.

Ich ging auf Risiko. Rannte los. Rannte und rannte. »Mach nicht, Monte!«, hörte ich Eddie noch rufen. Aber ich wollte den Kerl abschießen. Er war in die Ecke gedrängt. Wir würden ihn erwischen. Ich war mir sicher. Ich lief auf die offene Straße, lief vorbei an dem Autowrack, vorbei an der durchlöcherten US-Fahne, sah meine Jungs, lief auf sie zu und ... Scheiße! Was war das? Ich ging zu Boden. Es hatte mich erwischt. Aber wer? Wo?

»Scharfschütze«, hörte ich Eddie. Na klar. Scharfschützen. In diesem Ort wimmelte es nur so von Scharfschützen. Es gab hier einige Möglichkeiten, sich hinter irgendwelchen Fenstern in Türmen zu verstecken und dann einfach jeden, der sich auf offener Straße bewegte, abzuknallen. Scheiße!

Ich schmiss den Controller auf den Schreibtisch und zog mir mein Headset runter. Scheiße, scheiße, scheiße! Diese blöden Wichser! Ich schaute auf den Counter, er lief runter. Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Die Runde war beendet. Ein Sieg. Ja. Aber es war verdammt knapp. Und mein Last-Minute-Tod hätte uns fast den Gesamtsieg gekostet.

Ich brauchte ein paar Sekunden, dann hatte ich mich wieder gefangen, setzte das Headset wieder auf und jointe in unseren kleinen Chatroom.

»Verdammt knappe Kiste …«

»Marcel macht wieder Alleingänge, oder wie?«

»Marcel heute lebensmüde.«

Ja, ja. Sollten sie nur reden. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits 4:30 Uhr. Scheiße.

»Jungs, ich muss langsam mal raus«, sagte ich.

»Jetzt schon? Scheiß dich nicht ein«, sagte einer. »Eine Runde noch …«

Ich wippte mit meinem Fuß. Es war schon wirklich sehr, sehr spät. Aber okay. Scheiß drauf. Eine Runde noch. Ich lehnte mich ganz tief in dem alten Ledersessel zurück, den Opa mir geschenkt hatte. Sein alter TV-Stuhl. Wir einigten uns auf eine Map, warteten, bis eine gegnerische Gruppe jointe – und spielten weiter.

Es war immer dasselbe. Nacht für Nacht. Es war immer dasselbe. Wir spielten CoD – Call of Duty. Eine wahnsinnig populäre Ego-Shooter-Reihe. Wir konzentrierten uns nur auf den Multiplayer-Modus, wo man in einem Team aus echten Spielern online gegen ein anderes Team aus echten Spielern antreten konnte. Eine Runde dauerte rund zehn Minuten, dann ging wieder alles von vorne los. So lief das die ganze Nacht.

Jeden Abend nach 22:00 Uhr traf ich mich hier mit meinen Freunden. Meinen Online-Freunden. Menschen, die ich in der Realität zwar noch nie gesehen hatte, aber das war egal. Das hier, das war meine Crew. Eine Gruppe von ganz speziellen Typen. Alles erwachsene Männer, die mit beiden Beinen fest im Leben standen. Die Kinder und Familie hatten. Ich war mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch einer der Jüngsten. Aber uns alle verband nicht nur die Liebe zum Spiel. Für uns alle war das hier ein Paralleluniversum. Eine Flucht in eine Welt, in der man wieder ein bisschen Kind sei durfte. Wo man unter sich war. Ein kurzer Ausflug aus der Realität, die ansonsten doch sehr grau war.

»Yalla, los«, sagte ich, und das nächste Spiel begann.

*

Die lange Nacht rächte sich am nächsten Morgen. Aus der wirklich letzten Runde waren drei weitere wirklich letzte Runden geworden. Und jetzt riss mich mein Wecker aus dem viel zu kurzen Schlaf, brachte mich von den Schlachtfeldern der chinesischen Grenzregion zurück, direkt in die unbarmherzige Realität. In meinen eigentlich sehr grauen Alltag, der kaum Abwechslung kannte. 9:00 Uhr. Viel zu früh.

Ich griff nach dem Wecker und wischte ihn mit einer Handbewegung vom Nachttisch. Verdammte Scheiße! Da lag er nun, weit weg, tief am Boden, absolut außerhalb der Reichweite meines Armes – und schrillte weiter. Aber na gut, es half ja alles nichts. Hier war ich also, zweiundzwanzig Jahre alt, total übermüdet, aber bereit zu tun, was getan werden musste.

Ich kämpfte mich aus meinem Bett, bückte mich, riss die Batterien aus dem Wecker und zog die Vorhänge auf. Die Sonne blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht offenbarte ganz nebenbei das Chaos, das sich in den vergangenen Nächten in meinem kleinen Dachbodenzimmer ausgebreitet hatte.

Der Raum war ein einziges Schlachtfeld. Auf dem Boden Chipstüten und Monster-Dosen, auf dem Schreibtisch Pizzareste und die Krümel undefinierbar gewordener Lebensmittel. Ich atmete tief durch und zog die Vorhänge rasch wieder zu. Ich wollte das ganze Elend jetzt nicht sehen. Scheiß drauf, ich würde mich heute Abend darum kümmern. Ich schleppte mich ins Badezimmer und machte mich frisch, es gab jetzt andere Dinge zu erledigen.

Nachdem ich mich mit einer kalten Dusche halbwegs auf Betriebstemperatur gebracht hatte, schaute ich in den Spiegel. Nein, ein Kriegsheld war ich nur im Spiel. Aber irgendwie gab es Tage, in denen ich mich trotzdem wie ein Veteran fühlte. Wie jemand, der schon sehr viel gesehen und erlebt, wie jemand, der schon sehr viel hinter sich hatte. Ich legte den Kopf schräg und betrachtete mich selbst. Ja, ich war ein Überlebender. Ich hatte eine wilde Jugend hinter mir. Eine Jugend, die mich fast das Leben gekostet hätte. Drogen. Obdachlosigkeit. Entzugsklinik. Es war alles noch gar nicht so lange her. Erst vor einigen Monaten hatte mein Leben so etwas wie eine wirklich feste Struktur bekommen. So etwas wie einen richtigen Alltag. Etwas, an das ich mich klammern konnte. Vielleicht, dachte ich, war ich mir heute sehr viel näher, als ich es mir je hätte vorstellen können. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder zurück ...

Klassenraum. Grundschule. Erster Tag nach den Sommerferien. »Stuhlkreis«, sagte meine Lehrerin, eine ältere, herzliche Frau, und klatschte zweimal in die Hände. Wir nahmen unsere Stühle und bildeten in der Mitte der Klasse einen kleinen Kreis. »Ich möchte mit euch über eure Zukunftspläne sprechen«, sagte meine Lehrerin.

Ich war sieben Jahre alt. Über meine Zukunft hatte ich mir noch nicht allzu viele Gedanken gemacht.

»Ich möchte, dass mir jeder von euch sagt, wo er sich in einigen Jahren mal sieht. Was möchtet ihr werden?«

Ich schaute meine Mitschüler an. Einige starrten in die Luft. Andere rieben sich am Kinn. Die meisten lächelten. Dann ging es der Reihe um. »Fußballprofi«, sagte Max. »Rennfahrer«, sein Sitznachbar. »Ich möchte Tierärztin werden«, sagte ein Mädchen. So ging das weiter. Schüler für Schüler. Die meisten Jungs wollten Fußballer werden. Oder Piloten. Die Mädchen wollten Schauspielerin sein. Oder Lehrerin. Dann war ich an der Reihe.

»Und Marcel?«, fragte mich meine Klassenlehrerin, nachdem ich einige Sekunden schwieg. »Was möchtest du mal werden?«

Ich überlegte. Sollte ich jetzt einfach das sagen, was die anderen sagten? Ich sah mich eigentlich nicht als Fußballprofi. Nein, dachte ich mir. Ich bleibe bei der Wahrheit.

»Ich möchte nach der Grundschule unbedingt auf die Realschule kommen.«

Alle Blicke der Klasse lagen auf mir. Stille.

»Warum denn das?«, fragte mich meine Klassenlehrerin.

»Na ja, das Gymnasium ist etwas für die Klugen. Die Hauptschule für die Dummen. Aber ich …« Ich machte eine kurze Pause. »Ich will eigentlich einfach nur normal sein.

Ich löste mich von meinem Spiegelbild. Ich war nie jemand, der nach den Sternen gegriffen hat. Die Sterne waren für jemanden wie mich sowieso immer unerreichbar. Zumindest dachte ich das. Normalität. Das war alles, was ich wollte. Das war das Beste, das jemand wie ich erreichen konnte. Und Normalität hatte ich jetzt gefunden. Meine Zockernächte waren die einzigen Ausbrüche aus dieser Normalität. Eine Flucht in eine Parallelwelt. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Aber da auch sie einer Routine folgten, passten sie wieder ganz gut in die Struktur.

Ich verließ das Badezimmer, sprang die Treppen runter und lief ins Wohnzimmer.

»Omi? Opi?«

Nichts. Ich schaute mich um. Meine Großeltern waren nicht da. Wahrscheinlich gerade zum Einkaufen gefahren. Na klar, es war Freitag. Und freitags kamen immer die Prospekte mit den Sonderangeboten, dachte ich mir, da konnte Opa nicht lange widerstehen. Ich schüttelte den Kopf und holte mir einen Orangensaft aus dem Kühlschrank. »Ach, Opa«, sagte ich leise zu mir selbst. »Du bist und bleibst der Beste.«

Ich zog mein Portemonnaie aus der Hosentasche, fischte hundertfünfzig Euro raus und steckte sie in einen Briefumschlag, den ich auf den Küchentisch legte. Das Geld für die Miete. Dafür, dass ich noch bei meinen Großeltern auf dem Dachboden wohnen durfte. Ich wollte zumindest einen kleinen Teil beitragen. Miete, Strom und Wasser, nicht die Welt, aber es ging ja auch nur ums Prinzip. Dann zog ich meine Jacke an, streifte mir meinen Rucksack über die Schulter und verließ das Haus.

Unser Nachbar stand in seinem Garten und kehrte das Laub zusammen. Er winkte mir. Ich nickte zurück. Buxtehude. Man kannte sich.

Ich stieg auf mein Fahrrad und fuhr durch die Straßen meiner Stadt. Ich machte auf gemütlich. Ich hatte noch genügend Zeit. 9:30 Uhr, die meisten Geschäfte hier in der Fußgängerzone öffneten gerade. Es waren noch nicht viele Menschen unterwegs. Ich fuhr vorbei an dem kleinen Kiosk, in dem ich als Kind mein erstes Eis geklaut hatte, vorbei an dem Tante-Emma-Laden von Herrn Pampa. Mit jeder Ecke, mit jeder Straße verband ich eine Erinnerung. Viele kleine Geschichten, die zusammen die Geschichte meines Lebens ergaben. Einige dieser Geschichten haben sich tiefer in meine Seele eingebrannt als andere, aber sie alle hatten Einfluss auf den Menschen, der ich geworden war.

Als ich an dem großen Park vorbeifuhr, fiel mein Blick auf die Parkbank, die mitten auf der Grünanlage stand. Ob dort wohl noch immer …? Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte noch etwas Zeit. Keine Ahnung, warum es mich ausgerechnet heute so sehr interessierte, schließlich kam ich fast jeden Tag hier vorbei, aber ich wollte es jetzt einfach wissen. Eine fixe Idee.

Ich hielt kurz an und stellte mein Fahrrad ab. Bestimmt hatte man es mittlerweile entfernt, dachte ich. Es war nicht viel los. Obwohl es nicht regnete, war es viel zu kühl, nur ein paar Rentner waren unterwegs. Ich näherte mich der Bank. Und tatsächlich, es war noch immer da. Ich konnte es kaum glauben. Von einem Moment auf den anderen wurde ich aus meinem Alltag gerissen und war wieder zwölf Jahre alt.

»Hey, Marcel, alles klar?« Julian nickte mir zu und winkte mich zu sich rüber. Vor ihm stand ein großer Rucksack. Gefüllt mit allem, was wir an einem Sommertag wie diesem brauchten. Süßigkeiten, Chips, Eistee. Julian kam aus einem besseren Elternhaus als ich, er konnte sich so etwas locker leisten. Für mich waren Pringles die absoluten Markenchips. Etwas beinahe Heiliges. Für ihn waren sie ganz normal.

Ich setzte mich neben ihn und legte meine Arme um die Rückenlehne der Parkbank.

»Und?«, fragte er vorsichtig. »Wie geht es dir?«

»Gut, gut«, sagte ich.

Pause.

»Ich meine, wegen gestern.«

»Digga, ist mir schon klar, was du meinst. Ich hab dir doch gesagt, mir geht es gut. Ich fühl mich richtig frei und so.«

Gestern. Gestern war der Tag, an dem wir ein Experiment gewagt hatten, das Einfluss auf mein gesamtes weiteres Leben haben sollte. Wir hatten Julians Bruder einen Joint geklaut. Und ihn geraucht. Es war ein unfassbares Gefühl. Es war, als hätte ich mich völlig von mir selbst gelöst, als würde der Teil von mir, der mit den ganzen Sorgen und Problemen belastet war, einfach davonschweben.

»Hat dein Bruder was bemerkt?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Julian. Sein großer Bruder war ein richtiger Head, er hörte Hip-Hop, machte Graffiti und kiffte von morgens bis abends. »Er hat nur gesagt, beim nächsten Mal sollten wir ihn einfach fragen.«

Dann zog Julian einen neuen Joint hervor. Ich hatte keinen Schimmer, ob er die Wahrheit sagte oder ob das Ding auch wieder geklaut war. Aber es war mir ohnehin egal. Ich grinste, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und steckte das Ding an. Der süßliche Geruch von Cannabis lag sofort in der Luft. Ich nahm einen tiefen Zug und schloss dabei die Augen. Julian zog derweil einen Edding aus seinem Rucksack und kritzelte einen Tag auf die Parkbank. Dann tauschten wir. Er nahm den Joint, ich den Edding. Auch ich markierte mein Revier.

Ich strich mit der Hand vorsichtig über das alte Holz der Parkbank, über die verblassten Graffiti. Irgendwie freute ich mich, dass sie noch da waren. Dass ich Spuren hinterlassen hatte. Allerdings hatten auch die Auswirkungen der Sucht bei mir Spuren hinterlassen.

Ich setzte mich wieder auf mein Fahrrad und fuhr weiter. Nach ein paar Minuten erreichte ich das Einkaufscenter. »Gloria« stand in großen roten Buchstaben über dem Eingang. Das hier, das war jetzt meine Gegenwart. Mein Leben. Meine Realität.

Ich atmete einmal tief durch, zog meine rote Arbeitsweste aus dem Rucksack und streifte sie mir über.

Ich schaute auf mein Handy. 9:45 Uhr.

*

Der Getränkemarkt war winzig. Er bestand nur aus einer kleinen Verkaufsfläche voller Getränkekisten und einem riesigen Lagerbereich.

»Moin, Marcel«, begrüßte mich meine Chefin, die gerade im Lager stand und die neu angekommene Ware kontrollierte.

Frau Schmidt, Mitte vierzig, war eine resolute Person, die eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, wie es in ihrem Geschäft laufen sollte. Verspätungen und Widerworte duldete sie nicht. Aber sie war fair, zumindest meistens, darum kam ich gut mit ihr aus. Heute aber war irgendwas anders. Sie wirkte fahrig. Als wäre sie nicht ganz bei der Sache. Als wäre irgendetwas nicht in Ordnung.

»Ist alles okay?«, fragte ich.

»Ich erklär es dir später«, sagte sie und nickte Richtung Kasse, wo gerade zwei Polizisten den Laden betreten hatten. »Wir haben Besuch.«

Die Polizei? Ich fragte mich, was hier los war, doch bevor ich die Frage aussprechen konnte, ließ mich Frau Schmidt schon stehen und ging den Beamten entgegen. Die drei fingen an, etwas zu besprechen.

Merkwürdig. Aber ich wollte nicht neugierig wirken. Wollte mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angingen. Also fing ich an, das zu machen, wofür ich bezahlt wurde. Hier im Getränkemarkt war ich der Lagerjunge. Es war Freitagvormittag, also hatte ich zu überprüfen, ob die Lieferungen vollständig angekommen waren. Anschließend musste ich die Getränkekisten im Laden wieder auffüllen.

Ich glich also die Lieferung mit den Bestelllisten ab, überprüfte, ob wirklich alles angekommen war, bis Frau Schmidt sich nach einer guten Viertelstunde von den Polizisten verabschiedete und mit hochgezogenen Augenbrauen auf mich zukam.

»Gab es Stress?«, fragte ich.

»Gestern Abend wurde hier eingebrochen.«

»Was?«

»Ja, Ulli wollte den Laden gerade abschließen, da kamen zwei Jugendliche, bewaffnet. Sie hielten ihm eine Pistole direkt vors Gesicht.«

»Ist er denn in Ordnung?« Ulli war ein guter Typ. Ein älterer Herr mit einem Bauch, den er stolz vor sich hertrug. Die Sanftmut in Person. Ulli konnte keiner Fliege was zuleide tun. Dass es ausgerechnet ihn getroffen hatte, war eine Schande.

»Ihm ist nichts passiert, aber er ist ein wenig durch den Wind. Er wird sich wahrscheinlich ein paar Tage freinehmen. Es wäre gut, wenn du bis zum Ende der Woche die Kasse übernehmen könntest.«

»Na klar«, sagte ich. Ich hasste es zwar, an der Kasse zu sitzen, aber das war jetzt eine Ausnahmesituation. Ehrensache, dass ich für Ulli einspringen würde.

»Hat man die Typen wenigstens gefasst?«, fragte ich.

Frau Schmidt schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Nur so viel ist klar, es waren zwei Jungs, die ziemlich genau wussten, was sie taten.«

Zwei Jungs. Die wussten, was sie taten. Ich atmete schwer aus und lehnte mich gegen die Wand.

Ich schreckte hoch, als Rene das Zimmer betrat.

»Was ist los, bist du schon wieder am Pennen?«, fragte er mich und schmiss mir eine Dose Eistee entgegen, die ich gerade noch abfangen konnte, bevor sie mitten in meinem Gesicht landete.

»Digga, Rene, ich habe meine Augen ausgeruht, was soll das?«

Er schüttelte nur den Kopf. »Grünes Licht für das Müller-Haus.«

»Ohaaa!«

Das Müller-Haus. Eine alte Villa, ganz am Stadtrand gelegen. Ziemlich einsam. Schlechte Verkehrsanbindung. Und ideale Bedingungen für Typen wie uns. Ich war siebzehn Jahre alt, schwer kokainabhängig und immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Mit meinem Kumpel Rene hatte ich eine Sache für mich entdeckt, die ziemlich effizient war. In Häuser einsteigen. Wir hatten mittlerweile eine unglaubliche Routine entwickelt. Etwa mit dem Zeitungstrick. Wir legten eine Zeitung vor einem Haus aus, und wenn sie nach drei Tagen nicht weggenommen worden war, konnte man damit rechnen, dass der Hausbesitzer gerade im Urlaub war. So wie jetzt Herr Müller. Irgend so ein Professor, der sich in Buxtehude zur Ruhe gesetzt hatte.

»Komm schon«, sagte Rene. »Hör auf zu träumen. Lass direkt los.« Er schmiss mir eine Sturmmaske hin. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper rauschte.

»Marcel?«, riss mich Frau Schmidt aus meinen Gedanken. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, klar«, sagte ich. Es war wirklich noch gar nicht so lange her, da war ich der Typ, der in Geschäfte und Häuser einstieg, um ein bisschen Kohle zu machen. Allerdings bin ich immer nur in leere Geschäfte und Häuser eingestiegen. Ich habe nie jemanden bedroht, nicht einmal jemanden gesehen. Aber das machte es auch nicht besser. Gott, was war ich für ein Arschloch gewesen!

»Ich bin gleich wieder da, Frau Schmidt.«

Ich verabschiedete mich kurz und ging in die Waschräume, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht schüttete. Irgendwie war ich heute nicht so ganz bei mir. Ich betrachtete mich im Spiegel. Es fühlte sich an, als hätte dieser Marcel Eris, dessen Spiegelung ich da vor mir sah, nichts mehr mit dem Marcel Eris zu tun, der ich noch vor ein paar Jahren gewesen war. Jener Marcel Eris, der von seiner Sucht gezeichnet war, der dem Tod näher war als dem Leben und seinen inneren Dämonen nachgegeben hatte. Der am Abgrund stand. Und dennoch weiterrannte. Aber jetzt war mein Leben geordnet. Strukturiert. Kaum zu glauben, dass das alles mal meine Vergangenheit gewesen sein sollte. Kaum zu glauben, in welchen Abgrund mich die Drogen hinuntergerissen hatten.

Ich ging zurück ins Lager, griff nach dem Klemmbrett, checkte noch ein letztes Mal die Liste mit den Getränken, überprüfte, ob die Bestellung wirklich vollständig war, und dann fing ich endlich an, unsere Vorräte aufzufüllen. Ich bestieg den kleinen elektrischen Hubwagen und hebelte eine Palette mit Cola-Kästen hoch. Ich legte meinen Kopf schräg und zählte noch einmal nach, acht, neun, exakt zehn Kästen Dann gab ich ein wenig Gas und fuhr die aufgegabelten Kästen aus dem Lager direkt in den Markt. Das Lager war zwar groß und geräumig, die Verkaufsfläche aber so eng, dass der kleine Hubwagen hier nicht durch die einzelnen Reihen passte. Darum musste ich die Kästen an der Ladenschwelle abstellen und sie einzeln rübertragen. Ziemlich anstrengend, aber der Job machte mir Spaß. Es war ehrliche, es war körperliche Arbeit, und man konnte sich richtig auspowern. Wenn man abends nach Hause ging, war man stolz auf sich.

Ich nahm Schwung und hievte den letzten Kasten auf den Stapel, dann wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und bereitete im Lager die nächste Fuhre vor. Dieses Mal die Bierkästen.

»Marcel, den Rest räumen wir am Montag ein, übernimmst du bitte die Kasse?«, bat mich Frau Schmidt. »Ich muss jetzt los, ich hab noch ein paar Termine.«

»Alles klar«, sagte ich.

Die Kasse. Ich hasste die Kasse. Ich hatte zwar kein Problem, mit den Kunden zu sprechen und mit ihnen umzugehen, im Gegenteil, ich mochte das sogar ganz gerne, aber meistens war man an die Kasse gebunden, saß dort den ganzen Tag rum, wartete nur, bis jemand kam, was eher selten der Fall war, und hatte nichts anderes zu tun. Mir machte die Arbeit im Lager sehr viel mehr Spaß. Da wusste man wenigstens, was man geleistet hatte.

Es kam genauso, wie ich es befürchtet hatte. Es war ein zäher Freitagvormittag. Nur vereinzelt schaute mal jemand vorbei, um ein wenig Pfand abzugeben. Als ich sah, dass nichts los war, dass kein einziger Kunde im Laden war, beschloss ich, selbst ein wenig Action zu machen. Ich dachte kurz nach, ob ich das wirklich durchziehen sollte, aber na ja, was war schon groß dabei, ich verdiente ja wirklich nicht viel Geld in dem Job, und dafür, dass ich so sozial war, bei der Kasse einzuspringen, konnte ich mir jetzt auch mal was gönnen. Ich ging zu der Palette mit den Cola-Kisten, nahm mir vier Flaschen raus und verstaute sie in meinem Rucksack. Ich riss mich wirklich zusammen, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen, aber hin und wieder ein paar Getränke mitgehen zu lassen, konnte ich mir halt nicht verkneifen. Und ein paar Flaschen Cola zu Hause zu haben, das war der größtmögliche Luxus für mich. Es sind manchmal die kleinen Dinge, die eine große Bedeutung für einen Menschen haben können, und abends an den Kühlschrank zu gehen und eine eiskalte Cola-Flasche herauszuziehen, das war einfach geil. Ich konnte auch nicht drauf hoffen, dass Oma und Opa mir welche mitbrachten. Oma konnte Cola nicht ausstehen. Das macht die Knochen kaputt, sagte sie immer. Und wenn Opa mal eine Cola gekauft hat, dann immer bloß die Billigversion vom Discounter, die schon nach zwei Schlucken wie Pisse schmeckte. Nein, an das Original kam wirklich nichts heran.

Während ich die Flaschen in meinem Rucksack verstaute, kam ich auf die Idee, noch zwei Chipstüten einzustecken. Die könnte ich heute Abend auch noch ganz gut brauchen.

Okay, dachte ich, ein klein wenig von dem alten Marcel Eris steckt noch immer in mir. So ganz konnte ich es einfach nicht lassen. Ich brauchte diesen kleinen Adrenalinkick einfach. Dann ging ich wieder zurück hinter die Kasse und saß meine Zeit ab.

Um 15:00 Uhr kam endlich der Kollege, der mich ablöste.

»Und, alles gut, Meister?«

»Nicht viel los heute«, sagte ich und übergab ihm die Kasse. Dann packte ich meine Sachen, verabschiedete mich und machte mich auf den Weg in meinen Feierabend.

Als ich den Getränkemarkt gerade verlassen wollte, stand Davide vor dem Laden.

»Hey, Lagerboy!«, begrüßte er mich.

Ich war überrascht, ihn zu sehen. »Was machst du denn hier?« Ich gab ihm freundschaftlich einen angedeuteten Faustschlag in den Bauch.

»Ich wollte mal sehen, was du so treibst, Marcel. Haste ein bisschen Zeit?«

»Für dich doch immer.«

Davide und ich gingen zum Schulhof meiner alten Grundschule und quatschten einfach miteinander.

Als ich das große Eingangstor sah, kamen die ganzen Erinnerungen wieder hoch.

Der Schlüssel. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Schlüssel mir eines Tages mal das Leben retten würde. Es war eine kalte, stürmische Nacht und mit zittrigen Händen zog ich den dicken Bund aus meiner Hosentasche. Ich schaute mich noch einmal um. War da auch wirklich niemand? Nein, die Luft war rein. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Er passte noch. Erleichtert atmete ich durch. Völlig durchnässt vom kalten Regen ging ich in die kleine Lobby meiner alten Grundschule. Ich hatte den Schlüssel damals einem Typen abgekauft, ohne zu wissen, was ich damit eigentlich anstellen sollte. Aber den Generalschlüssel seiner alten Schule zu besitzen, konnte nie verkehrt sein, dachte ich. Und ich sollte mich nicht täuschen. In der Hochphase meiner Drogensucht verwendete ich ihn zum ersten Mal, um in der Sporthalle zu klauen. Jetzt verwendete ich ihn, um irgendwie zu überleben.

Ich streifte durch die langen Flure bis ich den Sanitätsraum fand. Ich schloss ihn auf, schmiss meinen Rucksack in eine Ecke des Raumes und legte mich auf die Liege, die eigentlich für die Kranken vorgesehen war. Ich stellte meinen Wecker auf 5:00 Uhr morgens. Ich musste verschwinden, bevor der Hausmeister mich hier entdeckte.

Seit meine Großeltern mich vor die Tür gesetzt hatten, wusste ich nicht, wo ich sonst übernachten sollte. Ein paar Nächte war ich bei Freunden untergekommen. Aber denen ging meine Drogensucht auch auf die Nerven. Jetzt hatte ich niemanden. Ich kauerte mich zitternd zusammen und schlief langsam ein. Im Bewusstsein, dass ich unmöglich noch tiefer sinken könnte.

*

Ich schaute auf mein Handy. Es war schon 17:00 Uhr. »Ich muss los«, sagte ich zu Davide.

»Hast wohl noch was vor?«, wollte er wissen.

»Anna kommt gleich.«

»Anna kommt doch jeden Tag. Lass uns lieber noch was reißen, Bro. Wie früher. Es ist Wochenende, Mann. Lass uns ein wenig um die Häuser ziehen.«

»Geht nicht, Davide.«

Er schaute mich an. »Du nimmst echt keine Drogen mehr?«

»Nein, Mann.«

»Auch keinen Alkohol?«

»Ich bin so trocken wie deine Mami!«

Wir lachten. »Kaum zu glauben, dass du von der ganzen Scheiße weggekommen bist.«

Ja, dachte ich mir. Das war wirklich kaum zu glauben. Wenn ich darüber nachdachte, wie tief ich in diesem Sumpf aus Sucht und Abhängigkeit damals gefangen gewesen war.

»Ich hatte ja keine Wahl«, entgegnete ich ihm. »Hätte ich keinen Schlussstrich gezogen, dann wäre ich jetzt vermutlich tot.«

Ich wollte aufbrechen, aber irgendwie konnte ich mich noch nicht losreißen. Ich genoss es, mal wieder mit Davide zu sprechen. Er war mein ältester Freund, ich kannte ihn, seit ich denken konnte. Noch bevor ich in die Grundschule kam, spielten wir schon miteinander bei uns im Hof. Er war einer der ganz wenigen Menschen auf dieser Welt, mit denen ich über wirklich alles reden konnte.

»Darf ich dich was fragen, Davide?«

»Na klar.«

Ich schaute ihn an. »Bist du glücklich?«

»Hm, gute Frage. Aber ja, ich denke schon.« Er zuckte mit den Schultern. »Und du?«

»Ganz ehrlich, Digga? Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so glücklich wie jetzt.«

»Und wieso?«

»Kann ich dir gar nicht sagen … Irgendwie denke ich momentan viel an die alten Tage. Es war eine wilde Zeit. Aber ich bin froh, dass nun ein wenig Ruhe eingekehrt ist, weißt du? Normalität.«

»Es fehlt dir wirklich nicht, einfach mal wieder die Sau rauszulassen?«

»Nein. Es ist gerade alles perfekt so, wie es ist. Mein Leben ist so, wie ich es mir immer gewünscht habe.« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Weißt du, ich habe gerade keine Sorgen. Keine Probleme. Nichts, was mich belastet. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal so war. Komisch, oder?«

»Nein«, sagte Davide und legte mir seine Hand auf die Schulter. »Das ist einfach schön. Genieß es, Bro.«