Mord - Hans-Ludwig Kröber - E-Book

Mord E-Book

Hans-Ludwig Kröber

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Beschreibung

Es gibt keinen fundamentaleren Akt als den, einen anderen Menschen zu töten. Mit dem Mord überschreitet der Täter unwiderruflich eine Grenze, die ihn von seinen Mitmenschen trennt, er begibt sich ins gesellschaftliche Abseits. Hans-Ludwig Kröber ist forensischer Psychiater, seine Aufgabe als Kriminalgutachter ist es, in die Seele der Verbrecher zu schauen und die Geschichte der Tat herauszufinden. Wie wird aus einem normalen Kind jemand, der vergewaltigt, schlägt, um sich sticht, tötet? Wie kam es, dass das Böse in diesem Menschen die Oberhand gewann? Wenn Kröber einem Täter gegenübersitzt, ist er oft der erste Mensch, der sich überhaupt für dessen Lebensgeschichte interessiert, der erste, der zuhört. Daher «vertrauen ihm selbst die schlimmsten Verbrecher Dinge an, die sie sonst niemandem sagen würden» (Die Zeit).

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Seitenzahl: 312

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Hans-Ludwig Kröber

Mord

Geschichten aus der Wirklichkeit

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

MottoVorwortReise in die ZukunftEine Liebe von FritzEnde der DemutIm KellerDer Biss in die BrustBlutsbrüderKissenschlachtSiegfriedMutter eines Mörders
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«Dann drehte er sich um und ging nach Hause. Er hatte das Gefühl, als hätte er sich eigenhändig, wie mit einer Schere, von allen und allem abgeschnitten.»

Dostojewski,

Verbrechen und Strafe

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Vorwort

Vor Gericht landet manch unglaubliche Geschichte. Es wird dort viel gelogen, unter Tränen, lächelnd, mit unschuldsvoller Miene. Das Gericht aber soll die Wahrheit herausfinden, und dies gelingt erstaunlich oft: Wahr ist die wirklichkeitsgetreue Beschreibung, was passiert ist und wer was gemacht hat. Die Richter können auf Tatspuren und auf ein Heer von Helfern zurückgreifen, vor allem Polizisten, Zeugen, Anwälte, außerdem die speziellen Sachverständigen wie Rechtsmediziner, Spurendeuter, Rechtspsychologen. Und Fachärzte für Psychiatrie, die sich besonders mit der Seele und dem Verhalten von Straftätern befassen: forensische Psychiater.

Wir sind Gehilfen der Wahrheitsfindung; im Gespräch versuchen wir Material zu gewinnen, um eine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, die Geschichte der Beziehungen zu anderen Menschen, bisweilen auch die Krankheitsgeschichte. Wir werden als Kundschafter in ein fremdes Leben geschickt und sollen den Richtern Bericht erstatten über die Individuen, die – manchmal zur eigenen Überraschung – zu Straftätern wurden. Wir sollen möglichst nah herankommen an die historische Wahrheit, an das wirkliche Geschehen. So geht es denn um Geschichten aus der Wirklichkeit, nicht um Märchen, Sagen oder Legenden. Die Geschichten dieses Buches sind, soweit wir nicht getäuscht wurden, wirklich so passiert. Auch die unerwarteten und unwahrscheinlichen Geschehnisse und Personen sind nicht erfunden.

Es ging mir aber nicht darum, die beteiligten Personen individuell kenntlich zu machen, deswegen habe ich das verändert, was eine Identifizierung erleichtern könnte, also Namen, Berufe, Orte und Landschaften. Es werden auch keine Geheimnisse ausgeplaudert, die in Therapien gewonnen wurden; keine Person dieses Buches wurde von mir psychiatrisch behandelt. Alle wesentlichen Tatsachen wurden in öffentlichen Gerichtsverhandlungen erörtert, meist vor einer Handvoll Zuhörern und einigen Gerichtsreporterinnen.

Dies ist kein Lehrbuch. Forensische Psychiatrie interpretiert und bewertet den Lebenslauf, die Taten und die Wesensart eines Menschen im Hinblick auf konkrete Fragestellungen, auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit, seine künftige Gefährlichkeit, seine Behandelbarkeit. Darum geht es nicht in diesem Buch. Ich betrachte allein, wie die Dinge passiert sind. Das Ideal wäre, die wirkliche Geschichte herauszufinden, the real story, und dass es keiner Interpretation, keiner Deutung mehr bedarf, wenn man alles Wichtige wüsste, das zu dieser Geschichte gehört. Doch man muss sich stets mit Annäherungsversuchen bescheiden. Der Leser soll in Versuchung gebracht werden, die Geschichten zu deuten, zu erklären, wie alles so kommen musste; er soll aber merken, wie widerständig die Wirklichkeit ist mit all ihren Zufällen und Holzwegen.

Es sind dies Geschichten vom Töten. Für einen einzelnen Menschen gibt es kaum eine andere Entscheidung, die so fundamental und unwiderruflich sein Leben verändert. Warum jemand diese Grenze überschreitet, einen Menschen zu töten, ist immer erneut ein Rätsel. Der Lösung, der Essenz dieser Tat kommen wir näher, wenn wir hören, was davor war, oder auch, was die Jahre danach geschah, wie das Leben nach dem Mord aussah. Keineswegs jeder kann einen Mord begehen, die meisten würden dies unter keinen Umständen tun. Gottlob gibt es für die meisten Menschen auch nicht den mindesten Grund zu töten, selbst wenn sie ab und an so manchem die Pest an den Hals gewünscht haben. Wir haben vielleicht viel an Wünschen, Gefühlen und Gedanken mit den Tätern gemein – doch regeln wir es schließlich anständig oder jemand befreit uns aus unseren Nöten. Aber wir sind aufmerksam für die, die sich anders entschieden haben. Und wir wissen etwas vom Schuldigwerden. Deswegen, so hoffe ich, möchten diese Geschichten erzählt werden. Geschichten aus der Verwandtschaft.

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Reise in die Zukunft

Alexander Witte machte sich Sorgen. Eigentlich machte er sich immer schon Sorgen, seit er verheiratet war und für das Wohlergehen der Familie verantwortlich. Er sorgte sich um seine Kinder, seine Frau. Um seine Geschwister und deren Familien. Um sich selbst, dass er nicht standhalten könnte. Das Leben war nicht leicht in Kasachstan, wohin es die Deutschstämmigen unter Stalin verschlagen hatte.

Anderswo im weiten Russischen Reich wäre es wohl auch nicht einfach gewesen, aber dieser Gedanke half nicht weiter. Alles war unsicher in Kasachstan, vor allem die Zukunft; das Sowjetische Reich zerfiel, die Macht zerfiel. Gangsterbanden gab es wie einst im Wilden Westen. Sie terrorisierten ganze Dörfer, überfielen Busse und Züge und nahmen den Menschen mit vorgehaltenem Revolver ab, was diese an Wertvollem bei sich trugen. Das, so dachte er, mag vorübergehen. Er selbst hatte so einen Überfall nie miterlebt, nur im Fernsehen gesehen, da hatten die Gangster sich mit Armee-Uniformen getarnt, um den Bus anzuhalten. Schlimmer empfand er die wirtschaftliche Ungewissheit, den Mangel, exakter: die Armut. Und würden die Kinder Arbeit finden, ordentliche Arbeit, und wie lange würden sie solche Arbeit behalten können?

Gerade jetzt, im kasachischen Winter, mit hohem Schnee zwischen den Häusern, die eher Hütten glichen hinter ihren windschiefen Zäunen, war Alexander bereit, seinem Bruder Gregor zu folgen, der vor vier Jahren nach Deutschland gegangen war. Er lebte mit seiner Lebensgefährtin in Brandenburg, in Lübben im Spreewald. Gregor war sechs Jahre älter als er, wurde demnächst 45. Vor zwei Jahren hatten sie sich zuletzt gesehen.

Damals hatte Gregor die Mutter und den Vater abgeholt in den Westen, das waren die beiden in der Familie, die noch richtig Deutsch konnten. Der Vater war ein Jahr später in Lübben gestorben, die Lunge, er hatte viel geraucht in seinem Leben. Die Mutter war gesund, gottlob, und noch keine 70. Sie schrieb ihm, regelmäßig, er solle doch auch kommen, schon wegen der Kinder. Sie schrieb nicht, dass die Kinder der Übersiedler es schwer hatten in Deutschland, dass sie an der Tankstelle herumstanden und Unsinn anstellten. Sie war sicher, ihre Enkelkinder würden keine Probleme haben.

Gut, er würde nach Deutschland reisen, um sich alles anzusehen und vorzubereiten für die Übersiedlung der restlichen Familie, zusammen mit Robert, dem mittleren Bruder. Sie, die beiden Männer, wären das Vorkommando, und dann holten sie alle nach.

 

So eine Auswanderung war nicht einfach und Februar keine besonders gute Zeit für eine Reise von 4000 Kilometern. Es war nicht viel Geld da. Seit Alexander als Leiter der Werkstätten gekündigt hatte, der Traktorenstation, ging es bergab. Die Kündigung musste sein, weil die Werkstätte am Ende war, er war einer der Letzten, und ihm war eine andere, ruhige Stelle angeboten worden als Mechaniker. Dort war er auch hingegangen, aber diese Stelle wurde bald reorganisiert und abgewickelt. Das lag vier Jahre zurück. Der Betrieb war in der Rayonsstadt gewesen, nicht in seinem Dorf; jeden Tag war er mit dem Bus dahin gefahren, das war günstiger als mit seinem PKW. Eine Zeitlang hatte er auch keinen Führerschein mehr gehabt, weil er betrunken am Steuer erwischt worden war. Im Dorf gab es keine größeren Betriebe, die Leute hatten sich in kleinen Genossenschaften Arbeit gesucht. Es gab keine Arbeit mehr für Alexander, er machte Gelegenheitsarbeiten, mit seinem Auto etwas holen, etwas wegschaffen, und baute Sonnenblumen an. Im Winter wurden die Sonnenblumenkerne verpackt und verkauft.

Nun war dieser Unfall passiert. Eigentlich nichts Großes, kurz nach Weihnachten, Alexander war mit seiner Frau bei seinem Bruder gewesen. Robert hatte herumgeredet, man merkte, dass er zögerte, dass es ihm lieber wäre, wenn Alexander erst mal allein reiste. Er hatte das abgelehnt, und Robert hatte eingelenkt. Auf dem Heimweg hatten Alexander und seine Frau eine Abkürzung genommen, liefen oben auf dem Bahndamm auf den Schwellen der Eisenbahnschienen. Von dort hatte man einen guten Rundblick auf die Dächer mit den rauchenden Kaminen, es war kalt und klar und friedlich. Aber die Bohlen waren glatt, Alexander rutschte weg, schlug mit dem Rücken auf, schräg rechts auf den Stahl der Schiene. Der Schmerz stach ihn wie ein Messer in die Brust. Irina zog ihn hoch, und er ging heim mit ihr, unter Schmerzen.

Zu Hause verband Alexander sich selbst, dachte, vielleicht wäre etwas gebrochen. Mit einer elastischen Binde umwickelte er seinen Brustkorb. Vor Schmerz konnte er sich kaum alleine aufrichten, musste eine Zeitlang liegen bleiben und konnte nicht mehr richtig atmen.

Er hatte früher schon mal einen Rippenbruch gehabt, da war er noch Leiter der Werkstätte gewesen. Das war damals im Herbst, eine Reparatur bei der Ernte. Ein großer Traktorreifen war kaputtgegangen, das Ersatzrad auf ihn gefallen, dabei hatte er sich eine Rippe gebrochen. Trotzdem hatte er noch zwei Tage gearbeitet. Erst als der Schmerz nicht wegging, war er zum Arzt gegangen, der ihn röntgte.

Das neue Jahr kam, der Schnee lag hoch, die Schmerzen in Alexanders Brust waren immer noch da. Essen konnte er, Appetit hatte er. Aber er schlief schlecht, weil die Schmerzen sich wieder meldeten und er sich Sorgen machte wegen der Fahrt und wegen des Sohnes, der so verschlossen war und bei dem irgendwas am Herzen nicht stimmte. Die Krankheit des Sohnes nagte seit Jahren an Alexander. Die Tochter war in Ordnung, aber sie erzählte auch nicht, was sie dachte und wollte. Der Sohn war jetzt 16, Alexander mühte sich, ein guter Vater zu sein, aber Niko ließ ihn nicht an sich heran. Er war nicht frech, nicht respektlos, aber sein Schweigen wirkte wie unausgesprochene Kritik. Kritik woran?

Das mit dem Herzen hatte vor zwei Jahren begonnen, Niko wurde vom Sport befreit. Monatlich musste er zur Kontrolle gehen, wurde jeden Monat zum Arzt bestellt. Was genau nicht stimmte, wusste Alexander nicht, man sagte ihm, dass immer ein EKG gemacht würde. Gewöhnlich ging seine Frau mit ins Arztzimmer, eigentlich immer.

Wenn Niko von der Schule kam, ging er oft gleich zu Schulfreunden, zu anderen Jungen im Dorf. Das war ja eigentlich ganz normal. Er hatte dem Sohn nur gesagt, dass er nicht alleine in die Rayonsstadt fahren solle. Eigentlich war es ja nicht schwierig mit dem Sohn, Niko machte immer, was er machen sollte. Er war halt gern allein, malte, bastelte, wollte dabei nicht vom Vater gestört werden. Ach, der Sohn war ganz normal.

Die Nächte zogen sich hin, Alexander wurde immer wieder wach, konnte noch nicht aufstehen, lag da, ab und zu weckte er seine Frau, damit sie ihm ein bisschen Mut machte, ihn beruhigte, sie konnte das. Er versuchte, ein Buch zu lesen. Wenn er las, wurde er müde, wenn er das Buch zur Seite legte, konnte er wieder nicht einschlafen. Er machte sich alle möglichen Gedanken, wie er sich anziehen sollte, was für ein Wetter wohl in Deutschland sein würde. In Kasachstan war es im Februar sehr kalt; wenn er nach Deutschland käme, würde er dort keine Sachen kaufen können, weil er kein Geld dafür hatte. Und wie seine Frau allein mit den Kindern zurechtkommen würde, solange er in Deutschland war. Die finanzielle Lage der Familie war kritisch. Einige Kunden hatten die Lieferungen von Sonnenblumenkernen nicht bezahlt, stattdessen die Familie bedroht und eingeschüchtert. Er verlangte deshalb von der Frau und den Kindern, nicht weiter zu verkaufen, solange er weg war, um nicht in Gefahr zu geraten. Allerdings wusste er nicht, wovon die Familie leben sollte.

Die Sorgen gingen den ganzen Tag weiter. Wenn Alexander morgens aufgestanden war, ging die Frau zusammen mit der Tochter zum Markt, um Sonnenblumenkerne zu verkaufen. Er blieb mit dem Sohn zu Hause, damit dieser ihm helfen konnte. Mittags kamen die Frau und die Tochter nach Hause. Bei Tisch besprachen die Erwachsenen, wie die Lage war. Es gab immer Probleme: Der Sturz auf die Gleise, der Rippenbruch, die Schmerzen blockierten seine Kräfte. Er schaffte es nicht, alles für die Familie zu regeln, was Vorräte und Holz anging; Niko wollte er nicht das Holzhacken überlassen, wer weiß, das Herz.

Und am Abend vor der Abreise, am Freitagabend, am 6. Februar, kam dann der Bruder zu ihm, Robert, und sagte, dass er nicht mitfahren könne. Dass das beantragte Visum immer noch nicht gekommen sei. Das war für Alexander wie ein Schlag mit der Axt. Er war auch nicht sicher, ob er dem Bruder glauben sollte. Aber was nützte es ihm, wenn er zweifelte; er sagte nichts, blickte verbissen zu Boden. Es gab wohl keine Rettung, er musste fahren, allein.

Am Samstag frühmorgens brachte ihn der Bruder mit seinem Gepäck nach Iljenko, seine Frau war dabei und drückte ihm zum Schluss die Tasche mit der Thermoskanne und all den Essenssachen für die Reise in die Hand, der Koffer war da schon in den Bauch des Busses verladen. Um Punkt 9 Uhr 30 startete der Linienbus nach Deutschland; es war Februar, das Thermometer zeigte minus 22 Grad an. Der Bus aber war gut geheizt, und zur Erleichterung von Alexander schmerzten die Rippen nicht, als er dann saß. Nur ganz selten, wenn er schnelle Bewegungen machte und sich nach dem Gepäckfach über ihm streckte, zwickte es an der rechten Seite. Mit seinen 1 Meter 80 Größe hatte Alexander keine Mühen, mit dem Platz auszukommen, er war nicht dick, und nur wenn er etwas nach vorn rutschte, stieß er mit der Kniescheibe an den dicken Draht, der die Tasche an der Rückseite des Vordersitzes begrenzte.

Sein kleiner kugeliger Nebenmann auf dem Fensterplatz fragte um Erlaubnis und stieg dann auf Alexanders Sitz, die Füße rechts und links von seinen Beinen auf dem Polster, um etwas aus dem Gepäckfach zu nehmen. Alexander hatte die Oberschenkel direkt vorm Gesicht und drehte den Kopf etwas beiseite, aber da stieg der Mann auch schon wieder herunter.

Der Bus fuhr gleichmäßig durch die weiße Winterlandschaft, nicht alle Plätze waren besetzt, man konnte hierhin und dorthin wechseln, neue Gruppen bildeten sich. Die lauten und aufgeregten Stimmen in der ersten Zeit nach dem Start hatten sich gelegt und hoben nur noch an, als der Bus in zwei weiteren Städten hielt, um Fahrgäste aufzunehmen. An Bord gab es eine Bus-Stewardess mit einem kecken Käppi und roten Fingernägeln, die sich um alle kümmerte und Alexander ein Kissen und eine Papiertüte für die Schalen der Sonnenblumenkerne brachte, die er zerbiss. Das war das Einzige, was er aß, trotz der Vorräte, sein Kopf tat ihm weh und der Magen. Dafür rauchte er sehr viel, auch die anderen hier im hinteren Teil des Busses. Alexander kannte keinen der Leute, aber er fühlte sich nicht fremd; alle sprachen die gleiche Sprache, und man konnte nicht unterscheiden, wer deutscher und wer russischer Herkunft war.

Er war müde und müde und müde, aber er war so müde, dass er partout nicht einschlafen konnte. Manchmal nickte er für Sekundenbruchteile ein, fuhr dann aber sofort hoch, als sei ihm das Herz stehengeblieben. Zu Hause hatte er bisweilen im Schlaf geschrien, wurde von seiner Frau geweckt und konnte eine Weile nicht sagen, ob es Traum oder Wirklichkeit war. Jetzt im Bus dachte er wieder an seine Frau und die Kinder, dachte an die bevorstehende Begegnung mit seinem ältesten Bruder und seiner Mutter und ob es überhaupt klappen würde. Er verstand es nicht, aber er war sehr betrübt.

Zwei Tage lang hockte er auf seinem Platz. Wenn der Busfahrer Pause machte, stieg er aus und rauchte draußen, im Stehen, lief auf der Stelle etwas auf und ab. Es wurde wärmer. Aber abgesehen von dem Nötigsten, was man aus Höflichkeit sagen musste, sprach er mit niemandem und blieb immer auf demselben Platz sitzen, neben dem Gang. Dauernd hatte er ein Geräusch in den Ohren, auch wenn der Bus anhielt und der Dieselmotor ausging. Und irgendwie fühlte er sich wie betrunken, obwohl er erst am zweiten Tag bei einem Halt in Weißrussland zwei Dosen Bier kaufte und viele Stunden später noch mal in Polen.

Die erste Nacht war vorbeigegangen, der zweite Tag, sie hatten die Armbanduhren umgestellt, und früh war es wieder dunkel geworden. Die zweite Nacht war besonders schlimm. Er konnte den ständigen Wechsel zwischen hell und dunkel kaum ertragen, sie kamen jetzt häufiger durch besiedeltes Gebiet, fuhren durch Dörfer, Städte, er sah Straßenlaternen, beleuchtete Fenster, Tankstellen.

Sie näherten sich Brest, der weißrussischen Grenze nach Polen, über 3000 Kilometer lagen schon hinter ihnen. Alexander fragte einen Mitreisenden, wo sich der Bus befand, und merkte, dass er gar nicht sprechen konnte, dass seine Stimme ganz fern klang und nachhallte. Als sie über die hell erleuchtete Grenze fuhren, war in seinen Ohren ein Dauerklingeln. Er wusste, dass es nicht draußen klingelte, sondern in seinen Ohren.

Beim Grenzübertritt war er sehr aufgeregt, sie mussten alle aussteigen und durch einen langgestreckten Flachdachbau an einer Ausweiskontrolle vorbei, während die Zöllner den Bus kontrollierten. Als er in der Reihe stand, merkte er, dass mit seinen Papieren etwas nicht stimmte, die Farbe seines Passes hatte sich verändert, und wenn er ihn nach unten hielt, vibrierte der Pass. Er trat aus der Reihe heraus, ging an eine hellere Stelle und kontrollierte den Ausweis, aber jetzt war er wieder in Ordnung. Er stellte sich wieder an, und der Ablauf wiederholte sich: Der Pass war gefälscht, er musste mit einem gefälschten Pass reisen! Nochmals stellte er sich hinten an, er hatte nun keine Wahl mehr, er war der letzte Passagier dieses Busses. Bebend hielt er dem Zollbeamten den Ausweis hin, mühte sich, nicht zu zittern. Der sah ihn unter seiner Schirmmütze prüfend an, länger als gewöhnlich. Alexander konnte gar nichts mehr denken, auch nicht an polnische Kerker, dann hörte er das klackende Stempelgeräusch, der Mann streckte ihm den Pass entgegen und sagte etwas auf Polnisch. Mit einem ängstlichen Blick zurück ging er wieder zum Bus, stieg ein, er war der Letzte, und die anderen schauten ihn an, als er durch den Mittelgang wieder auf seinen Platz ging.

Jetzt waren es noch 200 Kilometer bis Warschau, sie waren so gut wie am Ziel, von da nur noch 500 Kilometer bis Berlin. Dort wollte Gregor ihn abholen. Sie fuhren durch Warschau, und Alexander ging es gar nicht gut. Sie fuhren durch die Dunkelheit, aber immer wieder zuckten Lichter auf, und die Schatten wie die Lichter durchzogen den Bus. Alexander fing an zu zucken und rief laut, dass man ihn nicht anfassen solle. Niemand wollte ihn anfassen, alle schauten ratlos zu ihm hin, Alexander saß da mit ängstlichem Gesicht. Er rief: «Mama, Mama!», und auch nach seinem Vater, und er hörte nicht mehr auf zu rufen. Wenn er doch mal für einige Minuten eine Pause machte, sanken die anderen erleichtert zurück in ihre Sitze.

Plötzlich stürzte er sich auf einen Mann, der in der Nähe des vorderen Ausgangs an einem kleinen Tisch auf der anderen Gangseite saß, und hielt ihn fest. Die Stewardess zog Alexander mit Hilfe anderer Männer zurück und brachte ihn wieder auf seinen Platz, wo er sich beruhigte. Er sagte ihr: «Bitte, bitte, tun Sie mir nichts!» Sie legte ihre Hände mit den roten Fingernägeln beschwörend zusammen und versicherte, dass er in völliger Sicherheit sei, niemand wolle ihm etwas tun. Danach hatte er laufend Tücher vor dem Gesicht und sagte immer wieder, dass sie ihm nichts tun sollten, dass er ihnen alles geben wolle, was sie verlangten. Das Tuch vor seinem Gesicht war nass von seinem Speichel. Die Stewardess hatte Mitleid, fragte, ob er Tabletten benötige, er sagte, es sei alles in Ordnung. Dann drehte er sich nach rechts, sah sein Spiegelbild im Fenster, der kleine Dicke hatte sich weggesetzt, der Platz neben ihm war frei – er sah sein Spiegelbild und erschrak.

Der Bus hielt nun extra seinetwegen an, damit er etwas Luft schnappen konnte. Der Busfahrer gab ihm eine Zigarette, riet ihm, sich hinzulegen und zu schlafen, damit er fit war für seine Angehörigen. Busfahrer und Stewardess berieten sich, ob man ihn vielleicht schneller loswerden könnte. Die Stewardess sollte herausbekommen, wie seine Angehörigen telefonisch erreichbar waren. Sie fragte, ob sie mal Alexanders Papiere sehen könne, und fand im Pass einen weißen Zettel mit der Adresse und Telefonnummer seines Bruders in Lübben. Der Busfahrer erreichte Gregor per Telefon und bat ihn, statt nach Berlin direkt zur deutsch-polnischen Grenzstation zu kommen und da den Bruder zu übernehmen, der wohl krank sei. Er sagte, nicht besonders höflich, dass der Mann «nicht ganz richtig im Kopf» sei. Sie würden halt etwas ausladen müssen und sein Gepäck schon finden.

Als sie wieder losgefahren waren, schlief Alexander nicht. Er aß Sonnenblumenkerne, unentwegt, spuckte die Schalen auf den Boden. Plötzlich krachte es – er war mit Wucht mit dem Kopf voran gegen sein Spiegelbild gesprungen, gegen die Fensterscheibe. Einen Moment lang hing er ganz verrutscht halb auf dem Sitz, halb auf dem Boden. Er sagte: «Vielleicht ist mit meinem Kopf etwas nicht mehr in Ordnung.» Er zog sich hoch, blickte wieder prüfend in den Bus, setzte sich zurück auf seinen Platz, wurde gereizt, aggressiv. Als die Stewardess an seinem Sitz Schalen und Zigarettenkippen vom Boden aufsammelte, sagte er, dass sie das nicht so schlampig machen solle. Wenn sie bei ihm arbeiten würde, müsste sie richtig sauber machen.

Eine Weile war er wieder ruhig. Fünfzehn Minuten vergingen, dann hob er seinen niedergesunkenen Kopf, drehte ihn und sagte zu seinem Nebenmann auf der anderen Gangseite: «Ich bin der Dispatcher vom Bushof Iljenko.» Er wurde lauter und sprach: «Du bist mein Chef vom Bushof. Die anderen Reisenden müssen alle auf dich hören. Aber du musst mir jetzt einen höheren Posten geben, nicht nur Dispatcher – Vizechef!» Der andere Fahrgast überlegte krampfhaft, während Alexander redete, stellte sich freundlich und ernannte ihn zum Vizechef seines Bushofs, um ihn zu beruhigen. Dann war Ruhe.

Sie kamen an die deutsche Grenze. Alexanders Nachbar, der Chef vom Bushof, sprach ihn an, er solle ihm seinen Pass geben, damit es keine Probleme gebe, er mache das schon. Alexander antwortete, dass er keinen Pass habe, der sei ihm vor der Fahrt von seinem Sohn weggenommen worden. Der Chef des Bushofs sagte ihm, dass er ihn ja befördern wolle, aber dazu brauche er den Pass. Alexander gab ihm den Pass. Er wurde prompt befördert. Er wollte dazu auch Schnaps vom Chef, aber der Chef sagte, dass er dann wieder degradiert würde.

Dieser Mann sagte später bei der Polizei: «Er wirkte wie ein Kranker, er schaute so komisch. Er sagte immer wieder, dass jemand seinen Bruder in Deutschland umbringen werde. Immer wieder einmal sagte der Mann, dass er nicht angefasst werden will, sonst bringt er denjenigen um. Ich weiß nicht, er schien vor etwas Angst zu haben.»

Ein Mann, der zwei Reihen vor Alexander saß, berichtete, dieser habe geschrien, dass jemand sein Geld wegnehmen wolle. Dass die Deutschen seinen Bruder umbringen wollten. Dass er die, die sein Geld wegnehmen wollten, abknallen würde. «Er sprang auf einmal gegen die Scheibe und war sofort wieder ruhig. Er bemerkte noch, dass er jetzt Kopfschmerzen habe. Zuerst hatten wir alle Mitleid mit ihm, als er zunächst nur Angst zeigte. Als er mit dem Kopf an die Scheibe gestoßen ist, war er dann ganz aggressiv. Er sagte zwischendurch: Bitte, bitte, schlagt mich nicht zusammen, sonst werde ich euch alle umbringen.»

Noch ein anderer Fahrgast erzählte, er habe nach seiner Mutter geschrien, schon ziemlich zu Anfang, wo er komisch wurde, und dann wieder kurz vor der Grenze.

Dann waren sie an der Grenze, und es kam in kürzester Zeit zur Katastrophe. Die Temperatur lag über null, alles triefte vor Nässe, der Bus hatte angehalten und stand im Licht der vielen hellen Lampen, die hoch an den Masten angebracht waren. Von innen war die Umgebung nur undeutlich zu sehen, die Fenster waren beschlagen und durch den außen herabrinnenden Nieselregen verschliert. Alexander glaubte, durch die Scheibe einen PKW zu erkennen und daneben einen Mann, das Gesicht seines Bruders. Wo war seine Mutter?

Als die zwei Zollbeamten in ihren blauen Uniformen den Bus zur Kontrolle bestiegen, verließ er seinen Platz und lief nach vorne, rief: «Mama, Mama!», immer wieder. Er stieß fast mit dem ersten Zöllner zusammen, wurde aber von Reisenden festgehalten und wieder zurückgeschickt auf seinen Platz: «Jetzt ist Kontrolle, du musst auf deinem Platz sitzen bleiben, bis die Kontrolle vorbei ist.»

Er setzte sich, wippte aber immer ein bisschen, als wollte er doch wieder aufspringen. Die Zollbeamten kontrollierten Sitzreihe für Sitzreihe, alle Ablagen, die Gepäckfächer, und stiegen auf die Sitze, um auch die Räume hinter den Lüftungsklappen zu prüfen, die für Gepäck nicht vorgesehen waren.

In Alexanders Reihe angekommen, stieg der eine Beamte neben ihm auf den Sitz. An seinem Gürtel waren mehrere Lederschlaufen mit Geräten, direkt vor Alexanders Gesicht baumelte das Halfter mit der schweren Pistole. Alexander ergriff die Waffe, entsicherte, schoss auf diesen Uniformierten, auf den anderen, tötete beide, schoss weiter in den Bus hinein. Dann zerschlug er mit der Pistole die Fensterscheibe und hangelte sich aus dem Bus, mit der Pistole in der linken Hand. Draußen wurde sie ihm aus der Hand geschlagen, er wurde zu Boden gebracht und überwältigt. Er blutete aus einigen Schnittwunden und schloss die Augen.

 

Als er wieder zu Sinnen kam, lag Alexander allein in einem kleinen, weißen Zimmer im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig. Er war aber fest davon überzeugt, in Kasachstan zu sein nach einer Schießerei mit uniformiert auftretenden Banditen an der Busstation Iljenko; dahin sei der Bus zurückgefahren. Die Psychiaterin sprach Russisch mit Alexander, wenn auch mit deutschem Akzent, und ein Gutachter, der bemüht wurde, ebenfalls. Männer, die zur Täuschung korrekt in Blau gekleidet waren, seien von «der Gruppe» beauftragt gewesen, ihn zu töten. Die Gruppe habe vorgehabt, seine Frau und seine Tochter zu vergewaltigen. All das trug er wie reglos vor, er war ganz starr.

Alexander wurde mit antipsychotischen Medikamenten behandelt. Nach vier Wochen war die Krankheit abgeklungen, und er musste sich der Wahrheit stellen – dass er zwei deutsche Zollbeamte erschossen und zwei Mitreisende schwer verletzt hatte. Es war wie eine fremdartige Botschaft, die er glauben musste, die er aber in keinem Moment mit seiner Erinnerung in Einklang bringen konnte. Doch es war gewiss: Zum Elend hatte sich eine Katastrophe gesellt, und er war völlig ratlos, wie es weitergehen sollte. Es musste ohne ihn weitergehen, er blieb ja eingesperrt.

Der Gutachter, der aus Russland stammte, erklärte, dass Alexander Witte zum Zeitpunkt der Tat an einer psychotischen Störung gelitten habe und schuldunfähig gewesen sei; alle Zeugen aus dem Bus hatten einhellig bekundet, dass der Mann verrückt gewesen sei, schon Stunden vorher. Witte wurde auf strafrechtlicher Grundlage vorläufig in eine hochgesicherte psychiatrische Klinik des Maßregelvollzugs eingewiesen, um zu prüfen, ob die Krankheit wiederkam und er auch zukünftig gefährlich war. Er wurde erneut begutachtet. Die Psychiaterin erklärte, dass er bei der zurückliegenden Tat wegen einer akuten Geisteskrankheit unzurechnungsfähig gewesen sei. Diese sei aber unter der Behandlung abgeklungen, und Witte sei nicht überdauernd gefährlich. Damit konnte er weder bestraft noch in der Psychiatrie festgehalten werden; das zuständige Landgericht lehnte die Durchführung eines Sicherungsverfahrens ab, der Mann müsse entlassen und ausgewiesen werden.

Schlimm war für die Angehörigen der beiden getöteten Beamten, dass es keine Gerichtsverhandlung gab, in der das Geschehen vor aller Augen sorgfältig rekonstruiert wurde und man sich die Aussagen der Zeugen und die Beurteilungen der Gutachter anhören und sie überprüfen konnte. Es hätte dies den grenzenlosen Schmerz nicht beseitigt, aber es hätte den Angehörigen das Gefühl gegeben, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfuhr.

Die Presse schäumte; die Journalisten wussten genau, dass es sich bei dem Täter um einen russischen Kriminellen handeln musste, wahrscheinlich Mitglied der Mafia, organisierte Kriminalität, und dass nur die Gutachter und zuständigen Juristen verrückt waren.

Die Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein, wenn auch in dem Bewusstsein, dass unsere Rechtsordnung für einen Fall wie diesen keine Gerichtsverhandlung vorsieht – wenn die bisherigen Gutachten stimmten. Ein dritter Gutachter wurde vom Oberlandesgericht bemüht, er sollte herausfinden, ob Witte wirklich krank gewesen war und ob er nicht interniert bleiben müsse. Dieser Dritte war ich.

Alexander saß inzwischen seit zehn Monaten auch ohne Medikamente unverändert gesund in der Psychiatrie, spielte Schach mit Mitpatienten, wurde von seinem Bruder und dessen Familie besucht und war dankbar, wenn dieser russische Bücher mitbrachte. Er war ein stiller, ernster Mann, der, ohne zu drängen, wartete und sich nicht beklagte. Als ich ihn fragte, was man machen müsse, um ihn zum Lächeln zu bringen, entgegnete er ernst, darüber könne man reden, wenn er wieder bei seiner Familie sei. Es war ihm bewusst, wie viel Trauer und Leid in den Familien der Opfer herrschen musste, aber diese Menschen waren ihm zugleich auch völlig fremd, völlig unbekannt, ganz fern – Menschen, deren Lebensweg sich in einer einzigen Minute mit seinem überschnitten hatte, und er, ein machtloser Täter, ein kleiner depressiver Mechaniker aus Kasachstan, war schuld an all dem Leid.

Schneidige TV-Journalisten lauerten derweil mir und anderen Verfahrensbeteiligten mit Kamerateam und Flokati-Mikrophon vor der Haustür auf, um sie zu beschimpfen und zu beleidigen und die Reaktionen zu filmen auf zugerufene Fragen: «Wie können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, dass dieser Mörder rauskommt?» Es wurde alles vorbereitet, um auf Jagd zu blasen gegen Alexander Witte, falls dieser wirklich freikommen sollte. Als auch der dritte Gutachter dem Oberlandesgericht bestätigte, dass Witte in Fortsetzung seiner depressiven Ängste während der Busfahrt in eine akute psychotische Erkrankung geraten war, die dann nach vierwöchiger intensiver Behandlung abgeklungen war, und dass künftig – trotz der Schwere seiner Taten – keine Gefahr von ihm ausgehe, solange er sich angemessen gegen einen Krankheitsrückfall schütze, musste er freigelassen und als kasachischer Staatsbürger ausgewiesen werden.

 

Man hat nicht herausgefunden, wer die lebensgefährliche Entscheidung getroffen hat, der Presse mitzuteilen, dass er am Folgetag um 10 Uhr aus der Klinik entlassen würde. Die Nachricht wurde sofort über alle Sender der Republik weiterverbreitet. Nur durch die vorausschauende Hilfe der Klinik konnte Alexander Witte dem Mob entkommen, der ihn bis weit nach Polen hinein verfolgte und sich zusammensetzte aus Journalisten und gewaltbereitem Pöbel. Seine Ängste auf dieser Heimfahrt nach Kasachstan waren berechtigt. Als er zu Hause ankam, lag hoher Schnee an den schrägen Wänden seiner Kate, der Februar ging dem Ende zu, und er war ein Jahr unterwegs gewesen.

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Eine Liebe von Fritz

Fritz war einer der Jungs vom Stuttgarter Platz, dem Berliner Stutti der Nachkriegszeit, wo sich die jungen deutschen Zuhälter trafen, die noch in der HJ gewesen waren, und auch einige ältere Huren, die noch in den Bombennächten ihrer Arbeit nachgegangen waren. Es ging aber Fritz und manch anderem nicht um Zuhälterei, sondern die Halbstarken trafen sich, überlegten Einbrüche und andere Beutezüge und kloppten sich mit rivalisierenden Banden und den Tommys. Fritz hatte schon damals Überbreite, was aber nur daran lag, dass er etwas klein war, er hatte halt so eine Gewichtheberfigur. Wenn es losging und man die Straße entlanglief, um sich mit den Tommys zu kloppen, hieß es: «Dicker, geh du voran!» Ihm machte das nichts aus, er hatte keine Angst, und merkwürdigerweise musste er selbst auch nicht zuschlagen, die anderen blieben auf Distanz. Nur zweimal, erzählte er, habe er wirklich zugeschlagen; weil er es wollte.

Die Jungs vom Stutti gehörten zu jener nützlichen, vielgestaltigen Fauna der Nachkriegsjahre, die aus der Trümmerlandschaft Berlins alles herausholte, was noch zu verwerten war, sachliche und menschliche Ressourcen, auf dass man den Rest abräumen konnte, der dann aber noch lange liegen blieb. Er gehörte zu den Jungs, die mit elf zu rauchen begannen und die Hände nicht aus den Hosentaschen nahmen, wenn sie mit Erwachsenen redeten, sondern mit schrägem Kopf und skeptischem Blick zu ihnen hochschauten und freche Antworten gaben. Etwa in den drei Kategorien «Weeß ick selba», «Gloob ick nich», «Mach ick nich».

Anders als die meisten anderen stammte Fritz nicht aus einem Arbeiterbezirk Berlins, sondern aus der preußischen Provinz Sachsen. Er war ein gutes Jahr nach Kriegsbeginn in einer Kleinstadt an der Elbe geboren worden. Sein Vater, von Beruf technischer Kaufmann, wurde bald danach an der Ostfront in Russland vermisst und später für tot erklärt, er hat ihn nie gesehen.

Warum die Eltern, bei Kriegsausbruch 34 und 35 Jahre alt, sich für ein drittes Kind entschieden, wusste Fritz’ Mutter nicht. Sie war Bilanzbuchhalterin und musste mit ihrer Arbeit auch seine neun und fünf Jahre älteren Schwestern Hannelore und Ingrid versorgen. Nach dem Krieg lag das Städtchen in der Sowjetischen Besatzungszone. 1947 kam Fritz auf die Schule, 1949 verschwand die Mutter plötzlich mit der Zweitältesten, Ingrid, nach West-Berlin. Man hatte ihm vorher nichts erzählt, wohl um das Unternehmen nicht zu gefährden. Der Junge wurde zum Opa in Zeitz gegeben, die älteste Schwester war schon in der Lehre.

Dass er zurückgelassen wurde, empfand Fritz als Verrat. Er hatte herausgefunden, erzählte er mir, dass seine Mutter wegen des kleinen Mädchens in den Westen gegangen sei, das auf dem Holzplatz umgekommen war, durch den Balken, der herunterkam. Er war da gerade mal acht gewesen und hatte das miterlebt. Zwei Monate später sei sie mit seiner kleinen Schwester nach Berlin. Er musste beim Opa bleiben, hat fürchterlich geheult, sich verraten und verkauft gefühlt. Nach einem dreiviertel Jahr kam der Rat des Kreises zum Opa: Er könne das Kind nicht erziehen, das komme in ein Heim. Daraufhin hat ihn die Tante nach Berlin gebracht, seine Mutter war nicht begeistert.

Die Mutter, sagte Fritz, hatte immer behauptet, sie sei aus politischen Gründen nach West-Berlin gegangen. Aber heute wisse er: Sie sollte am Arsch gekriegt werden wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, dass der Balken da so nicht liegen durfte, der das Mädchen erschlagen hat. Auf dem Totenbett hatte sie ihm gesagt, es täte ihr leid, dass alles so schiefgelaufen sei. An ihrem Grab hatte er sich gefühlt wie gegenüber einem fremden Menschen. Er glaube ohnehin: Seine besondere Geschichte fing damit an, dass er den Tod dieses Mädchens miterlebt hatte. Und später noch das Kind, das beim Verkehrsunfall starb. Und auch das, was er in Katanga gesehen hatte, wie ganze Dörfer niedergemacht wurden. Der Tod, immer wieder. Aber ich will der Reihe nach erzählen.

 

Fritz’ Mutter hatte in Berlin sofort Arbeit gefunden und schaffte ununterbrochen bis zur Rente als Buchhalterin und als Prokuristin. Die Familie bezog zudem eine Hinterbliebenenrente, also gab es keine finanziellen Probleme, und die drei konnten nach wenigen Jahren in eine Zweieinhalb-Zimmer-Neubauwohnung in Mariendorf ziehen. Mariendorf – das war Zukunftsindustrie, ehrliche Arbeit. Fritz hatte ein eigenes Zimmer, besuchte die «Oberschule praktischen Zweiges» und war viel sich selbst überlassen. Die Mutter entschädigte ihn für ihre Abwesenheit mit reichlich Taschengeld und williger Wunscherfüllung.

Als Fritz mit 15 Jahren mit durchschnittlichen Leistungen aus der Oberschule entlassen wurde, besorgte die Mutter ihm eine Lehrstelle als Elektroinstallateur in der Firma, für die sie arbeitete. Nach einem halben Jahr nahm das ein für sie peinliches Ende, weil er immer wieder schwänzte. Der Fürsorger vom Jugendamt vermittelte ihm nun eine Stelle als Autoschlosserlehrling, die er am 1. Juni 1957 antrat. Ende Juni wurde er schon wieder entlassen, weil er statt zur Arbeit zum Baden gefahren war. Danach war er monatelang arbeitslos, trieb sich herum, machte Schulden bei Geschäftsleuten und Bekannten. Die Mutter, auf den guten Ruf der Familie bedacht, bezahlte ohne viel Aufsehen. Im Oktober 1957 stimmte sie dem Wunsch des Jugendamtes zu, Fritz in ein Heim zu geben, den Ulmenhof. Doch als er ständig ausriss und wieder bei der Mutter auftauchte, gab man das Projekt nach vier Monaten auf.

Auch lange nach ihrem Tod sprach Fritz nicht gerade respektvoll von seiner Mutter. Das Wichtigste war, dass man sonntagmorgens um neun Uhr im Anzug zum Frühstück erschien. Da saß sie dann am Tisch, die ehrenwerte dreiköpfige Familie: die Mutter, er, Ingrid. Neben dem Tisch befand sich ihre Führer-Gedenkecke, in der das Bild des Vaters hing mit einer schwarzen Schleife.

Die Mutter bügelte immer alles aus, was er angestellt hatte, er musste nie für etwas geradestehen. Zu Hause erzählte er, dass er ausschließlich Nachtschicht arbeite, damit er tagsüber pennen konnte, und nachts war er am Stutti, hatte dort auch eine Freundin.

Damals war er ja schon ein ziemlicher Dollbrägen, sagte er, aber weil sie das so wollte, war er mit der Mutter auch häufig im Theater oder in Musicals. Im Anschluss an eine Aufführung des Marat im Schillertheater war sie einmal mit ihm in den Börsenstuben, das war ein sehr vornehmes Restaurant, sagte er. Da habe er dann die Suppe aus der Tasse getrunken. Muttern war völlig entsetzt.

Fritz hatte Schlag bei den Mädchen, es war erstaunlich, aber vielleicht war es sein Welpencharme, der damals seinen Erfolg ausmachte. Er war immer recht sicher und fordernd im Auftreten, auch wenn das manchmal gar nicht seinem Inneren entsprach. Mit 16 hatte er seine erste Freundin, die wollte aber nicht mit ihm schlafen. Damals wussten alle noch, wie gefährlich Sex war, dass man davon schwanger werden und auf die eine oder andere Weise sterben konnte. Antibiotika, mit denen man Geschlechtskrankheiten (allein das Wort schon ließ einen zittern) wie Syphilis heilen konnte, gab es in breiter Anwendung erst seit Kriegsende, und an die Antibabypille war noch lange nicht zu denken.

Mit 17 hatte Fritz seinen ersten Geschlechtsverkehr mit einer 32-jährigen verheirateten Frau. Er lernte sie kennen, als er ihr Kind, das er auf der Straße versehentlich mit dem Fahrrad angefahren und verletzt hatte, in ihre Wohnung brachte. Das spätere Gerichtsurteil berichtet mit finsterer Stimme: «Das ehebrecherische Verhältnis dauerte etwa ein dreiviertel Jahr.» Zum Ehebruch kam zügig auch Einbruch; es gab ja so mancherlei, was man gut brauchen und zu Geld machen konnte. Er holte sich so etwas, allein oder mit einem Kumpel.

In dieser Zeit, mit 17