Mutterliebe auch für Birgit - Gisela Reutling - E-Book

Mutterliebe auch für Birgit E-Book

Gisela Reutling

0,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Für den Kinderarzt Dr. Kemper war es ein alltäglicher Anblick: Das in Fieberhitze glühende Gesicht eines Achtjährigen und neben dem Bett die Mutter, in deren Miene sich alle Besorgnis zeigte, die Dr. Kemper nur zu gut kannte. »Ich kann das gar nicht verstehen, Herr Doktor«, klagte Frau Schulte, »gestern war er noch ganz munter, und heute früh, als ich ihn weckte, ging es ihm so schlecht. Er hustete fürchterlich und verlangte nach heißem Zitronenwasser, das habe ich ihm mit einem Teelöffel Honig gegeben. Dann habe ich ihn Fieber messen lassen und war zu Tode erschrocken, als das Thermometer fast 40 Grad anzeigte!« Unruhig strich sie sich über das Haar. »Na, dann wollen wir mal sehen, was du da ausbrütest, mein Sohn«, sagte Dr. Kemper und griff nach seiner Arzttasche. Er kannte Jochen Schulte seit Jahren und hatte schon seine Kinderkrankheiten behandelt, die dank seiner robusten Konstitution immer einen leichten Verlauf genommen hatten. »Mama macht sich immer gleich zuviel Sorgen«, keuchte der Junge mit den prallen roten Wangen unter seinem dicken Federbett hervor. »Morgen geht es mir bestimmt schon wieder besser.« »Das wollen wir hoffen, wo du doch so ein kräftiger Kerl bist, hm?« Dr. Kemper lächelte aufmunternd und schlug die Decke zurück, um den kleinen Patienten zu untersuchen. Schon bei der ersten Berührung stellte er fest, daß der Knabenkörper zwar warm war, was einen nicht wundern konnte, so wie die Mutter ihn in Kissen eingebettet hatte, aber fiebrig war er nicht. Auch der Puls war normal, im Hals keine Anzeichen von Rötung oder Schwellung, beim Abtasten des Leibes tat nichts weh.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami Bestseller – 71 –

Mutterliebe auch für Birgit

Sylvia schloss die kleine Waise in ihr Herz

Gisela Reutling

Für den Kinderarzt Dr. Kemper war es ein alltäglicher Anblick: Das in Fieberhitze glühende Gesicht eines Achtjährigen und neben dem Bett die Mutter, in deren Miene sich alle Besorgnis zeigte, die Dr. Kemper nur zu gut kannte.

»Ich kann das gar nicht verstehen, Herr Doktor«, klagte Frau Schulte, »gestern war er noch ganz munter, und heute früh, als ich ihn weckte, ging es ihm so schlecht. Er hustete fürchterlich und verlangte nach heißem Zitronenwasser, das habe ich ihm mit einem Teelöffel Honig gegeben. Dann habe ich ihn Fieber messen lassen und war zu Tode erschrocken, als das Thermometer fast 40 Grad anzeigte!« Unruhig strich sie sich über das Haar.

»Na, dann wollen wir mal sehen, was du da ausbrütest, mein Sohn«, sagte Dr. Kemper und griff nach seiner Arzttasche. Er kannte Jochen Schulte seit Jahren und hatte schon seine Kinderkrankheiten behandelt, die dank seiner robusten Konstitution immer einen leichten Verlauf genommen hatten.

»Mama macht sich immer gleich zuviel Sorgen«, keuchte der Junge mit den prallen roten Wangen unter seinem dicken Federbett hervor. »Morgen geht es mir bestimmt schon wieder besser.«

»Das wollen wir hoffen, wo du doch so ein kräftiger Kerl bist, hm?« Dr. Kemper lächelte aufmunternd und schlug die Decke zurück, um den kleinen Patienten zu untersuchen. Schon bei der ersten Berührung stellte er fest, daß der Knabenkörper zwar warm war, was einen nicht wundern konnte, so wie die Mutter ihn in Kissen eingebettet hatte, aber fiebrig war er nicht. Auch der Puls war normal, im Hals keine Anzeichen von Rötung oder Schwellung, beim Abtasten des Leibes tat nichts weh. Die Kinderaugen, die sein Tun aufmerksam beobachteten, waren klar und hellwach.

Plötzlich überkam Jochen einen Hustenanfall, der ihn stieß und krebsrot im Gesicht anlaufen ließ. Dr. Kemper runzelte die Stirn, er blickte den Knaben prüfend und durchdringend an, aber zur Vorsorge horchte er ihm die Lunge ab. Währenddessen eilte Frau Schulte zum Telefon, das in der Diele klingelte. Wortreich, in schrillem Ton, erzählte sie offenbar einer Freundin, was ihrem Sohn so plötzlich zugestoßen war.

Um so leiser sprach Dr. Kemper. »Die Klassenarbeit bei Fräulein Kalinka, was, um die kommst du jetzt fein herum. Meinst du wirklich, mir könntest du etwas vormachen, du Lausbub?«

Jochen riß die runden braunen Augen auf. »Wo – woher wissen Sie das von der Klassenarbeit?«

»Vielleicht kann ich hellsehen«, äußerte der Arzt ernsthaft und mußte doch ein Schmunzeln unterdrücken. Jochen brauchte nicht zu wissen, daß seine Nichte, die mit Jochen in die gleiche Klasse ging, ihm zufällig gestern von der gefürchteten Klassenarbeit bei der ungeliebten Lehrerin erzählt hatte. »Also«, fuhr er fort, während er seine Instrumente in die Arzttasche zurücklegte, »deine gekonnten Hustenanfälle kannst du dir sparen, nur eine besorgte Mama hört da nicht die falschen Töne heraus. Und das heiße Zitronenwasser hast du gebraucht, um das Fieberthermometer hineinzutauchen und hochschnellen zu lassen. Das ist ein alter Zopf, mein Lieber.«

Jochen kicherte, weil er durchschaut war. Übermütig hieb er mit den Händen auf die Bettdecke. »Sie sind echt Spitze, Onkel Kemper!« sagte er begeistert.

Der Arzt ließ die Tasche zuschnappen, dann packte er den Jungen fest bei seinem strubbeligen rotblonden Haar und beutelte ihn leicht. Diesmal war sein Ton streng. »Das war das erste und letzte Mal, daß du versucht hast, mich an der Nase herumzuführen! Ist das klar?«

»Ich wollte ja gar nicht, daß Mama sie holte«, tuschelte er. »Ich wollte doch nur…« Er verstummte, wechselte blitzschnell zu einer Leidensmiene über und ließ sich matt in die Kissen zurücksinken. Seine Mutter war wieder ins Zimmer gekommen.

»Nun, was haben Sie herausgefunden, Herr Doktor?« fragte sie bang.

»Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Frau Schulte«, versicherte Dr. Kemper unter dem beschwörenden Blick des Jungen. »Lassen Sie Jochen heute im Bett, und morgen wird er wieder topfit sein.«

Etwas verwirrt, aber doch unendlich erleichtert, nickte die Mutter. Wenn Dr. Kemper das sagte, würde es wohl stimmen. Sie und alle Mütter ihres Bekanntenkreises hatten großes Vertrauen zu dem jungen sympathischen Arzt. Sie sah, wie er Jochen ein Schächtelchen auf den Nachttisch legte. Es waren harmlose Kräuterbonbons, aber das wußte nur er.

»Davon läßt du alle zwei Stunden eine auf der Zunge zergehen«, verordnete er. »Und nun mach’s gut, Jochen.« Er gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Besser dich.«

»Mach ich. Mach’ ich alles. Danke, Onkel Kemper!«

Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte Frau Schulte, daß ihr Sohn, der sich doch vorhin »ganz schrecklich schlecht« gefühlt hatte, schon wieder hell und vergnügt lächelte. »Sie vollbringen wahre Wunder, Herr Doktor!« sagte sie dankbar, als sie Ihn hinausgeleitete, und überschwenglich drückte sie ihm die Hand.

»Halb so wild«, wehrte Norbert Kemper leicht verlegen ab. Eigentlich hätte er ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil er mit dem kleinen Schwindler sozusagen gemeinsame Sache gemacht hatte. Aber ihn verraten – nein, das hätte er nicht fertiggebracht. Er war auch kein Engelsknabe gewesen, davon wußte seine Mutter ein Lied zu singen. Mancher Streich war in der Schule auf seine Kosten gegangen. Mit seinen dreiunddreißig Jahren war er jung genug, um sich recht gut daran zu erinnern. Vielleicht liebten ihn die Kinder deshalb, weil er auch in dieser Beziehung viel Verständnis für sie hatte.

Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, daß es zehn vor neun war und damit höchste Zeit, in seine Praxis zu kommen. Drei Hausbesuche hatte er bereits hinter sich. Ein Kind mußte er wegen Verdachts auf Nephrose – einer Störung des Nierenstoffwechsels – ins Krankenhaus überweisen, ein anderes hatte sich am kochenden Wasserkessel verbrannt, und eine sofortige Wundbehandlung war notwendig gewesen.

Um den Weg abzukürzen, fuhr er nicht durch die verkehrsreiche Innenstadt, sondern die ruhige Straße am Stadtpark entlang. Es war ein schöner Tag im Mai, die Bäume trugen zartes Grün, auf dem kleinen See, der den Park begrenzte, zogen weiße Schwäne ihre Bahn, führte eine Entenmutter eine Schar Entenkinder hinter sich her. Ein Kind mit auffallend hellem Haar hockte am Ufer und lockte sie. Es mochte etwa sieben, acht Jahre alt sein, und offenbar war es allein. Jedenfalls war um diese Morgenstunde kein Mensch sonst zu sehen, wie Norbert mit einem raschen Blick im Vorüberfahren feststellte. Ob es vielleicht auch die Schule schwänzte?

Er vergaß es schnell, gab Gas und war wenige Minuten später in seiner Praxis, wo die Sprechstundenhilfe ihm schon die Karteikarte des ersten kleinen Patienten, der mit seiner Mutter nebenan wartete, auf den Schreibtisch gelegt hatte. Der Arzt schlüpfte in seinen weißen Kittel, und der Arbeitstag in den hellen, mit lustigen bunten Bildern auf die kindliche Psyche eingehenden Räumen begann.

*

Für Sylvia Hoberg begann dieser Tag wie so oft mit einem Spaziergang. Seit ihr Mann nach einer schweren Operation vor zwei Jahren gestorben war, warteten kaum noch Pflichten auf sie. Gewiß, das Haus mußte in Ordnung gehalten werden, aber wenn man allein darin wohnte, gab es da nicht sehr viel zu tun. Nur im Garten werkelte sie stundenlang, das Wachsen und Gedeihen der Blumen und Pflanzen zu beobachten war ihre einzige Freude.

Langsam, den Blick zu Boden gesenkt, schritt sie durch die stillen menschenleeren Wege des Stadtparks. Mit Wehmut erinnerte sie sich daran, daß es ein solcher Maientag war, an dem sie Albrecht geheiratet hatte. Sieben Jahre war das jetzt her, zweiundzwanzig war sie gewesen. Albrecht war Direktor der Bank, in welcher sie in der Devisenabteilung arbeitete. Zwanzig Jahre älter war er als sie, aber was machte der Altersunterschied schon aus! Sie hatte den reifen klugen Mann von ganzem Herzen geliebt. Nur zu kurz war das Glück gewesen. Seine Stimme, sein ruhiges Lächeln, seine sie in Wärme einhüllende Zärtlichkeit fehlten ihr unsagbar.

Ein helles Stimmchen weckte Sylvia aus ihren traurigen Gedanken. »Komm, na komm, du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben!«

Sie entdeckte das blonde Kind, das im Gras am See saß. Im ausgestreckten Händchen hielt es einer Ente, die ans Ufer gewatschelt kam, Brotkrümel hin. Sylvia trat näher und beobachtete die Szene.

»Sie traut sich doch nicht, es dir aus der Hand zu picken«, sagte sie. Das Kind, es war ein Mädchen, schüttelte den Kopf und warf die Brotkrume von sich, da stürzte sich die Ente schnatternd darauf.

Dann blickte das Kind auf. Es zeigte keinerlei Anzeichen von Erschrecken, daß da plötzlich eine Fremde neben ihm stand. Die blauen, von einem Kranz dunkler Wimpern umgebenen Augen im zarten blassen Gesicht hatten einen ernsthaften, seltsam unkindlichen Ausdruck.

Sylvia zögerte, weiterzugehen. »Bist du ganz allein hier?« fragte sie.

Als die Kleine nur nickte, fuhr sie fort: »Paß auf, daß du dich nicht erkältest. Du hast nur ein kurzes Röckchen an, und das Gras ist noch feucht. Deine Mutti würde das sicher nicht gerne sehen.«

Das Kind schwieg, aber es betrachtete die hübsche dunkelhaarige Frau, die so freundlich zu ihm sprach, mit erwachendem Interesse. »Wollen Sie auch die Enten füttern?« fragte es unvermittelt. »Ich hab’ jetzt nichts mehr.« Es zeigte die leeren Hände.

»Ich habe nichts mitgebracht«, antwortete Sylvia. »Aber sie verhungern bestimmt nicht. Sie bekommen genug. Nachmittags kommen viele Mütter mit Kindern und alte Leute, um sie zu füttern.«

Die Kleine nahm den Blick von ihr und sah auf einen Schwan, der sich ihnen stolz und majestätisch auf dem Wasser näherte. »Schwäne hab’ ich am liebsten«, sagte sie nachdenklich. »Die sind richtig schön. Aber sie sind es nur, wenn sie im Wasser schwimmen. Wenn sie rauskommen, sind sie nicht mehr so schön. Da laufen sie nicht anders als die Enten.«

Sylvia mußte unwillkürlich lächeln. Das stimmte. Über was sich so ein Kind seine Gedanken machte! »Wie alt bist du denn?« erkundigte sie sich.

»Bald acht.« Und sie fügte hinzu: »Ich heiße Birgit.«

»Mußt du denn nicht in die Schule?« forschte Sylvia weiter.

»Ich war ein paar Tage krank. Erst am Montag muß ich wieder gehen.« Sylvias Gesicht wurde ernst. »Wenn du krank warst, darfst du erst recht nicht da sitzen.« Sie streckte ihre Hand aus. »Komm, steh auf!«

Das Kind erhob sich rasch. Plötzlich schwankte es leicht, das kleine Gesicht wurde schneeweiß. Sylvia umfaßte das schmächtige Mädchen. »Was hast du denn?« fragte sie erschrocken.

Birgit lehnte sich sekundenlang mit geschlossenen Augen gegen sie und atmete tief. »Ich bin zu schnell aufgestanden«, flüsterte sie. »Dann wird mir schwindlig. Es geht schon vorbei.«

Besorgt sah Sylvia auf sie herab. Als ein Hauch von Farbe in die Wangen zurückkehrte, schlug sie vor: »Dort drüben am Weg steht eine Bank. Da setzen wir uns erstmal hin.«

Ein paar Minuten saßen sie still nebeneinander im wärmenden Sonnenschein. »Soll ich dich nach Hause bringen, Birgit?« fragte Sylvia schließlich.

»Da ist jetzt niemand. Es ist langweilig allein in der Wohnung. Sie kommen alle erst mittags.«

»Alle – das sind wohl deine Eltern und Geschwister«, vermutete Sylvia. Birgit schüttelte den Kopf. Sie wandte ihr Gesicht, und wieder sah sie die neben ihr Sitzende lange und irgendwie prüfend an. Dann schob sie ihre Hand langsam und vorsichtig unter Sylvias Hand. Es war eine kleine vertrauensvolle Geste, die Sylvia seltsam anrührte. Wie beschützend umfaßte sie die Kinderhand.

»Ich hab’ keine Eltern und Geschwister«, erklärte Birgit. »Meine Mama ist gestorben, und mein Vater ist fortgegangen. Ich bin jetzt bei einem Onkel und einer Tante. Aber die haben schon drei Kinder und können mich eigentlich nicht brauchen.«

Es war Sylvia wie ein Schlag aufs Herz, das Kind so sprechen zu hören. Es klang nicht einmal unglücklich oder verzweifelt, sondern eher teilnahmslos, wie von einem Menschen, der sich in sein Schicksal ergeben hatte. Und so etwas war noch nicht acht Jahre alt…

Sie sah vor sich nieder. Da saß

sie nun mit einem fremden Kind, das sich im Grunde so einsam fühlte wie sie. »Haben Sie Kinder?« drang das Stimmchen an ihr Ohr.

»Nein«, antwortete Sylvia, ohne den Blick zu heben. Sie hatte sich ein Kind von Albrecht gewünscht – o wie sehr! Es war der einzige Punkt gewesen, in dem sie sich nicht ganz einig waren. Er wollte damit noch warten, er wollte sie uneingeschränkt für sich haben. Man konnte es Egoismus nennen, aber da sie ihn liebte, versuchte sie ihn zu verstehen. Und dann, auf einmal, war es zu spät. Wie anders sähe ihr Leben jetzt aus, wenn ihr aus dieser glücklichen Ehe ein Kind geblieben wäre.

Birgit sagte nichts mehr. Sie hätte gern mehr gewußt von dieser Frau, die nett zu ihr war und nicht gleichgültig an ihr vorüberging, wie das andere taten, aber sie wagte nicht weiter zu fragen. Sie sah den Spatzen zu, die sich vor ihr auf dem Weg zankten. Insgeheim hoffte sie, daß die Frau nicht gleich aufstehen und fortgehen würde. Erwachsene waren doch sonst immer so fürchterlich eilig und beschäftigt, und sie hatten keine Zeit für ein kleines Mädchen.

Sylvia straffte sich, als ihr bewußt wurde, daß sie eine ganze Weile in Gedanken verloren geschwiegen hatte. Sie blickte auf das Kind, das mucksmäuschenstill, aber in gespannter Haltung neben ihr saß. »Ja, Birgit, was machen wir denn nun mit dir?« sagte sie. »Du kannst doch nicht hier allein im Park bleiben. Wo wohnst du denn?«

»Dort«, Birgit machte eine Armbewegung, »in der Auerbachstraße.«

»Wo die großen Mietshäuser stehen?«

»Ja, in der Nummer 25, da wohn’ ich.« Wie zum Beweis nestelte sie die beiden Schlüssel hervor, die sie an einem Band um den Hals gehängt unter dem dünnen Strickjäckchen trug.

Sylvia kannte die Häuser, sie waren nach dem Krieg in einfacher Bauweise hochgezogen worden und sahen heute grau und unansehnlich aus, viele fanden sie störend in dieser Gegend. Nach kurzer Überlegung sagte sie: »Möchtest du mit zu mir kommen, falls dich wirklich niemand vermißt? Ich wohne in der entgegengesetzten Richtung, am anderen Ende des Parks. Eigentlich soll ein kleines Mädchen ja nicht mit Fremden gehen, aber so ganz fremd sind wir uns ja nicht mehr, nicht?« Sie lächelte ein wenig. »Du kannst mich Tante Sylvia nennen.«

Über Birgits Gesichtchen flog ein Leuchten, in die blauen Augen trat Glanz, stumm und überwältigt nickte sie. Ihre Hand in Sylvias Hand geschmiegt, ließ sie sich von ihr fortführen. Unterwegs sprach sie leise und fast andächtig vor sich hin: »Sylvia, das ist ein sehr schöner Name.«

Andächtig stand sie eine Viertelstunde später auch vor dem Einfamilienhaus inmitten des frühlingshaft blühenden Gartens. »Wohnst du ganz allein hier?« wisperte sie. Als Sylvia nur kurz bejahte, schwieg sie eingeschüchtert. Und schüchtern setzte sie sich auf die Kante des Sessels auf der Terrasse, von der aus ein paar Stufen hinunter in den Garten führten. Sie schien entschlossen zu sein, sich nicht mehr zu rühren.

Da habe ich mir etwas aufgelesen, dachte Sylvia leise belustigt. Was fange ich nun an mit dem stillen kleinen Mädchen?

Da fiel ihr ein, daß noch ein Halma-Spiel da war. Wenn Albrechts jüngerer Bruder mit Familie zu Besuch aus der Nachbarstadt kam, vergnügten die beiden Kinder sich manchmal damit. Sie holte es herbei, breitete es auf dem Tisch aus und stellte ein Schälchen mit Erdbeeren für Birgit dazu. Das Kind kannte das Spiel nicht, aber es begriff Sylvias Erklärungen schnell. Bald gewann es sichtlich Freude daran, vor Eifer bekam es etwas Farbe in die schmalen Wangen. Einmal, kurz vor dem Ende eines Spiels, lachte es hellauf.

»Jetzt hast du gemogelt, Tante Sylvia! Du willst mich gewinnen lassen. Das gilt aber nicht. Richtig kann ich gar nicht gewinnen, weil ich nämlich dumm bin.«

Sylvia schmunzelte, weil sie ertappt worden war. Doch dann sagte sie: »Wer sagt denn, daß du dumm bist? Du hast im Gegenteil ein ganz gescheites Köpfchen.«

»Horst sagt das immer. Das ist der eine Sohn von Tante Hilde, der ist schon dreizehn. Und manchmal knufft er mich, daß ich blaue Flecken kriege.«

Sylvias Lächeln erlosch. »Aber das darf deine Tante doch nicht zulassen!« äußerte sie bestürzt.

»Die weiß das nicht. Horst sagt, wenn ich ihn verpetze, würde er mich in den Keller einsperren, da gibt es Mäuse, und niemand hörte mich dort.«

»Und die anderen, sind die auch nicht gut zu dir?« fragte Sylvia mit angespannten Zügen.

»Ooch«, Birgit fuhr mit dem Finger an dem Spielbrett entlang, »die ärgern sich nur, weil ich ihnen Platz wegnehme. Dabei mach’ ich mich schon immer dünn.« Sie machte eine Kopfbewegung. »Tante Hilde kriegt Kindergeld für mich, dafür gibt sie mir zu essen. Sie sagt immer, ich müßte sehr dankbar sein, daß ich bei ihnen bin und nicht in einem Heim. Und Onkel sagt das auch.«

Und der Vater? fragte sich Sylvia. Aber sie ließ es nicht laut werden. Ausfragen wollte sie das Kind nicht. Sie sah auf die Uhr. Es war zwölf geworden, über dem Spiel war die Zeit schnell vergangen. »Birgit, ich glaube, du mußt jetzt nach Hause. Iß deine Erdbeeren noch auf, ich fahre dich dann in die Auerbachstraße.«

Mit dem Wagen waren es nur wenige Minuten. Paulsen hießen die Leute, sie wohnten im dritten Stock. »Tante ist schon da«, sagte Birgit, als sie von unten das geöffnete Fenster sah. »Komm doch mit rauf, Tante Sylvia, bitte, bitte.«

Sylvia nickte und stieg mit dem Kind die knarrenden Treppen empor. Die Wände waren zerkratzt und mit zum Teil unflätigen Worten verschmiert, es roch muffig im Haus.

»Wo treibst du dich denn schon wieder rum?« zankte die Tante aus der Küche. »Du solltest doch die Kartoffeln schon schälen, aber nicht mal dazu bist du zu gebrauchen.«

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Paulsen.« Sylvia trat näher, sie blieb an der Küchentür stehen. »Es war meine Schuld. Birgit war bei mir, wir haben uns im Park kennengelernt. Mein Name ist Sylvia Hoberg, ich wohne im Amselweg.«

Überrascht und mißtrauisch betrachtete die hagere Frau die fremde Dame. Denn eine Dame war das ja wohl, wie sie bei ihrer ungenierten Musterung feststellte, dem feinen Stoff des Frühjahrskostüms, der ganzen gepflegten Erscheinung nach zu urteilen.

»Unsereiner hat leider keine Zeit, am Vormittag im Park spazierenzugehen«, sagte sie verkniffen. »Birgit sollte da auch nicht immer hinlaufen, ganz verrückt ist sie mit den Tieren, sammelt jeden Brotrest dafür. Sie hätte lieber die Zimmer aufräumen sollen.«